Von Engeln und Eseln
Geschichten nicht nur zu Weihnachten
Wunderschöne Erzählungen für Groß und Klein: Wie die unfreiwillige Gastfreundschaft einer Frau ein ganzes Dorf verwandelte; wie Nikodemus fand, was er suchte, als er sein ganzes Hab und Gut verschenkte. Ein herrlicher...
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Produktinformationen zu „Von Engeln und Eseln “
Wunderschöne Erzählungen für Groß und Klein: Wie die unfreiwillige Gastfreundschaft einer Frau ein ganzes Dorf verwandelte; wie Nikodemus fand, was er suchte, als er sein ganzes Hab und Gut verschenkte. Ein herrlicher Weihnachtsschmöker - ideal für die Advents- und Winterzeit!
Klappentext zu „Von Engeln und Eseln “
Die Geschichten in diesem Buch erzählte Pastor André Trocmé den Kindern des Dorfes Chambon-sur-Lignon, während Frankreich von Hitlers Truppen besetzt war. Die Menschen dieser Gegend hatten ein Untergrundnetzwerk gebildet und fast 5.000 Flüchtlinge gerettet oder ihnen geholfen, viele davon jüdische Kinder.Dabei wussten die Retter meist nicht, was ihre Nachbarn taten: Niemand sprach darüber. Woher bekamen diese Leute den Mut, ihr eigenes Leben zu riskieren, um Fremde zu retten? Inmitten von Armut, Angst und Unsicherheit wusste jeder, dass Tod und Verrat sie von allen Seiten umgaben.
Die Erzählungen in diesem Buch sind Teil dieser Geschichte. Denn der Mut, das zu tun, was man für richtig erkannt hat, entzündet sich häufig an der Erinnerung an eine Geschichte.
Lese-Probe zu „Von Engeln und Eseln “
Von Engeln und Eseln von Andre TrocmeAus dem Englischen von David Neufeld, Schwarzenfeld
Bevor Sie mit dem Lesen beginnen ...
Die Geschichten in diesem Buch wurden den Kindern des Dorfes Chambon-sur-Lignon erzählt, während Frankreich von Hitlers Truppen besetzt war. Die Menschen dieser Gegend hatten ein Untergrundnetzwerk gebildet, um Flüchtlinge zu retten, viele davon jüdische Kinder.
Die Retter wussten nicht, was ihre Nachbarn taten. Niemand sprach darüber. Woher bekamen diese Leute den Mut, ihr eigenes Leben zu riskieren, um Fremde zu retten? (Die Menschen dieser Gegend haben fast 5 000 Flüchtlingen geholfen, über 3 500 davon jüdisch, von denen einige noch heute leben.)
Die Erzählungen in diesem Buch sind Teil dieser Geschichte. Denn der Mut, das zu tun, was man für richtig erkannt hat, entzündet sich häufig an der Erinnerung an eine Geschichte.
Diese Geschichten wurden von Pastor André Trocmé unter dem großen beleuchteten Weihnachtsbaum in der protestantischen hugenottischen Kirche in jenem kleinen Bergdorf erzählt, inmitten von Armut, Angst und Unsicherheit der Kriegszeiten. Jeder wusste, dass Tod und Verrat sie von allen Seiten umgaben. Viele der Themen in den Geschichten sind Anspielungen auf den Mut, den man unter diesen Umständen braucht. Zum ersten Mal liegen diese Erzählungen nun auf deutsch vor.
Im U. S. Holocaust Memorial Museum in Washington,
D. C., ist ein Raum den Rettern gewidmet. Auch an die Menschen der Gegend von Vavarais-Lignon und deren führende Leute wie die Familie Trocmé, Pastor Édouard Theis und Daniel Trocmé, der in einem Konzentrationslager starb, wird hier erinnert.
... mehr
Auch in Yad Vashem, der zentralen Gedenkstätte für die Opfer und Helden des Holocaust in Israel, werden Ehepaar Trocmé sowie Chambon-sur-Lignon und seine benachbarten Dörfer zu den »Gerechten unter den Völkern « gezählt und für ihren Mut geehrt.
Einführung
Jede einzelne der Geschichten in diesem Buch wurde aufgeschrieben, um in der Weihnachtszeit Kindern erzählt zu werden. Der Autor selbst hat die Geschichten unter dem Weihnachtsbaum erzählt.
Mögen die Leser nicht vergessen, dass mehrere dieser Geschichten geschrieben wurden, während Hitler Frankreich besetzte, und dass das Evangelium von der Geburt, dem Tod und der Auferstehung von Jesus Christus die einzige gültige Antwort auf den teuflischen Horror war, den die Prinzen dieser Welt verbrochen haben.
Warum Engel? Weil die Weihnachtshimmel von Botschaftern erfüllt sind, die die gute Nachricht vom Kommen des Friedefürsten bringen.
Warum Esel? Weil die kleinen Esel aus dem Neuen Testament Engeln näher sind als Menschen, die stark, mächtig und intelligent sind.
André Trocmé
Weihnachten in Le Chambon
Oben, auf der Hochebene in den Bergen unserer französischen Heimat, war Weihnachten für die Kinder unseres Dorfes Le Chambon-sur- Lignon eine magische Zeit.
In den 1930er und 1940er Jahren hat der Alltag uns nicht gestört. Bettler kamen an die Haustür, um nach Essen zu fragen. Das Grollen des Krieges verfolgte uns ständig. Wir trugen abgetragene Kleider, häufig ausgebessert und geflickt, und ein gebrauchter Schlitten oder ein klappriges altes Fahrrad waren die größten Geschenke.
Aber für uns Kinder war das Leben dennoch voller Wunder. Geprägt vom Rhythmus von Schule und Spiel, glaubten wir, dass jede neue Jahreszeit ein Grund zur Freude war. Der Frühling mit seinen Feldern voll wilder Narzissen (wir nannten sie »barbelottes«), soweit das Auge reichte. Der Sommer, der offenbarte, wer mutig genug war, in der ziemlich kalten Lignon (unserem kleinen Gebirgsfluss) zu schwimmen, und wer schnell genug war, um Eimer für Eimer wilde Heidelbeeren zu pflücken und gleichzeitig jede Menge davon zu vernaschen. Der Herbst mit seinen warmen Farben, die plötzlich von stürmischem Regen aufgerissen wurden. Und schließlich der Winter mit seinem frostigen Wind (la burle), der flach über die Ebene dahinfegte, Schnee in die Ecken unserer Granithäuser und Farmen jagte und in elegant geformten Graten (les congères) auftürmte, die so hoch waren wie unsere Eltern! Gesprenkelt mit dichten Kieferwäldern, verwandelte sich die Landschaft in ein ernstes und geheimnisvolles schwarz-weißes Panorama.
»Wie düster!«, rufen Sie nun womöglich überrascht. Aber uns Kindern machte das nichts aus, denn mit dem Beginn des Winters kündigte sich zugleich Weihnachten in all seiner Faszination an.
Die alte Hugenotten-Kirche war Teil dieser Landschaft. Errichtet aus handbehauenen Granitblöcken, war sie schlicht und massiv. Die Fassade war einfach, mit einem Fenster auf jeder Seite der weiten Doppeltür. Über der Tür waren die Worte »Liebt einander« (»Aimez-vous les uns les autres«) eingraviert. Und an der Spitze des Giebels befand sich ein offener Kirchturm, der eine schwere Glocke beherbergte.
Öffnete man die weiten Doppeltüren, stand man im Mittelgang, der auf beiden Seiten von sehr geraden und harten Holzbänken gesäumt wurde, und von zwei Reihen großer Pfeiler, alle ähnlich und doch etwas unterschiedlich: jede war per Hand vom Schaft einer großen Fichte gehauen worden. Ein leicht erhöhtes Podest befand sich am Ende des Ganges. An der Wand dahinter hing die Kanzel des Predigers, hoch genug, um die Versammlung zu überragen. Auf der Wand zur Linken der Kanzel standen die Worte: »Der Meister ist hier« (»Le Maître est ici«). Und auf der rechten Seite: »Er ruft dich« (»Il t'appelle«).
Kein Schnickschnack, kein Mikrofon, keine bunten Glasfenster oder Teppichläufer, keine Orgel. Um zu heizen, gab es zwei große Eisenöfen, die rot glühten, wenn sie anständig mit Holz versorgt wurden.
