Ziemlich verletzlich, ziemlich stark
Wege zu einer solidarischen Gesellschaft
Ein warmherziges und kluges Buch, das aufrüttelt! Gerade in unserer individuellen Verletzlichkeit können wir einen unverhofften Reichtum entdecken. Nur wenn wir bereit sind, den tieferen Sinn von »Brüderlichkeit« wiederzubeleben, kann unsere Gesellschaft...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark “
Ein warmherziges und kluges Buch, das aufrüttelt! Gerade in unserer individuellen Verletzlichkeit können wir einen unverhofften Reichtum entdecken. Nur wenn wir bereit sind, den tieferen Sinn von »Brüderlichkeit« wiederzubeleben, kann unsere Gesellschaft gerechter und menschlicher werden ... Inkl. Interview mit Pozzo di Borgo über die Suche nach Möglichkeiten, die Wohlstand, Lebensqualität und das Gedeihen von Menschen neu in Einklang bringen können.
Klappentext zu „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark “
Philippe Pozzo di Borgo und seine Koautoren formulieren einen eindrücklichen Appell - für eine Gesellschaft, in der nicht nur Fitness und Leistung zählen. Gerade in unserer individuellen Verletzlichkeit können wir einen unverhofften Reichtum entdecken, und nur wenn wir bereit sind, den tieferen Sinn von "Brüderlichkeit" wiederzubeleben, vermag unsere Gesellschaft gerechter und menschlicher zu werden. Ein ebenso warmer und kluger wie entschiedener Text, der aufrütteln möchte. Die deutsche Ausgabe enthält zudem ein Interview mit Pozzo di Borgo über die Suche nach Gedanken, Erfahrungen und Politikformen, die Wohlstand, Lebensqualität und das Gedeihen von Menschen neu in Einklang bringen können.
Lese-Probe zu „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark “
Ziemlich verletzlich, ziemlich stark - Wege zu einer solidarischen Gesellschaft von Philippe Pozzo di Borgo, Jean Vanier, Laurent de Cherisey
DAS VOLK DER UNBERÜHRBAREN
Der Film Ziemlich beste Freunde, 2011 von den Regisseuren Olivier Nakache und Éric Toledano gedreht, erzählt auf brillante und humorvolle Weise die Geschichte zweier Menschen, die beide - der eine sozial, der andere körperlich - mit einer Beeinträchtigung leben.
Der Film geht allerdings nicht weiter darauf ein, dass die Straßen voller behinderter Menschen sind.
Dabei ist das die reine Wahrheit: Behinderungen sind von erschreckender Normalität.
Die Ursache, die Art und der Grad der Beeinträchtigung sind extrem unterschiedlich, doch eine Behinderung bringt immer Anpassungsmaßnahmen mit sich und hat weitreichende Konsequenzen für den Betroffenen und sein Umfeld.
Sprechen wir zunächst von körperlicher Behinderung, die in den meisten Fällen nach außen hin sichtbarer ist.
Zwölf Millionen Franzosen sind davon betroffen, ein Viertel der Bevölkerung. Das heißt also, dass Sie diese Woche auf dem Weg zur Arbeit, zum Bäcker oder zur Schule Ihrer Kinder höchstwahrscheinlich an einer Frau oder einem Mann vorbeigekommen sind, die eine motorische oder sensorische Behinderung haben. Eine Frau, die mit einer großen dunklen Brille auf der Nase und einem weißen Stock in der Hand durch die Gegend geht, ein junger Mann mit Helm auf dem Kopf, der einen elektrischen Rollstuhl bedient, zwei aufgeregte Jugendliche, die sich wild gestikulierend, aber ohne Ton eine Geschichte erzählen.
... mehr
Vielleicht haben Sie auch den pummeligen Jungen an der Bushaltestelle bemerkt, der den Kopf schüttelt und dabei unverständliches Zeug redet. Gut möglich, dass Sie sich in diesem Moment leicht verstört von einem der 900 000 Menschen mit geistiger Behinderung in Frankreich abgewandt haben. Das sind in etwa so viele Personen wie die, die an Alzheimer leiden (880 000).
