Weil der Krieg unsere Seelen frisst
Wie die blinden Flecken der Vergangenheit bis heute nachwirken
Als Kinder erlebten sie Luftangriffe, Flucht und den Tod naher Angehöriger. Heute, über 60 Jahre nach Kriegsende, kehren die Erinnerungen mit Wucht zurück. Auch die Nachkommen sind betroffen. Bestsellerautorin Hilke Lorenz erzählt vom Schmerz, der bis heute in den Familien andauert.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Weil der Krieg unsere Seelen frisst “
Als Kinder erlebten sie Luftangriffe, Flucht und den Tod naher Angehöriger. Heute, über 60 Jahre nach Kriegsende, kehren die Erinnerungen mit Wucht zurück. Auch die Nachkommen sind betroffen. Bestsellerautorin Hilke Lorenz erzählt vom Schmerz, der bis heute in den Familien andauert.
Klappentext zu „Weil der Krieg unsere Seelen frisst “
Als Kinder erlebten sie Luftangriffe, Flucht und den Tod naher Angehöriger. Heute, über sechzig Jahre nach Kriegsende, kehren die Erinnerungen mit Wucht zurück. Das Leid, das der Zweite Weltkrieg verursacht hat, wirkt nach, auch in die nächste Generation. Da ist die Grossmutter, die nie verwunden hat, dass ihr Bruder gefallen ist, und da ist der Sohn, der immer verschwiegen hat, dass sein Vater Nazi war, und dieses Schamgefühl nie ablegen konnte. Viele Kriegskinder haben ihre traumatischen Erlebnisse unbewusst an ihre Kinder weitervererbt. Bestsellerautorin Hilke Lorenz schreibt über die blinden Flecken der Vergangenheit, die es in fast jeder Familie gibt.Lese-Probe zu „Weil der Krieg unsere Seelen frisst “
Weil der Krieg unsere Seelen frisst von Hilke LorenzVorwort
Es war ein kurzer Satz. Acht Worte nur. Aber die ließen ein ganzes Leben auf eine einzige existentielle Erfahrung zusammenschnurren. »Sie sind doch hier nicht auf der Flucht«, hatte der junge Physiotherapeut zu seinem Patienten gesagt - einem Mann hoch in den Siebzigern. Der alte Herr, dem ein Schlaganfall die Beweglichkeit in seinem rechten Bein geraubt hatte, zuckte zusammen. Aus Sicht des Therapeuten hatte er zu hastig versucht, einen Fuß vor den anderen zu setzen - und war gestolpert. Der Therapeut hatte mit seinem flapsigen Kommentar die Situation entkrampfen wollen. Er erreichte genau das Gegenteil.
»Sie sind doch hier nicht auf der Flucht«, diese Worte hallen seit jener Therapiestunde nach im Kopf des alten Mannes. Mit diesem Satz hatten ihn die Erlebnisse seiner Kindheit, einer Zeit, in der die Fähigkeit, weglaufen zu können, so überlebenswichtig gewesen war, eingeholt. Es gab kein Entkommen. Ein Leben lang hatten seine Beine ihn verlässlich getragen: erst zwar unfreiwillig weg aus seinem Heimatdorf in Schlesien in ein neues Leben; dann aber doch von Lebensstation zu Lebensstation. Von der Lehre ins Studium, im Anschluss daran zu einer großen Firma mit internationalem Ansehen. Und in der Freizeit immer wieder in die nahe und ferne Natur. All das war seit dem Schlaganfall vorbei. Nun war er auf die Hilfe anderer angewiesen. Der arglos ausgesprochene Satz des jungen Mannes hatte ihm seine Hilflosigkeit schonungslos vor Augen geführt. Ein alles niederdrückendes Lebensgefühl breitete sich in ihm aus.