Womöglich fragen Sie sich immer noch: »Wie kann solch ein trostloser Ort weihnachtlich glänzen?«. Tja, fragen Sie die Kinder jener Zeit, die heute längst Großväter und Großmütter sind. Sie werden Ihnen versichern, dass die Kirche zu Weihnachten tatsächlich faszinierend wurde.
Ich erinnere mich besonders an ein Weihnachtsfest. Es war sehr kalt und es lag viel Schnee. Die Doppeltür stand weit auf, und die Bänke waren auf die Seite geschoben worden. Da betrat ein Zugpferd die Kirche, ein echtes, das durch seine großen Nüstern kleine Wölkchen seines warmen Atems in die kalte Luft pustete. Das Pferd zog einen riesigen Balsam-Baum, der zwei Stunden zuvor im Wald gefällt worden war. Es lief den ganzen Gang entlang nach vorne, bis der Baumstamm auf dem Podium lag. Die Kirchenältesten hatten eine Steinplatte vom Boden entfernt, um den Baum zu befestigen. Das machten sie Jahr für Jahr so, und sie wussten genau, wie sie den Baum sicher errichteten und schmückten.
Am Nachmittag des 25. Dezembers, wenn wir Kinder die Kirchenglocke läuten hörten, rannten wir, so schnell wir konnten, durch die Dorfstraßen, ängstlich, auch nur eine Minute zu verpassen, während unsere Gummischuhe (sabots) auf dem Eis klapperten.
Unsere Sonntagsschullehrer wiesen jeden von uns an einen vorgesehenen Platz. Und dann begann die Faszination. Hundert Kerzen bedeckten den Baum, echte Kerzen, die uns mit ihrem flackernden Leuchten willkommen hießen. Durch das ganze Lametta an den Zweigen sahen sie aus wie tausend oder mehr Kerzen.
Geleitet von den begeisterten Stimmen von Pastor Theis oder Pastor Trocmé, sangen wir viele Weihnachtslieder, von einem alten, paffenden Harmonium begleitet. Jemand las die Weihnachtsgeschichte, und wir kannten sie so gut, dass wir jedes Wort vorhersagen konnten.
Alle Kinder bekamen braune Papiertüten, beschriftet mit den Namen. Jede Tüte enthielt eine Orange und eine Mandarine, ein paar Süßigkeiten, Nüsse, Rosinen und ein kleines Geschenk. Aber das schönste von allem waren die zwei oder drei papillottes darin: Bonbons, die unverwechselbar verpackt waren, jedes mit einem winzigen Knallkörper, der innen am Papier festgeklebt war. Wenn man an den beiden Enden des Klebestreifens zog, explodierte ein Zündplättchen, das im Inneren verborgen war, mit einem lauten »Peng!«. Die waren, natürlich, nicht zum Gebrauch in der Kirche bestimmt, sondern für später ...
Schließlich folgte der beste Teil des Weihnachtsgottesdienstes - eine besondere Weihnachtsgeschichte, die Pastor André Trocmé geschrieben hatte. Neben ihm hatte sein Freund Roger Darcissac eine große weiße Leinwand aufgehängt, wo Scherenschnitt-Figuren sich schrittweise bewegten, um die Geschichte zu illustrieren.
Pastor Trocmé - mein Vater - erzählte jedes Jahr eine neue Geschichte. Er war groß und schlank, mit leuchtenden blauen Augen, die jeden einzelnen von uns durch seine altmodische runde Brille ansahen. Von der Freude der Kinder und dem Spaß an der Geschichte mitgenommen, ging er vor dem Baum auf und ab, darstellend und gestikulierend. Manchmal war er ernst, dann wieder lachte er über seine eigenen Geschichten, fügte spontan Details hinzu, die ihn selbst überraschten und ohne Ende amüsierten.
Die Faszination war allgegenwärtig. Unsere Münder standen weit offen und wir waren hin und weg, aus der Realität in eine andere Welt gerauscht, die nichts mit unserem Dorf zu tun hatte; eine Welt, wo die Dinge immer auf die richtige Art und Weise enden; eine Welt, die man nur ungern wieder verließ, wenn die Geschichte allmählich zum Ende kam.
Von Engeln und Eseln ist eine Sammlung vieler dieser Weihnachtsgeschichten.
Ich widme dieses Buch den Kindern auf der ganzen Welt, die sehr gut wissen, dass Esel und Engel oftmals viel klüger sind als erwachsene Menschen, wenn es um Güte und Frieden geht.
Nelly Trocmé Hewett
Nelly Trocmé Hewett, Tochter von André und Magda Trocmé, ging als Au-pair-Mädchen in die Vereinigten Staaten und blieb schließlich dort, studierte und wurde Französischlehrerin. Heute lebt die Mutter dreier Kinder in St. Paul, Minnesota/USA.
Nikodemus
Rabbi Gamaliel! Rabbi Gamaliel!« Eine Stimme weckte Rabbi Gamaliel, der sich soeben für die Nacht zurückgezogen hatte. Er stand auf und öffnete die Tür.
»Rabbi Gamaliel«, bat eine Frau, »kommen Sie schnell zu mir nach Hause. Ich glaube, mein Mann, Nikodemus, ist verrückt geworden! Er tut nichts als singen und weinen und wiederholt immer dasselbe: ›Meine Augen haben den König gesehen‹ und dann noch: ›Und ich hatte nichts als mein Elend.‹«
»Bleiben Sie nicht draußen stehen«, antwortete Gamaliel, »kommen Sie herein und erzählen Sie mir alles.«
Und das ist die Geschichte, welche die Frau des Nikodemus Rabbi Gamaliel erzählt hat:
»Sie wissen, Rabbi Gamaliel, dass Nikodemus, obwohl er noch jung ist - er ist erst dreißig Jahre alt -, als einer der fähigsten Schriftgelehrten angesehen wird, um die alten Prophezeiungen zu erklären. Nun hat vorgestern der König Herodes ihn mit seinen Kollegen von der großen Synagoge zu einer Beratung in den Palast gerufen.
›Sagt mir‹, fragte sie der König, ›wo soll, nach Aussagen der Heiligen Schrift, der Christus geboren werden?‹
- ›In Bethlehem in Judäa‹, antworteten die Schriftgelehrten einstimmig. Da riefen die drei Weisen aus dem Morgenland, die vor dem Thron des Herodes standen, und deren Besuch der Grund der Beratung war: ›Gehen wir also nach Bethlehem, denn wir sind gekommen, um dem neugeborenen König der Juden unsere Ehrerbietung zu erweisen; wir haben im Morgenland seinen Stern gesehen.‹
Mein Mann war also sehr erregt, als er aus dem Palast des Herodes zurückkam. Gestern weckte er mich früh am Morgen: ›Frau‹, sagte er zu mir, ›leg mir den schönen Mantel aus weißer Wolle zurecht, den du mir mit deinen eigenen Händen gewoben hast, und lass meinen kleinen grauen Esel satteln.‹ Dann steckte er die dreißig Silberstücke in seinen Beutel, die unser ganzes Vermögen sind. ›Auch ich muss gehen und dem neugeborenen König die Ehre erweisen‹, sagte er. Und er brach auf nach Bethlehem, ohne zu vergessen, ein Schwert gegen die Räuber mitzunehmen.
Nun aber, Rabbi Gamaliel, ist Nikodemus heute Abend ohne sein Schwert zurückgekommen; er hat auch den schönen weißen Mantel nicht mehr, den ich ihm gewoben hatte; er hat seinen kleinen grauen Esel verloren; seine Börse, die dreißig Silberstücke enthielt, unser ganzes Vermögen, ist verschwunden. Er zittert in seiner Tunika aus dünner Leinwand, die schmutzig und voller Staub ist, und die ihm als einziges Kleidungsstück noch geblieben ist. Indessen tut er nichts als singen. Ich glaube, er ist verrückt geworden.«
Rabbi Gamaliel begab sich zu Nikodemus und fand ihn, hin und her gehend, in einem Zustand der Ekstase, wie es seine Frau beschrieben hatte.