In Deutschland lebten im Jahr 2010 laut Statistischem Bundesamt etwa 8,7 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung. Bezieht man diese Zahl auf die Gesamtbevölkerung, so ist in Deutschland etwa jeder zehnte Einwohner behindert. 7,1 Millionen davon gelten als schwerbehindert. Die Zahl der Menschen mit geistiger Behinderung liegt in Deutschland bei rund 500 000. Etwa 1,4 Millionen Deutsche sind von einer Demenzerkrankung betroffen.
Überall im öffentlichen Raum gibt es also »Unberührbare«.
Die Behinderung ist jedoch ein komplexes Thema mit vielen Gesichtern. Neben körperlichen und mentalen Beeinträchtigungen führen unter anderem schlechte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit und emotionale oder soziale Einsamkeit zum Ausschluss aus der Gesellschaft.
In Deutschland wurden im Laufe des Jahres 2007 bundesweit rund 176 000 Menschen mit Behinderung in Heimen betreut. Ambulante Unterstützung beim Wohnen in einer eigenen Wohnung oder in Wohngemeinschaften erhielten rund 93 000 Menschen mit Behinderung. Insbesondere für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf kann von einer selbstbestimmten Wahl der Wohnformen und einer gleichberechtigten Teilhabe an subjektiv bedeutsamen Lebensbereichen keine Rede sein. Und das trotz der Gleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder und trotz der im Sozialgesetzbuch IX formulierten Zielperspektiven »Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft«. Die Wohnsituation erschwert die Integration von Menschen mit Behinderung in die Gemeinde. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung liegt einige Prozentpunkte höher als die der Gesamtbevölkerung. 2005 lag die Quote unter schwerbehinderten Menschen bei knapp 17 Prozent, 2009 waren es unter 15 Prozent. Im März 2011 gab es in Deutschland 10 Prozent weniger Arbeitslose als ein Jahr zuvor. Bei schwerbehinderten Menschen hingegen stieg die Arbeitslosenquote um 4,9 Prozent. Der Aufschwung kam bei Arbeitnehmern mit Behinderung nicht an. Knapp 173 000 Menschen mit einer Behinderung sind arbeitslos. Darüber hinaus bleibt 280 000 Menschen nur die Möglichkeit, in Werkstätten für Menschen mit Behinderung zu arbeiten, da ihnen der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt verschlossen ist.
Krankheiten - seien es die eigenen oder die unserer Nächsten - können uns von einem Tag auf den anderen auf eine harte Probe stellen. Denn wie Dr. Knock sagt, die Hauptperson des Theaterstücks Knock oder der Triumph der Medizin von Jules Romain aus dem Jahr 1923: Gesunde Menschen sind nur Kranke, die von ihrem wahren Zustand nichts wissen!
Jeden Moment drohen Unfälle unser Leben zu verändern und uns in Ausgestoßene, von der Gesellschaft ausgeschlossene Menschen, zu verwandeln.
Wer kann sich also damit brüsten, kein Unberührbarer zu sein?
Viele Zuschauer haben beim Abspann von Ziemlich beste Freunde spontan geklatscht. Dieser Applaus galt sicher auch der Qualität der Produktion und der Leistung der Schauspieler. Doch war er nicht in erster Linie Ausdruck unseres intuitiven Wissens, dass wir alle jederzeit Unberührbare werden könnten? Jeden von uns könnte es treffen, und wie die beiden Hauptdarsteller im Film würden wir unvermittelt in eine Form von Behinderung abgleiten, so dass wir nicht mehr in der Lage wären, die sozialen und wirtschaftlichen Normen zu erfüllen.
Kritiker des Films haben behauptet, er würde - in einer Gesellschaft, in der nur Leistung zählt - die Verletzlichkeit des Menschen zu positiv darstellen. Doch nicht Schwäche wird hier als Ideal dargestellt, sondern Risikobereitschaft: Es geht um das Wagnis, sich auf eine Beziehung einzulassen, obwohl man sozial beziehungsweise körperlich in einer schwächeren Position ist.
Wer hält zu uns, wenn wir verwundbar geworden sind? An wen können wir uns wenden? Haben wir dann noch einen Platz in der Gesellschaft?
