Die Stadt der Träumenden Bücher / Zamonien Bd.4
Eine labyrinthartige Welt, ein mysteriöser Schattenkönig, skrupellose Bücherjäger und alberne Buchlinge - in diese absonderliche Welt gerät der junge Dichter Hildegunst von Mythenmetz. Denn sein Forscherdrang hat ihn nach Buchhaim geführt, die legendäre...
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Eine labyrinthartige Welt, ein mysteriöser Schattenkönig, skrupellose Bücherjäger und alberne Buchlinge - in diese absonderliche Welt gerät der junge Dichter Hildegunst von Mythenmetz. Denn sein Forscherdrang hat ihn nach Buchhaim geführt, die legendäre Stadt der träumenden Bücher.
Hier ist Lesen noch ein echtes Abenteuer.
Die Stadt der Träumenden Bücher von Walter Moers
LESEPROBE
Wenn man sich an den überwältigendenGeruch von vermoderndem Papier gewöhnt hatte, der aus den Eingeweiden vonBuchhaim emporstieg, wenn die ersten allergischen Niesanfälle überstandenwaren, die der überall herumwirbelnde Bücherstaub verursachte, und wenn dieAugen langsam aufhörten, vom beissenden Qualm der tausend Schlote zu tränen -dann konnte man endlich anfangen, die zahllosen Wunder der Stadt zu bestaunen.
Buchhaim verfügte über fünftausendamtlich registrierte Antiquariate und schätzungsweise tausend halblegaleBücherstuben, in denen neben Büchern alkoholische Getränke, Tabak undberauschende Kräuter und Essenzen angeboten wurden, deren Genuss angeblich dieLesefreude und die Konzentration steigerten. Es gab eine kaum messbare Zahl vonfliegenden Händlern, die auf rollenden Regalen, in Bollerwagen, Umhängetaschenund Schubkarren Druckwerk in jeder denkbaren Form feilboten. In Buchhaimexistierten über sechshundert Verlage, fünfundfünfzig Druckereien, ein DutzendPapiermühlen und eine ständig wachsende Anzahl von Werkstätten, die sich mitder Herstellung von bleiernen Druckbuchstaben und Druckerschwärzebeschäftigten. Da waren Läden, die Tausende von verschiedenen Lesezeichen undExlibris anboten, Steinmetze, die sich auf Buchstützen spezialisiert hatten,Schreinereien und Möbelgeschäfte voller Lesepulte und Bücherregale. Es gabOptiker, die Lesebrillen und Handlupen fertigten, und an jeder Ecke war einKaffeeausschank, meist mit offenem Kamin und Dichterlesungen, rund um die Uhr.
Ich sah unzählige Stationen derBuchhaimer Feuerwehr, alle auf Hochglanz poliert, mit gewaltigen Alarmglockenüber den Portalen und angespannten Pferdefuhrwerken, mit kupfernen Wassertanksauf den Anhängern. Schon fünfmal hatten verheerende Brände grosse Teile derStadt und der Bücher vernichtet - Buchhaim galt als die feuergefährlichsteStadt des Kontinents. Aufgrund der heftigen Winde, die beständig durch dieStrassen fegten, war es in Buchhaim je nach Jahreszeit entweder kühl, kalt odereisig, aber niemals warm, weshalb man sich gerne drinnen aufhielt, tüchtigheizte - und natürlich viel las. Die ständig brennenden Öfen, der Funkenflug inunmittelbarer Nachbarschaft von uralten, leicht entflammbaren Büchern - dasschuf einen wahrlich brenzligen Dauerzustand, in dem jederzeit eine neueFeuersbrunst ausbrechen konnte.
Ichmusste dem Impuls widerstehen, gleich in den erstbesten Buchladen zu stürmen undin den Folianten zu wühlen, denn dann wäre ich vor dem Abend nicht wieder herausgekommen- und ich musste mir zunächst eine Unterkunft besorgen. So strich icheinstweilen mit glänzenden Augen an den Schaufenstern vorbei und versuchte mirdiejenigen Läden zu merken, die über besonders verheissungsvolle Auslagenverfügten.