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Dabei hätte die Episode auch ganz anders verlaufen können: Ein Blick des Therapeuten in die Krankenakte des Patienten hätte genügt, um zu sehen, dass dessen Geburtsort in einem Landstrich liegt, der heute polnisch ist. Ein wenig Einfühlungsvermögen in die Lebensläufe der heute Siebzig- und Achtzigjährigen, ja vielleicht auch nur die nötige Professionalität im Umgang mit der Kriegsgeneration hätten diese zusätzliche Verletzung vermeidbar gemacht. Der junge Mann hätte nur eins und eins zusammenzählen müssen, um zu begreifen, dass der Verlust der Mobilität diesen Patienten auf eine ganz besondere Art und Weise trifft, die in seiner Biographie als Kriegskind begründet liegt - in seinem Fall in der Erfahrung von Flucht und Vertreibung.
Wie jenem alten Mann geht es vielen seiner Zeitgenossen. Im Alter werden sie in unzähligen Situationen mit dem Kind, das sie einmal waren, und den prägenden Erfahrungen, die sie damals gemacht haben, konfrontiert. Die Menschen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt haben, müssen mit jedem Jahr, das sie älter werden, einen Teil ihrer Autonomie aufgeben. Eine ganze Generation, die der einstigen Kriegskinder, wird allmählich pflegebedürftig. Sie braucht Unterstützung und Begleitung, im häuslichen Bereich, in Pflegeheimen, Krankenhäusern oder Hospizen. Das ist der ganz normale Lauf der Dinge, könnte man meinen. Und doch gibt es etwas, das diese Generation unterscheidet - von uns Heutigen etwa, die wir auch eines Tages alt und gebrechlich sein werden. Sie braucht Verständnis, Menschen, die wissen, welche historischen Prägungen sie im Krieg erfahren hat. Die Generation der Kriegskinder ist allzu oft durch das Raster gefallen. Nach dem Krieg musste man zusehen, dass das Land wieder aufgebaut wurde, für Verletzungen und Traumata war kein Platz. Bei den damaligen Eltern nicht, bei den Kindern schon gar nicht. Man hatte sich in das Neue zu fügen, musste funktionieren. Erinnerungen wurden weggeschoben, verdrängt. Nun bahnen sie sich mit aller Macht ihren Weg.
»Der Zweite Weltkrieg ist bei uns allgegenwärtig«, beschreibt die Leiterin eines Altenwohnheims den Alltag. Sie weiß, dass alte Ängste wieder zum Leben erweckt werden können, wenn etwa ein russisch oder polnisch sprechender männlicher Pfleger für die Körperpflege einer Heimbewohnerin zuständig ist. Zu viele Frauen und Mädchen waren damals Opfer männlicher Gewalt geworden. Der Krieg, der 67 Jahre zurückliegt, drängt unübersehbar zurück in ihr Leben. Und er zeigt seine Fratze oft genug in Situationen, in denen man nicht damit rechnet. Ein nichtiger Anlass, eine eigentlich banale Situation - und alles ist wieder da, was über Jahrzehnte sorgsam unter Verschluss gehalten worden ist.
In der erinnerungspolitischen Debatte der Bundesrepublik hat der Zweite Weltkrieg inzwischen seinen angemessenen Platz bekommen, auch wenn es Jahrzehnte gedauert hatte, bis diese Debatte überhaupt in Gang gekommen war. Es ist ausdiskutiert, was gut und was böse war und dass es viele Grautöne dazwischen gibt. Es herrscht Einvernehmen darüber, dass es auch in einem Volk der Täter Leidtragende des Krieges geben kann - unabhängig von der historischen Schuld. Doch diese theoretische Erkenntnis muss nun auch ihren praktischen Niederschlag im Leben finden. In unserem Umgang mit der Generation der Kriegskinder.
