Vermiss mein nicht
Sandy Shortt ist zehn, als eine Klassenkameradin spurlos verschwindet. Ein Erlebnis, das Sandys Leben prägt: Fortan ist sie besessen von der Suche nach allem, was vermisst wird. Als Erwachsene eröffnet sie eine Agentur für die Suche nach verschollenen...
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Sandy Shortt ist zehn, als eine Klassenkameradin spurlos verschwindet. Ein Erlebnis, das Sandys Leben prägt: Fortan ist sie besessen von der Suche nach allem, was vermisst wird. Als Erwachsene eröffnet sie eine Agentur für die Suche nach verschollenen Menschen. Sie macht den Angehörigen Mut und gibt nie auf. Eines Tages taucht Jack Ruttle bei Sandy auf. Sie soll seinen Bruder finden. Bei ihrer Suche verirrt sie sich in einem Wald und landet an einem geheimnisvollen Ort. Dort macht sie eine unglaubliche Entdeckung. Jack sucht inzwischen verzweifelt nach Sandy
Vermiss mein nicht vonCecelia Ahern
LESEPROBE
EINS
Jenny-MayButler, die in der gleichen Strasse wohnte wie ich, verschwand, als ich noch einKind war. Die Polizei strengte umfassende Ermittlungen an, die in eine endloseSuche nach dem kleinen Mädchen mündeten. Monatelang war die Geschichte jedenAbend in den Fernsehnachrichten, prangte morgens auf der Titelseite derZeitungen und war überall Gesprächsthema Nummer eins. Das ganze Land beteiligtesich - es war die grösste Vermissten-Suchaktion, die ich je erlebt habe, und ausirgendeinem Grund schien jeder sich davon betroffen zu fühlen. Tag für Taglächelte Jenny-May Butler, ein hübsches blauäugiges Blondchen, in jedemWohnzimmer des Landes von der Mattscheibe, rührte die Menschen zu Tränen undbrachte Eltern reihenweise dazu, ihre Kinder beim Gutenachtsagen ein bisschen festerund länger an sich zu drücken. Alle träumten von Jenny-May, alle schlossen siein ihre Gebete mit ein.
Sie warzehn Jahre alt, genau wie ich, ging in die gleiche Klasse, und jeden Tag sahich ihr hübsches Foto in den Nachrichten. Die Leute sprachen von ihr, als wäresie ein Engel. Wenn man ihre Gespräche hörte, wäre man nie auf die Ideegekommen, dass Jenny-May in der Pause, wenn die Lehrerin gerade mal nicht hinschaute,mit Steinen nach Fiona Brady warf oder dass sie mich gern als »blödesKraushaarschaf« betitelte, vor allem, wenn Stephen Spencer in der Nähe war, unddas nur, weil sie mit ihm gehen und mich als Konkurrentin ausstechen wollte.Nein, in diesenMonaten der Suche nach ihr war sie schlicht perfekt, und ich hätte es auchnicht fair gefunden, dieses Bild zu zerstören. Nach einer Weile vergass ichsogar ihre ganzen Gemeinheiten, weil das Mädchen, das gesucht wurde, eigentlichgar nicht mehr die normale Jenny-May war, sondern die liebe süsse Jenny-May Butler,die vermisst wurde und deren furchtbar nette Eltern jeden Abend in denNeun-Uhr-Nachrichten um sie weinten. Sie blieb verschwunden. Man fand wederihre Leiche noch sonst irgendeine Spur - es war, als hätte sie sich in Luftaufgelöst. Niemand hatte in der Gegend irgendwelche zwielichtigen