Die Regisseure wollten diese besondere Hinwendung zweier Personen zueinander zeigen, deren Begegnung völlig unwahrscheinlich war. Beide betonen, dass es sie stark gemacht habe, sich in ihrer jeweiligen Verletzlichkeit zusammenzuschließen.
Davon sind wir alle drei - Philippe Pozzo di Borgo, Jean Vanier und Laurent de Cherisey - fest überzeugt, denn wir erleben täglich, wie positiv sich solche Begegnungen auswirken.
Der Wert eines Menschen lässt sich nicht nur an seiner Tüchtigkeit oder an seinen Leistungen ermessen. Er hat auch viel mit der Fähigkeit zu tun, sich auf andere einzulassen. Wenn wir unsere Angst vor der Verschiedenheit überwinden, wenn wir unsere Schwächen vereinen, dann kann das Leben einen neuen Sinn bekommen und wieder witzig, zärtlich und tiefgründig sein.
In dieser Überzeugung werden wir regelmäßig durch unsere Erfahrungen bestätigt.
Darum richten wir einen Appell an Sie.
Es steht keine politische Theorie dahinter und auch keine philosophische Überlegung - es ist schlicht ein Appell an die Zuversicht.
Die Verletzlichkeit birgt wider Erwarten einen Schatz, den es zu entdecken gilt. Unsere Gesellschaft kann tatsächlich gerechter und menschlicher werden, wenn wir wieder an den tieferen Sinn der Solidarität anknüpfen. Denn nur sie bietet eine Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Sinn des Lebens.
EIN BESTIMMTER BLICK
In einem Dokumentarfilm über den Alltag in Einrichtungen für geistig behinderte Kinder fragt der Leiter der Einrichtung Fanny, die eine leichte kognitive Beeinträchtigung und eine geringfügige körperliche Behinderung hat: »Wo liegt für dich die Behinderung, Fanny? Was bedeutet sie für dich?«
Sie antwortet: »Im Blick der anderen.«
Für das Mädchen, das eine Förderschule besucht, liegt die Antwort auf der Hand. Durch ihre Behinderung kann sie nicht dem üblichen Bildungsweg folgen, aber selbstverständlich möchte sie trotzdem glücklich sein! Sie ist sich bewusst, dass die Blicke der anderen sie ausschließen und ihr die Beziehungen verwehren, nach denen sie sich sehnt.
Wir sprechen von jenem Blick, der verletzt und ausgrenzt.
Fannys spontane Antwort widerlegt die Meinung eines Drittels der Franzosen, die laut Umfrage davon überzeugt sind, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht merken, dass sie »anders« sind. Demzufolge würden sie auch nicht merken, wenn man sie diskriminiert, und könnten also nicht darunter leiden. Die meisten Menschen mit einer kognitiven Einschränkung mögen zwar nicht alle Aspekte ihrer Behinderung erfassen, sie begreifen aber vollkommen, dass ihr Leben sich von dem der anderen unterscheidet.
Der Blick, der ausschließt, sieht nur die Beeinträchtigung. Den schleppenden Gang und die unkoordinierten Gesten von Patrice, der infolge eines Schädeltraumas nach einem Motorradunfall unter motorischen und kognitiven Störungen leidet. Claras starre Gesichtszüge. Oder die katastrophalen Noten von Pierre, dessen Lese-Rechtschreib-Schwäche ihn in der Schule benachteiligt.
Letztlich ist jeder von uns darauf angewiesen, dass man ihn auf andere Weise, mit einem freundlicheren Blick, betrachtet, damit er nicht auf seine jeweilige Behinderung reduziert wird.
Wir, die kaputten Typen - das betonten Philippe Pozzo di Borgo und Abdel Sellou immer wieder in Interviews -, wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen Augen gesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganze Menschen wahrnimmt. Wir sehnen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.
»Die größte Armut für einen Menschen ist es, unerwünscht zu sein und niemanden zu haben, der sich um ihn kümmert«, sagte Mutter Teresa.
Die seelische Not wird gelindert, wenn die Isolierung durchbrochen wird. Die Behinderung an sich macht nicht glücklich, aber sie birgt einen eigenen Reichtum, der nur durch die Beziehungen zum Anderen zum Vorschein kommen kann.
