»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
Eine Stewardess erzählt
Eine ältere Dame, die in 10.000 Metern Höhe mal eben den Notausgang öffnen will. Heissblütige Piloten, die sich mit ihren Stewardessen in der Bordküche vergnügen. Und klapprige Flugzeuge, deren Sitze kurz nach dem Start einfach aus der Halterung brechen....
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Produktinformationen zu „»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen« “
Klappentext zu „»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen« “
Eine ältere Dame, die in 10.000 Metern Höhe mal eben den Notausgang öffnen will. Heissblütige Piloten, die sich mit ihren Stewardessen in der Bordküche vergnügen. Und klapprige Flugzeuge, deren Sitze kurz nach dem Start einfach aus der Halterung brechen. Flugbegleiterin Heather Poole hat in ihrer Karriere so ziemlich alles gesehen, was das Leben über den Wolken zu bieten hat - und es mit einem Lächeln ertragen. Alles andere wäre auch zwecklos: Denn ist die Reiseflughöhe erst einmal erreicht, gibt es kein Entkommen.
Lese-Probe zu „»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen« “
Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen von Heather PooleFliegender Wahnsinn
Wahnsinn? Was genau ist Wahnsinn? Diese Frage stelle ich mir jedes Mal, wenn ich in meiner leicht entflammbaren marineblauen Polyesteruniform zum Dienst antrete. Ich habe gesehen, wie Passagiere sich an Bord splitternackt auszogen und versuchten einen Notausgang zu öffnen, weil sie unbedingt aus dem »Bus« steigen wollten. Manche Fluggäste kratzen die Reste von den Tellern der First Class, andere wollen die Airline verklagen, weil ihnen ein Handgepäckstück auf den Kopf gefallen ist und sie dadurch angeblich ihre übersinnlichen Fähigkeiten verloren haben. Einmal habe ich miterlebt, wie eine Gruppe Passagiere auf dem Weg nach Haiti einen Voodoo-Fluch über eine Kollegin verhängte, die gerade die Getränke servierte. Vor nicht allzu langer Zeit kniff ein betrunkener Fluggast eine meiner Kolleginnen in den Hintern - vor den Augen seiner Frau. Sämtliche Zeitungen haben darüber berichtet, und ein Reporter fragte sich: »Wieso drehen die Leute im Flugzeug eigentlich immer komplett durch?« Das würde ich allerdings auch gern mal wissen!
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Und der Wahnsinn greift um sich. Kürzlich war ich während eines Flugs im hinteren Teil der Maschine, um die Passagiere zu begrüßen und sicherzustellen, dass sie ihr Handgepäck ordnungsgemäß in den Fächern über sich verstauen. Wie üblich waren einige von ihnen sauer, als sie merkten, dass sie einen Platz in der letzten Reihe abbekommen hatten - bekanntermaßen sind das die schlechtesten im gesamten Flugzeug. (Liebe Passagiere: Irgendjemand muss auf diesen Plätzen sitzen, das lässt sich leider nicht vermeiden.) Ich erklärte gerade einem Herrn, dass selbst die Sitze der letzten Reihe nach hinten geklappt werden könnten, als eine Frau in Hüftjeans und einem knappen gelben Top, unter dem ihr Bauchnabelpiercing herausblitzte, sich vor mir aufbaute, mir ihre Bordkarte vor die Nase hielt und mich anschnauzte: »Jemand sitzt auf meinem Platz.«
Ich warf einen Blick hinüber zu 35E, das war der fragliche Platz, und stellte fest, dass die Piercing Queen recht hatte. Jemand hatte sich auf ihrem Sitz breitgemacht. Es war absurd. Nicht, dass ich mich darüber wunderte, dass mich die Nabelfrau mit einem »Hey, das ist doch total scheiße!« begrüßt hatte - dieser Satz fliegt mir tagtäglich um die Ohren, was wiederum ich offen gestanden total scheiße finde - nein, verrückt war, dass es sich bei 35E um den zweitschlechtesten Platz im Flugzeug handelte (direkt nach dem allerschlechtesten Platz in der Mitte der letzten Reihe).