Das scheint schwer, da die Deutschen gerade aus ihren schlimmen historischen Erfahrungen heraus ein Volk von Pazifisten geworden sind. Sie haben ihre Lektion gelernt. Aber mit der rigorosen Ablehnung von Krieg und Gewalt scheint auch das Verstehen und Nachdenken über die Wirklichkeit des Krieges und seiner Folgen aus dem Denken und Fühlen verbannt worden zu sein. Das macht es denen schwer, sich Gehör zu verschaffen, deren Stimmen leiser und kraftloser werden. Umso wichtiger ist es, Andeutungen zu verstehen und genau hinzuhören. Denn auf frühe Verluste folgt oft eine späte Trauer. Und wer nachfragt, der weiß, dass die letzten Zeitzeugen des Krieges, ohne lange nachdenken zu müssen, von Bombennächten, der Angst um den Vater, der Sehnsucht nach Geborgenheit in diesem Grauen und vom Verlust aller Gewissheiten erzählen können. In ihren Seelen hat sich der Krieg mit seinen zahllosen Facetten, die den Einzelnen über die Grenzen des Erträglichen hinaus überforderten, in Schichten abgelagert wie in einem Sedimentgestein. Die Geschwindigkeit, mit der die Erlebnisse freigelegt werden können, zeigt, wie allgegenwärtig sie unter dem Firnis der Gegenwart sind. Auch 67 Jahre nach Kriegsende. Mal bereiten sie mehr, mal weniger Schmerzen. Den Schlaf der Nacht können sie allemal noch immer rauben. Bei dem einen sorgt das für Unruhe, was er erlebt hat, bei dem anderen das, was der Krieg an blinden Flecken des Nichtwissens hinterlassen hat. Nicht selten ist das Nichterlebte genauso kräftezehrend wie das Erlebte. Das Fehlen eines Vaters, das ein letzter vom Schlachtfeld geschriebener Brief auf ewig markiert, wirkt fort bis in die Einsamkeit des Alters und bekommt dort neue Wirkkraft. Die Suche nach der in Kleinkindtagen aus dem Leben verschwundenen Mutter kann Rastlosigkeit bis ins fortgeschrittene Lebensalter mit sich bringen. Nichts ist für immer vorbei. Es sucht sich nur einen neuen Weg ans Tageslicht. »Weil der Krieg unsere Seelen aufgefressen hat«, sagte vor nicht allzu langer Zeit ein Mann, der den Krieg als Kind erlebt hat, auf meine Frage, warum es so schwer sei, über diese Verletzungen zu sprechen. Er brachte damit die Gefühlslage einer ganzen Generation auf den Punkt.
In die Schmerzzone gelangt man dennoch mit einem Wimpernschlag. Doch viele Familiengeschichten, um die die Gedanken dann kreisen, sind bis heute nicht vollständig erzählt worden. Und je lückenhafter sie überliefert sind, desto massiver drehen sich die Gedanken auch der Nachkommenden um die blinden Flecken in der Familienbiographie. Das emotionale Beben vererbt sich, stellt doch der Krieg die größte existentielle Erschütterung überhaupt dar. Keine Familie ist damals verschont geblieben. Und die Geschichte geht weiter. Seit über einem Jahrzehnt sind deutsche Soldaten wieder im Einsatz. Am Hindukusch, in Afghanistan. Offiziell ist der ISAF-Einsatz keine kriegerische, sondern eine friedenssichernde Mission. Aber das, was Veteranen berichten, und die seelischen Erschütterungen, mit denen sie kämpfen, hat kriegerische Dimensionen. Wieder gibt es Kriegswitwen und Kriegswaisen, Begriffe, die wir nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für Relikte der Vergangenheit hielten. Der Krieg kommt wieder in das Leben der Menschen. Als reichte nicht schon das, was an Erfahrungen und Prägungen in Umlauf ist.
Hilke Lorenz im Juli 2012
Trostlosigkeit
Wie Kathi Lemberger als Kriegswaise in der Familie ihrer Tante wie eine Tochter aufgenommen wurde, dennoch aber ein Leben lang nicht verwinden kann, dass ihre Mutter sich für den Freitod und nicht für ein Leben mit ihr entschieden hat.