Die Signale einer Gesellschaft, die zu Höchstleistungen anspornt, ermuntern nicht gerade dazu, die eigene Behinderung in der Öffentlichkeit zu zeigen.
In dem Selbstbild behinderter Menschen ist schon Ausgrenzung enthalten. Aus Scham, dass sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, ziehen sie sich entweder zurück oder verfallen in aggressives Verhalten. Obwohl sie das natürliche Bedürfnis nach Zuneigung verspüren, ziehen manche Menschen mit Behinderung sich lieber in die Einsamkeit zurück, als Ablehnung zu riskieren. Für jemanden, der seit jungen Jahren behindert ist, wiegt das besonders schwer. Traurigerweise bestätigen die Statistiken, dass körperliche Behinderungen, wenn sie vor dem 40. Lebensjahr auftreten, feste Beziehungen erst spät entstehen lassen.
In Deutschland sind Männer und Frauen mit Behinderung im Alter zwischen 25 und 45 Jahren eher ledig als Menschen ohne Behinderung dieser Altersgruppe: Der Anteil der Ledigen unter den Menschen mit Behinderung beträgt 54 Prozent und bei Menschen ohne Behinderung 41 Prozent. Mit steigendem Alter nähern sich die Quoten - insbesondere bei den Männern - allerdings an.
Zudem reduziert sich die Wahrscheinlichkeit einer Partnerschaft, ganz besonders für Frauen. Wie soll man jemanden rumkriegen, wenn man so lädiert ist, fragte ein junges Mädchen Philippe, nachdem sie zwei Jahre im selben Rehazentrum verbracht hatten: »Das herrschende Schönheitsideal war schon vor meinem Unfall schwer zu erreichen, aber jetzt komme ich mir vor wie ein Stück Abfall, reif für die Tonne.«
Die Behinderung führt zu realen Ängsten, weil man sich verlassen fühlt, ungeliebt, ohne festen Platz in der Familie, der Gemeinschaft oder der Gesellschaft. Man sucht nach einem Schuldigen, und wenn man keinen findet, gibt man sich selbst die Schuld.
Was das angeht, bemerkt Philippe Pozzo di Borgo, habe er sich immer davor gehütet, den nicht behinderten Menschen übelzunehmen, dass sie ... nicht behindert sind.
Wenn ein behinderter Mensch, der schon an sich selbst verzweifelt, auch noch sein Umfeld mit Vorwürfen überhäuft und für sein Leid verantwortlich macht, hilft das in keiner Weise. Philippe geht noch einen Schritt weiter:
Wir sind darauf angewiesen, dass die Menschen auf uns zukommen, weil die Behinderung uns in den meisten Fällen daran hindert, auf sie zuzugehen. Schlagen Sie ihnen also nicht die Tür vor der Nase zu, wenn sie bereit wären, sie zu öffnen. Legen Sie Ihren Teil des Weges zurück. Bleiben Sie freundlich. Versuchen Sie weiter, die anderen für sich einzunehmen, selbst wenn Sie nicht über die herkömmlichen Mittel verfügen, damit diese Lust bekommen, auf Sie zuzugehen.
Menschen, die leiden, egal unter welcher Form von Behinderung, neigen dazu, sich zu vernachlässigen. Ihr Leid tritt dadurch erst recht deutlich zutage, und sie wirken weniger anziehend. Wir interessieren uns nicht von allein für sie und bleiben lieber in der eigenen Welt, unter den eigenen Freunden und in einer angenehmeren materiellen Situation. Wir entfernen uns von diesen Menschen, wie auch sie sich, im Kreis des Leidens gefangen, von uns entfernen.
Menschen mit Behinderung sind vielleicht nicht immer in der Lage, den Anforderungen der Gesellschaft, was Produktivität, Aktivität und Intelligenz betrifft, zu entsprechen; dennoch haben sie ein unglaubliches Bedürfnis nach Beziehungen und Freundschaft.
Der erste Schritt, um diese Erwartung zu erfüllen, besteht darin, sie mit anderen Augen zu sehen.