»Entschuldigen Sie bitte, Miss«, sagte ich zu der Frau mit der rosa Strickjacke, die 35E mit Beschlag belegte, »dürfte ich mal Ihre Bordkarte sehen?«
Miss Rosa Strickjacke reichte mir ihre Bordkarte, die einen anderen, viel besseren Gangplatz ein Stück weiter vorn auswies. Dann blaffte sie mich an: »Vergessen Sie's. Ich gehe hier nicht weg.«
Okay. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Könnten Sie bitte Ihren eigentlichen Platz einnehmen, damit diese junge Dame sich auf ihren setzen kann? Die Maschine ist leider ausgebucht.«
»Ich habe doch gerade gesagt: Ich gehe hier nicht weg.«
Wenigstens weiß ich jetzt, wo der Wahnsinn heute sein Zuhause hat, dachte ich, während sie mir lang und breit erklärte, weshalb sie ihren Hintern nicht von diesem Sitz schwingen würde. Es hatte irgendetwas mit dem Fernsehbildschirm zu tun.
»Aber direkt neben Ihrem Platz hängt doch ein Monitor«, erklärte ich ihr. Das war ihr egal.
Während Miss Rosa Strickjacke weiter darüber faselte, dass sie ihren Platz nicht räumen würde, war mir ein großer schlanker Mann mit einem Schnauzbart unangenehm dicht auf die Pelle gerückt.
»Ma'am, Sie sitzen auf meinem Platz«, platzte es aus ihm heraus.
Wie er sich da so sicher sein konnte, war mir ein Rätsel. Denn als ich ihn um seine Bordkarte bat, konnte er sie nicht finden.
Vielleicht ist das ja der Wahnsinn, dachte ich. Dass sich drei Leute um ein und denselben schlechten Platz in einem Flugzeug zanken, kann man doch wohl nur als verrückt bezeichnen, oder?
Seufzend wandte ich mich der halbnackten Besitzerin von 35E zu und fragte sie, ob sie ihren Platz mit der rosa Strickjacke tauschen würde.
Miss Nabelpiercing stimmte zu: »Von mir aus. Aber dafür schulden Sie mir 'nen Drink.«
Sehr gut. Einer weniger, blieben also noch zwei. Im selben Moment ging Mister Rotzbremse in die hintere Bordküche, ließ sich auf den Fußboden plumpsen und stellte seinen prallvollen Rucksack zwischen seine langen, hageren Beine.
»Kein Problem«, trompetete er. »Dann bleibe ich während des Fluges eben hier.«
Ich drehte mich um. Er lächelte. Ich nicht. Er schien es ernst zu meinen, und ich bekam langsam echte Bauchschmerzen. Bildete er sich allen Ernstes ein, er könnte während des Fluges dort sitzen bleiben? Auf dem Boden? Vor der Toilette? Neben meinem Klappsitz?
»Das wird leider nicht gehen«, sagte ich und wies auf das erleuchtete Anschnallzeichen, in der Hoffnung, dass der Kerl endlich begriff. Plötzlich begannen seine Augen zu leuchten. Er stand auf und ging zielstrebig den Gang entlang. Innerhalb weniger Sekunden hatte er die gesamte Economy- und Business-Class durchquert und steuerte geradewegs die First Class an, wo er, wie mir meine Kolleginnen erzählten, stehen blieb und lautstark verkündete: »Na gut, dann esse ich eben Ihren lausigen First-Class- Fraß!«
Damit war es offiziell - wir hatten den personifizierten Wahnsinn gefunden!
Nach dem Service hatten sich die Gemüter wieder etwas beruhigt, und ich saß auf einer selbstgebastelten Bank (ein Backblech über zwei leeren Getränkecontainereinsätzen) in der Bordküche der Business-Class. Gerade als ich in das Sandwich beißen wollte, das ich von zu Hause mitgebracht hatte, riss eine Passagierin den dicken blauen Vorhang zur Seite.
»Könnte ich eine Business-Class-Vorspeise haben?«, fragte sie und wedelte mit ein paar zerknüllten Geldscheinen.
Eilig wischte ich mir den Mund ab und stand auf. »Wir verkaufen das Essen aus der Business-Class nicht, weil es schon im Ticketpreis enthalten ist und die Passagiere ihr Essen meistens selber ...«
»Aber kann ich nicht mal ein Brötchen kriegen?«
Bevor ich etwas erwidern konnte, trat Mr Schnurrbart mit offener Hose aus der Bordtoilette.
O Mann. Ich schluckte, drehte mich um und betete, er möge weitergehen. Bitte, geh einfach!, flehte ich inbrünstig.
Er blieb stehen.
»Wasser«, befahl er, schob die hungrige Passagierin beiseite und zwängte sich an ihr vorbei. Erst jetzt beschloss er, den Reißverschluss seiner Hose hochzuziehen.