Subjektebemerkt, auf keiner Überwachungskamera war zu sehen, was sie zuletzt getanhatte, es gab keine Zeugen, keine Verdächtigen, und das, obwohl die Polizeiwirklich jeden Möglichen und Unmöglichen verhörte. Allmählich breitete sich eingewisses Misstrauen unter den Menschen aus. Wenn man den Nachbarn morgens aufdem Weg zur Arbeit ein freundliches Hallo zurief, machte man sich plötzlichungewohnte und unerfreuliche Gedanken. Gegen diese Phantasien war kein Krautgewachsen - bei ganz normalen Samstagmorgenbeschäftigungen wie Autowaschen, Gartenzaunstreichen,Unkrautjäten und Rasenmähen blickte man sich verstohlen um, stellte sich imStillen unangenehme Fragen und hing Spekulationen nach, die einen zutiefst beschämten.Schockiert und wütend stellten die Menschen fest, dass sie sich gegenseitigverdächtigten und dieser Vorfall sie auf völlig abwegige Ideen brachte. Sieschrubbten emsig, drehten den Gartenschlauch unerbittlich auf und versuchtenalle vermeintlichen Schweinereien zusammen mit dem Seifenschaum von derKühlerhaube zu spülen, bis der Lack glänzte und auch die Gartenzäune inmakellosem Weiss erstrahlten. In dieser Gegend, wo ein grüner Daumen zur Grundausstattunggehörte, wusste man, dass die Blumenzwiebeln nicht lange unter der Erdeausharrten, sondern dass die Triebe bald durch die Oberfläche dringen würden.Das war auch nur richtig so, es entsprach schliesslich ihrer Natur.
Doch diehinter verschlossenen Türen angedeuteten Vorwürfe waren für die Polizeinutzlos, ihr einziger Hinweis war ein hübsches Bild. So blieb Jenny-May ButlersVerschwinden ein unlösbares Rätsel. Ich fragte mich, wo sie jetzt wohl seinmochte. Wie um alles in der Welt konnte sich ein Mensch einfach in Luft auflösen,ohne die geringste Spur zu hinterlassen, ohne dass irgendwer irgendwas
darüberwusste? Nachts starrte ich aus meinem Schlafzimmerfenster zu ihrem Haushinüber, wo immer Licht brannte. Anscheinend schlief auch Mrs. Butler nichtbesonders gut, denn ich sah sie oft auf der Sofakante sitzen, als kauerte siein den Startlöchern und wartete darauf, endlich einen Startschuss zu hören. Siewartete auf Neuigkeiten. Manchmal winkte ich ihr zu, und sie winkte traurigzurück. Durch den Tränenschleier konnte sie mich wahrscheinlich kaum erkennen.
Genau wieMrs. Butler war auch ich unglücklich darüber, dass wir keine Antworten auf allunsere Fragen hatten. Seit Jenny-May weg war, konnte ich sie viel besser leiden,und auch das erschien mir bemerkenswert. Ich vermisste sie, ich vermisste die Vorstellungvon Jenny-May Butler und überlegte, ob sie wohl irgendwo in der Nähe war,andere Kinder mit Steinen bewarf und dabei laut und gehässig lachte. Aber wirfanden sie nicht, und ich hörte sie auch nicht lachen. Nach ihrem Verschwinden fing ich an, nach allem Möglichen zu suchen. Wenn eine meiner Lieblingssockenfehlte, stellte ich das ganze Haus auf den Kopf, suchte und suchte, währendmeine besorgten Eltern mich ratlos beobachteten. Meistens endete es damit, dasssie mir beim Suchen halfen.
