Wohin die Sonne geht
Die Geschichte der Rose O’Malley, die vom Schicksal durch den amerikanischen Westen getrieben wird und sich als eigenwillige Selfmadefrau in einer rauen Männerwelt behauptet. Ihr bewegtes Leben wird von der Suche nach dem Glück und der...
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Produktinformationen zu „Wohin die Sonne geht “
Die Geschichte der Rose O’Malley, die vom Schicksal durch den amerikanischen Westen getrieben wird und sich als eigenwillige Selfmadefrau in einer rauen Männerwelt behauptet. Ihr bewegtes Leben wird von der Suche nach dem Glück und der wechselhaften Liebe zu Frank Catlow bestimmt, einem unsteten Abenteurer, der immer wieder ihre Wege kreuzt und sie zu neuen Ufern aufbrechen lässt.
Lese-Probe zu „Wohin die Sonne geht “
Wohin die Sonne geht von Christopher Ross1
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Rose O'Malley war vierzehn, als sie ihren Eltern davonlief. Ihr Vater war viel zu betrunken, um das zu tun, was er immer getan hatte, und ihre Mutter war im Schaukelstuhl auf der Veranda eingeschlafen, das zerfledderte Märchenbuch auf dem Schoß. Sie lebte seit vielen Jahren in einer Traumwelt und merkte gar nicht, dass es mit der Farm bergab ging. Rose musste kochen, waschen und bügeln, und wenn ihr Vater zur Flasche griff, musste sie sich hinter den Pflug stellen und das Feld bestellen. »Irgendwann hau ich ab«, hatte sie schon vor drei Jahren geschworen, als ihr Vater zum ersten Mal zudringlich geworden war. Sie schlüpfte in ihren Overall, griff nach dem Bündel mit den Lebensmitteln, die sie aus der Vorratskammer genommen hatte, und stieg aus dem Fenster. Der Ackergaul schnaubte unwillig, als sie ihn aus dem Stall holte. Niemand merkte, wie sie auf den knochigen Rücken des Pferdes stieg und nach Westen ritt. Ihre Augen waren auf den fernen Horizont gerichtet.
Später würde sie sich noch oft an diese Nacht erinnern. Der Mond stand voll über den Hügeln und schwamm in den Wasserlachen, die seit dem letzten Regen auf den Wegen standen. Ein kalter Wind strich über die kargen Felder und fegte loses Gestrüpp von den Hängen herab. Die schweren Hufe des Ackergauls trotteten über die Holzbrücke, die die Farm vom Regierungsland jenseits des schmalen Flusses trennte. Das Haus blieb im Halbdunkel der Vollmondnacht zurück, und nicht einmal der Hund, der neben dem Schaukelstuhl ihrer Mutter auf der Veranda döste, hinderte sie an der Flucht. Sie blickte sich nicht um, während sie den Ackergaul über den Feldweg trieb, und war froh, als sie über den nächsten Hügel ritt und das Farmhaus der Nachbarn im Tal liegen sah.
Unter der großen Eiche, die auf einer Anhöhe oberhalb des Farmhauses ihre knorrigen Äste ausbreitete, zügelte sie den Ackergaul. »He, Joey, bist du da?«, rief sie leise. Der Junge meldete sich nicht. Sie blickte zum Farmhaus hinunter und ließ enttäuscht die Schultern hängen. Joey hatte fest versprochen, mit ihr nach St. Louis zu gehen und sie zu heiraten, sobald sie erwachsen waren. Er hatte ein Gewehr zum Geburtstag bekommen, und sie hatte sich darauf verlassen, dass er unterwegs einige Kaninchen oder Wachteln schießen würde. Ihre Vorräte reichten höchstens bis zur Biegung des großen Flusses, und die war ein ganzes Stück entfernt. »Joey! Wo steckst du denn?«
Sie wartete eine halbe Stunde, ohne abzusteigen, blieb geduldig sitzen und blickte zur Farm hinunter. Der Mond zauberte helle Flecken auf die Hauswände. Außer einem Hund, der über den Hof trottete und im Stall verschwand, war niemand zu sehen. Die Fenster blieben dunkel. Die Farm wirkte wie ausgestorben, und nur das Grunzen einiger Schweine, die in einer Koppel hinter dem Haus schliefen, drang an ihre Ohren. Joey hatte kalte Füße bekommen. Er hatte sich in seinem Bett verkrochen und ließ sie im Stich. Er war nicht einmal gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. »Wenigstens das Gewehr hätte er mir geben können«, schimpfte Rose leise.
Sie schüttelte ärgerlich den Kopf und ritt auf den Weg zurück. »Der kommt nicht mehr«, sagte sie zu dem Ackergaul, der unwillig schnaubte und mit gesenktem Kopf nach Westen stapfte. Sie dachte nicht daran, zur Farm zu reiten und an sein Fenster zu klopfen, das wäre viel zu gefährlich gewesen. Wenn er die Absicht gehabt hätte, mit ihr zu fliehen, wäre er gekommen. Anscheinend zog er es vor, bei seinen Eltern zu bleiben. »Willst du ewig in Illinois bleiben? Willst du auf einer blöden Farm versauern und ewig hinter Kühen und Schweinen herlaufen? Hast du keine Lust, nach St. Louis zu gehen und die großen Dampfer auf dem Fluss zu sehen? Willst du nicht wissen, wie es im Westen aussieht?« Wenn sie es recht überlegte, hatte er wenig begeistert ausgesehen, als sie davon geschwärmt hatte, von zu Hause wegzulaufen. Seine Eltern waren in Ordnung. Seine Mutter sagte kaum was, und sein Vater schlug ihn manchmal, wenn er etwas falsch machte, aber sonst war nichts gegen sie einzuwenden. Er hatte nie weggewollt, gestand sie sich ein, er hatte nur vom Heiraten gesprochen, damit sie sich nicht wehrte, wenn er seine Lippen auf ihren Mund drückte. Einmal hatte er es getan, und sie hatte nichts dabei empfunden. Er hatte nach Rindfleisch und Bohnen geschmeckt. »Soll dich doch der Teufel holen«, verwünschte sie ihn, »ich komme auch ohne dich zurecht!«
Sie blieb auf dem Feldweg, der zwischen den Maisfeldern ihrer Nachbarn zur breiten Kutschenstraße führte. Beinahe trotzig trieb sie den Ackergaul nach Westen. Sie würde es auch ohne den Jungen schaffen! St. Louis war eine große Stadt, das wusste sie von einem Nachbarn, der auf einem Scheunenfest davon erzählt hatte, dort würde man sie bestimmt nicht entdecken. Wenn ihre Eltern überhaupt nach ihr suchten! Sie bezweifelte es. Ihr Vater würde bis zur Kutschenstraße laufen und mit einigen Nachbarn sprechen, aber sobald der Ackergaul zurückkam, würde er die Suche aufgeben. Rose hatte einen Brief auf den Tisch gelegt: »Ich gehe fort! Macht euch keine Sorgen! Eure Rose.« Kein freundlicher Brief, aber mehr war ihr nicht eingefallen. Ihr Vater hatte sie ausgenutzt und gequält, und ihre Mutter lebte sowieso in einer anderen Welt. Nein, sie würden ihr nicht nachweinen. »Sei froh, dass wir sie endlich los sind!«, würde ihr Vater sagen.
Rose wusste genau, was sie wollte. Jahrelang hatte sie darüber nachgedacht, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Bereits vor drei Jahren, als ihr Vater zum ersten Mal zu ihr gekommen und sie berührt hatte, war ihr klar gewesen, dass sie ihren Eltern davonlaufen würde. Mit ihrer Mutter hatte sie nie darüber gesprochen. Seit jener regnerischen Nacht, als der Arzt in seinem Zweispänner verunglückt und niemals bei ihnen aufgetaucht war, hatte die viel zu schnell gealterte Frau kaum noch lichte Momente. Sie hatte einen toten Jungen geboren und sich in eine geheimnisvolle Welt zurückgezogen, die anderen Menschen verschlossen blieb. Sie las immer im selben Märchenbuch und schlief meist auf der Veranda, selbst wenn es regnete. Rose hatte mehrmals versucht, in die Gedanken ihrer kranken Mutter vorzudringen, und immer war sie gescheitert. Ihr Vater kaufte billigen Fusel und lebte sein eigenes Leben. Sie musste dafür büßen, dass er in seinem Suff nicht mehr arbeitete, und ihm das geben, was ihre Mutter ihm nicht mehr geben konnte. Jetzt fragte sie sich, wie sie die letzten Monate überstanden hatte. Jeden Abend hatte sie am Fenster gestanden und in die untergehende Sonne geblickt. Sie hatte den Tag herbeigesehnt, an dem sie ihr nach Westen folgen würde, in ein neues Leben und in eine bessere Zukunft.
Mit Joey wäre vieles einfacher gewesen. Er war zwei Jahre älter als sie und hätte sie beschützen können. Mit ihren rotblonden Locken fiel sie überall auf, und ihr Vater war der lebende Beweis dafür, dass es Männer gab, die keine Rücksicht auf junge Mädchen nahmen. Allein war sie immer in Gefahr. Nicht einmal für eine erwachsene Frau schickte es sich, allein zu reisen. Wenn sie anderen Menschen begegnete, würde sie viele Fragen beantworten müssen. Aber der Junge war nicht gekommen, und es half nichts, wenn sie ihm nachweinte. Es führte kein Weg zurück. Sie musste allein zurechtkommen und sich dem neuen Leben stellen. St. Louis war eine große Stadt, dort würde sie Arbeit finden und genug Geld verdienen, um sich einem Wagenzug nach Westen anschließen zu können. Im fernen Westen lag das gelobte Land, das Paradies, auch das wusste sie von einem Nachbarn, der eine Zeitung aus dem Osten mitgebracht hatte. »Geh nach Westen, junger Mann!«, hatte auf der Titelseite gestanden. Die Zukunft der jungen Männer lag im Westen , und wo sie glücklich werden konnten, wurden auch starke Frauen gebraucht.
Sie erreichte den Kutschenweg und blinzelte in die aufgehende Sonne. Ihre Strahlen verdrängten die Dunkelheit und warfen goldene Streifen auf den reifen Mais, der an den hoch gewachsenen Stauden hing. Sie aß etwas von dem Maisbrot, das sie eingepackt hatte, und trank frisches Wasser aus ihrer Flasche. In einer Pappel zwitscherten Vögel. Der Himmel war nur von wenigen Wolken bedeckt und kündigte einen heißen Spätsommertag an. Sie zog ihren ledernen Schlapphut in die Stirn und ritt weiter. Wenn sie sich beeilte, konnte sie am frühen Abend an der Biegung des Mississippi sein. Er war die Grenze zwischen dem zivilisierten Osten und dem wilden Westen, so hatte es in der Zeitung gestanden. Sie war einige Jahre zur Schule gegangen und konnte besser lesen als ihr Vater, der die Schule immer als überflüssigen Quatsch abgetan hatte, besonders für ein Mädchen, das sowieso einmal heiraten würde. »Was willst du mit Büchern?«, hatte er noch vor einigen Wochen gesagt. »Als Farmersfrau musst du kochen und pflügen können, sonst heiratet dich kein Mann!«
Es hatte keinen Zweck, ihm zu sagen, dass sie keinen Farmer heiraten wollte. Sein Horizont reichte nur bis zum Rand seiner Felder, und er wusste nicht, dass es im Westen ein gelobtes Land gab. Der Alkohol hatte seine Sinne vernebelt. Er war nur noch ein Schatten des Mannes, der vor vielen Jahren aus Irland gekommen war und in New York genug Geld verdient hatte, um in Illinois eine Farm zu kaufen. Sie konnte sich nicht an diesen Mann erinnern, aber ihre Mutter hatte oft von ihm erzählt, als sie noch bei Sinnen gewesen war. Sie hatten Irland verlassen, als die Kartoffelernte ausgeblieben war. Ihre Eltern waren bankrott gegangen und hatten sich mit ihrem ersparten Geld auf einem Segler nach New York eingeschifft. Zwanzig Passagiere waren während der Überfahrt an verdorbenem Wasser gestorben, aber sie hatten es geschafft und waren in New York von Bord gegangen. Ihr Vater hatte in einem Lagerhaus gearbeitet, und ihre Mutter hatte für die reichen Herrschaften genäht, bis das Geld für die Weiterfahrt gereicht hatte. In einem grünen Tal, das sie an die alte Heimat erinnerte, hatten sie die Farm aufgebaut. Dann war die Fehlgeburt gekommen, ihre Mutter hatte den Verstand verloren, und ihr Vater war in den Alkohol geflüchtet. Er hatte die Farm vernachlässigt, ihre Mutter sich selbst überlassen und seinen Zorn an seiner Tochter ausgelassen. Aus dem starken Mann, der sich gegen das Schicksal aufgelehnt hatte, war ein schwacher Taugenichts geworden, der nicht mehr mit dem Leben zurechtkam und seine eigene Tochter berührte. Es war höchste Zeit gewesen, ihn zu verlassen und einen eigenen Weg zu gehen, auch wenn es das Ende für ihre Eltern und die Farm bedeuten konnte.
Noch hatte sie es nicht geschafft. Es war immerhin möglich, dass ihr Vater aus lauter Wut nach ihr suchte. Sie würde sich erst sicher fühlen, wenn sie den Fluss überquert hatte und in St. Louis untergetaucht war. Sie hatte keine Angst vor der großen Stadt, sie hatte überhaupt keine Angst. Sie freute sich darauf, die fremde Welt zu erobern und neue Menschen kennenzulernen. Sie hatte die unsittlichen Berührungen ihres Vaters überstanden und war gefestigt genug, sich jeder Herausforderung zu stellen. Was die jungen Männer schafften, die nach Westen gingen, würde auch sie fertig bringen. Sie war stärker als die meisten Jungen der Nachbarschaft, sogar Joey konnte ihr nicht das Wasser reichen. Aber sein neues Gewehr hätte sie gern gehabt.
Die Kutschenstraße führte zu einer Pferdewechselstation, die zwischen den Maisfeldern in einer Senke lag. Neben dem Haus, eher eine Bruchbude aus zusammengezimmerten Brettern, lagen eine Koppel und ein Stall. Ein junger Mann stand vor dem Eingang und blickte ihr misstrauisch entgegen. Er trug braune Wollhosen und ein kariertes Hemd unter den Hosenträgern. Sein Schlapphut war fleckig. Er kaute missgelaunt auf einem Strohhalm und rief: »Ohne Geld brauchst du gar nicht erst abzusteigen! «
Anscheinend hatte er nicht gemerkt, dass er es mit einem Mädchen zu tun hatte, obwohl sie bezweifelte, dass er seinen Hut abgenommen hätte. »Keine Bange«, erwiderte sie betont forsch. Sie wusste, dass sie nicht besonders hübsch aussah. Ihr Overall war löchrig und steckte in schmutzigen Stiefeln, und ihre rotblonden Locken waren unter dem speckigen Hut versteckt. Ihre dunkelgrünen Augen lagen im Schatten der breiten Krempe. Sie deutete auf die Tränke. »Darf ich meinen Gaul saufen lassen?«
»Meinetwegen«, antwortete er, »aber beeil dich! Gleich kommt die Kutsche!« Anscheinend hielt er sie für einen Satteltramp, einen dieser arbeitslosen Männer, die ziellos durch das Land zogen und sich ihr Essen zusammenbettelten. Auch auf ihrer Farm waren solche Männer aufgetaucht, und wenn ihr Vater nicht zu Hause gewesen war, hatte sie ihnen immer etwas gegeben. Der Junge deutete auf den Ackergaul. »Woher hast du den Klepper?«
»Ich hab ihn nicht gestohlen«, sagte sie, »der gehört meinen Eltern. Wir haben eine Farm, dort drüben, hinter den Bergen.« Sie zeigte nach Süden, zu den sonnenbeschienenen Hügeln. »Ich hol ein neues Pferd, das wir von meinem Onkel gekauft haben.«
Die Lüge klang so gut wie jede andere, und er hörte auch gar nicht mehr zu. »Tränk deinen Gaul, und dann reite weiter!«, sagte er grimmig. Er stieß die Tür auf und rief: »Pa! Die Kutsche kommt!«
Rose stieg von ihrem Ackergaul und führte ihn zur Tränke. Vom vielen Reiten taten ihr alle Knochen weh. Sie war müde und hätte nichts dagegen gehabt, mit den Passagieren der Kutsche in die Station zu gehen und sich von den Strapazen des langen Rittes zu erholen. Es roch nach Kaffee und gebratenem Speck. Ein solches Frühstück war besser als kaltes Wasser und Maisbrot und hätte sie für den langen Ritt nach St. Louis gestärkt, aber der junge Mann hatte etwas gegen sie, und sein Vater sah auch nicht besonders freundlich aus. Der bärtige Mann bedachte sie mit einem misstrauischen Blick, als er der Kutsche entgegenging.