Natürlich tat ich, was jede Flugbegleiterin in dieser Situation tun würde: Ich schnappte einen Plastikbecher und füllte ihn mit Wasser. Jedes Mittel war recht, wenn er nur schnell die Kurve kratzte. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, wie er seinen braunen Ledergürtel mit einem lauten Schnalzen aus den Schlaufen zog. Die hungrige Passagierin trat eilig den Rückzug an.
Bitte, lieber Gott, dachte ich, mach, dass er nur ein kleines bisschen verrückt und nicht komplett durchgeknallt ist. Ich wollte nicht wegen des zweitschlechtesten Platzes im Flugzeug oder des lausigen Fraßes in der ersten Klasse mit einem Gürtel erdrosselt werden.
»Bitte sehr.« Ich reichte ihm das Wasser, ohne den Blick von seinem Gürtel zu lösen. Mittlerweile hielt er ihn straff zwischen den Fingern gespannt.
»Danke.« Der Gürtel erschlaffte. Er legte ihn auf die Ablage neben meinem Sandwich.
»Gern geschehen.« Ein erleichterter Seufzer entfuhr mir. Ich war der Strangulation noch einmal entkommen.
»Kaffee.« Eine Forderung. Keine Frage.
Ich spähte in die Kanne. Leer. Toll. »Ich muss erst frischen kochen, bringe Ihnen aber gerne eine Tasse, sobald er fertig ist.« Vermutlich war der Wahnsinn ansteckend, denn jetzt tat ich etwas völlig Verrücktes: Ich stellte eine Frage, die ich niemals hätte stellen dürfen. Eine Frage, mit der ich diesen Verrückten vollends um den Verstand hätte bringen können. »Auf welchem Platz sitzen Sie denn?«
»Vergessen Sie's!« Er riss seinen Gürtel von der Ablage.
»Tut mir leid«, keuchte ich erschrocken.
Er rammte den Gürtel in die Schlaufen. »Allerdings. Das sollte es auch!« Er packte mein halb aufgegessenes Sandwich, biss hinein und verschwand an den Ort, den er für diesen Flug als Bleibe auserkoren hatte.
»Äh, könnte ich jetzt vielleicht ein Brötchen haben?«, meldete sich in dieser Sekunde eine vertraute Stimme zu Wort.
Selbstverständlich ist dieser Vorfall nicht einmal annähernd so verrückt wie das, was mir vor ein paar Monaten passiert ist. Ich stand beim Boarding auf dem Gang zwischen Business- und Economy- Class, begrüßte die Passagiere und kümmerte mich um die Garderobe, als mich eine Frau Anfang zwanzig beiseitenahm und verkündete, sie habe Fieber und fühle sich gar nicht gut. Noch bevor ich ihr vorschlagen konnte, vielleicht lieber auszusteigen und einen späteren Flug zu nehmen, blickte sie auf mein Namensschild und sah mir mit todernster Miene in die Augen. »Ist in der First Class zufällig noch ein Platz frei, Heather?«
Augenblicklich schrillten alle Alarmglocken in meinem Kopf. Wann immer mich jemand mit dem Vornamen anspricht, folgt zwangsläufig ein Sonderwunsch.
»Tut mir leid, aber es ist nichts mehr frei«, antwortete ich. Als ich ihr erklären wollte, dass sie, selbst wenn es noch einen freien Platz gäbe, sich trotzdem nicht dorthin setzen könne, schob sie sich mit einer abfälligen Handbewegung an mir vorbei und stolzierte den Gang hinunter bis zu einem Platz ganz vorn in der Economy-Class.
In einer Boeing 767 befindet sich die Bordküche für die Business- Class direkt hinter der Economy-Class. Normalerweise sind die ersten Reihen der Economy an den Notausgängen mit Vielfliegern belegt, die sich zwar das billigere Ticket gekauft haben, aber darauf hoffen, dass etwas von den Mahlzeiten der Business- Class für sie abfällt. Als die arme Kranke sich also auf einen der Plätze neben den Notausgängen setzte, war mir sofort klar, dass dies nicht mein Glückstag war.