Barbara Hoff sitzt in dem Haus, in das ihre Familie vor 51 Jahren eingezogen ist. Damals war es ein Neubau, hochgezogen am Rande der Stadt im Rahmen eines Wohnprojekts für kinderreiche Familien. Ein geräumiges, aber schnörkelloses und funktionales Haus mit zwei Stockwerken, umgeben von lauter Häusern, in denen ebenfalls vielköpfige Familien lebten. Rechts eine kleine Welt, links eine kleine Welt - getrennt nur durch jeweils eine Wand. Ein halbes Jahrhundert später hat sich das Viertel verändert, es ist von einer vitalen Familiensiedlung zur ruhigen Wohngegend für ältere Herrschaften geworden. Die Kinder von damals haben längst eigene Familien gegründet, kleinere meist, einige sind weggezogen.
Nicht so Barbara Hoff. Sie lebt noch immer hier mit zwei ihrer Geschwister, trägt sogar einen Teil der Kleider ihrer Mutter auf. Sie tut das, weil die Sachen noch gut sind. Aber auch, weil ihr Job bei der Volkshochschule ihr keine großen Sprünge erlaubt. Beim Erzählen stützt sie die Hände auf den Tisch und blickt offen unter dem Pony ihres Pagenkopfes hervor. Neun Jahre war sie alt, als die Familie in das neue Haus einzog. Sechzig Jahre alt ist sie jetzt. Weggezogen ist sie nie, sie ist dem Ort treu geblieben, an dem beide Eltern ihren Lebensabend verbracht haben. Barbara, ihr Bruder und...
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Dabei hätte die Episode auch ganz anders verlaufen können: Ein Blick des Therapeuten in die Krankenakte des Patienten hätte genügt, um zu sehen, dass dessen Geburtsort in einem Landstrich liegt, der heute polnisch ist. Ein wenig Einfühlungsvermögen in die Lebensläufe der heute Siebzig- und Achtzigjährigen, ja vielleicht auch nur die nötige Professionalität im Umgang mit der Kriegsgeneration hätten diese zusätzliche Verletzung vermeidbar gemacht. Der junge Mann hätte nur eins und eins zusammenzählen müssen, um zu begreifen, dass der Verlust der Mobilität diesen Patienten auf eine ganz besondere Art und Weise trifft, die in seiner Biographie als Kriegskind begründet liegt - in seinem Fall in der Erfahrung von Flucht und Vertreibung.
Wie jenem alten Mann geht es vielen seiner Zeitgenossen. Im Alter werden sie in unzähligen Situationen mit dem Kind, das sie einmal waren, und den prägenden Erfahrungen, die sie damals gemacht haben, konfrontiert. Die Menschen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebt haben, müssen mit jedem Jahr, das sie älter werden, einen Teil ihrer Autonomie aufgeben. Eine ganze Generation, die der einstigen Kriegskinder, wird allmählich pflegebedürftig. Sie braucht Unterstützung und Begleitung, im häuslichen Bereich, in Pflegeheimen, Krankenhäusern oder Hospizen. Das ist der ganz normale Lauf der Dinge, könnte man meinen. Und doch gibt es etwas, das diese Generation unterscheidet - von uns Heutigen etwa, die wir auch eines Tages alt und gebrechlich sein werden. Sie braucht Verständnis, Menschen, die wissen, welche historischen Prägungen sie im Krieg erfahren hat. Die Generation der Kriegskinder ist allzu oft durch das Raster gefallen. Nach dem Krieg musste man zusehen, dass das Land wieder aufgebaut wurde, für Verletzungen und Traumata war kein Platz. Bei den damaligen Eltern nicht, bei den Kindern schon gar nicht. Man hatte sich in das Neue zu fügen, musste funktionieren. Erinnerungen wurden weggeschoben, verdrängt. Nun bahnen sie sich mit aller Macht ihren Weg.