Esbeunruhigte mich, wenn ich Sachen verlor und nicht finden konnte, und wenn danndoch einmal etwas wieder auftauchte, war es meist nur eine einzelne popligeSocke, was ich ebenfalls irritierend fand. Dann stellte ich mir wieder vor, wieJenny-May Butler irgendwo mit Steinen warf, gehässig lachte und dabei meineLieblingssocken anhatte.Ich wollte nie etwas Neues für meine verschwundenen Sachen haben. Schonmit zehn Jahren war ich überzeugt, dass man etwas Verlorenes nicht ersetzenkann. Ich beharrte darauf, dass es wiedergefunden werden musste. Vermutlichmachte ich mir noch mehr Gedanken über Jenny-May Butler und die einzelnenSocken als Mrs. Butler. Aber wir waren beide nachts wach und grübelten. Vielleichtist mir alles deshalb passiert. Vielleicht habe ich, weil ich so viele Jahredamit verbracht habe, in meinem Leben das Oberste zuunterst zu kehren undkrampfhaft nach allem Möglichen zu suchen, irgendwann vergessen, mich um michselbst zu kümmern, mich zu fragen, wer und wo ich eigentlich war. VierundzwanzigJahre nach Jenny-May Butlers Verschwinden verschwand ich ebenfalls. Hier istmeine Geschichte.
ZWEI
In meinemLeben hat das Schicksal eine Menge Ironie bewiesen, und dass ich verschwundenbin, ist nur einer von vielen absurden und aberwitzigen Vorfällen. Ich würdegern darüber lachen, wenn ich nicht meinen Sinn für Humor verloren hätte, alsich selbst verloren gegangen bin.
Zuersteinmal bin ich einen Meter fünfundachtzig gross. Schon als Kind habe ich fastimmer alle um mich herum überragt. Im Einkaufszentrum konnte ich nichtunauffällig in der Menge untertauchen wie andere Kids, beim Versteckspielenwurde ich immer als Erste gefunden. In der Disco forderte mich keiner zumTanzen auf, und ich war vermutlich der einzige weibliche Teenager, der nichtden dringenden Wunsch verspürte, endlich hochhackige Schuhe tragen zu dürfen. Jenny-MayButler nannte mich gern eine blöde Bohnenstange und zwang mich regelmässig jedenDienstag um zehn, vor aller Augen ein Buch für sie aus der obersten Reihe derSchulbibliothek zu angeln. Glaubt mir, ich weiss, wovon ich spreche. Ich wardiejenige, die man meilenweit sehen konnte, ich war diejenige, die auf demTanzparkett ungelenk rumhampelte, ich war diejenige, hinter der im Kino niemandsitzen wollte, ich war die, die im Jeansgeschäft nach Hosen mit Überlänge fragenmusste. Kurz gesagt, ich falle auf wie ein bunter Hund, und jeder, der an mirvorbeigeht, bemerkt mich und erinnert sich später an mich. Lassen wir dievereinzelten Socken und ausnahmsweise auch Jenny-May Butler beiseite - die Krönungall dieser unerklärlichen Vorkommnisse war eindeutig, dass ausgerechnet ich, dasschwarze Schaf in einer durchgängig weissen Herde, plötzlich unsichtbar war. DasRätsel, das ich mir selbst aufgab, übertraf alle anderen bei weitem.
Die zweitegrosse Ironie meines Lebens besteht darin, dass ich beruflich nach vermisstenPersonen suchte. Nach dem Schulabschluss wurde ich Polizistin und arbeitete amliebsten an Fällen, in denen jemand vermisst wurde. Aber da es dafür keineeigene Abteilung gab, spielte mir der Zufall nur gelegentlich etwas nach meinemGeschmack in die Hände. Wisst ihr, die Situation mit Jenny-May Butler brachtein mir echt etwas in Bewegung. Ich wollte Antworten, Lösungen, und ich wolltesie alle selbst finden. Vermutlich mutierte meine Sucherei dabei zu einer Art Besessenheit,und ich war so damit beschäftigt, in der Aussenwelt nach Hinweisen zu forschen,dass ich nicht ein einziges Mal überlegte, was eigentlich in meinem eigenenKopf vor sich ging. Bei der Polizei fanden wir manchmal Leute in einem Zustand wieder,den ich für den Rest meines Lebens und noch weit ins nächste hinein nichtvergessen werde, und es gab auch Menschen, die einfach nicht gefunden werdenwollten. Doch viel zu oft fanden wir Vermisste gar nicht, keine Spur. SolcheFälle machten mich wahnsinnig, so sehr, dass ich oft einfach auf eigene Faust weitersuchte.Ich ermittelte in Fällen, die längst abgeschlossen waren, ich blieb mit denFamilien in Kontakt, nachdem die offizielle Suche längst abgeblasen war. Bisman mir irgendwann mitteilte, ich solle gefälligst mit diesen Sperenzchenaufhören. Es gab dringendere Fälle, bei denen meine Arbeitskraft gebraucht wurde.Nach einer ganzen Serie von solchen und ähnlichen Ermahnungen wurde mir klar,dass es für mich schlicht nicht möglich war, mich einem neuen Fall zuzuwenden,bevor ich den vorhergehenden hundertprozentig gelöst hatte.