Eine halbe Stunde nach dem Start, als ich vier Reisenden aus der Business-Class ihre Drinks - eine Cola light mit Zitrone, ein Wasser ohne Eiswürfel, ein Wodka Tonic und ein Glas Chardonnay auf einem Tablett mit Leinenserviette - servieren wollte, drückte sie den Rufknopf. Ich ging zu ihr: »Darf ich Ihnen etwas bringen?«
»Mir geht's nicht gut. Mir ist schlecht.«
»Möchten Sie vielleicht ein Ginger-Ale?«
»Lieber einen Tee. Kräutertee. Aber nicht aus dem Pappbecher, sondern aus einer richtigen Tasse«, sagte sie mit Blick auf die Porzellanbecher auf der Wärmeplatte der Bordküche.
»Wir haben leider nur normalen Lipton-Schwarztee.«
»Na gut. Könnte ich etwas zu essen kriegen?«
Während mein Kollege weiter die Passagiere auf seiner - wohlgemerkt nur seiner - Seite der Business-Class bediente, rief ich meine Kollegen in der Economy an, die gerade mit dem Service anfangen wollten, und ließ mir die Snacks zum Verkaufen aufzählen. Als ich auflegte, fragte sie: »Gibt's keine Rohkost?«
»Rohkost?«, wiederholte ich, weil ich glaubte, mich verhört zu haben.
»Ich kann nichts anderes essen.«
»Wie wär's mit einem Brötchen oder ein paar Crackern?«, bot mein Kollege an. Eigentlich geben wir grundsätzlich keine Speisen der Business-Class an die Economy-Passagiere aus. Aber die Frau war tatsächlich ein bisschen blass um die Nase, und wir wollten schließlich nicht wegen ihr umkehren müssen.
Doch dieses arme kranke Geschöpf konnte keine Brötchen essen, auch kein Stück Käse. Salat ebenfalls nicht. Nüsse genauso wenig. Noch nicht mal Schokolade! Und auch nicht den leckeren hausgemachten Bratreis, den ihr der Passagier auf dem Sitz vor ihr netterweise anbot. (Ich konnte ihn sehr wohl essen, und er schmeckte köstlich. Danke, Kwan!)
Außer Rohkost kam nichts in Frage. Und wenn sie nicht sofort etwas bekäme - auf der Stelle -, würde ihr ganz fürchterlich schlecht werden. Behauptete sie zumindest.
Kaum hatten die Kollegen in der First Class ihren Service beendet, ging ich nach oben. Ich wollte nachsehen, ob etwas übriggeblieben war, auch wenn das so gut wie nie vorkommt. Aber an diesem Tag fand sich ein Schüsselchen Erbsen, und die leitende Flugbegleiterin gestattete sogar, sie unserer Holzklassen-Prinzessin zu servieren.
»Heute ist Ihr Glückstag«, verkündete ich und reichte ihr das Silberschüsselchen nebst Silberlöffelchen.
Kein Dankeschön, kein Sonstirgendetwas. Lediglich zwei Bissen, bevor sie das Gesicht verzog und mir die Schüssel zurückgab. Der Mann neben ihr verdrehte nur die Augen.
Kaum hatte ich ihr den Rücken zugekehrt, ging der Rufknopf an. Ich brauchte wenigstens nicht weit zu gehen, um ihn wieder auszuschalten.
»Ich muss aufs Klo und brauche Hilfe«, murmelte sie.
Also nahm ich ihren Ellbogen und half ihr aus dem Sitz. »Ich glaube, mir wird schlecht«, stöhnte sie und stürzte mit vier raschen Schritten in die Toilette der Business-Class. Ich drückte ihr eine Spucktüte in die Hand, schlug die Tür zu und versprach, gleich noch einmal nach ihr zu sehen.
»Ich schaff 's nicht allein«, hörte ich ihre gedämpfte Stimme durch die geschlossene Tür.
»Wie meinen Sie das?«, rief ich auf der anderen Seite. »Brauchen Sie einen Arzt?«
»Nein. Ich brauche nur ...« Ich beugte mich vor und presste mein Ohr gegen die Tür. Im selben Moment sprang das BESETZT- Schild auf FREI, und ich fiel um ein Haar kopfüber in die Toilette. »Kartoffeln«, murmelte sie. »Haben Sie Kartoffeln?«
»Nicht direkt. Ich kann Ihnen Kartoffelchips anbieten.« Ihr gesamtes Kampfgewicht von fünfundvierzig Kilo auf meinen Arm gestützt, schleppte sie sich zurück zu ihrem Sitz. »Sind Sie sicher, dass Sie kein Mineralwasser und ein trockenes Brötchen wollen? Danach würden Sie sich bestimmt gleich besser fühlen.«
»Ja, ich bin sicher. Aber sind Sie sicher, dass Sie keine Kartoffeln haben?«
Es gab nur eines, dessen ich mir noch sicherer war: dass sich meine Passagiere in der Business-Class längst fragten, wo ich abgeblieben war.
Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten keine Kartoffeln an Bord. Das war der Moment, als die »kranke« Passagierin, die sich vielleicht, vielleicht auch nicht (je nachdem, wen man fragte) auf der Business-Toilette erbrochen hatte und daher möglicherweise sogar dafür verantwortlich war, dass im Waschbecken irgendeine braune Brühe überquoll, mich wutentbrannt anstarrte und fauchte: »Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt!«
Es muss an dieser Stelle erwähnt werden: Ich bin wirklich ein netter Mensch. Ehrlich. Ich liebe meine Arbeit. Ich schwöre. Und solange es in einem halbwegs vernünftigen Rahmen bleibt, tue
Copyright © Ullstein TB Verlag
Und der Wahnsinn greift um sich. Kürzlich war ich während eines Flugs im hinteren Teil der Maschine, um die Passagiere zu begrüßen und sicherzustellen, dass sie ihr Handgepäck ordnungsgemäß in den Fächern über sich verstauen. Wie üblich waren einige von ihnen sauer, als sie merkten, dass sie einen Platz in der letzten Reihe abbekommen hatten - bekanntermaßen sind das die schlechtesten im gesamten Flugzeug. (Liebe Passagiere: Irgendjemand muss auf diesen Plätzen sitzen, das lässt sich leider nicht vermeiden.) Ich erklärte gerade einem Herrn, dass selbst die Sitze der letzten Reihe nach hinten geklappt werden könnten, als eine Frau in Hüftjeans und einem knappen gelben Top, unter dem ihr Bauchnabelpiercing herausblitzte, sich vor mir aufbaute, mir ihre Bordkarte vor die Nase hielt und mich anschnauzte: »Jemand sitzt auf meinem Platz.«
Ich warf einen Blick hinüber zu 35E, das war der fragliche Platz, und stellte fest, dass die Piercing Queen recht hatte. Jemand hatte sich auf ihrem Sitz breitgemacht. Es war absurd. Nicht, dass ich mich darüber wunderte, dass mich die Nabelfrau mit einem »Hey, das ist doch total scheiße!« begrüßt hatte - dieser Satz fliegt mir tagtäglich um die Ohren, was wiederum ich offen gestanden total scheiße finde - nein, verrückt war, dass es sich bei 35E um den zweitschlechtesten Platz im Flugzeug handelte (direkt nach dem allerschlechtesten Platz in der Mitte der letzten Reihe).
»Entschuldigen Sie bitte, Miss«, sagte ich zu der Frau mit der rosa Strickjacke, die 35E mit Beschlag belegte, »dürfte ich mal Ihre Bordkarte sehen?«
Miss Rosa Strickjacke reichte mir ihre Bordkarte, die einen anderen, viel besseren Gangplatz ein Stück weiter vorn auswies. Dann blaffte sie mich an: »Vergessen Sie's. Ich gehe hier nicht weg.«
Okay. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Könnten Sie bitte Ihren eigentlichen Platz einnehmen, damit diese junge Dame sich auf ihren setzen kann? Die Maschine ist leider ausgebucht.«
»Ich habe doch gerade gesagt: Ich gehe hier nicht weg.«
Wenigstens weiß ich jetzt, wo der Wahnsinn heute sein Zuhause hat, dachte ich, während sie mir lang und breit erklärte, weshalb sie ihren Hintern nicht von diesem Sitz schwingen würde. Es hatte irgendetwas mit dem Fernsehbildschirm zu tun.
»Aber direkt neben Ihrem Platz hängt doch ein Monitor«, erklärte ich ihr. Das war ihr egal.
Während Miss Rosa Strickjacke weiter darüber faselte, dass sie ihren Platz nicht räumen würde, war mir ein großer schlanker Mann mit einem Schnauzbart unangenehm dicht auf die Pelle gerückt.
»Ma'am, Sie sitzen auf meinem Platz«, platzte es aus ihm heraus.
Wie er sich da so sicher sein konnte, war mir ein Rätsel. Denn als ich ihn um seine Bordkarte bat, konnte er sie nicht finden.
Vielleicht ist das ja der Wahnsinn, dachte ich. Dass sich drei Leute um ein und denselben schlechten Platz in einem Flugzeug zanken, kann man doch wohl nur als verrückt bezeichnen, oder?