Sie ließ den Ackergaul saufen und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Der junge Mann blieb mit offenem Mund stehen, als sie den Schlapphut abnahm und ihre Lockenpracht entblößte. »Noch nie ein Mädchen gesehen?«, fragte sie patzig. Sie setzte den Hut wieder auf und schwang sich auf den Rücken des Tieres. Sie hätte gern einen Sattel gehabt, aber den hatte ihr Vater verkauft.
Rose wartete, bis die Kutsche in den Hof gerollt war, und ritt langsam davon. Sie legte grüßend eine Hand an die Hutkrempe, als die Passagiere ausstiegen. Ein vornehmer Mann in einem dreiteiligen Anzug und schwarzen Schuhen, die selbst in der aufwallenden Staubwolke noch glänzten. Seine dunklen Augen wurden von buschigen Brauen beschattet, und sein pechschwarzes Haar, das in der Mitte gescheitelt und nach hinten gekämmt war, bildete einen scharfen Kontrast zu seiner blassen Haut. Die Frau, die mit ihm ausgestiegen war, trug ein braunes Reisekostüm, das am Hals von einer Brosche zusammengehalten wurde, und einen fliederfarbenen Hut mit Rüschen. Ihr Gesicht wirkte sehr streng, als sie zwei Schritte vor ihrem Mann zum Haus ging.
So vornehme Leute hatte Rose noch nie gesehen. Sie zügelte ihren Ackergaul und blickte neidisch zurück. In fünf oder sechs Jahren würde sie auch wie diese Frau aussehen, da war sie ganz sicher. Sie würde ins gelobte Land fahren und viel Geld verdienen, und dann würde sie sich ein noch schöneres Kleid kaufen. Sie beobachtete, wie die Frau ihre Röcke raffte und zum Haus hinaufstieg, und erschrak, als der junge Mann von den Pferden kam und scheinbar unabsichtlich gegen den vornehmen Herrn stieß. »Passen Sie doch auf!«, schimpfte der Gentleman.
Der junge Mann entschuldigte sich, und Rose sah, wie er die Brieftasche des Gentleman in seiner Tasche verschwinden ließ. Sie war fassungslos. »He«, rief sie, ohne darüber nachzudenken, was ihre Einmischung für Folgen haben konnte, »gib das zurück! «
Sie lenkte ihren Ackergaul auf den Hof zurück und riss ihren Hut vom Kopf. »Sir! Warten Sie! Er hat Ihre Brieftasche gestohlen! « Der vornehme Herr und seine Frau blieben stehen und blickten sie überrascht an. Die Frau verzog geringschätzig den Mund, als wäre es unter ihrer Würde, sich mit einem schmutzigen Mädchen einzulassen. »Worauf warten wir noch, John? Ich habe Hunger!«
»Was hast du gesagt?«, ließ der vornehme Herr sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine Stimme klang warm und freundlich, obwohl Rose einen harten Akzent heraushörte. Er klang wie der deutsche Farmer, der sich in den Hügeln niedergelassen hatte.
Der junge Mann, der die Brieftasche genommen hatte, winkte schnell ab. »Hören Sie nicht auf sie, Sir! Das ist 'ne herumziehende Bettlerin, die lügt doch, wenn sie den Mund aufmacht!«
»Er hat Ihre Brieftasche gestohlen!«, sagte Rose. Sie deutete anklagend auf den jungen Mann. »In seiner rechten Hosentasche! «
Der vornehme Herr griff in seine Jackentasche, stellte fest, dass die Brieftasche fehlte, und ging auf den jungen Mann zu. »Das werden wir gleich haben«, sagte er, und bevor der Dieb etwas dagegen einwenden konnte, hatte er die Brieftasche aus seiner Hose gezogen. Er steckte sie mit einem kalten Lächeln zurück.
»Das wirst du mir büßen, du Schlampe!«, schimpfte der Dieb. »Noch ein Wort, und ich lasse die Polizei holen!«, brachte ihn der vornehme Herr zum Schweigen. Er zog eine Münze hervor und reichte sie dem Mädchen. »Wie heißt du, Kleine?«, fragte er. »Rose O'Malley«, antwortete sie.
»Aus Irland, nicht wahr?«
»Ich bin hier geboren, Sir.«
»Ich bin John Schultz«, stellte er sich vor, »vielen Dank! Das war sehr aufmerksam von dir! Wenn du mal nach St. Louis kommst und Ärger hast, lass nach mir rufen!« Er reichte ihr seine Visitenkarte, ohne auf den missbilligenden Blick seiner Frau zu achten, und lächelte sie freundlich an. »Viel Glück, Rose O'Malley!«
»Herzlichen Dank, Mister Schultz.« Sie verbeugte sich tiefer als gewohnt und betrachtete die geschwungene Schrift auf der Visitenkarte, als sie vom Hof auf die breite Kutschenstraße ritt.
2
Die Straße wand sich zwischen wogenden Maisfeldern nach Westen, führte an einem schmalen Fluss entlang, der bewegungslos in der schwachen Sonne zu verharren schien. Im dunklen Wasser spiegelten sich die Wolken, die am zweiten Tag ihrer Flucht aufgezogen waren. Rose schlief am anderen Ufer, weit genug von der Kutschenstraße entfernt, um nicht von vorbeiziehenden Händlern entdeckt zu werden. Ein Mädchen, das allein unterwegs war und die Nacht im Freien verbrachte, erregte immer Misstrauen. Tagsüber kümmerte sich kaum jemand um sie. Die Männer auf den schweren Fuhrwerken grüßten freundlich und hielten sie wohl für die Tochter eines Farmers, die zur Maisernte ritt. Ein Arzt, der in seinem Zweispänner von einer schwangeren Frau zurückkehrte, wechselte ein paar Worte mit ihr, und sie erzählte von einer Tante, die sie nach langer Zeit besuchen wollte. Ihre einzige Tante war vor zwei Jahren gestorben.
Am Abend des dritten Tages erreichte sie die Biegung des großen Flusses. Sie war noch nie am Mississippi gewesen, kannte den Fluss nur aus Erzählungen und stand staunend am schilfbewachsenen Ufer. Das Wasser war schmutzig, beinahe dunkelbraun, und ihr wurde klar, warum man den Mississippi auch »Big Muddy« nannte. Der Lehm, der flussaufwärts von den Ufern gebrochen war, trieb mit der Strömung zum Meer. Das andere Ufer lag irgendwo in der untergehenden Sonne, es schien meilenweit entfernt. Von der Sonne gebleichtes Treibholz schaukelte in den Wellen. Der Fluss schwappte gurgelnd durch das Schilf, und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück, aus Angst, von der gierigen Strömung erfasst und mitgerissen zu werden.
Sie suchte sich einen Platz in respektvoller Entfernung vom Ufer und legte sich unter einen Baum, dessen Äste bis auf den Boden reichten. Sie hatte keine Decke mitgenommen, und der frische Wind, der über den Fluss trieb, ließ sie frösteln. Sobald sie Arbeit gefunden hatte, würde sie wieder unter einem festen Dach schlafen, auf einer voll gestopften Matratze mit einem Kopfkissen und warmen Decken. Wenn die Münze, die sie von dem vornehmen Herrn bekommen hatte, nicht reichte, würde sie sich einen Vorschuss geben lassen und in eine Pension ziehen. So hatte ihr Nachbar die preiswerten Herbergen genannt, die es überall in der Stadt geben sollte. Sie würde bestimmt eine Anstellung finden. St. Louis war eine riesige Stadt, beinahe so groß wie die Städte an der Ostküste, und es gab viele Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Vielleicht konnte sie in einem Laden aushelfen. Sie würde dem Besitzer erzählen, dass sie ihre Eltern verloren hatte und bei einer armen Tante wohnte.
Das Rauschen des Flusses sang sie in den Schlaf. In ihrem Traum trug sie das braune Reisekostüm, das die Frau des vornehmen Herrn bei der Pferdewechselstation getragen hatte, und einen fliederfarbenen Hut mit Blumen aus kostbarer Seide. Sie hatte die Taschen voller Geld und wohnte in einem Haus, das dreimal so groß wie ihr Farmhaus war. Ein Diener in einer fantasievollen Uniform half ihr aus der goldenen Kutsche. »Willkommen zu Hause, Mrs. O'Malley«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung, und sie raffte ihre Röcke und stieg die Treppe zu der herrschaftlichen Villa empor. Die geschliffenen Steine eines großen Kristallleuchters funkelten im hereinfallenden Sonnenlicht, als sie den Flur betrat und vor der breiten Treppe wartete.
Ein lang gezogenes Tuten beendete ihren Traum. Sie schreckte hoch und sah die Lichter eines Dampfers, der mit großen Schaufelrädern durch das Wasser pflügte. Wie ein verlorenes Echo hing das Warnsignal der Dampfpfeife über dem Fluss. Die Umrisse des mächtigen Schiffes zeichneten sich schwarz gegen den vollen Mond ab, und die vielen Lichter auf dem Kesseldeck tanzten über das schwarze Wasser. Das Klimpern eines verstimmten Klaviers wurde vom Wind herübergetragen. Die stampfenden Maschinen trieben schwarzen Rauch durch die beiden Schlote und bestimmten den Rhythmus der beiden Schaufelräder, die unermüdlich nach dem Wasser griffen. Auf dem Hurricane Deck schaukelten einige Laternen an der Reling.
Rose merkte gar nicht, dass sie mit den Stiefeln im Uferschlamm stand, und blickte mit großen Augen dem Dampfer nach. Wie ein Ungetüm aus einer anderen Zeit verschwand er hinter der Biegung des Mississippi, und nur das schäumende Wasser, das weiß im Mondlicht glänzte, erinnerte daran, dass er über den Fluss gefahren war. »He, hast du das gesehen?«, rief Rose ihrem Ackergaul zu. Sie kehrte unter den Baum zurück und legte sich ins Gras, merkte aber bald, dass sie vor Aufregung nicht mehr schlafen konnte, und stand auf. »Ich glaube, wir können genauso gut weiterreiten«, ermunterte sie den Ackergaul, nahm ihren Vorratsbeutel und stieg auf den Rücken des Tieres.
Sie blieb auf der Kutschenstraße, die am Ufer des Flusses entlangführte, und ritt in den Morgen hinein. Die Sonne stieg über den Feldern empor und wurde von den Wolken verdrängt, die bedrohlich über den Fluss zogen. Es war kälter geworden, und die Luft roch nach Regen. Die bemalte Kutsche eines reichen Mannes überholte sie, ohne dass der Kutscher sie eines Blickes würdigte, und verschwand hinter einem Hügel. Das Lachen einer jungen Frau hing im kühlen Wind. Der Fluss bewegte sich wie ein mächtiges Meer neben ihr, wirkte kühl und abweisend im schmutzigen Licht und drängte mit klatschenden Wellen gegen das Ufer. Zwei Männer auf einem Flachboot ließen sich von der Strömung nach Süden treiben und winkten ihr fröhlich zu.
Das Lachen der Männer, die ihr etwas in einer fremden Sprache zuriefen, gab ihr neuen Mut. Sie trieb den Ackergaul an und blieb erst stehen, als die Kutschenstraße aus einem Wäldchen führte und sie die Stadt auf der anderen Seite des Flusses liegen sah. Sie stieg ab, kletterte auf die Uferböschung und blieb mit offenem Mund stehen. Der Anblick der riesigen Stadt mit ihren mehrstöckigen Häusern und den rauchenden Schornsteinen verschlug ihr die Sprache. Ihr Nachbar hatte in den höchsten Tönen von St. Louis geschwärmt, aber ein solches Bild war nicht einmal in ihren Träumen aufgetaucht. Drei oder vier Meilen zogen sich die Häuser am Fluss entlang. Über fünfzig Schaufelraddampfer lagen vor der Stadt, schwimmende Paläste mit weißen Aufbauten und goldenen Verzierungen. Die langen Schlote bildeten einen schwarzen Zaun und schienen die Lagerhallen und Warenhäuser am Ufer vor der starken Strömung zu beschützen.
Der Mississippi war an dieser Stelle besonders breit, und sie hörte das Lärmen der Hafenarbeiter nur als dumpfes Murmeln. Eine Glocke läutete, und sie sah winkende Passagiere, in Mäntel und Jacken gehüllt, auf dem Kesseldeck eines Dampfers stehen. Er stieß rückwärts aus der langen Reihe der vertäuten Schiffe hervor, dann tönte das Echo eines lauten Befehls über das Wasser, und die Schaufelräder drehten sich in die andere Richtung. Unter den Klängen einer Kapelle, die am Ufer angetreten war und ein altes Volkslied spielte, fuhr der Dampfer nach Süden. Die Rauchfahnen über seinen Schloten wurden vom Wind erfasst und über die Häuser der riesigen Stadt getrieben.
Rose entdeckte eine Fähre, die keine hundert Meter von ihr entfernt anlegte, und verabschiedete sich von ihrem Ackergaul. »Ich hoffe, du findest zurück«, sagte sie, nachdem sie ihren Beutel mit den restlichen Vorräten losgebunden hatte. Sie gab dem schnaubenden Pferd einen kräftigen Klaps auf das schwere Hinterteil und beobachtete zufrieden, wie es kehrtmachte und über die Kutschenstraße davontrabte. Ihr war es egal, ob ein Fremder den Ackergaul stahl, auf einer anderen Farm hatte er es bestimmt besser. Ihr Vater gab ihm nur selten etwas zu fressen. Sie dachte an ihre Mutter, die bis zu ihrem Tod auf der Veranda sitzen und in dem alten Märchenbuch lesen würde, und spürte Mitleid, aber der Gedanke an ihren Vater, der mit einer Alkoholfahne vor ihrem Bett auftauchte, tötete alle Gefühle. Sie lief entschlossen weiter und kletterte zu der kleinen Fähre hinunter.
Der alte Mann auf dem Boot beobachtete sie misstrauisch und fragte: »Hast du Geld?« Als sie ihre einzige Münze hervorkramte, steckte er sie ein und dachte gar nicht daran, ihr Wechselgeld herauszugeben. Rose blieb nichts anderes übrig, als den Wucherpreis zu akzeptieren. Wenn sie über den Fluss wollte, musste sie bezahlen, und es konnte Stunden oder sogar Tage dauern, bis sie einen Fährmann fand, der weniger verlangte. Sie ging missmutig an dem bärtigen Kerl vorbei und hielt sich an der Reling fest. Das Boot schaukelte heftig, besonders in der Mitte des Flusses, wo die Strömung am stärksten war, und im Kielwasser eines Schaufelrraddampfers, der aus der Nähe noch mächtiger aussah. Ihr Fährmann sagte kein Wort, beobachtete sie aber misstrauisch und brummte etwas, als sie im Hafen an Land ging.