»Setz dich doch einen Augenblick«, sagte er zu ihm, »und erzähl mir der Reihe nach, was passiert ist.«
»Nun gut«, sagte Nikodemus, »hör zu: Gestern morgen, als ich Jerusalem verließ, durch die Pforte, die man das Dungtor nennt, wo sich die Baracken der Armen befinden, deren Beruf es ist, die Abfälle zu sortieren, da hielt mich ein Bettler an, der am Straßenrand kauerte: ›Mein guter Herr, geben Sie mir Ihren Mantel, ich friere.‹ Er schlotterte in der kalten Morgenluft. ›Ich kann dir nicht meinen schönen weißen Wollmantel geben, denn meine Frau hat ihn mit ihren eigenen Händen gewoben‹, antwortete ich ihm. ›Außerdem habe ich eine wichtige Mission zu erfüllen: Ich gehe nach Bethlehem, um den neugeborenen Messias zu begrüßen. Ich darf mit dir keine Zeit verlieren.‹
Aber als ich weiterging, kam mir das Wort des alten Propheten in den Sinn: Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen! (Jesaja 58,7)
›Wie könnte ich vor dem von den Propheten angekündigten Messias erscheinen, wenn ich solchen Geboten nicht gehorche?‹, sagte ich mir. Und ohne Zeit zu haben, darüber nachzudenken, hatte ich dem Bettler den schönen weißen Wollmantel geschenkt, den meine Frau mit ihren eigenen Händen gewoben hatte. Und ich setzte meinen Weg nach Bethlehem fort.
Nun aber, als ich bei dem Brunnen von En Roguel ankam, sprang ein Räuber hervor und ergriff den Zügel meines Esels. ›Gib mir dein Geld‹, sagte er zu mir. - ›Ich würde es dir gerne überlassen‹, antwortete ich ihm, aber ich gehe nach Bethlehem, um es dem neugeborenen König der Juden zu schenken. Bist du nicht selbst einer von den Anhängern des Königs der Juden, der Israel befreien soll?‹
›Gewiss‹, antwortete er. ›Um seine Ankunft vorzubereiten, halte ich mich versteckt; aber du, Pharisäer, erzählst mir Geschichten, um mir zu entkommen; gib mir dein Geld, und zwar schnell.‹
Ich hätte versuchen können, weiterzugehen, wenn ich mein Schwert gezogen und diesen Mann geschlagen hätte; aber das Wort des Propheten Jesaja kam mir in den Sinn: Denn uns ist ein Kind geboren! Ein Sohn ist uns geschenkt! Er wird die Herrschaft übernehmen. Man nennt ihn ›Wunderbarer Ratgeber‹, ›Starker Gott‹, ›Ewiger Vater‹, ›Friedensfürst‹ (Jesaja 9,5). - ›Soll ich einen Mord begehen, um die Geburt des Friedensfürsten zu feiern?‹, sagte ich mir. Und ich übergab aus freiem Willen dem Räuber meine Börse, die dreißig Silberstücke enthielt, mein ganzes Vermögen. Es war nutzlos geworden, ebenso wie mein Schwert. Und ich setzte meinen Weg nach Bethlehem fort.
Nun aber, während mein kleiner grauer Esel fröhlich trabte und ich Bethlehem schon liegen sah, sprach mich ein Mann, der nur mühsam gehen konnte, an, als ich an ihm vorbei kam. ›Mein Herr‹, sagte er mit fremdländischem Akzent, ›ich komme von Damas und bin auf dem Weg nach Alexandria in Ägypten, wohin mein sterbender Vater mich rufen ließ. Leider sind meine Füße wund von den Steinen des Weges und verweigern mir den Dienst. Leihen Sie mir Ihren grauen Esel. Ich werde ihn zurückgeben, wenn ich wiederkomme.‹ - ›Auch ich habe eine wichtige Mission zu erfüllen‹, antwortete ich ihm. ›Ich gehe nach Bethlehem, um die Geburt des Retters der Juden zu feiern, der soeben geboren ist.‹
›Der Retter der Juden geht mich nichts an, denn ich bin ein Fremdling‹, antwortete der Mann; ›außerdem ist Bethlehem so nah und Ägypten so weit.‹
Ich wollte weitergehen, als mir das Wort aus dem Psalm in den Sinn kam: Ich bin nun ein alter Mann; doch in meinem langen Leben traf ich niemanden, der Gott liebte und dennoch von ihm verlassen wurde. Auch seine Kinder mussten nie um Brot betteln. Im Gegenteil: Immer konnte er schenken und ausleihen (Psalm 37,25- 26 a). ›Nun gut, nimm meinen grauen Esel‹, sagte ich zu dem Fremden. ›Ich bin Rabbi Nikodemus aus Jerusalem, du bringst ihn mir so schnell als möglich zurück.‹
Und so kam ich nach Bethlehem, aller meiner Güter beraubt, und nur mit einer einfachen Tunika aus Leinen bekleidet.«
»Und du hast den Messias gefunden?«, unterbrach ihn lebhaft Rabbi Gamaliel.
»Nicht sofort, Rabbi Gamaliel, nicht sofort! Denn ich musste zuerst lernen, wie es ist, arm zu sein. Mein erster Besuch war beim Leiter der Synagoge, den ich fragte: ›Wo ist der Messias, der soeben geboren ist?‹ Als er meine miserable Aufmachung sah, weigerte er sich, zu glauben, dass ich der Rabbi Nikodemus aus Jerusalem sei. Er hielt mich für einen schlechten Spaßmacher und wies mich zur Tür hinaus.
Ich ging nacheinander zu allen angesehenen Bürgern von Bethlehem, aber niemand nahm mich ernst. Man machte sich über mich lustig, man drohte mir, man jagte mich überall fort. Selbst der Zöllner, den ich aufsuchte, obwohl das Gesetz uns verbietet, mit diesen Leuten zu verkehren, die einen schlechten Lebenswandel haben, behandelte mich mit Verachtung.
Und als die Nacht anbrach, klopfte ich an die Pforte einer Herberge. ›Nimm mich nur für eine einzige Nacht auf‹, bat ich den Wirt; ›ich bezahle dich später.‹ - ›Ein ehrlicher Mann reist nicht ohne Gepäck und ohne Geld‹, antwortete er, ›geh deiner Wege‹, und er hetzte die Hunde auf mich.
Ich schickte mich schon an, auf der Straße zu schlafen, als ein Mann an mir vorbeiging. An seinem starken Geruch erkannte ich, dass es einer jener Hirten war, die die Gewohnheit haben, im Stall mit den Schafen zu schlafen. ›Mann‹, sagte ich zu ihm mit bittender Stimme, ›kannst du mir ein Stück Brot geben und mich für eine Nacht beherbergen? Ein Haufen Stroh genügt mir.‹
- ›Gewiss‹, antwortete der gute Mann mit warmer, bäuerlicher Stimme, ›aber nicht, bevor du mich zu dem Stall begleitet hast, wo das kleine Kind schläft, das vorgestern geboren ist. Jeden Abend gehen wir und bringen seinen Nikodemus Eltern etwas zu essen, armen Galiläern ohne Geld, die wegen der Volkszählung hierhergekommen sind. Übrigens sind uns während der Nachtwache Engel erschienen und haben uns versichert, dass dieses Kind der Messias ist. ›Und daran werdet ihr ihn erkennen‹, haben sie uns gesagt: ›Das Kind liegt, in Windeln gewickelt, in einer Futterkrippe!‹
Als er an dieser Stelle seiner Erzählung angelangt war, wurde Nikodemus von einer tiefen Rührung erfasst. Unter den erstaunten Augen des Rabbi Gamaliel fing er wieder an, kreuz und quer umherzulaufen, und wiederholte: »Ich habe den König gesehen, und ich hatte nichts als mein Elend!«
Gamaliel unterbrach ihn mit einer gewissen Ungeduld. »Sag mir doch, wie war der König, Nikodemus?«
»Höre, Rabbi Gamaliel, wenn ich den Stall betreten hätte mit meinem Schwert, bekleidet mit dem schönen weißen Mantel, den meine Frau gewoben hat, den Beutel gefüllt mit dreißig Silberstücken und auf meinem grauen Esel sitzend, hätte ich nicht glauben können, dass der Sohn des armen Mannes, den ich betrachtete, wirklich der Sohn Gottes sei. Aber weil die Hirten mich für einen der ihren genommen hatten, weil sie sich zusammengedrängt hatten, um mir Platz zu machen, weil Joseph und Maria von Nazareth mich mit Güte empfangen haben, habe ich begriffen, dass Gott nicht die Gelehrten oder die Intelligenten, die Reichen oder die Mächtigen, sondern die Ungebildeten und die Demütigen und die Schwachen auserwählt hat, um sich seinem Volk Israel zu offenbaren. Kannst du das verstehen, Rabbi Gamaliel? Ich fürchte, du kannst es nicht verstehen!«
»Ich werde morgen früh mit dir nach Bethlehem zurückkehren«, sagte Gamaliel. »Geh zur Ruhe, denn es ist spät.«
Früh am Morgen machten sich die beiden Männer auf den Weg. Sie wussten noch nichts von den drei erstaunlichen Begegnungen, die diese denkwürdige Reise kennzeichnen würden.