Und da waren sie, die Träumenden Bücher. So nannte man in dieser Stadt dieantiquarischen Bestände, weil sie aus der Sicht der Händler nicht mehr richtiglebendig und noch nicht richtig tot waren, sondern sich in einem Zwischenzustandbefanden, der dem Schlafen ähnelte. Ihre eigentliche Existenz hatten siehinter sich, den Zerfall vor sich, und so dämmerten sie vor sich hin, zuMillionen und Abermillionen in all den Regalen und Kisten, in den Kellern undKatakomben von Buchhaim. Nur wenn ein Buch von suchender Hand ergriffen undaufgeschlagen, wenn es erworben und davongetragen wurde, dann konnte es zuneuem Leben erwachen. Und das war es, wovon all diese Bücher träumten.
Da: Der Tiger in der Wollsockevon Caliban Sycorax, Erstausgabe! Da: Die rasierte Zungevon Adrastea Sinopa - mit den gerühmten Illustrationen von Elihu Wippel! Da: Die Mäusehotels von Wellfleisch, der legendärehumoristische Reiseführer von Yodler van Hinnen, in tadellosem Zustand! Ein Dorf namens Schneeflock von Palisaden-Honko, dievielgepriesene Autobiographie eines dichtenden Schwerverbrechers, in denVerliesen von Eisenstadt geschrieben - mit einer Signatur aus Blut! Das Leben ist schrecklicher als der Tod - diehoffnungslosen Aphorismen und Maximen von PHT Farcevol, in Fledermauspelzgebunden! Die Ameisentrommel von Sanseminavan Geisterbahner, in der legendären Spiegelschriftausgabe! Der gläserne Gast von Zodiak Glockenschrey! Hampo Henksexperimenteller Roman Der Hund, der nur im Gestern bellte- lauter Bücher, von deren Lektüre ich träumte, seit Danzelot mir davonvorgeschwärmt hatte. An jeder Fensterscheibe drückte ich meine Nüstern platt,wie ein Betrunkener tastete ich mich an ihnen entlang, und ich kam nur imSchneckentempo vorwärts. Bis ich mich schliesslich zusammenriss und beschloss,keine einzelnen Titel mehr wahrzunehmen und endlich Buchhaim als Ganzes aufmich wirken zu lassen. Ich hatte den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen,beziehungsweise die Stadt vor lauter Büchern. Nach dem behäbigen,traumverlorenen Dichterleben auf der Lindwurmfeste, das höchstens ab und zudurch eine vorübergehende Belagerung gesteigert wurde, bescherte mir dasTreiben in den Strassen von Buchhaim einen Hagelschauer von Eindrücken. Bilder,Farben, Szenen, Geräusche und Gerüche - alles war neu und aufregend. Zamonieraller Daseinsformen - und jeder hatte ein fremdes Gesicht. Auf der Feste gab esnur die immergleiche Parade von vertrauten Visagen, Verwandte, Freunde,Nachbarn, Bekannte - hier war alles unbekannt und kurios.
Tatsächlich begegnete ich auch dem einoder anderen Bewohner der Lindwurmfeste. Dann blieben wir kurz stehen,begrüssten uns höflich, tauschten ein paar Floskeln aus, wünschten unsgegenseitig einen angenehmen Aufenthalt und verabschiedeten uns wieder. Derartreservierten Umgang pflegen wir alle auf Reisen, was unter anderem damit zutun hat, dass man nicht in die Fremde gezogen ist, um seinesgleichen zubegegnen.
Nun aber weiter, weiter, dasUnbekannte erforschen! Überall standen ausgemergelte Dichter und deklamiertenlauthals aus ihren Werken, in der Hoffnung, dass irgendein Verleger odersteinreicher Mäzen vorbeischlenderte und auf sie aufmerksam wurde. Ichbeobachtete, dass einige auffällig wohlgenährte Gestalten um die Strassenpoetenherumschlichen, dicke Wildschweinlinge, die aufmerksam zuhörten und sich ab undzu Notizen machten. Das waren allerdings alles andere als freigebige Gönner,sondern Literaturagenten, die hoffnungsvolle Autoren in Knebelverträgezwängten, um sie dann gnadenlos als Geisterautoren auszupressen, bis ihnen auchdie letzte originelle Idee abgemolken war - davon hatte mir Danzelot erzählt.
Nattifftoffische Beamtepatrouillierten wachsam in kleinen Gruppen, auf der Suche nach illegalenVerkäufern, die über keine Nattifftoffenlizenz verfügten - wo sie auftauchten,wurden hastig Bücher in Säcke gestopft und Buchkarren in Bewegung gesetzt.