Erst jetzt merkte sie, wie hektisch der Betrieb am Wasser war. Dunkelhäutige Arbeiter schleppten Kisten und schafften Baumwollballen mit eisernen Haken an Bord der wartenden Schiffe. Die Fracht wurde auf dem Hauptdeck gestapelt, gleich neben dem Maschinenraum und den Kesseln. Weiße Aufseher trieben die Arbeiter an, stießen Flüche aus, die sie noch nie gehört hatte. Schwere Fuhrwerke mit unruhigen Pferden bahnten sich einen Weg durch die Männer, brachten neue Fracht und das Gepäck der Passagiere in den Hafen. Die Dampfpfeifen begleiteten das unruhige Treiben mit einem lautstarken Konzert. Zwei Hunde stritten sich um einen Knochen und rannten bellend davon.
»Geh doch aus dem Weg!«, herrschte ein Arbeiter das Mädchen an. Sie sprang ängstlich zur Seite und beeilte sich, zu den Lagerhäusern oberhalb des Hafens zu kommen. Es bereitete ihr große Mühe, mit ihren nassen Stiefeln über die gepflasterten Straßen zu laufen. Sie stellte sich in einen Hauseingang, um sich an die hektische Betriebsamkeit zu gewöhnen, und holte tief Luft, bevor sie in die Washington Avenue bog. Das Straßenschild hing neben einer Laterne, an der Backsteinwand eines Lagerhauses. Obwohl es noch früh am Morgen war, wimmelte es auf der breiten Straße von Fuhrwerken und Menschen. Die anfeuernden Rufe der Kutscher wurden von den Ziegelwänden zurückgeworfen. Drei, vier Stockwerke ragten die Häuser empor. Auf dem steinernen Pflaster klang das Rattern der Räder wesentlich lauter als auf der Kutschenstraße jenseits des Flusses . Die Menschen schienen es eilig zu haben, hasteten mit angespannten Gesichtern an ihr vorbei, beachteten sie aber kaum.
Rose aß das letzte Maisbrot und stopfte den leeren Proviantbeutel in die Tasche ihres Overalls. Kauend überquerte sie die Main Street, auf der es beinahe so hektisch zuging wie auf der Front Street am Fluss. Sie wich einem Fuhrwerk aus, ließ die Flüche des wütenden Kutschers über sich ergehen und ging weiter nach Westen. Zu beiden Seiten der Straße gab es Bürgersteige für die Passanten. Auf der Second Street blieb sie staunend vor dem Barnum's Hotel stehen, einem eindrucksvollen Ziegelbau, der erst vor zwei Jahren fertig geworden war und sechs Stockwerke hoch in den Himmel ragte. Später erfuhr sie, dass es zu den höchsten Gebäuden der Stadt gehörte. Sie erreichte die Fourth Street und bestaunte die vornehmen Bekleidungsgeschäfte mit ihren kostbaren Auslagen. Hinter den Fenstern waren die blassen Gesichter von vornehmen Damen zu sehen, die missbilligend die Lippen verzogen, wenn sie das Mädchen in seinem schmutzigen Overall entdeckten. Sie ging nach Süden, am Kuppelbau des Gerichtsgebäudes vorbei, und blieb vor einem großen Laden stehen. »Murphey's Drugstore« stand in verschnörkelten Lettern über dem Eingang. Über den ausgestellten Waren in den Schaufenstern hingen zwei amerikanische Fähnchen.
Sie fasste sich ein Herz und betrat den Laden. Eine helle Glocke läutete, als sie die Tür öffnete. Auch in der kleinen Stadt, die zehn Meilen von ihrer Farm an einem kleinen See lag, hatte es einen Drugstore gegeben, aber dieser hier war zehnmal größer, und die lange Theke mit den bunten Bonbongläsern hätte nicht mal in den Gemischtwarenladen gepasst, obwohl sich der deutsche Besitzer immer gerühmt hatte, das größte Kaufhaus zwischen New York und St. Louis zu führen. Sie blieb vor den gefüllten Regalen stehen und betrachtete die bunten Kanister und Pakete, bestaunte einen farbenprächtigen Vogel in einem silbernen Käfig. Es roch nach Arzneimitteln und Putzmitteln und Limonade. Sie hätte sonst was für ein Glas frische Zitronenlimonade gegeben.
»Womit kann ich Ihnen dienen?«, meldete sich eine dunkle Stimme. Ein stämmiger Mann tauchte zwischen den Regalen auf, den Ansatz eines Bauches unter einer weißen Schürze verborgen, und blieb mit gerunzelter Stirn stehen, als er das Mädchen in dem abgerissenen Overall sah. Er stützte sich auf den Tresen und musterte sie ungerührt. »Was willst du denn hier?«
Rose nahm rasch ihren Schlapphut ab und deutete eine ungelenke Verbeugung an. Ihre rotblonden Locken fielen auf die Schultern. »Guten Morgen, Mister Murphey«, sagte sie. Die Augen des Ladenbesitzers waren kalt und abweisend, und sie bereute schon, den Drugstore betreten zu haben. Dieser Mann stellte bestimmt kein junges Mädchen ein, und er würde ihr auch keine Limonade spendieren. »Ich bin Rose O'Malley, ich suche Arbeit.«
»Rose O'Malley? Bist du Irin?«
»Ich bin Amerikanerin«, antwortete sie verwirrt.
»Aber deine Eltern kommen aus Irland.«
»Ja, aber ...«
»Ich hab keine Arbeit!«
Das Mädchen hatte nicht erwartet, im ersten Laden eine Stellung zu finden, aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, wie eine unerwünschte Schwarze abgekanzelt zu werden. Mochte der Mann keine Iren? Die Farmer in ihrer Gegend waren aus Irland und Deutschland gekommen, und es hatte selten Reibereien wegen der Herkunft gegeben, auch nicht mit den Männern, die schon seit einigen Generationen in Amerika lebten. Vielleicht war das in St. Louis anders. Sie dachte an die amerikanischen Fähnchen im Schaufenster und wich dem Blick des Ladenbesitzers aus, der missbilligend ihren schmutzigen Overall musterte.
»Mach, dass du rauskommst!«, fuhr der Mann sie an. »In deinem Aufzug vergraulst du mir nur die Kunden! Sieh dich in der Seventh Street um, bei den Kartoffelfressern in den Saloons! Sag ihnen, sie sollen endlich aus der Stadt verschwinden und dich gleich mitnehmen! Auf der Fourth Street können wir keine Iren brauchen! Schlimm genug, dass ihr euch in den Fabriken breitmacht! « Er drehte sich und verschwand in einem Nebenzimmer. »Joshua!«, hörte Rose die Stimme einer älteren Frau. »Sei doch nicht so hässlich zu dem Mädchen! Sie kann doch nichts dafür!«
»Sie hat knallrote Haare und einen irischen Namen! Vielleicht wollten sie den Balg als Spionin einschleusen! Diesen Kartoffelfressern traue ich alles zu, besonders jetzt, nachdem sie die Wahl verloren haben! Wenn die ihren Bürgermeister durchgebracht hätten, würden wir jetzt von Ausländern regiert! Stell dir das vor, Mutter! Dies ist eine amerikanische Stadt, und solange ich bei den Native Americans bin, wird es auch so bleiben!«
Rose hörte, wie er mit der Faust auf den Tisch schlug, und rannte schnell nach draußen. Die Türglocke verfolgte sie bis auf den Bürgersteig. Sie rannte zwei Straßen weiter, blieb erst in der Sixth Street stehen, wo es etwas ruhiger war und kein ausländerfeindlicher Ladenbesitzer auf Iren schimpfte. Sie war viel zu überrascht, um sich darüber zu ärgern. Sie hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass ihre Eltern aus Irland gekommen waren, aber es hatte deswegen nie Streit gegeben. Sie hatte von ihrer Mutter gelernt, dass alle Amerikaner gleich waren. Deshalb waren die Menschen in dieses Land gekommen, weil sie von allen Zwängen loskommen wollten. So stand es in dem Buch, das sie in der Schule gelesen hatte. War in dieser Stadt alles anders?
Sie fand erst zwei Stunden später wieder den Mut, einen Laden zu betreten. Einen Eisenwarenladen in der Sixth Street. Diesmal erschien eine ältere Dame in einem dunklen Kleid, das Gesicht gepudert und die grauen Haare kunstvoll hochgesteckt. Auch sie verzog missbilligend das Gesicht, als sie den schmutzigen Overall bemerkte, wurde aber gleich wieder freundlich. »Was kann ich für dich tun?«, fragte sie besorgt. »Dein Overall ist schmutzig!«
Ihr war längst aufgefallen, dass die Menschen in der Stadt viel sauberer gekleidet waren. »Ich komme von außerhalb«, sagte sie beinahe entschuldigend, »meine Eltern sind beide tot, und ich wollte zu einer Tante gehen, aber die wohnt nicht mehr hier, und jetzt suche ich Arbeit, damit ich mir ein Zimmer mieten kann ...«
»Wie alt bist du, mein Kind?«
»Sechzehn«, log sie. »Ich könnte beim Verkaufen helfen ...«
Die Frau legte einen Arm um ihre Schultern. »Du hast doch sicher Hunger. Komm, ich hab einen Eintopf auf dem Herd stehen, und im Krug ist noch etwas Limonade. Dann sehen wir mal, was ich für dich tun kann.« Sie führte das Mädchen in die Küche und forderte es auf, sich an den Tisch zu setzen. »Hier hast du schon mal die Limonade, ich bin gleich zurück, ja?« Sie ging nach draußen, und Rose beobachtete, wie sie mit einer jüngeren Frau sprach. Nach einer Weile verschwand die junge Frau.
Rose wurde misstrauisch, aber der Hunger war stärker, und sie machte sich dankbar über den Gemüseeintopf her. Erst jetzt merkte sie, dass sie seit drei Tagen keine warme Mahlzeit mehr gegessen hatte. Die Limonade schmeckte erfrischend.
Nach einer Weile, sie war gerade beim Schokoladenpudding angelangt, kehrte die junge Frau mit einem großen Mann zurück. Der Mann trug einen Stern und fragte: »Wo steckt die Kleine?«
3
Rose hatte sich die Polizisten von St. Louis viel eindrucksvoller vorgestellt. Mit einer bunten Uniform, so wie manche Soldaten, und einer mehrschüssigen Feuerwaffe. Der Polizist, der vor ihr stehen blieb und eine Hand auf ihre Schultern legte, trug einen schlichten Anzug und einen schmalkrempigen Hut, und lediglich der silberne Stern wies ihn als Gesetzeshüter aus. »Officer Spencer«, stellte er sich vor, »du brauchst keine Angst zu haben!«
»Er bringt dich zu den freundlichen Schwestern auf die Farm«, sagte die Ladenbesitzerin, »dort leben viele Mädchen, die keine Eltern mehr haben. Du bist doch viel zu jung, um in einem Laden zu arbeiten. Auf der Farm bekommst du alles, was du zum Leben brauchst, und tagsüber darfst du zur Schule gehen.« Sie wandte sich an den Polizisten. »Ich unterstütze die Sisters of Charity schon seit einigen Jahren, müssen Sie wissen, sie haben sich um diese Stadt verdient gemacht, ja, das haben sie.«
»Ein Waisenhaus?«, erschrak das Mädchen.
»Nein«, widersprach die ältere Frau gönnerhaft, »eine Farm, ein Bauernhof, draußen vor der Stadt. Dort lebst du mit anderen Jungen und Mädchen zusammen, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Wie sind deine Eltern gestorben, mein Kleines?«
»Meine Mutter hatte eine Fehlgeburt«, antwortete sie, das war nicht mal gelogen, »und mein Vater kam bei einem Gewitter um.«
»Wie traurig«, erschrak die Frau. »Ist das schon lange her?«
»Ein paar Wochen«, log sie. »Und es hat sich niemand um dich gekümmert?«
»Ich bin weggelaufen und hab nach meiner Tante gesucht«, berichtete sie weiter, »sie soll in der ... in der Washington Avenue wohnen, aber dort lebt sie nicht mehr.« Sie schüttelte die Hand des Polizisten ab. »Hören Sie, Ma'am, ich bin älter, als Sie denken, ich bin schon sechzehn, und die Schule hab ich längst hinter mir. Ich will nicht auf diese Farm! Ich möchte irgendwo arbeiten und mir mein Geld selber verdienen! Ich bin groß genug!«
»Sie hat recht«, meinte der Polizist, »sie ist wirklich schon sehr groß. Meine Nichte ist fünfzehn und sieht wesentlich jünger aus. Warum sollen wir die Sisters of Charity mit ihr belasten? Die Poor Farm platzt aus allen Nähten, und die Schwestern sind bestimmt nicht begeistert, wenn wir das Mädchen dort hinbringen. «
Die besorgte Ladenbesitzerin rang die Hände. »Was glauben Sie, warum ich die Schwestern unterstütze? Ich möchte nicht, dass halbwüchsige Mädchen im Hafenviertel rumirren! Wir haben doch gesehen, was aus den bedauernswerten Geschöpfen wird. Nein, auf der Poor Farm ist sie am besten aufgehoben.«
»Ich will aber nicht!«, wehrte sie sich. Sie sprang auf und wollte weglaufen, aber der Polizist hielt sie fest und sagte: »Halt! Hier geblieben! Du tust ja gerade so, als wollte ich dich verhaften! «
Für Rose war es noch schlimmer. Sie schlug weinend um sich, als der Polizist sie nach draußen auf einen Wagen zerrte, und empfand die tröstenden Worte der älteren Frau als Hohn. Wider willig ergab sie sich in ihr Schicksal. Wie eine Verbrecherin saß sie neben dem Polizisten, der sie mit eisernem Griff festhielt. Die Ladenbesitzerin meinte es sicher gut und wollte nur vermeiden, dass sie in falsche Kreise geriet, aber ihre übertriebene Fürsorge brachte das Mädchen ausgerechnet dorthin, wo sie am wenigsten sein wollte: auf eine Farm außerhalb der Stadt. Sie fragte sich, was passiert wäre, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte, und war froh, dass sie gelogen hatte. Der Polizist hätte bestimmt dafür gesorgt, dass man sie zu ihren Eltern zurückbrachte.
Die Poor Farm lag unweit der Eisenbahnlinie, am Rande eines Wäldchens, das unterhalb eines lang gestreckten Hügels begann. Es gab keine Mauern und keine Wachttürme, und doch kam ihr das Anwesen wie ein Gefängnis vor. Später erfuhr sie, dass vor allem Arme und Behinderte auf die Farm abgeschoben wurden, auch Erwachsene, die Waisenkinder waren in der Minderheit und schliefen in einem schmucklosen Holzhaus, das den Hof im Süden begrenzte. Das Hauptgebäude war aus festen Ziegeln gebaut und erinnerte sie an die Fabrikgebäude in der Stadt. Sie hielten vor dem kleinen Giebelhaus im Norden, in dem die Zimmer der Schwestern und die Büros untergebracht waren. Leichter Regen trommelte auf die Dächer und trug zu der tristen Stimmung bei, die sich in ihrer Seele breitgemacht hatte.