Dafür muss man sich der Alterität, der »Andersheit«, öffnen, muss akzeptieren, was sich von einem selbst unterscheidet. Mit Hilfe der Etymologie kann man sich oft den tieferen Sinn eines Wortes erschließen. Alterität kommt vom Spätlateinischen alteritas und bedeutete ursprünglich Unterschied. Im 12. Jahrhundert jedoch nahm das Wort eine philosophische Dimension an, die der Veränderung, Wandlung. Und genau das wird von uns verlangt, wenn es darum geht, uns dem Anderen zu öffnen: Wir müssen hinnehmen, dass wir dabei verwandelt werden, und uns auf das Risiko der Begegnung einlassen.
Die Veränderung geschieht manchmal unbewusst. In einer Szene des Films Ziemlich beste Freunde rammt der gewalttätige Driss, ohne zu zögern, einem Autofahrer den Kopf gegen ein Parkverbotsschild, weil dieser es missachtet hatte. Später gerät Driss zum zweiten Mal in eine ähnliche Situation, doch diesmal benimmt er sich anders. Es ist ihm unangenehm, dass ihm das im Beisein seines kleinen Bruders widerfährt, der ihn aggressiver kannte und nun unfreiwillig zum Zeugen seiner tiefgreifenden Veränderung wird.
© Carl Hanser Verlag, München
Vielleicht haben Sie auch den pummeligen Jungen an der Bushaltestelle bemerkt, der den Kopf schüttelt und dabei unverständliches Zeug redet. Gut möglich, dass Sie sich in diesem Moment leicht verstört von einem der 900 000 Menschen mit geistiger Behinderung in Frankreich abgewandt haben. Das sind in etwa so viele Personen wie die, die an Alzheimer leiden (880 000).
In Deutschland lebten im Jahr 2010 laut Statistischem Bundesamt etwa 8,7 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung. Bezieht man diese Zahl auf die Gesamtbevölkerung, so ist in Deutschland etwa jeder zehnte Einwohner behindert. 7,1 Millionen davon gelten als schwerbehindert. Die Zahl der Menschen mit geistiger Behinderung liegt in Deutschland bei rund 500 000. Etwa 1,4 Millionen Deutsche sind von einer Demenzerkrankung betroffen.
Überall im öffentlichen Raum gibt es also »Unberührbare«.
Die Behinderung ist jedoch ein komplexes Thema mit vielen Gesichtern. Neben körperlichen und mentalen Beeinträchtigungen führen unter anderem schlechte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit und emotionale oder soziale Einsamkeit zum Ausschluss aus der Gesellschaft.
In Deutschland wurden im Laufe des Jahres 2007 bundesweit rund 176 000 Menschen mit Behinderung in Heimen betreut. Ambulante Unterstützung beim Wohnen in einer eigenen Wohnung oder in Wohngemeinschaften erhielten rund 93 000 Menschen mit Behinderung. Insbesondere für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf kann von einer selbstbestimmten Wahl der Wohnformen und einer gleichberechtigten Teilhabe an subjektiv bedeutsamen Lebensbereichen keine Rede sein. Und das trotz der Gleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder und trotz der im Sozialgesetzbuch IX formulierten Zielperspektiven »Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft«. Die Wohnsituation erschwert die Integration von Menschen mit Behinderung in die Gemeinde. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung liegt einige Prozentpunkte höher als die der Gesamtbevölkerung. 2005 lag die Quote unter schwerbehinderten Menschen bei knapp 17 Prozent, 2009 waren es unter 15 Prozent. Im März 2011 gab es in Deutschland 10 Prozent weniger Arbeitslose als ein Jahr zuvor. Bei schwerbehinderten Menschen hingegen stieg die Arbeitslosenquote um 4,9 Prozent. Der Aufschwung kam bei Arbeitnehmern mit Behinderung nicht an. Knapp 173 000 Menschen mit einer Behinderung sind arbeitslos. Darüber hinaus bleibt 280 000 Menschen nur die Möglichkeit, in Werkstätten für Menschen mit Behinderung zu arbeiten, da ihnen der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt verschlossen ist.
Krankheiten - seien es die eigenen oder die unserer Nächsten - können uns von einem Tag auf den anderen auf eine harte Probe stellen. Denn wie Dr. Knock sagt, die Hauptperson des Theaterstücks Knock oder der Triumph der Medizin von Jules Romain aus dem Jahr 1923: Gesunde Menschen sind nur Kranke, die von ihrem wahren Zustand nichts wissen!