»Der Zweite Weltkrieg ist bei uns allgegenwärtig«, beschreibt die Leiterin eines Altenwohnheims den Alltag. Sie weiß, dass alte Ängste wieder zum Leben erweckt werden können, wenn etwa ein russisch oder polnisch sprechender männlicher Pfleger für die Körperpflege einer Heimbewohnerin zuständig ist. Zu viele Frauen und Mädchen waren damals Opfer männlicher Gewalt geworden. Der Krieg, der 67 Jahre zurückliegt, drängt unübersehbar zurück in ihr Leben. Und er zeigt seine Fratze oft genug in Situationen, in denen man nicht damit rechnet. Ein nichtiger Anlass, eine eigentlich banale Situation - und alles ist wieder da, was über Jahrzehnte sorgsam unter Verschluss gehalten worden ist.
In der erinnerungspolitischen Debatte der Bundesrepublik hat der Zweite Weltkrieg inzwischen seinen angemessenen Platz bekommen, auch wenn es Jahrzehnte gedauert hatte, bis diese Debatte überhaupt in Gang gekommen war. Es ist ausdiskutiert, was gut und was böse war und dass es viele Grautöne dazwischen gibt. Es herrscht Einvernehmen darüber, dass es auch in einem Volk der Täter Leidtragende des Krieges geben kann - unabhängig von der historischen Schuld. Doch diese theoretische Erkenntnis muss nun auch ihren praktischen Niederschlag im Leben finden. In unserem Umgang mit der Generation der Kriegskinder.
Das scheint schwer, da die Deutschen gerade aus ihren schlimmen historischen Erfahrungen heraus ein Volk von Pazifisten geworden sind. Sie haben ihre Lektion gelernt. Aber mit der rigorosen Ablehnung von Krieg und Gewalt scheint auch das Verstehen und Nachdenken über die Wirklichkeit des Krieges und seiner Folgen aus dem Denken und Fühlen verbannt worden zu sein. Das macht es denen schwer, sich Gehör zu verschaffen, deren Stimmen leiser und kraftloser werden. Umso wichtiger ist es, Andeutungen zu verstehen und genau hinzuhören. Denn auf frühe Verluste folgt oft eine späte Trauer. Und wer nachfragt, der weiß, dass die letzten Zeitzeugen des Krieges, ohne lange nachdenken zu müssen, von Bombennächten, der Angst um den Vater, der Sehnsucht nach Geborgenheit in diesem Grauen und vom Verlust aller Gewissheiten erzählen können. In ihren Seelen hat sich der Krieg mit seinen zahllosen Facetten, die den Einzelnen über die Grenzen des Erträglichen hinaus überforderten, in Schichten abgelagert wie in einem Sedimentgestein. Die Geschwindigkeit, mit der die Erlebnisse freigelegt werden können, zeigt, wie allgegenwärtig sie unter dem Firnis der Gegenwart sind. Auch 67 Jahre nach Kriegsende. Mal bereiten sie mehr, mal weniger Schmerzen. Den Schlaf der Nacht können sie allemal noch immer rauben. Bei dem einen sorgt das für Unruhe, was er erlebt hat, bei dem anderen das, was der Krieg an blinden Flecken des Nichtwissens hinterlassen hat. Nicht selten ist das Nichterlebte genauso kräftezehrend wie das Erlebte. Das Fehlen eines Vaters, das ein letzter vom Schlachtfeld geschriebener Brief auf ewig markiert, wirkt fort bis in die Einsamkeit des Alters und bekommt dort neue Wirkkraft. Die Suche nach der in Kleinkindtagen aus dem Leben verschwundenen Mutter kann Rastlosigkeit bis ins fortgeschrittene Lebensalter mit sich bringen. Nichts ist für immer vorbei. Es sucht sich nur einen neuen Weg ans Tageslicht. »Weil der Krieg unsere Seelen aufgefressen hat«, sagte vor nicht allzu langer Zeit ein Mann, der den Krieg als Kind erlebt hat, auf meine Frage, warum es so schwer sei, über diese Verletzungen zu sprechen. Er brachte damit die Gefühlslage einer ganzen Generation auf den Punkt.