Tatsächlich, sobald sie die Pforte, die man das Dungtor nennt, durchschritten hatten, lief ihnen ein Mann entgegen: »Rabbi«, rief er aus, als er Nikodemus sah, »wie bin ich glücklich, dich wiederzufinden!«
»Aber was hast du mit dem schönen weißen Mantel gemacht, den ich dir geschenkt habe?«, fragte Nikodemus.
»Ich habe ihn dem Messias geschenkt, der in Bethlehem geboren ist«, rief der Mann aus.
»Was, du bist in Bethlehem gewesen?«, fragte Nikodemus.
»Ja, mein Herr, zuerst hatte ich daran gedacht, deinen Mantel wieder zu verkaufen, denn ich bin ein professioneller Bettler und handle mit Dingen, die man mir schenkt. Aber deine Güte hatte mich so sehr gerührt, dass ich gegangen bin, um dich zu suchen und dir dein Gut zurückzugeben. Nun aber, als ich in Bethlehem angekommen war, zeigte mir ein Hirte den Stall, wo du dich aufgehalten hattest, aber du warst schon wieder nach Jerusalem aufgebrochen. Und hier, in dem Stall, fand ich einen Mann, eine Frau und ein kleines Kind, viel ärmer als ich. Bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich tat, hatte ich ihnen den Mantel geschenkt, den du mir geschenkt hattest. Nun geschah es, dass in dem Augenblick, als ich diese Geste machte, mir die Augen aufgingen und ich verstand, dass das Kind, auf dessen Füße ich deinen Mantel gelegt hatte, der Messias war, von dem du gesprochen hattest. Ich bin schnell zurückgekommen, um dir die gute Nachricht zu überbringen.«
»Wir kehren nach Bethlehem zurück, um uns in den Dienst des Messias zu stellen«, sagte Nikodemus. »Komm also mit uns.« Und der Mann folgte ihnen.
An der Stelle des Brunnens von En Roguel hatten die drei Reisenden ihre zweite Begegnung. Ein Mann warf sich Nikodemus zu Füßen: »Mein Herr«, sagte er, »verzeiht mir.«
»Steh auf«, sagte Nikodemus gütig. »Ich verzeihe dir, da du bereust. Du willst mir also mein Geld zurückgeben? «
»Leider nein, mein Herr, ich kann es nicht zurückgeben. Ich habe es weggeschenkt. Führe mich vor den Richter, wenn du willst, höre aber vorher meine Geschichte an: Als ich gestern morgen deine Börse öffnete, entdeckte ich, dass ich reich geworden war, und beschloss auf der Stelle, das Räuberleben aufzugeben und nach Ägypten zu fliehen. Ich ging also nach Bethlehem. Dort kaufte ich schöne Kleider und begab mich in ein Gasthaus, wo ich mit vielen Ehren aufgenommen wurde, weil ich Geld hatte. Ich saß zu Tisch mit drei Weisen aus dem Morgenland; diese erzählten mir eine wunderbare Geschichte: Sie hatten am Himmel einen Stern gesehen, der ihnen den Weg nach Bethlehem zeigte, und in der vergangenen Nacht hatten sie in einem Stall den König der Juden gefunden, der Israel befreien soll. Das war also wahr, sagte ich mir, was der Pharisäer mir am Weg erzählt hat. Ich hatte geglaubt, es sei ein Märchen.
Sofort begab ich mich in den Stall, wo ich alles so fand, wie es die Weisen beschrieben hatten; aber die Geschenke, die diese braven Leute gebracht hatten, brachten mich zum Lachen: Weihrauch! Und Myrrhen! sagte ich mir, und in einem Kästchen aus Gold! Wenn die armen Galiläer diese Gegenstände verkaufen wollen, wird man ihnen vorwerfen, sie hätten sie gestohlen! Und noch ehe ich mir‘s recht überlegen konnte, hatte ich der Mutter des kleinen Kindes alles in den Schoß geworfen, was ich noch vom Inhalt der Börse besaß, die ich dir gestohlen hatte, ein wahres Vermögen! Doch in dem Augenblick, als ich das tat, wurden mir die Augen geöffnet, und ich verstand, dass das kleine Kind der Sohn Davids war, der König der Juden, den ich erwartete. Ich machte mich sofort auf den Weg, um dich zu suchen und dir die gute Nachricht zu bringen, und dich um Verzeihung zu bitten.«
»Alles ist dir verziehen«, erwiderte Nikodemus; »komm mit uns nach Bethlehem; wir wollen uns in den Dienst des neugeborenen Kindes stellen.« Und der Mann folgte ihnen.
Als die vier Männer ganz freudig Bethlehem vor sich liegen sahen, bot sich ihren Augen ein erschreckender Anblick: Beißender Rauch erhob sich über dem Marktflecken, und man hörte Weinen und Wehklagen, wie es die Frauen bei den Toten zu tun pflegen. Der Abend kam, und als sie die Stadt betraten, lief ihnen eine Frau fliehend über den Weg. Sie drückte ein kleines totes Kind an ihre Brust. »Die Soldaten des Herodes haben meinen Sohn getötet«, sagte sie weinend.
Ein Hirte, dem sie auf dem Marktplatz begegneten, erzählte ihnen von der Katastrophe: »Wir waren auf dem Feld, als wir plötzlich Schreie hörten. Aber wir kamen zu spät. Die Soldaten, die mit Gewalt in die Häuser eingedrungen waren, hatten schon alle Knaben unter zwei Jahren umgebracht, aus Angst, dass der König der Juden entweichen könnte, von dem die Weisen unvorsichtigerweise beim König Herodes, diesem alten, blutrünstigen Narren, gesprochen hatten, der ohne Mitleid alle umbringt, die nach dem Thron von Israel trachten. Kommt und seht, was von dem Stall noch übrig ist.«
An der Stelle, wo der Stall gewesen war, sah man nur noch rauchende Ruinen. In der Hoffnung, die Reste des kleinen Königs der Juden zu finden, um ihn mit Ehren zu bestatten, durchsuchten die weinenden Hirten die glühenden Steine mit bloßen Händen. Nikodemus und seine Freunde machten sich mit ihnen an die Arbeit, als sich Nikodemus im Dunkeln eine Hand auf die Schulter legte.
»Da bist du ja«, sagte eine fremdländische Stimme, die er sofort wieder erkannte, »du bist es, der mir vorgestern seinen Esel geliehen hat!«
»Ja«, antwortete Nikodemus.
»Suche nicht weiter unter den Toten den, der lebt«, erwiderte der Mann. »Gestern Abend, als ich eine Unterkunft suchte, wurde ich von Joseph und Maria aufgenommen und habe die Nacht mit deinem kleinen grauen Esel im Stall verbracht. Indessen nahm Joseph, der durch einen Traum von Gott gewarnt worden war, das kleine Kind und seine Mutter und brach auf nach Ägypten, bevor die Soldaten des Herodes kamen.«
»Was kannst du von dieser Flucht erwarten?«, unterbrach ihn Nikodemus. »Werden sie nicht in der Wüste umkommen, vor Kälte und Armut?«
»Sie werden nicht umkommen«, antwortete der Mann, »denn das Kind war in einen großen weißen, handgewebten Wollmantel eingehüllt. Sein Vater trug an seinem Gürtel eine Börse, voll von Silber. Und seine Mutter saß auf deinem kleinen grauen Esel, den ich ihr gegeben hatte. So wird Maria ihre Füße nicht an den Steinen des Weges verletzen.«
»Ich habe geglaubt, der Retter der Juden interessiere die Fremden nicht«, sagte Nikodemus.