Rose fügte sich in ihr Schicksal und ließ die Begrüßungsrede von Schwester Agnes geduldig über sich ergehen. Sie trug eine hellblaue Uniform und hatte ihre Haare zu einem strengen Knoten gebunden. Ihre Stimme klang sanft und mitleidvoll. »Du hast großes Glück gehabt, dass sich Mrs. Meriwether deiner angenommen hat«, sagte sie. So hieß die Ladenbesitzerin. »Sie ist eine wohlhabende Frau und unterstützt uns regelmäßig. Sie möchte, dass du unter gleichaltrigen Mädchen bist und den Tod deiner Eltern so schnell wie möglich vergisst.« Sie lächelte sanft. »Mit Gottes Hilfe wirst du es schaffen, mein Kind! Wir werden dafür sorgen, dass du einen guten Start ins Leben bekommst. Aber du musst uns ein bisschen helfen! Wenn so viele Menschen auf einer kleinen Farm wie dieser leben, müssen gewisse Regeln eingehalten werden, sonst kann es keine Ordnung geben. Ich möchte, dass du dich an die Regeln hältst. Wirst du das tun?«
»Natürlich, Schwester«, antwortete sie. Sie hatte längst erkannt, dass sie weiterkam, wenn sie das gehorsame Mädchen spielte, obwohl sie längst wusste, dass sie nicht lange auf der Farm bleiben würde. Bei der ersten Gelegenheit würde sie fliehen. Irgendwo in der Stadt musste es einen Menschen geben, der Arbeit für sie hatte. Beim nächsten Mal würde sie besser aufpassen. Sie würde den Ladenbesitzer durch das Schaufenster beobachten, bevor sie sich bei ihm vorstellte. Es gab nettere Männer als Joshua Murphey und Frauen, die nicht so fürsorgend wie Mrs. Meriwether waren. Wenn sie Geduld hatte und besser aufpasste, würde es auch in St. Louis einen Platz für sie geben.
Das Leben auf der Poor Farm war besser, als sie befürchtet hatte. Die Arbeit auf den Feldern war leichter als zu Hause, und sie bekam regelmäßig zu essen und zu trinken. Manchmal, so erzählten die anderen, gab es sogar Kuchen. Die meisten Mädchen waren jünger und ließen sie allein, als sie merkten, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. Sie schliefen in einem großen Raum mit einfachen Stockbetten, die sie jeden Monat neu überziehen durften, und vor dem Einschlafen las eine Schwester aus der Bibel vor. Die behinderten Erwachsenen bekamen sie kaum zu Gesicht. Sie durften ihre Quartiere nur selten verlassen und wurden wie Gefangene bewacht. Es ging das Gerücht um, dass sie nachts an ihre Betten gekettet wurden, damit sie nicht wegliefen. Im Erdgeschoss des Hauptgebäudes wohnten alleinstehende Frauen mit Kindern, die ihren Mann verloren hatten.
Die Jungen schliefen im zweiten Stock des Holzhauses und begegneten ihnen nur während der Mittagspause, wenn sie abseits der Felder saßen und ihre Suppe löffelten. Die Schwestern achteten streng darauf, dass Jungen und Mädchen nicht miteinander sprachen, aber es gab Blickkontakte, und sie beobachtete manchmal, wie ältere Mädchen in das nahe Wäldchen schlichen und sich dort mit ihren Freunden trafen. Rose interessierte sich nicht mehr für Jungen, das glaubte sie jedenfalls, nachdem Joey sie so schmählich hatte sitzen lassen, aber am dritten Tag bemerkte sie, dass ein Junge sie unverwandt anstarrte. Er war ein paar Jahre jünger als sie und trug kurze Hosen. Seine Augen bedeuteten ihr, sich hinter ein nahes Gebüsch zu schleichen.
»Ich bin Jesse James«, sagte er mit seiner erstaunlich dunklen Stimme, »hast du die kleinen Kinder gesehen, die im Haupthaus wohnen? Ihre Väter haben sie sitzen lassen! Sind mit einer Jüngeren abgehauen oder haben sich mit ihrem Hab und Gut nach Westen verzogen! Aber in ein paar Jahren zeige ich es diesen Pfeffersäcken! Meine Mutter haben sie auch ausgenommen, und es wird höchste Zeit, dass ihnen jemand die Flügel stutzt!« Er sprach wie ein erwachsener Mann, und sein Atem verriet ihr, dass er rauchte. »Warum bist du hier? Hast du deine Eltern umgelegt? «
Und als sie ihn erschrocken anstarrte: »Ob du's glaubst oder nicht, die Blonde mit den Pickeln im Gesicht hat ihre Mutter erschlagen!« Er deutete auf ein zehnjähriges Mädchen, das friedlich seine Suppe aß. »Mit der Axt! Weil sie ihr nicht erlaubt hat, mit den Jungen am Fluss zu spielen! Ihr Vater hat sie hergebracht. «
Rose glaubte ihm nicht. »Meine Eltern sind gestorben.« Sie wiederholte die Lüge, die sie der Ladenbesitzerin aufgetischt hatte, und erzählte ihm, wie sie auf die Farm gekommen war. »Und warum bist du hier? Ich denke, deine Mutter lebt noch?«
»Sie haben mich beim Klauen erwischt«, antwortete er grinsend. »Ins Gefängnis stecken konnten sie mich nicht, dazu bin ich zu jung, also bin ich auf der Poor Farm gelandet.« Er kicherte leise. »Du willst abhauen, was?« Sie erschrak. »Hab ich mir gedacht. So sieht sich nur eine um, die von hier wegwill!« Er blickte sich nach den beiden Schwestern um, die sich am Waldrand unterhielten. »Wie wär's, wenn wir zusammen abhauen?«
»Und wie willst du das anstellen?«, fragte sie neugierig.
»Ganz einfach«, erklärte er. »Hast du den Planwagen gesehen, der alle paar Tage im Hof hält? Der bringt neue Vorräte aus St. Louis. Der alte Mann auf dem Bock ist schon über siebzig und merkt beistimmt nicht, wenn wir auf die Ladefläche klettern. Morgen früh kommt der Wagen wieder. Um sechs Uhr auf dem Hof!«
Jesse verschwand, bevor sie etwas sagen konnte, und sie kehrte zu den anderen Mädchen zurück. Die Blonde, die angeblich ihre Mutter umgebracht hatte, lächelte ihr verschwörerisch zu. Sie hatte selbst einen Freund und würde sie nicht verraten. Rose erwiderte das Lächeln und erschauderte bei dem Gedanken, dass die Blonde ihre Mutter mit einer Axt erschlagen hatte. Manchmal hatte Rose daran gedacht, ihren Vater mit Joeys Gewehr zu erschießen, und es war eine schreckliche Vorstellung, dass es Menschen gab, die solche Pläne in die Tat umsetzten.
Früh am nächsten Morgen schlüpfte Rose in ihren Overall. Sie hatte das graue Kleid, das sie von den Schwestern bekommen hatte, sowieso nie leiden können. Sie griff nach ihrem Schlapphut und schlich die Treppe hinunter. Jesse wartete neben der Tür. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass der Junge es ernst meinte. Aus einem unerfindlichen Grund vertraute sie ihm. Er strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus und hatte sein Leben fest verplant. Er würde das tun, was er sich vorgenommen hatte.
Er legte eine Hand an seine Schiebermütze und sagte: »Wir müssen uns beeilen!« Lautlos öffnete er die Tür und spähte vorsichtig nach draußen. Der Planwagen stand vor dem Giebelhaus, von dem alten Mann und den Schwestern war nichts zu sehen. »Jetzt«, flüsterte er ihr zu. Sie rannten los, kletterten auf den Wagen und versteckten sich unter den Wolldecken, mit denen der Händler seine Waren abgedeckt hatte. Es roch nach Gemüse.
»Bis übermorgen«, hörten sie die Stimme des Mannes, dann war Schwester Agnes zu hören, die versprach, beim nächsten Gottesdienst eine Kerze für seine todkranke Frau anzuzünden. »Ich werde für Ihre Frau beten, lieber Freund, leben Sie wohl!«
Der Wagen ratterte mit den Kindern aus dem Hof, und sie warteten geduldig, bis sie die Stadt erreicht hatten. Hinter der Seventh Avenue sprangen sie von der Ladefläche und rannten davon. In einem Hauseingang grinsten sie einander an. »Hab ich dir doch gesagt«, triumphierte der Junge, »es ist ganz einfach! «
Jesse führte das Mädchen in eine Nebenstraße und bedeutete ihr, auf ihn zu warten. »Ich bin gleich wieder da!« Ein paar Minuten später kam er mit zwei frischen Äpfeln zurück. Er reichte ihr einen, und sie bissen herzhaft hinein. Sie fragte nicht, woher er die Äpfel hatte, aber sie vermutete, dass er nicht dafür bezahlt hatte.
»Haben die Leute was gegen Iren?«, fragte sie unvermittelt.
»Manche schon«, antwortete er, »warum?«
Sie berichtete von dem unfreundlichen Mann, der alle Ausländer beschimpft und sie aus dem Laden geworfen hatte. »Ich glaube, er heißt Joshua Murphey. Der Besitzer des Drugstores in der Fourth Avenue. Ein widerlicher Kerl! Seine Augen waren richtig gemein! Dabei bin ich hier geboren! Ich bin Amerikanerin! «
»Das ist diesen Typen egal, die sind gegen alles, was nicht aus St. Louis kommt!« Er biss in seinen Apfel. »Joshua Murphey? Ein stämmiger Kerl mit dicken Augenbrauen?« Und als sie nickte: »Von dem hab ich gehört. Der ist 'ne große Nummer bei den Native Americans. Das ist die Partei, die hier das Wort führt. Bei der Bürgermeisterwahl letzten Monat haben sie sich mit den Iren und den Deutschen geprügelt! Gegen Katholiken sind sie auch!«
»Und warum unternimmt niemand was gegen sie?«
Jesse warf lachend seinen Apfelrest in einen Hauseingang. »Die sind viel zu stark! Und die Polizei haben sie auch auf ihrer Seite! Gegen die können die Iren und die Deutschen nicht mal was unternehmen, wenn sie zusammenhalten! Vor ein paar Tagen gab es Stunk, weil der neue Bürgermeister befohlen hat, alle Saloons am Sonntag zu schließen. Sie haben sich auf der Seventh Avenue geprügelt, vor den Saloons. Ich war mittendrin!«
»Du hast dich mit den Männern geschlagen?«
»Mir blieb gar nichts anderes übrig«, antwortete er, »ich hatte in einem der Saloons gepennt.« Er lachte wieder. »Ich bin sofort weggerannt, und dann haben sie mich beim Klauen erwischt.«
»Warum bist du überhaupt hier?«, fragte sie nach einer Weile. »Warum bleibst du nicht zu Hause bei deiner Mutter? Da brauchst du nicht zu klauen! Oder hat sie dich rausgeworfen?«
Jesse schüttelte grinsend den Kopf. »Ich wollte nur mal sehen, ob ich auch allein zurechtkomme. Willst du noch 'nen Apfel?«
»Lieber nicht.«
Sie gingen aus der Gasse und schlenderten über den Bürgersteig zur nächsten Kreuzung. Dort tauchten zwei Polizisten vor ihnen auf. »He, das ist doch die Kleine, die ich zur Poor Farm gefahren habe«, sagte einer. »Und den Jungen kenn ich auch!«
Die Kinder rannten davon. Quer über die Fourth Street hetzten sie zum Fluss hinunter. Sie sahen nicht, wie Joshua Murphey aus seinem Drugstore stürmte, sie hörten ihn nur laut schimpfen: »Das ist die kleine Irenhexe! Sie rennt zum Hafen runter! Haltet sie fest, verdammt!« Die Trillerpfeife eines Polizisten schrillte, aber niemand wollte sich einmischen, und Jesse und Rose erreichten ungehindert die Front Street. Sie rannten in die nächste Lagerhalle und versteckten sich hinter einigen Baumwollballen.
»Das war Murphey!«, flüsterte Rose atemlos. »Hast du gehört? «
»Sie schmieren die Polizei«, erwiderte Jesse.
Von draußen näherten sich Schritte, und die Kinder duckten sich hinter ihrer Deckung. Sie wagten kaum zu atmen, als sie die Polizisten hörten. »Ich hab gesehen, dass sie hier rein sind«, sagte einer, und der andere schimpfte: »Diese blöden Lagerhallen sehen alle gleich aus!« Schritte scharrten über den hölzernen Boden, verstummten plötzlich, und der eine Polizist fragte: »He, wo ist Murphey geblieben? Der Kerl wird langsam alt.«
»Ich bin hier«, kam die schnippische Antwort, »mit zwei Grünschnäbeln wie euch nehm ich es jederzeit auf. Wo ist die Hexe? Sagt bloß, ihr habt sie verloren! Das darf doch nicht wahr sein!«
»Ist nur ein Mädchen«, winkte ein Polizist ab.
»Eine irische Hexe ist sie!«, ereiferte sich der Ladenbesitzer. »Sie wollte sich als Spionin bei mir einschleichen! Diese Kartoffelfresser arbeiten mit allen Mitteln! Die schrecken vor nichts zurück! Ihr müsst sie unbedingt finden, Männer. Sie muss uns sagen, wer sie beauftragt hat. Was steht ihr noch rum, verdammt? «
Die Polizisten hatten großen Respekt vor dem wohlhabenden Ladenbesitzer, der noch zwei andere Drugstores besaß und mit dem Polizeichef befreundet war. Es wurde gemunkelt, dass er eine vierstellige Summe in die Polizeikasse gespendet hatte. Sie suchten weiter, kamen dem Versteck der Kinder immer näher.
In diesem Augenblick tauchte einer der irischen Aufseher in der Lagerhalle auf. Er sah den verhassten Ladenbesitzer und rief grinsend: »He, Leute! Ratet mal, wer hier ist! Murphey! Die miese Ratte, die uns am liebsten alle in den Fluss werfen würde! Höchste Zeit, dass wir ihm eine ordentliche Abreibung verpassen! «
Die Kinder duckten sich noch tiefer und verfolgten gespannt, wie irische, deutsche und schwarze Dockarbeiter in der Lagerhalle auftauchten und sich bedrohlich vor Murphey aufbauten. Sie erhoben die eisernen Baumwollhaken und grinsten siegessicher. »Lasst den Unsinn!«, rief einer der beiden Polizisten. Der andere blies in die Trillerpfeife, und hinter den Arbeitern tauchten Anhänger der Native Americans auf. Sie hatten gesehen, wie die Ausländer unter wilden Flüchen in die Lagerhalle gegangen waren. Die Polizisten griffen nicht ein, als die beiden Parteien aufeinander losgingen und ein wildes Handgemenge entstand. Die Männer schlugen mit den Baumwollhaken aufeinander ein, verteilten Fausthiebe und schrien wild durcheinander. Rose hielt beide Hände vor die Augen, als neben ihr ein Mann zu Boden fiel, das Gesicht blutig und einen Baumwollhaken im Oberarm.
Die Trillerpfeifen der Polizisten übertönten den Lärm, und Rose und Jesse nutzten die Verwirrung und rannten aus ihrem Versteck. Sie stürmten an dem verdutzten Joshua Murphey vorbei, der ebenfalls die Flucht ergriffen hatte, und erreichten den Ausgang. Den Baumwollhaken, der wie ein Wurfgeschoss durch die Lagerhalle wirbelte, konnten sie nicht sehen. Die Waffe bohrte sich in die Schulter des Jungen und warf ihn zu Boden.
»Jesse!«, rief Rose erschrocken. Sie kniete neben dem verletzten Jungen und blickte sich Hilfe suchend nach den kämpfenden Männern um. »Jesse ist verletzt! Helft mir! Er stirbt! Helft mir doch endlich!«
Ein irischer Arbeiter kam aus dem Halbdunkel und hob den Jungen auf. Er blutete an der linken Schulter. »Schnell weg hier!«, sagte er zu dem Mädchen. »Beeil dich! Sie suchen nach euch!«
Rose hatte keine Wahl. Sie folgte dem Iren durch die dunklen Straßen und betete zu Gott, dass er den Jungen am Leben ließ.