Seufzend wandte ich mich der halbnackten Besitzerin von 35E zu und fragte sie, ob sie ihren Platz mit der rosa Strickjacke tauschen würde.
Miss Nabelpiercing stimmte zu: »Von mir aus. Aber dafür schulden Sie mir 'nen Drink.«
Sehr gut. Einer weniger, blieben also noch zwei. Im selben Moment ging Mister Rotzbremse in die hintere Bordküche, ließ sich auf den Fußboden plumpsen und stellte seinen prallvollen Rucksack zwischen seine langen, hageren Beine.
»Kein Problem«, trompetete er. »Dann bleibe ich während des Fluges eben hier.«
Ich drehte mich um. Er lächelte. Ich nicht. Er schien es ernst zu meinen, und ich bekam langsam echte Bauchschmerzen. Bildete er sich allen Ernstes ein, er könnte während des Fluges dort sitzen bleiben? Auf dem Boden? Vor der Toilette? Neben meinem Klappsitz?
»Das wird leider nicht gehen«, sagte ich und wies auf das erleuchtete Anschnallzeichen, in der Hoffnung, dass der Kerl endlich begriff. Plötzlich begannen seine Augen zu leuchten. Er stand auf und ging zielstrebig den Gang entlang. Innerhalb weniger Sekunden hatte er die gesamte Economy- und Business-Class durchquert und steuerte geradewegs die First Class an, wo er, wie mir meine Kolleginnen erzählten, stehen blieb und lautstark verkündete: »Na gut, dann esse ich eben Ihren lausigen First-Class- Fraß!«
Damit war es offiziell - wir hatten den personifizierten Wahnsinn gefunden!
Nach dem Service hatten sich die Gemüter wieder etwas beruhigt, und ich saß auf einer selbstgebastelten Bank (ein Backblech über zwei leeren Getränkecontainereinsätzen) in der Bordküche der Business-Class. Gerade als ich in das Sandwich beißen wollte, das ich von zu Hause mitgebracht hatte, riss eine Passagierin den dicken blauen Vorhang zur Seite.
»Könnte ich eine Business-Class-Vorspeise haben?«, fragte sie und wedelte mit ein paar zerknüllten Geldscheinen.
Eilig wischte ich mir den Mund ab und stand auf. »Wir verkaufen das Essen aus der Business-Class nicht, weil es schon im Ticketpreis enthalten ist und die Passagiere ihr Essen meistens selber ...«
»Aber kann ich nicht mal ein Brötchen kriegen?«
Bevor ich etwas erwidern konnte, trat Mr Schnurrbart mit offener Hose aus der Bordtoilette.
O Mann. Ich schluckte, drehte mich um und betete, er möge weitergehen. Bitte, geh einfach!, flehte ich inbrünstig.
Er blieb stehen.
»Wasser«, befahl er, schob die hungrige Passagierin beiseite und zwängte sich an ihr vorbei. Erst jetzt beschloss er, den Reißverschluss seiner Hose hochzuziehen.
Natürlich tat ich, was jede Flugbegleiterin in dieser Situation tun würde: Ich schnappte einen Plastikbecher und füllte ihn mit Wasser. Jedes Mittel war recht, wenn er nur schnell die Kurve kratzte. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, wie er seinen braunen Ledergürtel mit einem lauten Schnalzen aus den Schlaufen zog. Die hungrige Passagierin trat eilig den Rückzug an.
Bitte, lieber Gott, dachte ich, mach, dass er nur ein kleines bisschen verrückt und nicht komplett durchgeknallt ist. Ich wollte nicht wegen des zweitschlechtesten Platzes im Flugzeug oder des lausigen Fraßes in der ersten Klasse mit einem Gürtel erdrosselt werden.
»Bitte sehr.« Ich reichte ihm das Wasser, ohne den Blick von seinem Gürtel zu lösen. Mittlerweile hielt er ihn straff zwischen den Fingern gespannt.
»Danke.« Der Gürtel erschlaffte. Er legte ihn auf die Ablage neben meinem Sandwich.
»Gern geschehen.« Ein erleichterter Seufzer entfuhr mir. Ich war der Strangulation noch einmal entkommen.
»Kaffee.« Eine Forderung. Keine Frage.