Man warfmir vor, ich würde den Leuten falsche Hoffnungen machen, und meine ständigeSucherei hindere die Familien daran, sich damit abzufinden, dass die gesuchtePerson einfach verschwunden war und man nie etwas Genaues über ihren Verbleibin Erfahrung bringen würde. Aber ich konnte einfach keinen Schlussstrichziehen, denn für mich galt als Schlussstrich nur, wenn ich die vermisste Personwiederfand. Ich akzeptierte keine Zwischenlösung. Deshalb schmiss ich meinenJob bei der Polizei eines Tages hin, machte mich selbständig und das Suchen zumeinem Beruf. Ihr würdet nicht glauben, wie vielen Menschen das genauso amHerzen lag wie mir. Allerdings fragten sich meine Klienten oft, aus welchemGrund ich eigentlich suchte. Sie selbst hatten ja eine Beziehung zu denVermissten, sie liebten sie und wollten sie wiederhaben. Wenn es mir also nichtums Geld ging - und darum ging es mir ganz offensichtlich nicht -, worinbestand dann meine Motivation? Vermutlich ging es mir um meinen Seelenfrieden.Das Suchen half mir, abends einzuschlafen.
Aber wiekann jemand wie ich, mit meinen körperlichen Eigenschaften und meiner innerenEinstellung, verloren gehen? Dabei fällt mir ein, dass ich euch noch gar nichtmeinen Namen gesagt habe. Ich heisse Sandy Shortt. »Short« wie »klein«. Ja, esdarf gelacht werden. Wenn es mir nicht das Herz brechen würde, würde ich auchdarüber lachen. Meine Eltern haben mich Sandy genannt, weil ich mit dichtensandfarbenen Haaren auf die Welt gekommen bin. Leider konnten sie nicht wissen,dass meine Haare pechschwarz werden würden und dass meine niedlichen feistenBeinchen bald nicht mehr strampeln, sondern viel zu schnell wachsen und viel zulang werden würden. Also nochmal: Mein Name ist Sandy Shortt. Sandhell undklein sollte ich sein, so definiert mich mein Name für alle Zeiten, aber leidertrifft das genaue Gegenteil auf mich zu. Dieser Widerspruch bringt die Leutefast immer zum Lachen, wenn ich mich vorstelle, aber ich hoffe, ihr könnt mirverzeihen, wenn ich selbst unter diesen Umständen keine Miene verziehe. Wisstihr, es ist nicht lustig, verschwunden zu sein, aber ich habe gemerkt, dass esauch nicht viel anders ist als vorher - ich mache eigentlich genau dasselbe wieimmer.
Ich suche.Nur suche ich jetzt nach einer Möglichkeit, gefunden zu werden. Eines hab ichallerdings gelernt, und das ist durchaus erwähnenswert: Auf einmal sehne ich michnach Hause zurück. Und das ist vollkommen neu. Was für ein miserables Timing.Dass mir das ausgerechnet jetzt klar wird, ist wahrscheinlich die grösste Ironiean der ganzen Geschichte.
