Von seltenen Vögeln
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Von seltenenVögeln von Anita Albus
LESEPROBE
Taubenfinsternis
»Sosterben dahin die Geschlechter
derMenschen. Es verhallt die rühmliche
Kundeder Völker. Doch wenn im Sturm
derZeiten die Werke schaffender Kunst
zerstieben,so entspriesst ewig neues Leben
aus demSchoosse der Erde. Rastlos entfaltet
ihreKnospen die zeugende Natur: unbekümmert,
ob derfrevelnde Mensch (ein nie versöhntes Geschlecht)
diereifende Frucht zertritt.« Alexander von Humboldt
Es warein sonniger Tag in Kentucky, als sich John James Audubon im Herbst 1813von seinem Haus in Henderson auf den Weg nach Louis ville machte. Erritt zügig durch die dürren Ebenen den Ohio entlang. Wenige Meilen jenseits vonHardinsburgh tauchte gegen Mittag am Honizont die schwarze Wolke einesWandertaubenzugs auf. Die von Nordosten nach Südwesten fliegenden Scharennäherten sich mit einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern. Bald wardie Luft von Tauben erfüllt, im Nu der Himmel verdunkelt wie bei einerSonnenfinsternis. Schmelzenden Schneeflocken gleich regnete der Vogelmist auf Audubonherab. Das unablässige Schwirren der Flügel lullte seine Sinne ein. Gegen denSchlaf kämpfend stieg er vom Pferd. Vergeblich versuchte er mit dem Bleistiftim abgeschirmten Skizzenbuch die Anzahl der Scharen durch Tupfen festzuhalten.Einhundertdreiundsechzig in einundzwanzig Minuten. Aber das stellte nur einenwinzigen Ausschnitt des hoch über ihm dahinrauschenden Vogelzugsdar, der sich vom Ohio bis zu den weit in der Ferne sichtbaren grossen Wäldernerstreckte und noch lange kein Ende nahm.
Während Audubon in einem Wirtshaus an der Mündung des SaltRiver in den Ohio auf sein Mittagessen wartete, konnte er verfolgen, wie dieunermesslichen Myriaden von Wandertauben weiter in hoher Luft über dasunfruchtbare Land strichen. Solange die Millionen feuerroter Taubenaugen keineWälder mit Bucheckern und Eicheln, keine Felder mit Weizen oder Reis fürMillionen pechschwarzer Schnäbel erspähten, würde sich keine einzige Taubeniederlassen. Versuchte ein Falke einen Vogel aus der Schar zu reissen, schossendie Tauben unter dem Donnerrollen ihrer aneinanderschlagenden Fittiche zu einerfesten Masse zusammen. Wie ein lebendiger Strom stürzten sie dann geballthernieder, »schossen in welligen und winkeligen Linien vorwärts, fielen bis zumBoden herab, strichen über ihm mit unvorstellbarer Geschwindigkeit dahin,stiegen dann senkrecht empor, einer mächtigen Säule vergleichbar, und nachdemsie die Höhe wieder erreicht, sah man sie innerhalb ihrer fortlaufenden Reihenkreisen und sich winden, gleich den Spiralen einer gigantischen Schlange«.1Ergriffen von der Schönheit des Schauspiels, beobachtete der Vogelmaler, wienunmehr eine Schar nach der anderen an eben der Stelle zusammen schoss, an derdie eine Taube den Krallen des Falken entronnen war, und in Abwesenheit des Räubersgenau dieselben Winkel, Wellen und Windungen als lebendiger Strom in die Lüfteschrieb wie die angegriffene Schar. Ein Gedächtnis verband Millionen Tauben.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, als Audubon nach 88 Kilometernvon Hardingsburgh in Louisville eintraf. Da war noch immer kein Ende desVogelzugs abzusehen. Drei Tage zog er sich hin. Die Vogel mengen riefen dieMenschenmengen auf den Plan. Alles griff zu den Waffen. »An den Ufern des Ohiowimmelte es von Männern und Jungen, die ununterbrochen auf die beim Überquerendes Flusses niedriger fliegen den Pilger schossen. Zahlreiche wurden auf dieseWeise vernichtet. Über eine Woche oder länger ass die Bevölkerung kein anderesFleisch als das der Tauben. Während dieser Zeit war die Atmosphäre regelrechtdurch tränkt von dem eigentümlichen Geruch, den diese Spezies ausströmt.«2
Bei einer nachträglichen Schätzung errechnete Audubon nachUmfang und Dauer des Vogelzugs eine Anzahl von einer Milliarde, 115 Millionenund 135 Tausend Wandertauben. Sein Rivale Alexander Wilson kam aufüber zwei Milliarden. Der horrenden Taubenmasse entsprach ein horten,' derFutterbedarf. Erspähten die Argusaugen des Schwarms Nahrungs' gründe, erfasstendie Vögel, dicht aneinandergedrängt eine gefiederte Schlange bildend, insinkenden Kreisen das Land. Wie das Gefieder der einzelnen Wandertaube imNacken zwischen Purpurviolett, Gold und Grün changierte, so schillerte dasSchlangengebilde bei seinen Wende manövern in den Lüften je nach der Seite, diees dem Betrachter zukehrte, bald rötlich, bald schieferblau. Prächtig undfurchtbar wie die Vögel der Apokalypse, denen der Engel zurief: »Kommt her!Versammelt euch zum grossen Mahl Gottes«3, fielen dieWandertaubenschwärme über Wälder und Felder her. (...)
1 Audubon 1831, S. 321.
2 Ebd.
3 Offb. 19, 17.
© S. Fischer Verlag GmbH
- Autor: Anita Albus
- 2016, 5. Aufl., 300 Seiten, 2 farbige Abbildungen, Masse: 18,2 x 24,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100006208
- ISBN-13: 9783100006202
- Erscheinungsdatum: 14.09.2005
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