Ich spähte in die Kanne. Leer. Toll. »Ich muss erst frischen kochen, bringe Ihnen aber gerne eine Tasse, sobald er fertig ist.« Vermutlich war der Wahnsinn ansteckend, denn jetzt tat ich etwas völlig Verrücktes: Ich stellte eine Frage, die ich niemals hätte stellen dürfen. Eine Frage, mit der ich diesen Verrückten vollends um den Verstand hätte bringen können. »Auf welchem Platz sitzen Sie denn?«
»Vergessen Sie's!« Er riss seinen Gürtel von der Ablage.
»Tut mir leid«, keuchte ich erschrocken.
Er rammte den Gürtel in die Schlaufen. »Allerdings. Das sollte es auch!« Er packte mein halb aufgegessenes Sandwich, biss hinein und verschwand an den Ort, den er für diesen Flug als Bleibe auserkoren hatte.
»Äh, könnte ich jetzt vielleicht ein Brötchen haben?«, meldete sich in dieser Sekunde eine vertraute Stimme zu Wort.
Selbstverständlich ist dieser Vorfall nicht einmal annähernd so verrückt wie das, was mir vor ein paar Monaten passiert ist. Ich stand beim Boarding auf dem Gang zwischen Business- und Economy- Class, begrüßte die Passagiere und kümmerte mich um die Garderobe, als mich eine Frau Anfang zwanzig beiseitenahm und verkündete, sie habe Fieber und fühle sich gar nicht gut. Noch bevor ich ihr vorschlagen konnte, vielleicht lieber auszusteigen und einen späteren Flug zu nehmen, blickte sie auf mein Namensschild und sah mir mit todernster Miene in die Augen. »Ist in der First Class zufällig noch ein Platz frei, Heather?«
Augenblicklich schrillten alle Alarmglocken in meinem Kopf. Wann immer mich jemand mit dem Vornamen anspricht, folgt zwangsläufig ein Sonderwunsch.
»Tut mir leid, aber es ist nichts mehr frei«, antwortete ich. Als ich ihr erklären wollte, dass sie, selbst wenn es noch einen freien Platz gäbe, sich trotzdem nicht dorthin setzen könne, schob sie sich mit einer abfälligen Handbewegung an mir vorbei und stolzierte den Gang hinunter bis zu einem Platz ganz vorn in der Economy-Class.
In einer Boeing 767 befindet sich die Bordküche für die Business- Class direkt hinter der Economy-Class. Normalerweise sind die ersten Reihen der Economy an den Notausgängen mit Vielfliegern belegt, die sich zwar das billigere Ticket gekauft haben, aber darauf hoffen, dass etwas von den Mahlzeiten der Business- Class für sie abfällt. Als die arme Kranke sich also auf einen der Plätze neben den Notausgängen setzte, war mir sofort klar, dass dies nicht mein Glückstag war.
Eine halbe Stunde nach dem Start, als ich vier Reisenden aus der Business-Class ihre Drinks - eine Cola light mit Zitrone, ein Wasser ohne Eiswürfel, ein Wodka Tonic und ein Glas Chardonnay auf einem Tablett mit Leinenserviette - servieren wollte, drückte sie den Rufknopf. Ich ging zu ihr: »Darf ich Ihnen etwas bringen?«
»Mir geht's nicht gut. Mir ist schlecht.«
»Möchten Sie vielleicht ein Ginger-Ale?«
»Lieber einen Tee. Kräutertee. Aber nicht aus dem Pappbecher, sondern aus einer richtigen Tasse«, sagte sie mit Blick auf die Porzellanbecher auf der Wärmeplatte der Bordküche.
»Wir haben leider nur normalen Lipton-Schwarztee.«
»Na gut. Könnte ich etwas zu essen kriegen?«
Während mein Kollege weiter die Passagiere auf seiner - wohlgemerkt nur seiner - Seite der Business-Class bediente, rief ich meine Kollegen in der Economy an, die gerade mit dem Service anfangen wollten, und ließ mir die Snacks zum Verkaufen aufzählen. Als ich auflegte, fragte sie: »Gibt's keine Rohkost?«
»Rohkost?«, wiederholte ich, weil ich glaubte, mich verhört zu haben.
»Ich kann nichts anderes essen.«
»Wie wär's mit einem Brötchen oder ein paar Crackern?«, bot mein Kollege an. Eigentlich geben wir grundsätzlich keine Speisen der Business-Class an die Economy-Passagiere aus. Aber die Frau war tatsächlich ein bisschen blass um die Nase, und wir wollten schließlich nicht wegen ihr umkehren müssen.