Übersetzung: Christine Strüh
© Fischerverlage
Autoren-Porträt von Cecilia Ahern
CeceliaAhern wurde am 30.09.1981 in Dublin geboren - als Tochter des späteren irischenMinisterpräsidenten Bertie Ahern. Als sie ihren ersten Roman "P.S Ich liebe Dich"veröffentlichte, war sie erst 21 Jahre alt. Mit der anrührenden Geschichte voneiner Liebe über den Tod hinaus landete sie auf Anhieb einen Bestseller, bekamden "Passionate Pen Honor" für den besten Roman des Jahres und wurde als besteNachwuchsautorin für den "British Book Award" nominiert. Geschrieben hatte sieschon vorher, aber noch nie etwas veröffentlicht.
Nach demStudium der Medienkommunikation und journalistischer Arbeit widmete sie sichganz der Schriftstellerei und verfasste Liebesromane, die durch Melancholie,Humor und Magie faszinieren. Dass die Geschichten nicht in einem Traumlandspielen, zeigt Aherns zweiter Roman "Für immer vielleicht". Die Liebendenwerden immer wieder getrennt, bleiben aber über viele Jahre in Kontakt durchBriefe, E-Mails, Chatnachrichten oder SMS. Sie können einfach nicht voneinanderlassen.
Ehermagisch entwickelt sich das Geschehen im dritten Roman "Zwischen Himmel undLiebe". Tante und Neffe leben in einem verschlafenen irischen Dorf und führenein freudloses, von Strenge regiertes Leben, überschattet von derVergangenheit. Dann tritt Ivan auf den Plan, ist aber eigentlich unsichtbar undnicht von dieser Welt. Ihm gelingt es, die Verkrustungen aufzubrechen, mit derVergangenheit zu versöhnen und den Weg für einen Neuanfang zu bereiten.
Diese Ideedes Umkehrens hat die Autorin auch in ihrem bisher letzten Roman "Vermiss meinnicht" thematisiert. Ihre Heldin Sandy widmet ihr ganzes Leben der Suche nachVermissten und glaubt, dabei auch die eigene Zufriedenheit zu finden. Aberirgendwann merkt sie, dass sie auf dem falschen Weg ist
CeciliaAhern scheint jedenfalls auf dem richtigen Weg zu sein, denn alle ihre bishererschienenen Romane stehen Wochen und mitunter Monate lang auf denBestsellerlisten. Sie schreibt bereits an ihrem fünften Buch, verfasstenebenbei ein Drehbuch und arbeitet in den USA an einer Pilotsendung für ABC TVNetwork. In einem Interview äusserte sie: "ich bin also immer beschäftigt,schreibe und schreibe!" Ihren Lesern kann es nur recht sein.
Interview mit Cecelia Ahern
In"Vermiss mein nicht" geht es um Verlust, um Sehnsucht, um Suchen und Finden.Wie würden Sie das Hauptmotiv des Romans beschreiben?
Das Buch hat sehr viele Themen. Eine seiner wichtigstenBotschaften lautet: Man kann ewig dem hinterherlaufen, von dem man fühlt, dasses dem eigenen Leben fehlt; aber das, was man wirklich sucht, liegt in einemselbst.
Sandy sucht nach vermissten Menschen, denn sie glaubt, dassihre Unzufriedenheit verschwindet, sobald sie diese Menschen findet. Natürlichist es etwas Wunderbares, Menschen zu suchen und zu finden, und es erfülltSandy auch bis zu einem gewissen Grade - aber eben nur so weit. Äussere Dingemachen einen Menschen nie glücklich. Sandy muss ihre wirklichen Problemeerkennen und sie lösen, indem sie ihr Leben verändert.
Das ist das grosse Thema des Romans: dass wir die Krafthaben, uns glücklich zu machen, und dass es nichts bringt, die Ursache fürUnzufriedenheit in äusseren Problemen zu sehen. Das sind nur Ablenkungen undEntschuldigungen. Wie bei all meinen Büchern ist dies eine hoffnungsvolleBotschaft - eine Botschaft, die bedeutet, dass wir immer hoffen müssen.