»So war es auch«, sagte der Fremde. »Aber in dem Augenblick, als ich deinen Esel weggeschenkt habe, öffneten sich meine Augen und ich begriff, dass das kleine Kind nicht nur der König der Juden ist, sondern auch der Retter aller Menschen.«
So sprach der Fremde in den rauchenden Ruinen von Bethlehem.
Viele Jahre nach diesen Ereignissen ging ein berühmter Rabbiner, einer der angesehensten Schriftgelehrten von Jerusalem, durch die Nacht, um einen armen Zimmermann aus Nazareth zu konsultieren, der auf der Durchreise in der Stadt war. Der große Gelehrte bemühte sich, den Messias wiederzufinden, dessen Spur er vor dreißig Jahren verloren hatte. Seine Kollegen machten sich über ihn lustig, weil er ihn hartnäckig unter den Armen und Unwissenden suchte.
»Rabbi«, fragte demütig der große Gelehrte den kleinen Zimmermann, »ich weiß, dass du ein Gelehrter bist, der von Gott gekommen ist. Was muss man tun, um das Reich Gottes zu sehen?« Und als Jesus ihm geantwortet hatte: »Du musst von neuem geboren werden, du musst dein Leben neu beginnen in Armut, als wenn du nichts wüsstest«, da verstand Nikodemus, dass er durch sein langes Suchen ans Ziel gekommen war, und dass er das Kind von Bethlehem wiedergefunden hatte.
Copyright © 2007 Neufeld Verlag Schwarzenfeld
Auch in Yad Vashem, der zentralen Gedenkstätte für die Opfer und Helden des Holocaust in Israel, werden Ehepaar Trocmé sowie Chambon-sur-Lignon und seine benachbarten Dörfer zu den »Gerechten unter den Völkern « gezählt und für ihren Mut geehrt.
Einführung
Jede einzelne der Geschichten in diesem Buch wurde aufgeschrieben, um in der Weihnachtszeit Kindern erzählt zu werden. Der Autor selbst hat die Geschichten unter dem Weihnachtsbaum erzählt.
Mögen die Leser nicht vergessen, dass mehrere dieser Geschichten geschrieben wurden, während Hitler Frankreich besetzte, und dass das Evangelium von der Geburt, dem Tod und der Auferstehung von Jesus Christus die einzige gültige Antwort auf den teuflischen Horror war, den die Prinzen dieser Welt verbrochen haben.
Warum Engel? Weil die Weihnachtshimmel von Botschaftern erfüllt sind, die die gute Nachricht vom Kommen des Friedefürsten bringen.
Warum Esel? Weil die kleinen Esel aus dem Neuen Testament Engeln näher sind als Menschen, die stark, mächtig und intelligent sind.
André Trocmé
Weihnachten in Le Chambon
Oben, auf der Hochebene in den Bergen unserer französischen Heimat, war Weihnachten für die Kinder unseres Dorfes Le Chambon-sur- Lignon eine magische Zeit.
In den 1930er und 1940er Jahren hat der Alltag uns nicht gestört. Bettler kamen an die Haustür, um nach Essen zu fragen. Das Grollen des Krieges verfolgte uns ständig. Wir trugen abgetragene Kleider, häufig ausgebessert und geflickt, und ein gebrauchter Schlitten oder ein klappriges altes Fahrrad waren die größten Geschenke.
Aber für uns Kinder war das Leben dennoch voller Wunder. Geprägt vom Rhythmus von Schule und Spiel, glaubten wir, dass jede neue Jahreszeit ein Grund zur Freude war. Der Frühling mit seinen Feldern voll wilder Narzissen (wir nannten sie »barbelottes«), soweit das Auge reichte. Der Sommer, der offenbarte, wer mutig genug war, in der ziemlich kalten Lignon (unserem kleinen Gebirgsfluss) zu schwimmen, und wer schnell genug war, um Eimer für Eimer wilde Heidelbeeren zu pflücken und gleichzeitig jede Menge davon zu vernaschen. Der Herbst mit seinen warmen Farben, die plötzlich von stürmischem Regen aufgerissen wurden. Und schließlich der Winter mit seinem frostigen Wind (la burle), der flach über die Ebene dahinfegte, Schnee in die Ecken unserer Granithäuser und Farmen jagte und in elegant geformten Graten (les congères) auftürmte, die so hoch waren wie unsere Eltern! Gesprenkelt mit dichten Kieferwäldern, verwandelte sich die Landschaft in ein ernstes und geheimnisvolles schwarz-weißes Panorama.
»Wie düster!«, rufen Sie nun womöglich überrascht. Aber uns Kindern machte das nichts aus, denn mit dem Beginn des Winters kündigte sich zugleich Weihnachten in all seiner Faszination an.
Die alte Hugenotten-Kirche war Teil dieser Landschaft. Errichtet aus handbehauenen Granitblöcken, war sie schlicht und massiv. Die Fassade war einfach, mit einem Fenster auf jeder Seite der weiten Doppeltür. Über der Tür waren die Worte »Liebt einander« (»Aimez-vous les uns les autres«) eingraviert. Und an der Spitze des Giebels befand sich ein offener Kirchturm, der eine schwere Glocke beherbergte.
Öffnete man die weiten Doppeltüren, stand man im Mittelgang, der auf beiden Seiten von sehr geraden und harten Holzbänken gesäumt wurde, und von zwei Reihen großer Pfeiler, alle ähnlich und doch etwas unterschiedlich: jede war per Hand vom Schaft einer großen Fichte gehauen worden. Ein leicht erhöhtes Podest befand sich am Ende des Ganges. An der Wand dahinter hing die Kanzel des Predigers, hoch genug, um die Versammlung zu überragen. Auf der Wand zur Linken der Kanzel standen die Worte: »Der Meister ist hier« (»Le Maître est ici«). Und auf der rechten Seite: »Er ruft dich« (»Il t'appelle«).
Kein Schnickschnack, kein Mikrofon, keine bunten Glasfenster oder Teppichläufer, keine Orgel. Um zu heizen, gab es zwei große Eisenöfen, die rot glühten, wenn sie anständig mit Holz versorgt wurden.
Womöglich fragen Sie sich immer noch: »Wie kann solch ein trostloser Ort weihnachtlich glänzen?«. Tja, fragen Sie die Kinder jener Zeit, die heute längst Großväter und Großmütter sind. Sie werden Ihnen versichern, dass die Kirche zu Weihnachten tatsächlich faszinierend wurde.
Ich erinnere mich besonders an ein Weihnachtsfest. Es war sehr kalt und es lag viel Schnee. Die Doppeltür stand weit auf, und die Bänke waren auf die Seite geschoben worden. Da betrat ein Zugpferd die Kirche, ein echtes, das durch seine großen Nüstern kleine Wölkchen seines warmen Atems in die kalte Luft pustete. Das Pferd zog einen riesigen Balsam-Baum, der zwei Stunden zuvor im Wald gefällt worden war. Es lief den ganzen Gang entlang nach vorne, bis der Baumstamm auf dem Podium lag. Die Kirchenältesten hatten eine Steinplatte vom Boden entfernt, um den Baum zu befestigen. Das machten sie Jahr für Jahr so, und sie wussten genau, wie sie den Baum sicher errichteten und schmückten.
Am Nachmittag des 25. Dezembers, wenn wir Kinder die Kirchenglocke läuten hörten, rannten wir, so schnell wir konnten, durch die Dorfstraßen, ängstlich, auch nur eine Minute zu verpassen, während unsere Gummischuhe (sabots) auf dem Eis klapperten.
Unsere Sonntagsschullehrer wiesen jeden von uns an einen vorgesehenen Platz. Und dann begann die Faszination. Hundert Kerzen bedeckten den Baum, echte Kerzen, die uns mit ihrem flackernden Leuchten willkommen hießen. Durch das ganze Lametta an den Zweigen sahen sie aus wie tausend oder mehr Kerzen.
Geleitet von den begeisterten Stimmen von Pastor Theis oder Pastor Trocmé, sangen wir viele Weihnachtslieder, von einem alten, paffenden Harmonium begleitet. Jemand las die Weihnachtsgeschichte, und wir kannten sie so gut, dass wir jedes Wort vorhersagen konnten.