Doch dieses arme kranke Geschöpf konnte keine Brötchen essen, auch kein Stück Käse. Salat ebenfalls nicht. Nüsse genauso wenig. Noch nicht mal Schokolade! Und auch nicht den leckeren hausgemachten Bratreis, den ihr der Passagier auf dem Sitz vor ihr netterweise anbot. (Ich konnte ihn sehr wohl essen, und er schmeckte köstlich. Danke, Kwan!)
Außer Rohkost kam nichts in Frage. Und wenn sie nicht sofort etwas bekäme - auf der Stelle -, würde ihr ganz fürchterlich schlecht werden. Behauptete sie zumindest.
Kaum hatten die Kollegen in der First Class ihren Service beendet, ging ich nach oben. Ich wollte nachsehen, ob etwas übriggeblieben war, auch wenn das so gut wie nie vorkommt. Aber an diesem Tag fand sich ein Schüsselchen Erbsen, und die leitende Flugbegleiterin gestattete sogar, sie unserer Holzklassen-Prinzessin zu servieren.
»Heute ist Ihr Glückstag«, verkündete ich und reichte ihr das Silberschüsselchen nebst Silberlöffelchen.
Kein Dankeschön, kein Sonstirgendetwas. Lediglich zwei Bissen, bevor sie das Gesicht verzog und mir die Schüssel zurückgab. Der Mann neben ihr verdrehte nur die Augen.
Kaum hatte ich ihr den Rücken zugekehrt, ging der Rufknopf an. Ich brauchte wenigstens nicht weit zu gehen, um ihn wieder auszuschalten.
»Ich muss aufs Klo und brauche Hilfe«, murmelte sie.
Also nahm ich ihren Ellbogen und half ihr aus dem Sitz. »Ich glaube, mir wird schlecht«, stöhnte sie und stürzte mit vier raschen Schritten in die Toilette der Business-Class. Ich drückte ihr eine Spucktüte in die Hand, schlug die Tür zu und versprach, gleich noch einmal nach ihr zu sehen.
»Ich schaff 's nicht allein«, hörte ich ihre gedämpfte Stimme durch die geschlossene Tür.
»Wie meinen Sie das?«, rief ich auf der anderen Seite. »Brauchen Sie einen Arzt?«
»Nein. Ich brauche nur ...« Ich beugte mich vor und presste mein Ohr gegen die Tür. Im selben Moment sprang das BESETZT- Schild auf FREI, und ich fiel um ein Haar kopfüber in die Toilette. »Kartoffeln«, murmelte sie. »Haben Sie Kartoffeln?«
»Nicht direkt. Ich kann Ihnen Kartoffelchips anbieten.« Ihr gesamtes Kampfgewicht von fünfundvierzig Kilo auf meinen Arm gestützt, schleppte sie sich zurück zu ihrem Sitz. »Sind Sie sicher, dass Sie kein Mineralwasser und ein trockenes Brötchen wollen? Danach würden Sie sich bestimmt gleich besser fühlen.«
»Ja, ich bin sicher. Aber sind Sie sicher, dass Sie keine Kartoffeln haben?«
Es gab nur eines, dessen ich mir noch sicherer war: dass sich meine Passagiere in der Business-Class längst fragten, wo ich abgeblieben war.
Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten keine Kartoffeln an Bord. Das war der Moment, als die »kranke« Passagierin, die sich vielleicht, vielleicht auch nicht (je nachdem, wen man fragte) auf der Business-Toilette erbrochen hatte und daher möglicherweise sogar dafür verantwortlich war, dass im Waschbecken irgendeine braune Brühe überquoll, mich wutentbrannt anstarrte und fauchte: »Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt!«
Es muss an dieser Stelle erwähnt werden: Ich bin wirklich ein netter Mensch. Ehrlich. Ich liebe meine Arbeit. Ich schwöre. Und solange es in einem halbwegs vernünftigen Rahmen bleibt, tue
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Autoren-Porträt von Heather Poole
Poole, HeatherHeather Poole arbeitet seit über 15 Jahren als Flugbegleiterin einer grossen amerikanischenAirline, flog aber auch für eine abgehalfterte Billigflugline und im Privatjet eines Multimillionärs.Seit 2010 berichtet sie in der beliebten Online-Kolumne Galley Gossip von ihren kuriosestenund bewegendsten Momenten an Bord.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heather Poole
- 2014, 1. Auflage., 320 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Brandl, Andrea
- Übersetzer: Andrea Brandl
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548375243
- ISBN-13: 9783548375243
- Erscheinungsdatum: 08.01.2014
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