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Rose O'Malley war vierzehn, als sie ihren Eltern davonlief. Ihr Vater war viel zu betrunken, um das zu tun, was er immer getan hatte, und ihre Mutter war im Schaukelstuhl auf der Veranda eingeschlafen, das zerfledderte Märchenbuch auf dem Schoß. Sie lebte seit vielen Jahren in einer Traumwelt und merkte gar nicht, dass es mit der Farm bergab ging. Rose musste kochen, waschen und bügeln, und wenn ihr Vater zur Flasche griff, musste sie sich hinter den Pflug stellen und das Feld bestellen. »Irgendwann hau ich ab«, hatte sie schon vor drei Jahren geschworen, als ihr Vater zum ersten Mal zudringlich geworden war. Sie schlüpfte in ihren Overall, griff nach dem Bündel mit den Lebensmitteln, die sie aus der Vorratskammer genommen hatte, und stieg aus dem Fenster. Der Ackergaul schnaubte unwillig, als sie ihn aus dem Stall holte. Niemand merkte, wie sie auf den knochigen Rücken des Pferdes stieg und nach Westen ritt. Ihre Augen waren auf den fernen Horizont gerichtet.
Später würde sie sich noch oft an diese Nacht erinnern. Der Mond stand voll über den Hügeln und schwamm in den Wasserlachen, die seit dem letzten Regen auf den Wegen standen. Ein kalter Wind strich über die kargen Felder und fegte loses Gestrüpp von den Hängen herab. Die schweren Hufe des Ackergauls trotteten über die Holzbrücke, die die Farm vom Regierungsland jenseits des schmalen Flusses trennte. Das Haus blieb im Halbdunkel der Vollmondnacht zurück, und nicht einmal der Hund, der neben dem Schaukelstuhl ihrer Mutter auf der Veranda döste, hinderte sie an der Flucht. Sie blickte sich nicht um, während sie den Ackergaul über den Feldweg trieb, und war froh, als sie über den nächsten Hügel ritt und das Farmhaus der Nachbarn im Tal liegen sah.
Unter der großen Eiche, die auf einer Anhöhe oberhalb des Farmhauses ihre knorrigen Äste ausbreitete, zügelte sie den Ackergaul. »He, Joey, bist du da?«, rief sie leise. Der Junge meldete sich nicht. Sie blickte zum Farmhaus hinunter und ließ enttäuscht die Schultern hängen. Joey hatte fest versprochen, mit ihr nach St. Louis zu gehen und sie zu heiraten, sobald sie erwachsen waren. Er hatte ein Gewehr zum Geburtstag bekommen, und sie hatte sich darauf verlassen, dass er unterwegs einige Kaninchen oder Wachteln schießen würde. Ihre Vorräte reichten höchstens bis zur Biegung des großen Flusses, und die war ein ganzes Stück entfernt. »Joey! Wo steckst du denn?«
Sie wartete eine halbe Stunde, ohne abzusteigen, blieb geduldig sitzen und blickte zur Farm hinunter. Der Mond zauberte helle Flecken auf die Hauswände. Außer einem Hund, der über den Hof trottete und im Stall verschwand, war niemand zu sehen. Die Fenster blieben dunkel. Die Farm wirkte wie ausgestorben, und nur das Grunzen einiger Schweine, die in einer Koppel hinter dem Haus schliefen, drang an ihre Ohren. Joey hatte kalte Füße bekommen. Er hatte sich in seinem Bett verkrochen und ließ sie im Stich. Er war nicht einmal gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. »Wenigstens das Gewehr hätte er mir geben können«, schimpfte Rose leise.
Sie schüttelte ärgerlich den Kopf und ritt auf den Weg zurück. »Der kommt nicht mehr«, sagte sie zu dem Ackergaul, der unwillig schnaubte und mit gesenktem Kopf nach Westen stapfte. Sie dachte nicht daran, zur Farm zu reiten und an sein Fenster zu klopfen, das wäre viel zu gefährlich gewesen. Wenn er die Absicht gehabt hätte, mit ihr zu fliehen, wäre er gekommen. Anscheinend zog er es vor, bei seinen Eltern zu bleiben. »Willst du ewig in Illinois bleiben? Willst du auf einer blöden Farm versauern und ewig hinter Kühen und Schweinen herlaufen? Hast du keine Lust, nach St. Louis zu gehen und die großen Dampfer auf dem Fluss zu sehen? Willst du nicht wissen, wie es im Westen aussieht?« Wenn sie es recht überlegte, hatte er wenig begeistert ausgesehen, als sie davon geschwärmt hatte, von zu Hause wegzulaufen. Seine Eltern waren in Ordnung. Seine Mutter sagte kaum was, und sein Vater schlug ihn manchmal, wenn er etwas falsch machte, aber sonst war nichts gegen sie einzuwenden. Er hatte nie weggewollt, gestand sie sich ein, er hatte nur vom Heiraten gesprochen, damit sie sich nicht wehrte, wenn er seine Lippen auf ihren Mund drückte. Einmal hatte er es getan, und sie hatte nichts dabei empfunden. Er hatte nach Rindfleisch und Bohnen geschmeckt. »Soll dich doch der Teufel holen«, verwünschte sie ihn, »ich komme auch ohne dich zurecht!«
Sie blieb auf dem Feldweg, der zwischen den Maisfeldern ihrer Nachbarn zur breiten Kutschenstraße führte. Beinahe trotzig trieb sie den Ackergaul nach Westen. Sie würde es auch ohne den Jungen schaffen! St. Louis war eine große Stadt, das wusste sie von einem Nachbarn, der auf einem Scheunenfest davon erzählt hatte, dort würde man sie bestimmt nicht entdecken. Wenn ihre Eltern überhaupt nach ihr suchten! Sie bezweifelte es. Ihr Vater würde bis zur Kutschenstraße laufen und mit einigen Nachbarn sprechen, aber sobald der Ackergaul zurückkam, würde er die Suche aufgeben. Rose hatte einen Brief auf den Tisch gelegt: »Ich gehe fort! Macht euch keine Sorgen! Eure Rose.« Kein freundlicher Brief, aber mehr war ihr nicht eingefallen. Ihr Vater hatte sie ausgenutzt und gequält, und ihre Mutter lebte sowieso in einer anderen Welt. Nein, sie würden ihr nicht nachweinen. »Sei froh, dass wir sie endlich los sind!«, würde ihr Vater sagen.
Rose wusste genau, was sie wollte. Jahrelang hatte sie darüber nachgedacht, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Bereits vor drei Jahren, als ihr Vater zum ersten Mal zu ihr gekommen und sie berührt hatte, war ihr klar gewesen, dass sie ihren Eltern davonlaufen würde. Mit ihrer Mutter hatte sie nie darüber gesprochen. Seit jener regnerischen Nacht, als der Arzt in seinem Zweispänner verunglückt und niemals bei ihnen aufgetaucht war, hatte die viel zu schnell gealterte Frau kaum noch lichte Momente. Sie hatte einen toten Jungen geboren und sich in eine geheimnisvolle Welt zurückgezogen, die anderen Menschen verschlossen blieb. Sie las immer im selben Märchenbuch und schlief meist auf der Veranda, selbst wenn es regnete. Rose hatte mehrmals versucht, in die Gedanken ihrer kranken Mutter vorzudringen, und immer war sie gescheitert. Ihr Vater kaufte billigen Fusel und lebte sein eigenes Leben. Sie musste dafür büßen, dass er in seinem Suff nicht mehr arbeitete, und ihm das geben, was ihre Mutter ihm nicht mehr geben konnte. Jetzt fragte sie sich, wie sie die letzten Monate überstanden hatte. Jeden Abend hatte sie am Fenster gestanden und in die untergehende Sonne geblickt. Sie hatte den Tag herbeigesehnt, an dem sie ihr nach Westen folgen würde, in ein neues Leben und in eine bessere Zukunft.
Mit Joey wäre vieles einfacher gewesen. Er war zwei Jahre älter als sie und hätte sie beschützen können. Mit ihren rotblonden Locken fiel sie überall auf, und ihr Vater war der lebende Beweis dafür, dass es Männer gab, die keine Rücksicht auf junge Mädchen nahmen. Allein war sie immer in Gefahr. Nicht einmal für eine erwachsene Frau schickte es sich, allein zu reisen. Wenn sie anderen Menschen begegnete, würde sie viele Fragen beantworten müssen. Aber der Junge war nicht gekommen, und es half nichts, wenn sie ihm nachweinte. Es führte kein Weg zurück. Sie musste allein zurechtkommen und sich dem neuen Leben stellen. St. Louis war eine große Stadt, dort würde sie Arbeit finden und genug Geld verdienen, um sich einem Wagenzug nach Westen anschließen zu können. Im fernen Westen lag das gelobte Land, das Paradies, auch das wusste sie von einem Nachbarn, der eine Zeitung aus dem Osten mitgebracht hatte. »Geh nach Westen, junger Mann!«, hatte auf der Titelseite gestanden. Die Zukunft der jungen Männer lag im Westen , und wo sie glücklich werden konnten, wurden auch starke Frauen gebraucht.
Sie erreichte den Kutschenweg und blinzelte in die aufgehende Sonne. Ihre Strahlen verdrängten die Dunkelheit und warfen goldene Streifen auf den reifen Mais, der an den hoch gewachsenen Stauden hing. Sie aß etwas von dem Maisbrot, das sie eingepackt hatte, und trank frisches Wasser aus ihrer Flasche. In einer Pappel zwitscherten Vögel. Der Himmel war nur von wenigen Wolken bedeckt und kündigte einen heißen Spätsommertag an. Sie zog ihren ledernen Schlapphut in die Stirn und ritt weiter. Wenn sie sich beeilte, konnte sie am frühen Abend an der Biegung des Mississippi sein. Er war die Grenze zwischen dem zivilisierten Osten und dem wilden Westen, so hatte es in der Zeitung gestanden. Sie war einige Jahre zur Schule gegangen und konnte besser lesen als ihr Vater, der die Schule immer als überflüssigen Quatsch abgetan hatte, besonders für ein Mädchen, das sowieso einmal heiraten würde. »Was willst du mit Büchern?«, hatte er noch vor einigen Wochen gesagt. »Als Farmersfrau musst du kochen und pflügen können, sonst heiratet dich kein Mann!«
Es hatte keinen Zweck, ihm zu sagen, dass sie keinen Farmer heiraten wollte. Sein Horizont reichte nur bis zum Rand seiner Felder, und er wusste nicht, dass es im Westen ein gelobtes Land gab. Der Alkohol hatte seine Sinne vernebelt. Er war nur noch ein Schatten des Mannes, der vor vielen Jahren aus Irland gekommen war und in New York genug Geld verdient hatte, um in Illinois eine Farm zu kaufen. Sie konnte sich nicht an diesen Mann erinnern, aber ihre Mutter hatte oft von ihm erzählt, als sie noch bei Sinnen gewesen war. Sie hatten Irland verlassen, als die Kartoffelernte ausgeblieben war. Ihre Eltern waren bankrott gegangen und hatten sich mit ihrem ersparten Geld auf einem Segler nach New York eingeschifft. Zwanzig Passagiere waren während der Überfahrt an verdorbenem Wasser gestorben, aber sie hatten es geschafft und waren in New York von Bord gegangen. Ihr Vater hatte in einem Lagerhaus gearbeitet, und ihre Mutter hatte für die reichen Herrschaften genäht, bis das Geld für die Weiterfahrt gereicht hatte. In einem grünen Tal, das sie an die alte Heimat erinnerte, hatten sie die Farm aufgebaut. Dann war die Fehlgeburt gekommen, ihre Mutter hatte den Verstand verloren, und ihr Vater war in den Alkohol geflüchtet. Er hatte die Farm vernachlässigt, ihre Mutter sich selbst überlassen und seinen Zorn an seiner Tochter ausgelassen. Aus dem starken Mann, der sich gegen das Schicksal aufgelehnt hatte, war ein schwacher Taugenichts geworden, der nicht mehr mit dem Leben zurechtkam und seine eigene Tochter berührte. Es war höchste Zeit gewesen, ihn zu verlassen und einen eigenen Weg zu gehen, auch wenn es das Ende für ihre Eltern und die Farm bedeuten konnte.
Noch hatte sie es nicht geschafft. Es war immerhin möglich, dass ihr Vater aus lauter Wut nach ihr suchte. Sie würde sich erst sicher fühlen, wenn sie den Fluss überquert hatte und in St. Louis untergetaucht war. Sie hatte keine Angst vor der großen Stadt, sie hatte überhaupt keine Angst. Sie freute sich darauf, die fremde Welt zu erobern und neue Menschen kennenzulernen. Sie hatte die unsittlichen Berührungen ihres Vaters überstanden und war gefestigt genug, sich jeder Herausforderung zu stellen. Was die jungen Männer schafften, die nach Westen gingen, würde auch sie fertig bringen. Sie war stärker als die meisten Jungen der Nachbarschaft, sogar Joey konnte ihr nicht das Wasser reichen. Aber sein neues Gewehr hätte sie gern gehabt.
Die Kutschenstraße führte zu einer Pferdewechselstation, die zwischen den Maisfeldern in einer Senke lag. Neben dem Haus, eher eine Bruchbude aus zusammengezimmerten Brettern, lagen eine Koppel und ein Stall. Ein junger Mann stand vor dem Eingang und blickte ihr misstrauisch entgegen. Er trug braune Wollhosen und ein kariertes Hemd unter den Hosenträgern. Sein Schlapphut war fleckig. Er kaute missgelaunt auf einem Strohhalm und rief: »Ohne Geld brauchst du gar nicht erst abzusteigen! «
Anscheinend hatte er nicht gemerkt, dass er es mit einem Mädchen zu tun hatte, obwohl sie bezweifelte, dass er seinen Hut abgenommen hätte. »Keine Bange«, erwiderte sie betont forsch. Sie wusste, dass sie nicht besonders hübsch aussah. Ihr Overall war löchrig und steckte in schmutzigen Stiefeln, und ihre rotblonden Locken waren unter dem speckigen Hut versteckt. Ihre dunkelgrünen Augen lagen im Schatten der breiten Krempe. Sie deutete auf die Tränke. »Darf ich meinen Gaul saufen lassen?«
»Meinetwegen«, antwortete er, »aber beeil dich! Gleich kommt die Kutsche!« Anscheinend hielt er sie für einen Satteltramp, einen dieser arbeitslosen Männer, die ziellos durch das Land zogen und sich ihr Essen zusammenbettelten. Auch auf ihrer Farm waren solche Männer aufgetaucht, und wenn ihr Vater nicht zu Hause gewesen war, hatte sie ihnen immer etwas gegeben. Der Junge deutete auf den Ackergaul. »Woher hast du den Klepper?«
»Ich hab ihn nicht gestohlen«, sagte sie, »der gehört meinen Eltern. Wir haben eine Farm, dort drüben, hinter den Bergen.« Sie zeigte nach Süden, zu den sonnenbeschienenen Hügeln. »Ich hol ein neues Pferd, das wir von meinem Onkel gekauft haben.«
Die Lüge klang so gut wie jede andere, und er hörte auch gar nicht mehr zu. »Tränk deinen Gaul, und dann reite weiter!«, sagte er grimmig. Er stieß die Tür auf und rief: »Pa! Die Kutsche kommt!«
Rose stieg von ihrem Ackergaul und führte ihn zur Tränke. Vom vielen Reiten taten ihr alle Knochen weh. Sie war müde und hätte nichts dagegen gehabt, mit den Passagieren der Kutsche in die Station zu gehen und sich von den Strapazen des langen Rittes zu erholen. Es roch nach Kaffee und gebratenem Speck. Ein solches Frühstück war besser als kaltes Wasser und Maisbrot und hätte sie für den langen Ritt nach St. Louis gestärkt, aber der junge Mann hatte etwas gegen sie, und sein Vater sah auch nicht besonders freundlich aus. Der bärtige Mann bedachte sie mit einem misstrauischen Blick, als er der Kutsche entgegenging.