Die Lebenden Zeitungen - flinkfüssigeZwerge in ihren traditionellen Papierumhängen aus Zeitungsfahnen - schrienden neuesten Klatsch und Tratsch aus der Welt der Literatur durch die Gassenund liessen Passanten für geringes Entgelt die Einzelheiten auf ihren Umhängenablesen:
Schon gehört? Muliat von Kokken hat seine Erzählung»Die Zitronenpauke« meistbietend an den Melissenverlag verhökert!
Kaum zuglauben: Das Lektorat von Ogden Ogdens Roman »Ein Pelikan imBlätterteig« verzögert sich um ein weiteres halbes Jahr!
Unerhört: Das letzte Kapitel von »DieWahrheitstrinker« hat Fantotas Pemm aus »Holz und Wahn« von Uggli Prudelabgekupfert!
Bücherjäger hasteten von Antiquariatzu Antiquariat, um ihre Beute zu versilbern oder neue Aufträge zu erhalten. Bücherjäger!Man erkannte sie an den Grubenlampen und Quallenfackeln, an derwiderstandsfähigen und martialischen Kleidung aus Leder, Rüstungsteilen undKettenhemden, an den Werkzeugen und Waffen, die sie bei sich trugen: Beile undSäbel, Spitzhacken und Lupen, Seile, Bindfäden und Wasserflaschen. Einer stiegdirekt zu meinen Füssen aus der Kanalisation, ein beeindruckendes Exemplar mitEisenhelm und Drahtmaske. Das waren Schutzmassnahmen nicht nur gegen den Stauboder die gefährlichen Insekten der geheimnisvollen Welt unterhalb Buchhaims. Danzelothatte mir erzählt, dass sich die Bücherjäger unter der Erde nicht nurgegenseitig die Beute abjagten, sondern sich regelrecht bekriegten und sogartöteten. Wenn man diese rundum gepanzerte Kreatur keuchend und grunzend aus derErde kommen sah, mochte man das gerne glauben.
Aber die meisten Passanten wareneinfach nur Touristen, welche die Neugier in die Stadt der Träumenden Büchergetrieben hatte. Viele von ihnen wurden in Herden durch die Gassen getrieben,von Führern mit blechernen Flüstertüten, die ihrer Gruppe zum Beispielzuschrieen, in welchem Haus Urian Nussek Das Tal der Leuchttürme anwelchen Verleger verschachert hatte. Schnatternd und die Hälse verrenkend wieaufgeregte Gänse, folgten ihnen die Besucher und staunten über jede noch sobanale Kleinigkeit.
Immer wieder verstellte mir irgendeinblutschinkischer Grobian den Weg und drückte mir einen dieser Zettel in dieHand, auf denen stand, welcher Dichter sich in welcher Buchhandlung heute abendzur Holzzeit die Ehre geben und ausseinem Werk vorlesen würde. Es dauerte eine Weile, bis ich gelernt hatte, dieseForm von Wegelagerei einfach zu ignorieren.
Überall wankten kleinwüchsige Daseinsformenherum, die als Bücher auf Beinen verkleidet waren und so zum Beispiel für Die Meerjungfrau in der Teetasse oder Das Käferbegräbnis Reklame liefen. Gelegentlichrempelten sie gegeneinander, weil in den Buchattrappen die Sicht beschränktwar. Dann kippten sie meistens geräuschvoll um und versuchten anschliessendunter allgemeinem Gelächter, wieder auf die Beine zu kommen.
Staunend bewunderte ich dieFähigkeiten eines Strassenkünstlers, der mit zwölf dickleibigen Büchernjonglierte. Wer jemals ein Buch in die Luft geworfen und wieder aufzufangenversucht hat, der weiss, wie schwierig das ist - ich sollte allerdingshinzufügen, dass der Jongleur über vier Arme verfügte. Andere Strassenkünstlerhatten sich als populäre Figuren der zamonischen Literaturgeschichte verkleidetund gaben auswendig gelernte Stellen aus den entsprechenden Werken zum besten,wenn man ihnen etwas Geld hinwarf. An einer einzigen Strassenkreuzung sah ichHario Schunglisch aus Die Gewürfelten, Oku Okra aus Wenn die Steine weinen und die schwindsuchtgeplagteProtagonistin Zanilla Hustekuchen aus Gofid Letterkerls Meisterwerk Zanilla und der Murch.