Jeden Moment drohen Unfälle unser Leben zu verändern und uns in Ausgestoßene, von der Gesellschaft ausgeschlossene Menschen, zu verwandeln.
Wer kann sich also damit brüsten, kein Unberührbarer zu sein?
Viele Zuschauer haben beim Abspann von Ziemlich beste Freunde spontan geklatscht. Dieser Applaus galt sicher auch der Qualität der Produktion und der Leistung der Schauspieler. Doch war er nicht in erster Linie Ausdruck unseres intuitiven Wissens, dass wir alle jederzeit Unberührbare werden könnten? Jeden von uns könnte es treffen, und wie die beiden Hauptdarsteller im Film würden wir unvermittelt in eine Form von Behinderung abgleiten, so dass wir nicht mehr in der Lage wären, die sozialen und wirtschaftlichen Normen zu erfüllen.
Kritiker des Films haben behauptet, er würde - in einer Gesellschaft, in der nur Leistung zählt - die Verletzlichkeit des Menschen zu positiv darstellen. Doch nicht Schwäche wird hier als Ideal dargestellt, sondern Risikobereitschaft: Es geht um das Wagnis, sich auf eine Beziehung einzulassen, obwohl man sozial beziehungsweise körperlich in einer schwächeren Position ist.
Wer hält zu uns, wenn wir verwundbar geworden sind? An wen können wir uns wenden? Haben wir dann noch einen Platz in der Gesellschaft?
Die Regisseure wollten diese besondere Hinwendung zweier Personen zueinander zeigen, deren Begegnung völlig unwahrscheinlich war. Beide betonen, dass es sie stark gemacht habe, sich in ihrer jeweiligen Verletzlichkeit zusammenzuschließen.
Davon sind wir alle drei - Philippe Pozzo di Borgo, Jean Vanier und Laurent de Cherisey - fest überzeugt, denn wir erleben täglich, wie positiv sich solche Begegnungen auswirken.
Der Wert eines Menschen lässt sich nicht nur an seiner Tüchtigkeit oder an seinen Leistungen ermessen. Er hat auch viel mit der Fähigkeit zu tun, sich auf andere einzulassen. Wenn wir unsere Angst vor der Verschiedenheit überwinden, wenn wir unsere Schwächen vereinen, dann kann das Leben einen neuen Sinn bekommen und wieder witzig, zärtlich und tiefgründig sein.
In dieser Überzeugung werden wir regelmäßig durch unsere Erfahrungen bestätigt.
Darum richten wir einen Appell an Sie.
Es steht keine politische Theorie dahinter und auch keine philosophische Überlegung - es ist schlicht ein Appell an die Zuversicht.
Die Verletzlichkeit birgt wider Erwarten einen Schatz, den es zu entdecken gilt. Unsere Gesellschaft kann tatsächlich gerechter und menschlicher werden, wenn wir wieder an den tieferen Sinn der Solidarität anknüpfen. Denn nur sie bietet eine Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Sinn des Lebens.
EIN BESTIMMTER BLICK
In einem Dokumentarfilm über den Alltag in Einrichtungen für geistig behinderte Kinder fragt der Leiter der Einrichtung Fanny, die eine leichte kognitive Beeinträchtigung und eine geringfügige körperliche Behinderung hat: »Wo liegt für dich die Behinderung, Fanny? Was bedeutet sie für dich?«
Sie antwortet: »Im Blick der anderen.«
Für das Mädchen, das eine Förderschule besucht, liegt die Antwort auf der Hand. Durch ihre Behinderung kann sie nicht dem üblichen Bildungsweg folgen, aber selbstverständlich möchte sie trotzdem glücklich sein! Sie ist sich bewusst, dass die Blicke der anderen sie ausschließen und ihr die Beziehungen verwehren, nach denen sie sich sehnt.
Wir sprechen von jenem Blick, der verletzt und ausgrenzt.