Sie ließ den Ackergaul saufen und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Der junge Mann blieb mit offenem Mund stehen, als sie den Schlapphut abnahm und ihre Lockenpracht entblößte. »Noch nie ein Mädchen gesehen?«, fragte sie patzig. Sie setzte den Hut wieder auf und schwang sich auf den Rücken des Tieres. Sie hätte gern einen Sattel gehabt, aber den hatte ihr Vater verkauft.
Rose wartete, bis die Kutsche in den Hof gerollt war, und ritt langsam davon. Sie legte grüßend eine Hand an die Hutkrempe, als die Passagiere ausstiegen. Ein vornehmer Mann in einem dreiteiligen Anzug und schwarzen Schuhen, die selbst in der aufwallenden Staubwolke noch glänzten. Seine dunklen Augen wurden von buschigen Brauen beschattet, und sein pechschwarzes Haar, das in der Mitte gescheitelt und nach hinten gekämmt war, bildete einen scharfen Kontrast zu seiner blassen Haut. Die Frau, die mit ihm ausgestiegen war, trug ein braunes Reisekostüm, das am Hals von einer Brosche zusammengehalten wurde, und einen fliederfarbenen Hut mit Rüschen. Ihr Gesicht wirkte sehr streng, als sie zwei Schritte vor ihrem Mann zum Haus ging.
So vornehme Leute hatte Rose noch nie gesehen. Sie zügelte ihren Ackergaul und blickte neidisch zurück. In fünf oder sechs Jahren würde sie auch wie diese Frau aussehen, da war sie ganz sicher. Sie würde ins gelobte Land fahren und viel Geld verdienen, und dann würde sie sich ein noch schöneres Kleid kaufen. Sie beobachtete, wie die Frau ihre Röcke raffte und zum Haus hinaufstieg, und erschrak, als der junge Mann von den Pferden kam und scheinbar unabsichtlich gegen den vornehmen Herrn stieß. »Passen Sie doch auf!«, schimpfte der Gentleman.
Der junge Mann entschuldigte sich, und Rose sah, wie er die Brieftasche des Gentleman in seiner Tasche verschwinden ließ. Sie war fassungslos. »He«, rief sie, ohne darüber nachzudenken, was ihre Einmischung für Folgen haben konnte, »gib das zurück! «
Sie lenkte ihren Ackergaul auf den Hof zurück und riss ihren Hut vom Kopf. »Sir! Warten Sie! Er hat Ihre Brieftasche gestohlen! « Der vornehme Herr und seine Frau blieben stehen und blickten sie überrascht an. Die Frau verzog geringschätzig den Mund, als wäre es unter ihrer Würde, sich mit einem schmutzigen Mädchen einzulassen. »Worauf warten wir noch, John? Ich habe Hunger!«
»Was hast du gesagt?«, ließ der vornehme Herr sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine Stimme klang warm und freundlich, obwohl Rose einen harten Akzent heraushörte. Er klang wie der deutsche Farmer, der sich in den Hügeln niedergelassen hatte.
Der junge Mann, der die Brieftasche genommen hatte, winkte schnell ab. »Hören Sie nicht auf sie, Sir! Das ist 'ne herumziehende Bettlerin, die lügt doch, wenn sie den Mund aufmacht!«
»Er hat Ihre Brieftasche gestohlen!«, sagte Rose. Sie deutete anklagend auf den jungen Mann. »In seiner rechten Hosentasche! «
Der vornehme Herr griff in seine Jackentasche, stellte fest, dass die Brieftasche fehlte, und ging auf den jungen Mann zu. »Das werden wir gleich haben«, sagte er, und bevor der Dieb etwas dagegen einwenden konnte, hatte er die Brieftasche aus seiner Hose gezogen. Er steckte sie mit einem kalten Lächeln zurück.
»Das wirst du mir büßen, du Schlampe!«, schimpfte der Dieb. »Noch ein Wort, und ich lasse die Polizei holen!«, brachte ihn der vornehme Herr zum Schweigen. Er zog eine Münze hervor und reichte sie dem Mädchen. »Wie heißt du, Kleine?«, fragte er. »Rose O'Malley«, antwortete sie.
»Aus Irland, nicht wahr?«
»Ich bin hier geboren, Sir.«
»Ich bin John Schultz«, stellte er sich vor, »vielen Dank! Das war sehr aufmerksam von dir! Wenn du mal nach St. Louis kommst und Ärger hast, lass nach mir rufen!« Er reichte ihr seine Visitenkarte, ohne auf den missbilligenden Blick seiner Frau zu achten, und lächelte sie freundlich an. »Viel Glück, Rose O'Malley!«
»Herzlichen Dank, Mister Schultz.« Sie verbeugte sich tiefer als gewohnt und betrachtete die geschwungene Schrift auf der Visitenkarte, als sie vom Hof auf die breite Kutschenstraße ritt.
2
Die Straße wand sich zwischen wogenden Maisfeldern nach Westen, führte an einem schmalen Fluss entlang, der bewegungslos in der schwachen Sonne zu verharren schien. Im dunklen Wasser spiegelten sich die Wolken, die am zweiten Tag ihrer Flucht aufgezogen waren. Rose schlief am anderen Ufer, weit genug von der Kutschenstraße entfernt, um nicht von vorbeiziehenden Händlern entdeckt zu werden. Ein Mädchen, das allein unterwegs war und die Nacht im Freien verbrachte, erregte immer Misstrauen. Tagsüber kümmerte sich kaum jemand um sie. Die Männer auf den schweren Fuhrwerken grüßten freundlich und hielten sie wohl für die Tochter eines Farmers, die zur Maisernte ritt. Ein Arzt, der in seinem Zweispänner von einer schwangeren Frau zurückkehrte, wechselte ein paar Worte mit ihr, und sie erzählte von einer Tante, die sie nach langer Zeit besuchen wollte. Ihre einzige Tante war vor zwei Jahren gestorben.
Am Abend des dritten Tages erreichte sie die Biegung des großen Flusses. Sie war noch nie am Mississippi gewesen, kannte den Fluss nur aus Erzählungen und stand staunend am schilfbewachsenen Ufer. Das Wasser war schmutzig, beinahe dunkelbraun, und ihr wurde klar, warum man den Mississippi auch »Big Muddy« nannte. Der Lehm, der flussaufwärts von den Ufern gebrochen war, trieb mit der Strömung zum Meer. Das andere Ufer lag irgendwo in der untergehenden Sonne, es schien meilenweit entfernt. Von der Sonne gebleichtes Treibholz schaukelte in den Wellen. Der Fluss schwappte gurgelnd durch das Schilf, und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück, aus Angst, von der gierigen Strömung erfasst und mitgerissen zu werden.
Sie suchte sich einen Platz in respektvoller Entfernung vom Ufer und legte sich unter einen Baum, dessen Äste bis auf den Boden reichten. Sie hatte keine Decke mitgenommen, und der frische Wind, der über den Fluss trieb, ließ sie frösteln. Sobald sie Arbeit gefunden hatte, würde sie wieder unter einem festen Dach schlafen, auf einer voll gestopften Matratze mit einem Kopfkissen und warmen Decken. Wenn die Münze, die sie von dem vornehmen Herrn bekommen hatte, nicht reichte, würde sie sich einen Vorschuss geben lassen und in eine Pension ziehen. So hatte ihr Nachbar die preiswerten Herbergen genannt, die es überall in der Stadt geben sollte. Sie würde bestimmt eine Anstellung finden. St. Louis war eine riesige Stadt, beinahe so groß wie die Städte an der Ostküste, und es gab viele Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Vielleicht konnte sie in einem Laden aushelfen. Sie würde dem Besitzer erzählen, dass sie ihre Eltern verloren hatte und bei einer armen Tante wohnte.
Das Rauschen des Flusses sang sie in den Schlaf. In ihrem Traum trug sie das braune Reisekostüm, das die Frau des vornehmen Herrn bei der Pferdewechselstation getragen hatte, und einen fliederfarbenen Hut mit Blumen aus kostbarer Seide. Sie hatte die Taschen voller Geld und wohnte in einem Haus, das dreimal so groß wie ihr Farmhaus war. Ein Diener in einer fantasievollen Uniform half ihr aus der goldenen Kutsche. »Willkommen zu Hause, Mrs. O'Malley«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung, und sie raffte ihre Röcke und stieg die Treppe zu der herrschaftlichen Villa empor. Die geschliffenen Steine eines großen Kristallleuchters funkelten im hereinfallenden Sonnenlicht, als sie den Flur betrat und vor der breiten Treppe wartete.
Ein lang gezogenes Tuten beendete ihren Traum. Sie schreckte hoch und sah die Lichter eines Dampfers, der mit großen Schaufelrädern durch das Wasser pflügte. Wie ein verlorenes Echo hing das Warnsignal der Dampfpfeife über dem Fluss. Die Umrisse des mächtigen Schiffes zeichneten sich schwarz gegen den vollen Mond ab, und die vielen Lichter auf dem Kesseldeck tanzten über das schwarze Wasser. Das Klimpern eines verstimmten Klaviers wurde vom Wind herübergetragen. Die stampfenden Maschinen trieben schwarzen Rauch durch die beiden Schlote und bestimmten den Rhythmus der beiden Schaufelräder, die unermüdlich nach dem Wasser griffen. Auf dem Hurricane Deck schaukelten einige Laternen an der Reling.
Rose merkte gar nicht, dass sie mit den Stiefeln im Uferschlamm stand, und blickte mit großen Augen dem Dampfer nach. Wie ein Ungetüm aus einer anderen Zeit verschwand er hinter der Biegung des Mississippi, und nur das schäumende Wasser, das weiß im Mondlicht glänzte, erinnerte daran, dass er über den Fluss gefahren war. »He, hast du das gesehen?«, rief Rose ihrem Ackergaul zu. Sie kehrte unter den Baum zurück und legte sich ins Gras, merkte aber bald, dass sie vor Aufregung nicht mehr schlafen konnte, und stand auf. »Ich glaube, wir können genauso gut weiterreiten«, ermunterte sie den Ackergaul, nahm ihren Vorratsbeutel und stieg auf den Rücken des Tieres.
Sie blieb auf der Kutschenstraße, die am Ufer des Flusses entlangführte, und ritt in den Morgen hinein. Die Sonne stieg über den Feldern empor und wurde von den Wolken verdrängt, die bedrohlich über den Fluss zogen. Es war kälter geworden, und die Luft roch nach Regen. Die bemalte Kutsche eines reichen Mannes überholte sie, ohne dass der Kutscher sie eines Blickes würdigte, und verschwand hinter einem Hügel. Das Lachen einer jungen Frau hing im kühlen Wind. Der Fluss bewegte sich wie ein mächtiges Meer neben ihr, wirkte kühl und abweisend im schmutzigen Licht und drängte mit klatschenden Wellen gegen das Ufer. Zwei Männer auf einem Flachboot ließen sich von der Strömung nach Süden treiben und winkten ihr fröhlich zu.
Das Lachen der Männer, die ihr etwas in einer fremden Sprache zuriefen, gab ihr neuen Mut. Sie trieb den Ackergaul an und blieb erst stehen, als die Kutschenstraße aus einem Wäldchen führte und sie die Stadt auf der anderen Seite des Flusses liegen sah. Sie stieg ab, kletterte auf die Uferböschung und blieb mit offenem Mund stehen. Der Anblick der riesigen Stadt mit ihren mehrstöckigen Häusern und den rauchenden Schornsteinen verschlug ihr die Sprache. Ihr Nachbar hatte in den höchsten Tönen von St. Louis geschwärmt, aber ein solches Bild war nicht einmal in ihren Träumen aufgetaucht. Drei oder vier Meilen zogen sich die Häuser am Fluss entlang. Über fünfzig Schaufelraddampfer lagen vor der Stadt, schwimmende Paläste mit weißen Aufbauten und goldenen Verzierungen. Die langen Schlote bildeten einen schwarzen Zaun und schienen die Lagerhallen und Warenhäuser am Ufer vor der starken Strömung zu beschützen.
Der Mississippi war an dieser Stelle besonders breit, und sie hörte das Lärmen der Hafenarbeiter nur als dumpfes Murmeln. Eine Glocke läutete, und sie sah winkende Passagiere, in Mäntel und Jacken gehüllt, auf dem Kesseldeck eines Dampfers stehen. Er stieß rückwärts aus der langen Reihe der vertäuten Schiffe hervor, dann tönte das Echo eines lauten Befehls über das Wasser, und die Schaufelräder drehten sich in die andere Richtung. Unter den Klängen einer Kapelle, die am Ufer angetreten war und ein altes Volkslied spielte, fuhr der Dampfer nach Süden. Die Rauchfahnen über seinen Schloten wurden vom Wind erfasst und über die Häuser der riesigen Stadt getrieben.
Rose entdeckte eine Fähre, die keine hundert Meter von ihr entfernt anlegte, und verabschiedete sich von ihrem Ackergaul. »Ich hoffe, du findest zurück«, sagte sie, nachdem sie ihren Beutel mit den restlichen Vorräten losgebunden hatte. Sie gab dem schnaubenden Pferd einen kräftigen Klaps auf das schwere Hinterteil und beobachtete zufrieden, wie es kehrtmachte und über die Kutschenstraße davontrabte. Ihr war es egal, ob ein Fremder den Ackergaul stahl, auf einer anderen Farm hatte er es bestimmt besser. Ihr Vater gab ihm nur selten etwas zu fressen. Sie dachte an ihre Mutter, die bis zu ihrem Tod auf der Veranda sitzen und in dem alten Märchenbuch lesen würde, und spürte Mitleid, aber der Gedanke an ihren Vater, der mit einer Alkoholfahne vor ihrem Bett auftauchte, tötete alle Gefühle. Sie lief entschlossen weiter und kletterte zu der kleinen Fähre hinunter.
Der alte Mann auf dem Boot beobachtete sie misstrauisch und fragte: »Hast du Geld?« Als sie ihre einzige Münze hervorkramte, steckte er sie ein und dachte gar nicht daran, ihr Wechselgeld herauszugeben. Rose blieb nichts anderes übrig, als den Wucherpreis zu akzeptieren. Wenn sie über den Fluss wollte, musste sie bezahlen, und es konnte Stunden oder sogar Tage dauern, bis sie einen Fährmann fand, der weniger verlangte. Sie ging missmutig an dem bärtigen Kerl vorbei und hielt sich an der Reling fest. Das Boot schaukelte heftig, besonders in der Mitte des Flusses, wo die Strömung am stärksten war, und im Kielwasser eines Schaufelrraddampfers, der aus der Nähe noch mächtiger aussah. Ihr Fährmann sagte kein Wort, beobachtete sie aber misstrauisch und brummte etwas, als sie im Hafen an Land ging.
Erst jetzt merkte sie, wie hektisch der Betrieb am Wasser war. Dunkelhäutige Arbeiter schleppten Kisten und schafften Baumwollballen mit eisernen Haken an Bord der wartenden Schiffe. Die Fracht wurde auf dem Hauptdeck gestapelt, gleich neben dem Maschinenraum und den Kesseln. Weiße Aufseher trieben die Arbeiter an, stießen Flüche aus, die sie noch nie gehört hatte. Schwere Fuhrwerke mit unruhigen Pferden bahnten sich einen Weg durch die Männer, brachten neue Fracht und das Gepäck der Passagiere in den Hafen. Die Dampfpfeifen begleiteten das unruhige Treiben mit einem lautstarken Konzert. Zwei Hunde stritten sich um einen Knochen und rannten bellend davon.