»Ich bin nur eine Berghutze«, rief dieZanilla-Darstellerin gerade voller Dramatik, »und du, mein Geliebter, du bistein Murch. Wir werden niemals zueinanderfinden. Lass uns gemeinsam von der Dämonenklamm springen!«
Diese wenigen Sätze genügten bereits,um mir wieder die Tränen in die Augen zu treiben. Gofid Letterkerl war einGenie! Nur mit Mühe riss ich mich von dem Schauspiel los.
Weiter! Weiter! Auf Plakaten in denSchaufenstern, die ich aufmerksam studierte, wurde für Deklamationsabende,literarische Salons, Buchpremieren und Reimwettbewerbe geworben. FliegendeHändler rissen mich immer wieder davon los, versuchten, mir ihre abgegriffenenSchwarten aufzudrängen und verfolgten mich ganze Strassenzüge lang, lauthalsaus ihrem Ramsch deklamierend.
Auf der Flucht vor einem von diesenzudringlichen Kerlen kam ich an einem schwarzgestrichenen Haus vorbei, überdessen Tür eine Holztafel annoncierte, dass es das Kabinett der GefährlichenBücher sei. Ein Hundling im roten Samtumhang schlich davorauf und ab und raunte den Passanten mit furchterregend gebleckten Zähnen zu:»Betreten des Kabinetts der Gefährlichen Bücherauf eigene Gefahr! Eintritt für Kinder und Greise verboten! Rechnen Sie mitdem Schlimmsten! Hier gibt es Bücher, die beissen können! Bücher, die Ihnen nachdem Leben trachten! Giftige, würgende und fliegende Bücher! Alle echt! Das istkeine Geisterbahn, das ist die Wirklichkeit, meine Herrschaften! Machen Sie IhrTestament und küssen Sie Ihre Liebsten, bevor Sie das Kabinett der GefährlichenBücher betreten!«
Aus einem Nebenausgang wurden inregelmässigen Abständen lakenbedeckte Körper auf Bahren herausgetragen, und ausden zugenagelten Fenstern des Hauses drangen gedämpfte Schreie - trotzdemströmten die Zuschauer in Scharen in das Kabinett.
»Das ist nur eine Touristenfalle«,sprach mich ein buntscheckig gekleideter Halbzwerg an. »Niemand wäre sobescheuert, echte Gefährliche Bücher der Öffentlichkeitzugänglich zu machen. Wie wärs mit etwas wirklich Authentischem? Interessiertan einem Orm-Rausch?«
»Was?« fragte ich irritiert zurück.
Der Zwerg öffnete sein Gewand undpräsentierte mir ein Dutzend kleiner Fläschchen, die in der Innenseitesteckten. Er sah sich nervös um und schloss den Umhang wieder. »Das ist das Blutvon echten Dichtern, in denen das Orm kreist«, flüsterte er verschwörerisch.»Ein Tropfen davon in ein Glas Wein, und du halluzinierst ganze Romane! Nurfünf Pyras das Fläschchen!«
»Nein, danke!« wehrte ich ab. »Ich binselber Dichter!«
»Ihr Lindwurmfeste-Snobs haltet euchalle für was Besonderes!« rief mir der Zwerg nach, als ich mich hastigentfernte. »Ihr dichtet auch nur mit Tinte! Und das Orm, das erlangen auch voneuch nur die wenigsten!«
Herrje, ich war offensichtlich ineine der schäbigeren Ecken Buchhaims geraten. Erst jetzt bemerkte ich, dasshier auffällig viele Bücherjäger herumlungerten und mit zwielichtigen Gestaltendunkle Geschäfte tätigten. Juwelenbesetzte Bücher wurden aus Ledersäcken geholtund wechselten gegen dicke Beutel voller Pyras den Besitzer. Das musste soetwas wie ein Schwarzer Markt sein, auf den ich da geraten war.
»An Büchern von der Goldenen Liste interessiert?« fragte mich ein von Kopfbis Fuss in dunkles Leder gekleideter Bücherjäger. Er trug das Mosaik einesTotenschädels als Maske, einen Gürtel mit einem Dutzend Messern daran und zweiÄxte in den Stiefeln. »Komm mit in die dunkle Gasse da hinten, dann zeig ichdir Bücher, von denen du bisher nicht mal geträumt hast.«
»Vielen Dank!« rief ich, während icheilig das Weite suchte. »Kein Interesse!«
Der Bücherjäger lachte dämonisch. »Ichhab auch gar keine Bücher!« grölte er mir hinterher. »Ich wollte dir nur denHals umdrehen und deine Hände abschneiden, um sie in Essig einzulegen und zuverkaufen! Reliquien von der Lindwurmfeste sind mächtig begehrt in Buchhaim.«
Ich beeilte mich, dieses obskureViertel zu verlassen. Ein paar Gassen weiter war wieder alles normal, nurharmlose Touristen und Strassenkünstler, die populäre Schauspiele mitMarionetten inszenierten. Ich atmete auf. Vermutlich hatte der Bücherjäger nureinen finsteren Scherz gemacht, aber der Gedanke, dass die mumifiziertenKörperteile von Lindwürmern in Buchhaim einen gewissen Marktwert besassen, liessmich schaudern.