Alle Kinder bekamen braune Papiertüten, beschriftet mit den Namen. Jede Tüte enthielt eine Orange und eine Mandarine, ein paar Süßigkeiten, Nüsse, Rosinen und ein kleines Geschenk. Aber das schönste von allem waren die zwei oder drei papillottes darin: Bonbons, die unverwechselbar verpackt waren, jedes mit einem winzigen Knallkörper, der innen am Papier festgeklebt war. Wenn man an den beiden Enden des Klebestreifens zog, explodierte ein Zündplättchen, das im Inneren verborgen war, mit einem lauten »Peng!«. Die waren, natürlich, nicht zum Gebrauch in der Kirche bestimmt, sondern für später ...
Schließlich folgte der beste Teil des Weihnachtsgottesdienstes - eine besondere Weihnachtsgeschichte, die Pastor André Trocmé geschrieben hatte. Neben ihm hatte sein Freund Roger Darcissac eine große weiße Leinwand aufgehängt, wo Scherenschnitt-Figuren sich schrittweise bewegten, um die Geschichte zu illustrieren.
Pastor Trocmé - mein Vater - erzählte jedes Jahr eine neue Geschichte. Er war groß und schlank, mit leuchtenden blauen Augen, die jeden einzelnen von uns durch seine altmodische runde Brille ansahen. Von der Freude der Kinder und dem Spaß an der Geschichte mitgenommen, ging er vor dem Baum auf und ab, darstellend und gestikulierend. Manchmal war er ernst, dann wieder lachte er über seine eigenen Geschichten, fügte spontan Details hinzu, die ihn selbst überraschten und ohne Ende amüsierten.
Die Faszination war allgegenwärtig. Unsere Münder standen weit offen und wir waren hin und weg, aus der Realität in eine andere Welt gerauscht, die nichts mit unserem Dorf zu tun hatte; eine Welt, wo die Dinge immer auf die richtige Art und Weise enden; eine Welt, die man nur ungern wieder verließ, wenn die Geschichte allmählich zum Ende kam.
Von Engeln und Eseln ist eine Sammlung vieler dieser Weihnachtsgeschichten.
Ich widme dieses Buch den Kindern auf der ganzen Welt, die sehr gut wissen, dass Esel und Engel oftmals viel klüger sind als erwachsene Menschen, wenn es um Güte und Frieden geht.
Nelly Trocmé Hewett
Nelly Trocmé Hewett, Tochter von André und Magda Trocmé, ging als Au-pair-Mädchen in die Vereinigten Staaten und blieb schließlich dort, studierte und wurde Französischlehrerin. Heute lebt die Mutter dreier Kinder in St. Paul, Minnesota/USA.
Nikodemus
Rabbi Gamaliel! Rabbi Gamaliel!« Eine Stimme weckte Rabbi Gamaliel, der sich soeben für die Nacht zurückgezogen hatte. Er stand auf und öffnete die Tür.
»Rabbi Gamaliel«, bat eine Frau, »kommen Sie schnell zu mir nach Hause. Ich glaube, mein Mann, Nikodemus, ist verrückt geworden! Er tut nichts als singen und weinen und wiederholt immer dasselbe: ›Meine Augen haben den König gesehen‹ und dann noch: ›Und ich hatte nichts als mein Elend.‹«
»Bleiben Sie nicht draußen stehen«, antwortete Gamaliel, »kommen Sie herein und erzählen Sie mir alles.«
Und das ist die Geschichte, welche die Frau des Nikodemus Rabbi Gamaliel erzählt hat:
»Sie wissen, Rabbi Gamaliel, dass Nikodemus, obwohl er noch jung ist - er ist erst dreißig Jahre alt -, als einer der fähigsten Schriftgelehrten angesehen wird, um die alten Prophezeiungen zu erklären. Nun hat vorgestern der König Herodes ihn mit seinen Kollegen von der großen Synagoge zu einer Beratung in den Palast gerufen.
›Sagt mir‹, fragte sie der König, ›wo soll, nach Aussagen der Heiligen Schrift, der Christus geboren werden?‹
- ›In Bethlehem in Judäa‹, antworteten die Schriftgelehrten einstimmig. Da riefen die drei Weisen aus dem Morgenland, die vor dem Thron des Herodes standen, und deren Besuch der Grund der Beratung war: ›Gehen wir also nach Bethlehem, denn wir sind gekommen, um dem neugeborenen König der Juden unsere Ehrerbietung zu erweisen; wir haben im Morgenland seinen Stern gesehen.‹
Mein Mann war also sehr erregt, als er aus dem Palast des Herodes zurückkam. Gestern weckte er mich früh am Morgen: ›Frau‹, sagte er zu mir, ›leg mir den schönen Mantel aus weißer Wolle zurecht, den du mir mit deinen eigenen Händen gewoben hast, und lass meinen kleinen grauen Esel satteln.‹ Dann steckte er die dreißig Silberstücke in seinen Beutel, die unser ganzes Vermögen sind. ›Auch ich muss gehen und dem neugeborenen König die Ehre erweisen‹, sagte er. Und er brach auf nach Bethlehem, ohne zu vergessen, ein Schwert gegen die Räuber mitzunehmen.
Nun aber, Rabbi Gamaliel, ist Nikodemus heute Abend ohne sein Schwert zurückgekommen; er hat auch den schönen weißen Mantel nicht mehr, den ich ihm gewoben hatte; er hat seinen kleinen grauen Esel verloren; seine Börse, die dreißig Silberstücke enthielt, unser ganzes Vermögen, ist verschwunden. Er zittert in seiner Tunika aus dünner Leinwand, die schmutzig und voller Staub ist, und die ihm als einziges Kleidungsstück noch geblieben ist. Indessen tut er nichts als singen. Ich glaube, er ist verrückt geworden.«
Rabbi Gamaliel begab sich zu Nikodemus und fand ihn, hin und her gehend, in einem Zustand der Ekstase, wie es seine Frau beschrieben hatte.
»Setz dich doch einen Augenblick«, sagte er zu ihm, »und erzähl mir der Reihe nach, was passiert ist.«
»Nun gut«, sagte Nikodemus, »hör zu: Gestern morgen, als ich Jerusalem verließ, durch die Pforte, die man das Dungtor nennt, wo sich die Baracken der Armen befinden, deren Beruf es ist, die Abfälle zu sortieren, da hielt mich ein Bettler an, der am Straßenrand kauerte: ›Mein guter Herr, geben Sie mir Ihren Mantel, ich friere.‹ Er schlotterte in der kalten Morgenluft. ›Ich kann dir nicht meinen schönen weißen Wollmantel geben, denn meine Frau hat ihn mit ihren eigenen Händen gewoben‹, antwortete ich ihm. ›Außerdem habe ich eine wichtige Mission zu erfüllen: Ich gehe nach Bethlehem, um den neugeborenen Messias zu begrüßen. Ich darf mit dir keine Zeit verlieren.‹
Aber als ich weiterging, kam mir das Wort des alten Propheten in den Sinn: Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen! (Jesaja 58,7)
›Wie könnte ich vor dem von den Propheten angekündigten Messias erscheinen, wenn ich solchen Geboten nicht gehorche?‹, sagte ich mir. Und ohne Zeit zu haben, darüber nachzudenken, hatte ich dem Bettler den schönen weißen Wollmantel geschenkt, den meine Frau mit ihren eigenen Händen gewoben hatte. Und ich setzte meinen Weg nach Bethlehem fort.
Nun aber, als ich bei dem Brunnen von En Roguel ankam, sprang ein Räuber hervor und ergriff den Zügel meines Esels. ›Gib mir dein Geld‹, sagte er zu mir. - ›Ich würde es dir gerne überlassen‹, antwortete ich ihm, aber ich gehe nach Bethlehem, um es dem neugeborenen König der Juden zu schenken. Bist du nicht selbst einer von den Anhängern des Königs der Juden, der Israel befreien soll?‹
›Gewiss‹, antwortete er. ›Um seine Ankunft vorzubereiten, halte ich mich versteckt; aber du, Pharisäer, erzählst mir Geschichten, um mir zu entkommen; gib mir dein Geld, und zwar schnell.‹
Ich hätte versuchen können, weiterzugehen, wenn ich mein Schwert gezogen und diesen Mann geschlagen hätte; aber das Wort des Propheten Jesaja kam mir in den Sinn: Denn uns ist ein Kind geboren! Ein Sohn ist uns geschenkt! Er wird die Herrschaft übernehmen. Man nennt ihn ›Wunderbarer Ratgeber‹, ›Starker Gott‹, ›Ewiger Vater‹, ›Friedensfürst‹ (Jesaja 9,5). - ›Soll ich einen Mord begehen, um die Geburt des Friedensfürsten zu feiern?‹, sagte ich mir. Und ich übergab aus freiem Willen dem Räuber meine Börse, die dreißig Silberstücke enthielt, mein ganzes Vermögen. Es war nutzlos geworden, ebenso wie mein Schwert. Und ich setzte meinen Weg nach Bethlehem fort.