»Geh doch aus dem Weg!«, herrschte ein Arbeiter das Mädchen an. Sie sprang ängstlich zur Seite und beeilte sich, zu den Lagerhäusern oberhalb des Hafens zu kommen. Es bereitete ihr große Mühe, mit ihren nassen Stiefeln über die gepflasterten Straßen zu laufen. Sie stellte sich in einen Hauseingang, um sich an die hektische Betriebsamkeit zu gewöhnen, und holte tief Luft, bevor sie in die Washington Avenue bog. Das Straßenschild hing neben einer Laterne, an der Backsteinwand eines Lagerhauses. Obwohl es noch früh am Morgen war, wimmelte es auf der breiten Straße von Fuhrwerken und Menschen. Die anfeuernden Rufe der Kutscher wurden von den Ziegelwänden zurückgeworfen. Drei, vier Stockwerke ragten die Häuser empor. Auf dem steinernen Pflaster klang das Rattern der Räder wesentlich lauter als auf der Kutschenstraße jenseits des Flusses . Die Menschen schienen es eilig zu haben, hasteten mit angespannten Gesichtern an ihr vorbei, beachteten sie aber kaum.
Rose aß das letzte Maisbrot und stopfte den leeren Proviantbeutel in die Tasche ihres Overalls. Kauend überquerte sie die Main Street, auf der es beinahe so hektisch zuging wie auf der Front Street am Fluss. Sie wich einem Fuhrwerk aus, ließ die Flüche des wütenden Kutschers über sich ergehen und ging weiter nach Westen. Zu beiden Seiten der Straße gab es Bürgersteige für die Passanten. Auf der Second Street blieb sie staunend vor dem Barnum's Hotel stehen, einem eindrucksvollen Ziegelbau, der erst vor zwei Jahren fertig geworden war und sechs Stockwerke hoch in den Himmel ragte. Später erfuhr sie, dass es zu den höchsten Gebäuden der Stadt gehörte. Sie erreichte die Fourth Street und bestaunte die vornehmen Bekleidungsgeschäfte mit ihren kostbaren Auslagen. Hinter den Fenstern waren die blassen Gesichter von vornehmen Damen zu sehen, die missbilligend die Lippen verzogen, wenn sie das Mädchen in seinem schmutzigen Overall entdeckten. Sie ging nach Süden, am Kuppelbau des Gerichtsgebäudes vorbei, und blieb vor einem großen Laden stehen. »Murphey's Drugstore« stand in verschnörkelten Lettern über dem Eingang. Über den ausgestellten Waren in den Schaufenstern hingen zwei amerikanische Fähnchen.
Sie fasste sich ein Herz und betrat den Laden. Eine helle Glocke läutete, als sie die Tür öffnete. Auch in der kleinen Stadt, die zehn Meilen von ihrer Farm an einem kleinen See lag, hatte es einen Drugstore gegeben, aber dieser hier war zehnmal größer, und die lange Theke mit den bunten Bonbongläsern hätte nicht mal in den Gemischtwarenladen gepasst, obwohl sich der deutsche Besitzer immer gerühmt hatte, das größte Kaufhaus zwischen New York und St. Louis zu führen. Sie blieb vor den gefüllten Regalen stehen und betrachtete die bunten Kanister und Pakete, bestaunte einen farbenprächtigen Vogel in einem silbernen Käfig. Es roch nach Arzneimitteln und Putzmitteln und Limonade. Sie hätte sonst was für ein Glas frische Zitronenlimonade gegeben.
»Womit kann ich Ihnen dienen?«, meldete sich eine dunkle Stimme. Ein stämmiger Mann tauchte zwischen den Regalen auf, den Ansatz eines Bauches unter einer weißen Schürze verborgen, und blieb mit gerunzelter Stirn stehen, als er das Mädchen in dem abgerissenen Overall sah. Er stützte sich auf den Tresen und musterte sie ungerührt. »Was willst du denn hier?«
Rose nahm rasch ihren Schlapphut ab und deutete eine ungelenke Verbeugung an. Ihre rotblonden Locken fielen auf die Schultern. »Guten Morgen, Mister Murphey«, sagte sie. Die Augen des Ladenbesitzers waren kalt und abweisend, und sie bereute schon, den Drugstore betreten zu haben. Dieser Mann stellte bestimmt kein junges Mädchen ein, und er würde ihr auch keine Limonade spendieren. »Ich bin Rose O'Malley, ich suche Arbeit.«
»Rose O'Malley? Bist du Irin?«
»Ich bin Amerikanerin«, antwortete sie verwirrt.
»Aber deine Eltern kommen aus Irland.«
»Ja, aber ...«
»Ich hab keine Arbeit!«
Das Mädchen hatte nicht erwartet, im ersten Laden eine Stellung zu finden, aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, wie eine unerwünschte Schwarze abgekanzelt zu werden. Mochte der Mann keine Iren? Die Farmer in ihrer Gegend waren aus Irland und Deutschland gekommen, und es hatte selten Reibereien wegen der Herkunft gegeben, auch nicht mit den Männern, die schon seit einigen Generationen in Amerika lebten. Vielleicht war das in St. Louis anders. Sie dachte an die amerikanischen Fähnchen im Schaufenster und wich dem Blick des Ladenbesitzers aus, der missbilligend ihren schmutzigen Overall musterte.
»Mach, dass du rauskommst!«, fuhr der Mann sie an. »In deinem Aufzug vergraulst du mir nur die Kunden! Sieh dich in der Seventh Street um, bei den Kartoffelfressern in den Saloons! Sag ihnen, sie sollen endlich aus der Stadt verschwinden und dich gleich mitnehmen! Auf der Fourth Street können wir keine Iren brauchen! Schlimm genug, dass ihr euch in den Fabriken breitmacht! « Er drehte sich und verschwand in einem Nebenzimmer. »Joshua!«, hörte Rose die Stimme einer älteren Frau. »Sei doch nicht so hässlich zu dem Mädchen! Sie kann doch nichts dafür!«
»Sie hat knallrote Haare und einen irischen Namen! Vielleicht wollten sie den Balg als Spionin einschleusen! Diesen Kartoffelfressern traue ich alles zu, besonders jetzt, nachdem sie die Wahl verloren haben! Wenn die ihren Bürgermeister durchgebracht hätten, würden wir jetzt von Ausländern regiert! Stell dir das vor, Mutter! Dies ist eine amerikanische Stadt, und solange ich bei den Native Americans bin, wird es auch so bleiben!«
Rose hörte, wie er mit der Faust auf den Tisch schlug, und rannte schnell nach draußen. Die Türglocke verfolgte sie bis auf den Bürgersteig. Sie rannte zwei Straßen weiter, blieb erst in der Sixth Street stehen, wo es etwas ruhiger war und kein ausländerfeindlicher Ladenbesitzer auf Iren schimpfte. Sie war viel zu überrascht, um sich darüber zu ärgern. Sie hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass ihre Eltern aus Irland gekommen waren, aber es hatte deswegen nie Streit gegeben. Sie hatte von ihrer Mutter gelernt, dass alle Amerikaner gleich waren. Deshalb waren die Menschen in dieses Land gekommen, weil sie von allen Zwängen loskommen wollten. So stand es in dem Buch, das sie in der Schule gelesen hatte. War in dieser Stadt alles anders?
Sie fand erst zwei Stunden später wieder den Mut, einen Laden zu betreten. Einen Eisenwarenladen in der Sixth Street. Diesmal erschien eine ältere Dame in einem dunklen Kleid, das Gesicht gepudert und die grauen Haare kunstvoll hochgesteckt. Auch sie verzog missbilligend das Gesicht, als sie den schmutzigen Overall bemerkte, wurde aber gleich wieder freundlich. »Was kann ich für dich tun?«, fragte sie besorgt. »Dein Overall ist schmutzig!«
Ihr war längst aufgefallen, dass die Menschen in der Stadt viel sauberer gekleidet waren. »Ich komme von außerhalb«, sagte sie beinahe entschuldigend, »meine Eltern sind beide tot, und ich wollte zu einer Tante gehen, aber die wohnt nicht mehr hier, und jetzt suche ich Arbeit, damit ich mir ein Zimmer mieten kann ...«
»Wie alt bist du, mein Kind?«
»Sechzehn«, log sie. »Ich könnte beim Verkaufen helfen ...«
Die Frau legte einen Arm um ihre Schultern. »Du hast doch sicher Hunger. Komm, ich hab einen Eintopf auf dem Herd stehen, und im Krug ist noch etwas Limonade. Dann sehen wir mal, was ich für dich tun kann.« Sie führte das Mädchen in die Küche und forderte es auf, sich an den Tisch zu setzen. »Hier hast du schon mal die Limonade, ich bin gleich zurück, ja?« Sie ging nach draußen, und Rose beobachtete, wie sie mit einer jüngeren Frau sprach. Nach einer Weile verschwand die junge Frau.
Rose wurde misstrauisch, aber der Hunger war stärker, und sie machte sich dankbar über den Gemüseeintopf her. Erst jetzt merkte sie, dass sie seit drei Tagen keine warme Mahlzeit mehr gegessen hatte. Die Limonade schmeckte erfrischend.
Nach einer Weile, sie war gerade beim Schokoladenpudding angelangt, kehrte die junge Frau mit einem großen Mann zurück. Der Mann trug einen Stern und fragte: »Wo steckt die Kleine?«
3
Rose hatte sich die Polizisten von St. Louis viel eindrucksvoller vorgestellt. Mit einer bunten Uniform, so wie manche Soldaten, und einer mehrschüssigen Feuerwaffe. Der Polizist, der vor ihr stehen blieb und eine Hand auf ihre Schultern legte, trug einen schlichten Anzug und einen schmalkrempigen Hut, und lediglich der silberne Stern wies ihn als Gesetzeshüter aus. »Officer Spencer«, stellte er sich vor, »du brauchst keine Angst zu haben!«
»Er bringt dich zu den freundlichen Schwestern auf die Farm«, sagte die Ladenbesitzerin, »dort leben viele Mädchen, die keine Eltern mehr haben. Du bist doch viel zu jung, um in einem Laden zu arbeiten. Auf der Farm bekommst du alles, was du zum Leben brauchst, und tagsüber darfst du zur Schule gehen.« Sie wandte sich an den Polizisten. »Ich unterstütze die Sisters of Charity schon seit einigen Jahren, müssen Sie wissen, sie haben sich um diese Stadt verdient gemacht, ja, das haben sie.«
»Ein Waisenhaus?«, erschrak das Mädchen.
»Nein«, widersprach die ältere Frau gönnerhaft, »eine Farm, ein Bauernhof, draußen vor der Stadt. Dort lebst du mit anderen Jungen und Mädchen zusammen, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Wie sind deine Eltern gestorben, mein Kleines?«
»Meine Mutter hatte eine Fehlgeburt«, antwortete sie, das war nicht mal gelogen, »und mein Vater kam bei einem Gewitter um.«
»Wie traurig«, erschrak die Frau. »Ist das schon lange her?«
»Ein paar Wochen«, log sie. »Und es hat sich niemand um dich gekümmert?«
»Ich bin weggelaufen und hab nach meiner Tante gesucht«, berichtete sie weiter, »sie soll in der ... in der Washington Avenue wohnen, aber dort lebt sie nicht mehr.« Sie schüttelte die Hand des Polizisten ab. »Hören Sie, Ma'am, ich bin älter, als Sie denken, ich bin schon sechzehn, und die Schule hab ich längst hinter mir. Ich will nicht auf diese Farm! Ich möchte irgendwo arbeiten und mir mein Geld selber verdienen! Ich bin groß genug!«
»Sie hat recht«, meinte der Polizist, »sie ist wirklich schon sehr groß. Meine Nichte ist fünfzehn und sieht wesentlich jünger aus. Warum sollen wir die Sisters of Charity mit ihr belasten? Die Poor Farm platzt aus allen Nähten, und die Schwestern sind bestimmt nicht begeistert, wenn wir das Mädchen dort hinbringen. «
Die besorgte Ladenbesitzerin rang die Hände. »Was glauben Sie, warum ich die Schwestern unterstütze? Ich möchte nicht, dass halbwüchsige Mädchen im Hafenviertel rumirren! Wir haben doch gesehen, was aus den bedauernswerten Geschöpfen wird. Nein, auf der Poor Farm ist sie am besten aufgehoben.«
»Ich will aber nicht!«, wehrte sie sich. Sie sprang auf und wollte weglaufen, aber der Polizist hielt sie fest und sagte: »Halt! Hier geblieben! Du tust ja gerade so, als wollte ich dich verhaften! «
Für Rose war es noch schlimmer. Sie schlug weinend um sich, als der Polizist sie nach draußen auf einen Wagen zerrte, und empfand die tröstenden Worte der älteren Frau als Hohn. Wider willig ergab sie sich in ihr Schicksal. Wie eine Verbrecherin saß sie neben dem Polizisten, der sie mit eisernem Griff festhielt. Die Ladenbesitzerin meinte es sicher gut und wollte nur vermeiden, dass sie in falsche Kreise geriet, aber ihre übertriebene Fürsorge brachte das Mädchen ausgerechnet dorthin, wo sie am wenigsten sein wollte: auf eine Farm außerhalb der Stadt. Sie fragte sich, was passiert wäre, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte, und war froh, dass sie gelogen hatte. Der Polizist hätte bestimmt dafür gesorgt, dass man sie zu ihren Eltern zurückbrachte.
Die Poor Farm lag unweit der Eisenbahnlinie, am Rande eines Wäldchens, das unterhalb eines lang gestreckten Hügels begann. Es gab keine Mauern und keine Wachttürme, und doch kam ihr das Anwesen wie ein Gefängnis vor. Später erfuhr sie, dass vor allem Arme und Behinderte auf die Farm abgeschoben wurden, auch Erwachsene, die Waisenkinder waren in der Minderheit und schliefen in einem schmucklosen Holzhaus, das den Hof im Süden begrenzte. Das Hauptgebäude war aus festen Ziegeln gebaut und erinnerte sie an die Fabrikgebäude in der Stadt. Sie hielten vor dem kleinen Giebelhaus im Norden, in dem die Zimmer der Schwestern und die Büros untergebracht waren. Leichter Regen trommelte auf die Dächer und trug zu der tristen Stimmung bei, die sich in ihrer Seele breitgemacht hatte.
Rose fügte sich in ihr Schicksal und ließ die Begrüßungsrede von Schwester Agnes geduldig über sich ergehen. Sie trug eine hellblaue Uniform und hatte ihre Haare zu einem strengen Knoten gebunden. Ihre Stimme klang sanft und mitleidvoll. »Du hast großes Glück gehabt, dass sich Mrs. Meriwether deiner angenommen hat«, sagte sie. So hieß die Ladenbesitzerin. »Sie ist eine wohlhabende Frau und unterstützt uns regelmäßig. Sie möchte, dass du unter gleichaltrigen Mädchen bist und den Tod deiner Eltern so schnell wie möglich vergisst.« Sie lächelte sanft. »Mit Gottes Hilfe wirst du es schaffen, mein Kind! Wir werden dafür sorgen, dass du einen guten Start ins Leben bekommst. Aber du musst uns ein bisschen helfen! Wenn so viele Menschen auf einer kleinen Farm wie dieser leben, müssen gewisse Regeln eingehalten werden, sonst kann es keine Ordnung geben. Ich möchte, dass du dich an die Regeln hältst. Wirst du das tun?«
»Natürlich, Schwester«, antwortete sie. Sie hatte längst erkannt, dass sie weiterkam, wenn sie das gehorsame Mädchen spielte, obwohl sie längst wusste, dass sie nicht lange auf der Farm bleiben würde. Bei der ersten Gelegenheit würde sie fliehen. Irgendwo in der Stadt musste es einen Menschen geben, der Arbeit für sie hatte. Beim nächsten Mal würde sie besser aufpassen. Sie würde den Ladenbesitzer durch das Schaufenster beobachten, bevor sie sich bei ihm vorstellte. Es gab nettere Männer als Joshua Murphey und Frauen, die nicht so fürsorgend wie Mrs. Meriwether waren. Wenn sie Geduld hatte und besser aufpasste, würde es auch in St. Louis einen Platz für sie geben.