Fannys spontane Antwort widerlegt die Meinung eines Drittels der Franzosen, die laut Umfrage davon überzeugt sind, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht merken, dass sie »anders« sind. Demzufolge würden sie auch nicht merken, wenn man sie diskriminiert, und könnten also nicht darunter leiden. Die meisten Menschen mit einer kognitiven Einschränkung mögen zwar nicht alle Aspekte ihrer Behinderung erfassen, sie begreifen aber vollkommen, dass ihr Leben sich von dem der anderen unterscheidet.
Der Blick, der ausschließt, sieht nur die Beeinträchtigung. Den schleppenden Gang und die unkoordinierten Gesten von Patrice, der infolge eines Schädeltraumas nach einem Motorradunfall unter motorischen und kognitiven Störungen leidet. Claras starre Gesichtszüge. Oder die katastrophalen Noten von Pierre, dessen Lese-Rechtschreib-Schwäche ihn in der Schule benachteiligt.
Letztlich ist jeder von uns darauf angewiesen, dass man ihn auf andere Weise, mit einem freundlicheren Blick, betrachtet, damit er nicht auf seine jeweilige Behinderung reduziert wird.
Wir, die kaputten Typen - das betonten Philippe Pozzo di Borgo und Abdel Sellou immer wieder in Interviews -, wir wollen nicht euer Mitleid, sondern mit anderen Augen gesehen werden, mit einem Blick, der uns als ganze Menschen wahrnimmt. Wir sehnen uns nach einem Lächeln, einem Austausch, der uns stärkt, weil er uns sagt, dass es uns gibt und dass wir wertvoll sind.
»Die größte Armut für einen Menschen ist es, unerwünscht zu sein und niemanden zu haben, der sich um ihn kümmert«, sagte Mutter Teresa.
Die seelische Not wird gelindert, wenn die Isolierung durchbrochen wird. Die Behinderung an sich macht nicht glücklich, aber sie birgt einen eigenen Reichtum, der nur durch die Beziehungen zum Anderen zum Vorschein kommen kann.
Die Signale einer Gesellschaft, die zu Höchstleistungen anspornt, ermuntern nicht gerade dazu, die eigene Behinderung in der Öffentlichkeit zu zeigen.
In dem Selbstbild behinderter Menschen ist schon Ausgrenzung enthalten. Aus Scham, dass sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, ziehen sie sich entweder zurück oder verfallen in aggressives Verhalten. Obwohl sie das natürliche Bedürfnis nach Zuneigung verspüren, ziehen manche Menschen mit Behinderung sich lieber in die Einsamkeit zurück, als Ablehnung zu riskieren. Für jemanden, der seit jungen Jahren behindert ist, wiegt das besonders schwer. Traurigerweise bestätigen die Statistiken, dass körperliche Behinderungen, wenn sie vor dem 40. Lebensjahr auftreten, feste Beziehungen erst spät entstehen lassen.
In Deutschland sind Männer und Frauen mit Behinderung im Alter zwischen 25 und 45 Jahren eher ledig als Menschen ohne Behinderung dieser Altersgruppe: Der Anteil der Ledigen unter den Menschen mit Behinderung beträgt 54 Prozent und bei Menschen ohne Behinderung 41 Prozent. Mit steigendem Alter nähern sich die Quoten - insbesondere bei den Männern - allerdings an.
Zudem reduziert sich die Wahrscheinlichkeit einer Partnerschaft, ganz besonders für Frauen. Wie soll man jemanden rumkriegen, wenn man so lädiert ist, fragte ein junges Mädchen Philippe, nachdem sie zwei Jahre im selben Rehazentrum verbracht hatten: »Das herrschende Schönheitsideal war schon vor meinem Unfall schwer zu erreichen, aber jetzt komme ich mir vor wie ein Stück Abfall, reif für die Tonne.«
Die Behinderung führt zu realen Ängsten, weil man sich verlassen fühlt, ungeliebt, ohne festen Platz in der Familie, der Gemeinschaft oder der Gesellschaft. Man sucht nach einem Schuldigen, und wenn man keinen findet, gibt man sich selbst die Schuld.
Was das angeht, bemerkt Philippe Pozzo di Borgo, habe er sich immer davor gehütet, den nicht behinderten Menschen übelzunehmen, dass sie ... nicht behindert sind.