In die Schmerzzone gelangt man dennoch mit einem Wimpernschlag. Doch viele Familiengeschichten, um die die Gedanken dann kreisen, sind bis heute nicht vollständig erzählt worden. Und je lückenhafter sie überliefert sind, desto massiver drehen sich die Gedanken auch der Nachkommenden um die blinden Flecken in der Familienbiographie. Das emotionale Beben vererbt sich, stellt doch der Krieg die größte existentielle Erschütterung überhaupt dar. Keine Familie ist damals verschont geblieben. Und die Geschichte geht weiter. Seit über einem Jahrzehnt sind deutsche Soldaten wieder im Einsatz. Am Hindukusch, in Afghanistan. Offiziell ist der ISAF-Einsatz keine kriegerische, sondern eine friedenssichernde Mission. Aber das, was Veteranen berichten, und die seelischen Erschütterungen, mit denen sie kämpfen, hat kriegerische Dimensionen. Wieder gibt es Kriegswitwen und Kriegswaisen, Begriffe, die wir nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für Relikte der Vergangenheit hielten. Der Krieg kommt wieder in das Leben der Menschen. Als reichte nicht schon das, was an Erfahrungen und Prägungen in Umlauf ist.
Hilke Lorenz im Juli 2012
Trostlosigkeit
Wie Kathi Lemberger als Kriegswaise in der Familie ihrer Tante wie eine Tochter aufgenommen wurde, dennoch aber ein Leben lang nicht verwinden kann, dass ihre Mutter sich für den Freitod und nicht für ein Leben mit ihr entschieden hat.
Barbara Hoff sitzt in dem Haus, in das ihre Familie vor 51 Jahren eingezogen ist. Damals war es ein Neubau, hochgezogen am Rande der Stadt im Rahmen eines Wohnprojekts für kinderreiche Familien. Ein geräumiges, aber schnörkelloses und funktionales Haus mit zwei Stockwerken, umgeben von lauter Häusern, in denen ebenfalls vielköpfige Familien lebten. Rechts eine kleine Welt, links eine kleine Welt - getrennt nur durch jeweils eine Wand. Ein halbes Jahrhundert später hat sich das Viertel verändert, es ist von einer vitalen Familiensiedlung zur ruhigen Wohngegend für ältere Herrschaften geworden. Die Kinder von damals haben längst eigene Familien gegründet, kleinere meist, einige sind weggezogen.
Nicht so Barbara Hoff. Sie lebt noch immer hier mit zwei ihrer Geschwister, trägt sogar einen Teil der Kleider ihrer Mutter auf. Sie tut das, weil die Sachen noch gut sind. Aber auch, weil ihr Job bei der Volkshochschule ihr keine großen Sprünge erlaubt. Beim Erzählen stützt sie die Hände auf den Tisch und blickt offen unter dem Pony ihres Pagenkopfes hervor. Neun Jahre war sie alt, als die Familie in das neue Haus einzog. Sechzig Jahre alt ist sie jetzt. Weggezogen ist sie nie, sie ist dem Ort treu geblieben, an dem beide Eltern ihren Lebensabend verbracht haben. Barbara, ihr Bruder und...
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Autoren-Porträt von Hilke Lorenz
Hilke Lorenz, Jahrgang 1962, ist Redakteurin der Stuttgarter Zeitung. Im Ullstein Verlag sind ihr Bestseller Kriegskinder, Das Schicksal einer Generation (2003) und Heimat aus dem Koffer (2009) erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hilke Lorenz
- 2014, 1. Auflage, 224 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611990
- ISBN-13: 9783548611990
- Erscheinungsdatum: 06.02.2014
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