Das Leben auf der Poor Farm war besser, als sie befürchtet hatte. Die Arbeit auf den Feldern war leichter als zu Hause, und sie bekam regelmäßig zu essen und zu trinken. Manchmal, so erzählten die anderen, gab es sogar Kuchen. Die meisten Mädchen waren jünger und ließen sie allein, als sie merkten, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. Sie schliefen in einem großen Raum mit einfachen Stockbetten, die sie jeden Monat neu überziehen durften, und vor dem Einschlafen las eine Schwester aus der Bibel vor. Die behinderten Erwachsenen bekamen sie kaum zu Gesicht. Sie durften ihre Quartiere nur selten verlassen und wurden wie Gefangene bewacht. Es ging das Gerücht um, dass sie nachts an ihre Betten gekettet wurden, damit sie nicht wegliefen. Im Erdgeschoss des Hauptgebäudes wohnten alleinstehende Frauen mit Kindern, die ihren Mann verloren hatten.
Die Jungen schliefen im zweiten Stock des Holzhauses und begegneten ihnen nur während der Mittagspause, wenn sie abseits der Felder saßen und ihre Suppe löffelten. Die Schwestern achteten streng darauf, dass Jungen und Mädchen nicht miteinander sprachen, aber es gab Blickkontakte, und sie beobachtete manchmal, wie ältere Mädchen in das nahe Wäldchen schlichen und sich dort mit ihren Freunden trafen. Rose interessierte sich nicht mehr für Jungen, das glaubte sie jedenfalls, nachdem Joey sie so schmählich hatte sitzen lassen, aber am dritten Tag bemerkte sie, dass ein Junge sie unverwandt anstarrte. Er war ein paar Jahre jünger als sie und trug kurze Hosen. Seine Augen bedeuteten ihr, sich hinter ein nahes Gebüsch zu schleichen.
»Ich bin Jesse James«, sagte er mit seiner erstaunlich dunklen Stimme, »hast du die kleinen Kinder gesehen, die im Haupthaus wohnen? Ihre Väter haben sie sitzen lassen! Sind mit einer Jüngeren abgehauen oder haben sich mit ihrem Hab und Gut nach Westen verzogen! Aber in ein paar Jahren zeige ich es diesen Pfeffersäcken! Meine Mutter haben sie auch ausgenommen, und es wird höchste Zeit, dass ihnen jemand die Flügel stutzt!« Er sprach wie ein erwachsener Mann, und sein Atem verriet ihr, dass er rauchte. »Warum bist du hier? Hast du deine Eltern umgelegt? «
Und als sie ihn erschrocken anstarrte: »Ob du's glaubst oder nicht, die Blonde mit den Pickeln im Gesicht hat ihre Mutter erschlagen!« Er deutete auf ein zehnjähriges Mädchen, das friedlich seine Suppe aß. »Mit der Axt! Weil sie ihr nicht erlaubt hat, mit den Jungen am Fluss zu spielen! Ihr Vater hat sie hergebracht. «
Rose glaubte ihm nicht. »Meine Eltern sind gestorben.« Sie wiederholte die Lüge, die sie der Ladenbesitzerin aufgetischt hatte, und erzählte ihm, wie sie auf die Farm gekommen war. »Und warum bist du hier? Ich denke, deine Mutter lebt noch?«
»Sie haben mich beim Klauen erwischt«, antwortete er grinsend. »Ins Gefängnis stecken konnten sie mich nicht, dazu bin ich zu jung, also bin ich auf der Poor Farm gelandet.« Er kicherte leise. »Du willst abhauen, was?« Sie erschrak. »Hab ich mir gedacht. So sieht sich nur eine um, die von hier wegwill!« Er blickte sich nach den beiden Schwestern um, die sich am Waldrand unterhielten. »Wie wär's, wenn wir zusammen abhauen?«
»Und wie willst du das anstellen?«, fragte sie neugierig.
»Ganz einfach«, erklärte er. »Hast du den Planwagen gesehen, der alle paar Tage im Hof hält? Der bringt neue Vorräte aus St. Louis. Der alte Mann auf dem Bock ist schon über siebzig und merkt beistimmt nicht, wenn wir auf die Ladefläche klettern. Morgen früh kommt der Wagen wieder. Um sechs Uhr auf dem Hof!«
Jesse verschwand, bevor sie etwas sagen konnte, und sie kehrte zu den anderen Mädchen zurück. Die Blonde, die angeblich ihre Mutter umgebracht hatte, lächelte ihr verschwörerisch zu. Sie hatte selbst einen Freund und würde sie nicht verraten. Rose erwiderte das Lächeln und erschauderte bei dem Gedanken, dass die Blonde ihre Mutter mit einer Axt erschlagen hatte. Manchmal hatte Rose daran gedacht, ihren Vater mit Joeys Gewehr zu erschießen, und es war eine schreckliche Vorstellung, dass es Menschen gab, die solche Pläne in die Tat umsetzten.
Früh am nächsten Morgen schlüpfte Rose in ihren Overall. Sie hatte das graue Kleid, das sie von den Schwestern bekommen hatte, sowieso nie leiden können. Sie griff nach ihrem Schlapphut und schlich die Treppe hinunter. Jesse wartete neben der Tür. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass der Junge es ernst meinte. Aus einem unerfindlichen Grund vertraute sie ihm. Er strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus und hatte sein Leben fest verplant. Er würde das tun, was er sich vorgenommen hatte.
Er legte eine Hand an seine Schiebermütze und sagte: »Wir müssen uns beeilen!« Lautlos öffnete er die Tür und spähte vorsichtig nach draußen. Der Planwagen stand vor dem Giebelhaus, von dem alten Mann und den Schwestern war nichts zu sehen. »Jetzt«, flüsterte er ihr zu. Sie rannten los, kletterten auf den Wagen und versteckten sich unter den Wolldecken, mit denen der Händler seine Waren abgedeckt hatte. Es roch nach Gemüse.
»Bis übermorgen«, hörten sie die Stimme des Mannes, dann war Schwester Agnes zu hören, die versprach, beim nächsten Gottesdienst eine Kerze für seine todkranke Frau anzuzünden. »Ich werde für Ihre Frau beten, lieber Freund, leben Sie wohl!«
Der Wagen ratterte mit den Kindern aus dem Hof, und sie warteten geduldig, bis sie die Stadt erreicht hatten. Hinter der Seventh Avenue sprangen sie von der Ladefläche und rannten davon. In einem Hauseingang grinsten sie einander an. »Hab ich dir doch gesagt«, triumphierte der Junge, »es ist ganz einfach! «
Jesse führte das Mädchen in eine Nebenstraße und bedeutete ihr, auf ihn zu warten. »Ich bin gleich wieder da!« Ein paar Minuten später kam er mit zwei frischen Äpfeln zurück. Er reichte ihr einen, und sie bissen herzhaft hinein. Sie fragte nicht, woher er die Äpfel hatte, aber sie vermutete, dass er nicht dafür bezahlt hatte.
»Haben die Leute was gegen Iren?«, fragte sie unvermittelt.
»Manche schon«, antwortete er, »warum?«
Sie berichtete von dem unfreundlichen Mann, der alle Ausländer beschimpft und sie aus dem Laden geworfen hatte. »Ich glaube, er heißt Joshua Murphey. Der Besitzer des Drugstores in der Fourth Avenue. Ein widerlicher Kerl! Seine Augen waren richtig gemein! Dabei bin ich hier geboren! Ich bin Amerikanerin! «
»Das ist diesen Typen egal, die sind gegen alles, was nicht aus St. Louis kommt!« Er biss in seinen Apfel. »Joshua Murphey? Ein stämmiger Kerl mit dicken Augenbrauen?« Und als sie nickte: »Von dem hab ich gehört. Der ist 'ne große Nummer bei den Native Americans. Das ist die Partei, die hier das Wort führt. Bei der Bürgermeisterwahl letzten Monat haben sie sich mit den Iren und den Deutschen geprügelt! Gegen Katholiken sind sie auch!«
»Und warum unternimmt niemand was gegen sie?«
Jesse warf lachend seinen Apfelrest in einen Hauseingang. »Die sind viel zu stark! Und die Polizei haben sie auch auf ihrer Seite! Gegen die können die Iren und die Deutschen nicht mal was unternehmen, wenn sie zusammenhalten! Vor ein paar Tagen gab es Stunk, weil der neue Bürgermeister befohlen hat, alle Saloons am Sonntag zu schließen. Sie haben sich auf der Seventh Avenue geprügelt, vor den Saloons. Ich war mittendrin!«
»Du hast dich mit den Männern geschlagen?«
»Mir blieb gar nichts anderes übrig«, antwortete er, »ich hatte in einem der Saloons gepennt.« Er lachte wieder. »Ich bin sofort weggerannt, und dann haben sie mich beim Klauen erwischt.«
»Warum bist du überhaupt hier?«, fragte sie nach einer Weile. »Warum bleibst du nicht zu Hause bei deiner Mutter? Da brauchst du nicht zu klauen! Oder hat sie dich rausgeworfen?«
Jesse schüttelte grinsend den Kopf. »Ich wollte nur mal sehen, ob ich auch allein zurechtkomme. Willst du noch 'nen Apfel?«
»Lieber nicht.«
Sie gingen aus der Gasse und schlenderten über den Bürgersteig zur nächsten Kreuzung. Dort tauchten zwei Polizisten vor ihnen auf. »He, das ist doch die Kleine, die ich zur Poor Farm gefahren habe«, sagte einer. »Und den Jungen kenn ich auch!«
Die Kinder rannten davon. Quer über die Fourth Street hetzten sie zum Fluss hinunter. Sie sahen nicht, wie Joshua Murphey aus seinem Drugstore stürmte, sie hörten ihn nur laut schimpfen: »Das ist die kleine Irenhexe! Sie rennt zum Hafen runter! Haltet sie fest, verdammt!« Die Trillerpfeife eines Polizisten schrillte, aber niemand wollte sich einmischen, und Jesse und Rose erreichten ungehindert die Front Street. Sie rannten in die nächste Lagerhalle und versteckten sich hinter einigen Baumwollballen.
»Das war Murphey!«, flüsterte Rose atemlos. »Hast du gehört? «
»Sie schmieren die Polizei«, erwiderte Jesse.
Von draußen näherten sich Schritte, und die Kinder duckten sich hinter ihrer Deckung. Sie wagten kaum zu atmen, als sie die Polizisten hörten. »Ich hab gesehen, dass sie hier rein sind«, sagte einer, und der andere schimpfte: »Diese blöden Lagerhallen sehen alle gleich aus!« Schritte scharrten über den hölzernen Boden, verstummten plötzlich, und der eine Polizist fragte: »He, wo ist Murphey geblieben? Der Kerl wird langsam alt.«
»Ich bin hier«, kam die schnippische Antwort, »mit zwei Grünschnäbeln wie euch nehm ich es jederzeit auf. Wo ist die Hexe? Sagt bloß, ihr habt sie verloren! Das darf doch nicht wahr sein!«
»Ist nur ein Mädchen«, winkte ein Polizist ab.
»Eine irische Hexe ist sie!«, ereiferte sich der Ladenbesitzer. »Sie wollte sich als Spionin bei mir einschleichen! Diese Kartoffelfresser arbeiten mit allen Mitteln! Die schrecken vor nichts zurück! Ihr müsst sie unbedingt finden, Männer. Sie muss uns sagen, wer sie beauftragt hat. Was steht ihr noch rum, verdammt? «
Die Polizisten hatten großen Respekt vor dem wohlhabenden Ladenbesitzer, der noch zwei andere Drugstores besaß und mit dem Polizeichef befreundet war. Es wurde gemunkelt, dass er eine vierstellige Summe in die Polizeikasse gespendet hatte. Sie suchten weiter, kamen dem Versteck der Kinder immer näher.
In diesem Augenblick tauchte einer der irischen Aufseher in der Lagerhalle auf. Er sah den verhassten Ladenbesitzer und rief grinsend: »He, Leute! Ratet mal, wer hier ist! Murphey! Die miese Ratte, die uns am liebsten alle in den Fluss werfen würde! Höchste Zeit, dass wir ihm eine ordentliche Abreibung verpassen! «
Die Kinder duckten sich noch tiefer und verfolgten gespannt, wie irische, deutsche und schwarze Dockarbeiter in der Lagerhalle auftauchten und sich bedrohlich vor Murphey aufbauten. Sie erhoben die eisernen Baumwollhaken und grinsten siegessicher. »Lasst den Unsinn!«, rief einer der beiden Polizisten. Der andere blies in die Trillerpfeife, und hinter den Arbeitern tauchten Anhänger der Native Americans auf. Sie hatten gesehen, wie die Ausländer unter wilden Flüchen in die Lagerhalle gegangen waren. Die Polizisten griffen nicht ein, als die beiden Parteien aufeinander losgingen und ein wildes Handgemenge entstand. Die Männer schlugen mit den Baumwollhaken aufeinander ein, verteilten Fausthiebe und schrien wild durcheinander. Rose hielt beide Hände vor die Augen, als neben ihr ein Mann zu Boden fiel, das Gesicht blutig und einen Baumwollhaken im Oberarm.
Die Trillerpfeifen der Polizisten übertönten den Lärm, und Rose und Jesse nutzten die Verwirrung und rannten aus ihrem Versteck. Sie stürmten an dem verdutzten Joshua Murphey vorbei, der ebenfalls die Flucht ergriffen hatte, und erreichten den Ausgang. Den Baumwollhaken, der wie ein Wurfgeschoss durch die Lagerhalle wirbelte, konnten sie nicht sehen. Die Waffe bohrte sich in die Schulter des Jungen und warf ihn zu Boden.
»Jesse!«, rief Rose erschrocken. Sie kniete neben dem verletzten Jungen und blickte sich Hilfe suchend nach den kämpfenden Männern um. »Jesse ist verletzt! Helft mir! Er stirbt! Helft mir doch endlich!«
Ein irischer Arbeiter kam aus dem Halbdunkel und hob den Jungen auf. Er blutete an der linken Schulter. »Schnell weg hier!«, sagte er zu dem Mädchen. »Beeil dich! Sie suchen nach euch!«
Rose hatte keine Wahl. Sie folgte dem Iren durch die dunklen Straßen und betete zu Gott, dass er den Jungen am Leben ließ.
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Autoren-Porträt von Christopher Ross
Christopher Ross hat sich als Verfasser romantischer Abenteuerromane einen Namen gemacht. Auf zahlreichen Reisen und während längerer Aufenthalte in den USA und Kanada entdeckte er seine Vorliebe für Nordamerika, den bevorzugten Schauplatz seiner Romane. Für seine Bücher erhielt er zahlreiche Preise.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christopher Ross
- 2013, 1, 398 Seiten, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863657756
- ISBN-13: 9783863657758
- Erscheinungsdatum: 05.05.2017
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