Wenn ein behinderter Mensch, der schon an sich selbst verzweifelt, auch noch sein Umfeld mit Vorwürfen überhäuft und für sein Leid verantwortlich macht, hilft das in keiner Weise. Philippe geht noch einen Schritt weiter:
Wir sind darauf angewiesen, dass die Menschen auf uns zukommen, weil die Behinderung uns in den meisten Fällen daran hindert, auf sie zuzugehen. Schlagen Sie ihnen also nicht die Tür vor der Nase zu, wenn sie bereit wären, sie zu öffnen. Legen Sie Ihren Teil des Weges zurück. Bleiben Sie freundlich. Versuchen Sie weiter, die anderen für sich einzunehmen, selbst wenn Sie nicht über die herkömmlichen Mittel verfügen, damit diese Lust bekommen, auf Sie zuzugehen.
Menschen, die leiden, egal unter welcher Form von Behinderung, neigen dazu, sich zu vernachlässigen. Ihr Leid tritt dadurch erst recht deutlich zutage, und sie wirken weniger anziehend. Wir interessieren uns nicht von allein für sie und bleiben lieber in der eigenen Welt, unter den eigenen Freunden und in einer angenehmeren materiellen Situation. Wir entfernen uns von diesen Menschen, wie auch sie sich, im Kreis des Leidens gefangen, von uns entfernen.
Menschen mit Behinderung sind vielleicht nicht immer in der Lage, den Anforderungen der Gesellschaft, was Produktivität, Aktivität und Intelligenz betrifft, zu entsprechen; dennoch haben sie ein unglaubliches Bedürfnis nach Beziehungen und Freundschaft.
Der erste Schritt, um diese Erwartung zu erfüllen, besteht darin, sie mit anderen Augen zu sehen.
Dafür muss man sich der Alterität, der »Andersheit«, öffnen, muss akzeptieren, was sich von einem selbst unterscheidet. Mit Hilfe der Etymologie kann man sich oft den tieferen Sinn eines Wortes erschließen. Alterität kommt vom Spätlateinischen alteritas und bedeutete ursprünglich Unterschied. Im 12. Jahrhundert jedoch nahm das Wort eine philosophische Dimension an, die der Veränderung, Wandlung. Und genau das wird von uns verlangt, wenn es darum geht, uns dem Anderen zu öffnen: Wir müssen hinnehmen, dass wir dabei verwandelt werden, und uns auf das Risiko der Begegnung einlassen.
Die Veränderung geschieht manchmal unbewusst. In einer Szene des Films Ziemlich beste Freunde rammt der gewalttätige Driss, ohne zu zögern, einem Autofahrer den Kopf gegen ein Parkverbotsschild, weil dieser es missachtet hatte. Später gerät Driss zum zweiten Mal in eine ähnliche Situation, doch diesmal benimmt er sich anders. Es ist ihm unangenehm, dass ihm das im Beisein seines kleinen Bruders widerfährt, der ihn aggressiver kannte und nun unfreiwillig zum Zeugen seiner tiefgreifenden Veränderung wird.
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Autoren-Porträt von Philippe Pozzo di Borgo, Jean Vanier, Laurent de Cherisey
Jean Vanier ist einer der großen spirituellen Schriftsteller unserer Zeit. Er lebt in einer Arche-Gemeinschaft in Trosly/Frankreich, wo Menschen mit und ohne Behinderung zusammen leben.Dr. phil. Elisabeth von Thadden, geboren 1961, arbeitet als Literaturredakteurin bei der ZEIT.Bettina Bach, Jahrgang 1965, übersetzt aus dem Französischen, Englischen und Nieder-ländischen. Zu den von ihr ins Deutsche übertragenen Autoren gehören neben Didier Decoin u. a. Jan Siebelink, Mary Hooper sowie Anne Plichota und Cendrine Wolf. Bettina Bach lebt in Jena.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Philippe Pozzo di Borgo , Jean Vanier , Laurent de Cherisey
- 2012, 2. Aufl., 112 Seiten, Masse: 13 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Bettina Bach
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446241558
- ISBN-13: 9783446241558
- Erscheinungsdatum: 26.11.2012
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