Nun aber, während mein kleiner grauer Esel fröhlich trabte und ich Bethlehem schon liegen sah, sprach mich ein Mann, der nur mühsam gehen konnte, an, als ich an ihm vorbei kam. ›Mein Herr‹, sagte er mit fremdländischem Akzent, ›ich komme von Damas und bin auf dem Weg nach Alexandria in Ägypten, wohin mein sterbender Vater mich rufen ließ. Leider sind meine Füße wund von den Steinen des Weges und verweigern mir den Dienst. Leihen Sie mir Ihren grauen Esel. Ich werde ihn zurückgeben, wenn ich wiederkomme.‹ - ›Auch ich habe eine wichtige Mission zu erfüllen‹, antwortete ich ihm. ›Ich gehe nach Bethlehem, um die Geburt des Retters der Juden zu feiern, der soeben geboren ist.‹
›Der Retter der Juden geht mich nichts an, denn ich bin ein Fremdling‹, antwortete der Mann; ›außerdem ist Bethlehem so nah und Ägypten so weit.‹
Ich wollte weitergehen, als mir das Wort aus dem Psalm in den Sinn kam: Ich bin nun ein alter Mann; doch in meinem langen Leben traf ich niemanden, der Gott liebte und dennoch von ihm verlassen wurde. Auch seine Kinder mussten nie um Brot betteln. Im Gegenteil: Immer konnte er schenken und ausleihen (Psalm 37,25- 26 a). ›Nun gut, nimm meinen grauen Esel‹, sagte ich zu dem Fremden. ›Ich bin Rabbi Nikodemus aus Jerusalem, du bringst ihn mir so schnell als möglich zurück.‹
Und so kam ich nach Bethlehem, aller meiner Güter beraubt, und nur mit einer einfachen Tunika aus Leinen bekleidet.«
»Und du hast den Messias gefunden?«, unterbrach ihn lebhaft Rabbi Gamaliel.
»Nicht sofort, Rabbi Gamaliel, nicht sofort! Denn ich musste zuerst lernen, wie es ist, arm zu sein. Mein erster Besuch war beim Leiter der Synagoge, den ich fragte: ›Wo ist der Messias, der soeben geboren ist?‹ Als er meine miserable Aufmachung sah, weigerte er sich, zu glauben, dass ich der Rabbi Nikodemus aus Jerusalem sei. Er hielt mich für einen schlechten Spaßmacher und wies mich zur Tür hinaus.
Ich ging nacheinander zu allen angesehenen Bürgern von Bethlehem, aber niemand nahm mich ernst. Man machte sich über mich lustig, man drohte mir, man jagte mich überall fort. Selbst der Zöllner, den ich aufsuchte, obwohl das Gesetz uns verbietet, mit diesen Leuten zu verkehren, die einen schlechten Lebenswandel haben, behandelte mich mit Verachtung.
Und als die Nacht anbrach, klopfte ich an die Pforte einer Herberge. ›Nimm mich nur für eine einzige Nacht auf‹, bat ich den Wirt; ›ich bezahle dich später.‹ - ›Ein ehrlicher Mann reist nicht ohne Gepäck und ohne Geld‹, antwortete er, ›geh deiner Wege‹, und er hetzte die Hunde auf mich.
Ich schickte mich schon an, auf der Straße zu schlafen, als ein Mann an mir vorbeiging. An seinem starken Geruch erkannte ich, dass es einer jener Hirten war, die die Gewohnheit haben, im Stall mit den Schafen zu schlafen. ›Mann‹, sagte ich zu ihm mit bittender Stimme, ›kannst du mir ein Stück Brot geben und mich für eine Nacht beherbergen? Ein Haufen Stroh genügt mir.‹
- ›Gewiss‹, antwortete der gute Mann mit warmer, bäuerlicher Stimme, ›aber nicht, bevor du mich zu dem Stall begleitet hast, wo das kleine Kind schläft, das vorgestern geboren ist. Jeden Abend gehen wir und bringen seinen Nikodemus Eltern etwas zu essen, armen Galiläern ohne Geld, die wegen der Volkszählung hierhergekommen sind. Übrigens sind uns während der Nachtwache Engel erschienen und haben uns versichert, dass dieses Kind der Messias ist. ›Und daran werdet ihr ihn erkennen‹, haben sie uns gesagt: ›Das Kind liegt, in Windeln gewickelt, in einer Futterkrippe!‹
Als er an dieser Stelle seiner Erzählung angelangt war, wurde Nikodemus von einer tiefen Rührung erfasst. Unter den erstaunten Augen des Rabbi Gamaliel fing er wieder an, kreuz und quer umherzulaufen, und wiederholte: »Ich habe den König gesehen, und ich hatte nichts als mein Elend!«
Gamaliel unterbrach ihn mit einer gewissen Ungeduld. »Sag mir doch, wie war der König, Nikodemus?«
»Höre, Rabbi Gamaliel, wenn ich den Stall betreten hätte mit meinem Schwert, bekleidet mit dem schönen weißen Mantel, den meine Frau gewoben hat, den Beutel gefüllt mit dreißig Silberstücken und auf meinem grauen Esel sitzend, hätte ich nicht glauben können, dass der Sohn des armen Mannes, den ich betrachtete, wirklich der Sohn Gottes sei. Aber weil die Hirten mich für einen der ihren genommen hatten, weil sie sich zusammengedrängt hatten, um mir Platz zu machen, weil Joseph und Maria von Nazareth mich mit Güte empfangen haben, habe ich begriffen, dass Gott nicht die Gelehrten oder die Intelligenten, die Reichen oder die Mächtigen, sondern die Ungebildeten und die Demütigen und die Schwachen auserwählt hat, um sich seinem Volk Israel zu offenbaren. Kannst du das verstehen, Rabbi Gamaliel? Ich fürchte, du kannst es nicht verstehen!«
»Ich werde morgen früh mit dir nach Bethlehem zurückkehren«, sagte Gamaliel. »Geh zur Ruhe, denn es ist spät.«
Früh am Morgen machten sich die beiden Männer auf den Weg. Sie wussten noch nichts von den drei erstaunlichen Begegnungen, die diese denkwürdige Reise kennzeichnen würden.
Tatsächlich, sobald sie die Pforte, die man das Dungtor nennt, durchschritten hatten, lief ihnen ein Mann entgegen: »Rabbi«, rief er aus, als er Nikodemus sah, »wie bin ich glücklich, dich wiederzufinden!«
»Aber was hast du mit dem schönen weißen Mantel gemacht, den ich dir geschenkt habe?«, fragte Nikodemus.
»Ich habe ihn dem Messias geschenkt, der in Bethlehem geboren ist«, rief der Mann aus.
»Was, du bist in Bethlehem gewesen?«, fragte Nikodemus.
»Ja, mein Herr, zuerst hatte ich daran gedacht, deinen Mantel wieder zu verkaufen, denn ich bin ein professioneller Bettler und handle mit Dingen, die man mir schenkt. Aber deine Güte hatte mich so sehr gerührt, dass ich gegangen bin, um dich zu suchen und dir dein Gut zurückzugeben. Nun aber, als ich in Bethlehem angekommen war, zeigte mir ein Hirte den Stall, wo du dich aufgehalten hattest, aber du warst schon wieder nach Jerusalem aufgebrochen. Und hier, in dem Stall, fand ich einen Mann, eine Frau und ein kleines Kind, viel ärmer als ich. Bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich tat, hatte ich ihnen den Mantel geschenkt, den du mir geschenkt hattest. Nun geschah es, dass in dem Augenblick, als ich diese Geste machte, mir die Augen aufgingen und ich verstand, dass das Kind, auf dessen Füße ich deinen Mantel gelegt hatte, der Messias war, von dem du gesprochen hattest. Ich bin schnell zurückgekommen, um dir die gute Nachricht zu überbringen.«
»Wir kehren nach Bethlehem zurück, um uns in den Dienst des Messias zu stellen«, sagte Nikodemus. »Komm also mit uns.« Und der Mann folgte ihnen.