Ich tauchte wieder ein in den Stromder Passanten. Eine ganze Schulklasse von niedlichen Fhernhachenzwergentrippelte schüchtern und händchenhaltend vor mir her. Mit grossen leuchtendenAugen hielten sie Ausschau nach ihren Lieblingslyrikern.
»Da! Da! Hosian Rapido!« kreischtensie plötzlich und zeigten aufgeregt mit ihren kleinen Fingern auf irgendjemand, oder »Da! Da! Keilhard der Empfindsame trinkt einen Kaffee!«. Und dannwurde regelmässig mindestens einer in ihrer Gruppe ohnmächtig.
Ich wanderte und wanderte, und ich mussgestehen, dass all die Wunder, die ich dabei erblickte, meinErinnerungsvermögen überfordern. Es war, als ginge man in einemverschwenderisch illustrierten Buch spazieren, in dem ein künstlerischerEinfall den nächsten übertrumpfte. Wandelnde Buchstaben, die Reklame fürmoderne Druckerpressen liefen. Hauswände, auf die bekannte Romanfiguren gemaltwaren. Denkmäler für Dichter. Antiquariate, aus denen die Schwarten förmlichauf die Strasse quollen. Daseinsformen aller Art, die in den Bücherkistenwühlten und sich darum rissen. Riesige Midgard-Schlangen, die gewaltige Karrenvoll antiquarischem Ramsch zogen, mit grobschlächtigen Rübenzählern darin, dieden Schund fuderweise in die Menge schleuderten. In dieser Stadt musste man sichandauernd ducken, um nicht von einem Buch am Kopf getroffen zu werden.
Ich fing in all dem Trubel nurSatzfetzen auf, aber jedes Gespräch schien sich in irgendeiner Form um Bücherzu drehen:
» mitSchrecksenliteratur kannst du mich in den Werwolfwald jagen «
» liestheute abend zur Holzzeit in der Buchhandlung Goldschnitt «
»Erstausgabe von Aurora Janus zweitem Roman gekauft, mit dem doppeltenDruckfehler im Vorwort, für nur drei Pyras «
» wenn einerdas Orm draufhat, dann ja wohl Dölerich Hirnfidler «
»typographisch eine Schande für die ganze Druckbranche «
» einenFussnotenroman müsste man schreiben, nix als Fussnoten zu Fussnoten, das wärs doch«
Endlich blieb ich an einer Kreuzungstehen, drehte mich einmal um die eigene Achse und zählte dabei die Buchläden,die sich in den abgehenden Strassen befanden: es waren einundsechzig. Das Herzschlug mir bis zum Hals. Hier schienen Leben und Literatur identisch zu sein,alles kreiste um das gedruckte Wort. Das war meine Stadt. Das war meine neueHeimat.
© Piper Verlag
Autorenporträtvon Walter Moers
Walter Moers wurde am 24. Mai 1957 in Mönchengladbachgeboren. Das Multitalent Moers zeichnet Comics, illustriert und schreibt undist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Gegenwart. Seit 1984zeichnet er Comics, unter anderem für die Satirezeitschrift "Titanic". Nach derSchule und einigen Gelegenheitsjobs hatte er zunächst eine kaufmännische Lehrebegonnen. 1988 wurde die erste Geschichte von "KäptnBlaubär" publiziert, eine Erfolgsgeschichte in TV, als Buch und Hörspielohnegleichen. Zu den bekanntesten Comic-Figuren für Erwachsene zählen "Daskleine Arschloch" und "Adolf, die Nazisau". Auch die Blaubär-Adaption für Erwachsene, "Die 13 Leben des Käptn Blaubär", wird zum grossen Erfolg.
- Autor: Walter Moers
- 2010, 15. Aufl., 480 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Masse: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492246885
- ISBN-13: 9783492246880
- Erscheinungsdatum: 01.04.2006
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