An der Stelle des Brunnens von En Roguel hatten die drei Reisenden ihre zweite Begegnung. Ein Mann warf sich Nikodemus zu Füßen: »Mein Herr«, sagte er, »verzeiht mir.«
»Steh auf«, sagte Nikodemus gütig. »Ich verzeihe dir, da du bereust. Du willst mir also mein Geld zurückgeben? «
»Leider nein, mein Herr, ich kann es nicht zurückgeben. Ich habe es weggeschenkt. Führe mich vor den Richter, wenn du willst, höre aber vorher meine Geschichte an: Als ich gestern morgen deine Börse öffnete, entdeckte ich, dass ich reich geworden war, und beschloss auf der Stelle, das Räuberleben aufzugeben und nach Ägypten zu fliehen. Ich ging also nach Bethlehem. Dort kaufte ich schöne Kleider und begab mich in ein Gasthaus, wo ich mit vielen Ehren aufgenommen wurde, weil ich Geld hatte. Ich saß zu Tisch mit drei Weisen aus dem Morgenland; diese erzählten mir eine wunderbare Geschichte: Sie hatten am Himmel einen Stern gesehen, der ihnen den Weg nach Bethlehem zeigte, und in der vergangenen Nacht hatten sie in einem Stall den König der Juden gefunden, der Israel befreien soll. Das war also wahr, sagte ich mir, was der Pharisäer mir am Weg erzählt hat. Ich hatte geglaubt, es sei ein Märchen.
Sofort begab ich mich in den Stall, wo ich alles so fand, wie es die Weisen beschrieben hatten; aber die Geschenke, die diese braven Leute gebracht hatten, brachten mich zum Lachen: Weihrauch! Und Myrrhen! sagte ich mir, und in einem Kästchen aus Gold! Wenn die armen Galiläer diese Gegenstände verkaufen wollen, wird man ihnen vorwerfen, sie hätten sie gestohlen! Und noch ehe ich mir‘s recht überlegen konnte, hatte ich der Mutter des kleinen Kindes alles in den Schoß geworfen, was ich noch vom Inhalt der Börse besaß, die ich dir gestohlen hatte, ein wahres Vermögen! Doch in dem Augenblick, als ich das tat, wurden mir die Augen geöffnet, und ich verstand, dass das kleine Kind der Sohn Davids war, der König der Juden, den ich erwartete. Ich machte mich sofort auf den Weg, um dich zu suchen und dir die gute Nachricht zu bringen, und dich um Verzeihung zu bitten.«
»Alles ist dir verziehen«, erwiderte Nikodemus; »komm mit uns nach Bethlehem; wir wollen uns in den Dienst des neugeborenen Kindes stellen.« Und der Mann folgte ihnen.
Als die vier Männer ganz freudig Bethlehem vor sich liegen sahen, bot sich ihren Augen ein erschreckender Anblick: Beißender Rauch erhob sich über dem Marktflecken, und man hörte Weinen und Wehklagen, wie es die Frauen bei den Toten zu tun pflegen. Der Abend kam, und als sie die Stadt betraten, lief ihnen eine Frau fliehend über den Weg. Sie drückte ein kleines totes Kind an ihre Brust. »Die Soldaten des Herodes haben meinen Sohn getötet«, sagte sie weinend.
Ein Hirte, dem sie auf dem Marktplatz begegneten, erzählte ihnen von der Katastrophe: »Wir waren auf dem Feld, als wir plötzlich Schreie hörten. Aber wir kamen zu spät. Die Soldaten, die mit Gewalt in die Häuser eingedrungen waren, hatten schon alle Knaben unter zwei Jahren umgebracht, aus Angst, dass der König der Juden entweichen könnte, von dem die Weisen unvorsichtigerweise beim König Herodes, diesem alten, blutrünstigen Narren, gesprochen hatten, der ohne Mitleid alle umbringt, die nach dem Thron von Israel trachten. Kommt und seht, was von dem Stall noch übrig ist.«
An der Stelle, wo der Stall gewesen war, sah man nur noch rauchende Ruinen. In der Hoffnung, die Reste des kleinen Königs der Juden zu finden, um ihn mit Ehren zu bestatten, durchsuchten die weinenden Hirten die glühenden Steine mit bloßen Händen. Nikodemus und seine Freunde machten sich mit ihnen an die Arbeit, als sich Nikodemus im Dunkeln eine Hand auf die Schulter legte.
»Da bist du ja«, sagte eine fremdländische Stimme, die er sofort wieder erkannte, »du bist es, der mir vorgestern seinen Esel geliehen hat!«
»Ja«, antwortete Nikodemus.
»Suche nicht weiter unter den Toten den, der lebt«, erwiderte der Mann. »Gestern Abend, als ich eine Unterkunft suchte, wurde ich von Joseph und Maria aufgenommen und habe die Nacht mit deinem kleinen grauen Esel im Stall verbracht. Indessen nahm Joseph, der durch einen Traum von Gott gewarnt worden war, das kleine Kind und seine Mutter und brach auf nach Ägypten, bevor die Soldaten des Herodes kamen.«
»Was kannst du von dieser Flucht erwarten?«, unterbrach ihn Nikodemus. »Werden sie nicht in der Wüste umkommen, vor Kälte und Armut?«
»Sie werden nicht umkommen«, antwortete der Mann, »denn das Kind war in einen großen weißen, handgewebten Wollmantel eingehüllt. Sein Vater trug an seinem Gürtel eine Börse, voll von Silber. Und seine Mutter saß auf deinem kleinen grauen Esel, den ich ihr gegeben hatte. So wird Maria ihre Füße nicht an den Steinen des Weges verletzen.«
»Ich habe geglaubt, der Retter der Juden interessiere die Fremden nicht«, sagte Nikodemus.
»So war es auch«, sagte der Fremde. »Aber in dem Augenblick, als ich deinen Esel weggeschenkt habe, öffneten sich meine Augen und ich begriff, dass das kleine Kind nicht nur der König der Juden ist, sondern auch der Retter aller Menschen.«
So sprach der Fremde in den rauchenden Ruinen von Bethlehem.
Viele Jahre nach diesen Ereignissen ging ein berühmter Rabbiner, einer der angesehensten Schriftgelehrten von Jerusalem, durch die Nacht, um einen armen Zimmermann aus Nazareth zu konsultieren, der auf der Durchreise in der Stadt war. Der große Gelehrte bemühte sich, den Messias wiederzufinden, dessen Spur er vor dreißig Jahren verloren hatte. Seine Kollegen machten sich über ihn lustig, weil er ihn hartnäckig unter den Armen und Unwissenden suchte.
»Rabbi«, fragte demütig der große Gelehrte den kleinen Zimmermann, »ich weiß, dass du ein Gelehrter bist, der von Gott gekommen ist. Was muss man tun, um das Reich Gottes zu sehen?« Und als Jesus ihm geantwortet hatte: »Du musst von neuem geboren werden, du musst dein Leben neu beginnen in Armut, als wenn du nichts wüsstest«, da verstand Nikodemus, dass er durch sein langes Suchen ans Ziel gekommen war, und dass er das Kind von Bethlehem wiedergefunden hatte.
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Autoren-Porträt von André Trocmé
André Trocmé (1901-1971) studierte Theologie in Paris und New York. 1934 wurde er Pastor der reformierten Gemeinde in Chambon-sur-Lignon. Trocmés gewaltfreier Einsatz für den Frieden lässt ihn aus der Sicht von Historikern in einer Reihe mit Martin Luther King und Mahatma Gandhi stehen.
Bibliographische Angaben
- Autor: André Trocmé
- Altersempfehlung: Bis 6 Jahre
- 2009, 6. Auflage, 160 Seiten, 13 Schwarz-Weiss-Abbildungen, mit zahlreichen Abbildungen, Masse: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Heidi Schimpf
- Verlag: Neufeld Verlag
- ISBN-10: 393789652X
- ISBN-13: 9783937896526
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