Würden Sie Sandys Entscheidung, ihr Leben der Suche nachVerlorenem zu widmen, auch als Ausdruck einer "Krankheit" sehen?
Nein, Krankheit würde ich das nicht nennen. Dennoch stimmtes, dass Sandy an einer Störung leidet, die Psychologen "Zwangsstörung" nennen.Von Kind an quält sie sich selbst, wenn Dinge wie ihre Socken oder ihreHalskette verschwinden. Das kann jeder nachvollziehen, etwa wenn man ohnehinschon zu spät dran ist und seinen Autoschlüssel partout nicht finden kann oderein wertvolles Schmuckstück verschwunden ist. Für Sandy ist der ganze Taggelaufen, wenn so etwas passiert. Sie sucht so lange, bis sie den Gegenstandfindet. Das bedeutet auch, dass sie alles andere in dieser Zeit links liegenlässt: das normale Leben und die Menschen, die ihr am nächsten sind. Menschen,die an einer Zwangsstörung leiden, finden es schwierig bis unmöglich, ihreZwänge zu kontrollieren. Sandys Problem liegt nicht darin begründet, dass sienach Menschen sucht. Es ist wundervoll, dass sie und Tausende anderer Menschenauf der ganzen Welt sich dafür einsetzen. Ihr Problem ist, dass sie abhängigist von dieser Suche. Sie lässt es zu, dass die Beziehungen zu ihrer Familie,ihren Freunden und Partnern darunter leiden, während sie gleichzeitig engeBeziehungen zu den Angehörigen der Vermissten knüpft. Sie will alles über dievermissten Menschen und ihr Umfeld erfahren - und vergisst darüber ihr eigenes.Noch einmal: Es ist grossartig, wie sie sich um andere kümmert. Aber dass mansich um einen Menschen kümmert, sollte nicht dazu führen, dass andere leiden.
In gewisser Weise "pendelt" Sandy zwischen der wirklichenWelt und der Welt der Vermissten. Wohin gehört sie letztlich, wo ist ihrZuhause?
Die Ideedes Buches war zu zeigen, dass Sandy sich deshalb an keinem Ort zu Hause fühlenkonnte, weil es nicht die Orte waren, die ihre Probleme verursachten. Zunächstwollte sie immer woanders und mit anderen Menschen zusammen sein. Wenn sie beiihrer Familie war, wollte sie immer zu den Angehörigen der Vermissten oder nachdiesen suchen.
Als sieschliesslich den Ort erreicht, an dem alle Menschen und Dinge versammelt sind,die sie jemals gesucht hat, geht ihr auf, dass sie ihr ganzes Leben Menschengewidmet hat, die sie gar nicht kennt. Als sie diesen Fremden begegnet, trittzu Tage, dass sie eine einseitige Beziehung zu ihnen aufgebaut hat, denn siewissen nichts über sie und ihr Leben. Diese Einsicht führt sie zu sich selbst:Sie erkennt, dass sie die Menschen vermisst, die sie so lange vernachlässigthat, und sie erfährt, wie viel sie ihr bedeuten. Nun, nachdem sie sich so langeZeit von ihrem Zuhause entfernt hat, entscheidet sie, dass sie unbedingt dorthinzurück möchte.
Das Motivzweier getrennter Welten, das ich für die Geschichte verwendet habe, ist einestarke Metapher dafür, wie jemand in seinem Leben den falschen Weg einschlägt,verloren ist und seinen Platz nicht mehr findet, schliesslich seinen Irrwegerkennt und dann alles daran setzt, auf den richtigen Weg zurückzukehren. Wiralle kennen dieses Stolpern im eigenen Leben. Die Welt der Vermissten lässtSandy erkennen, dass sie - im buchstäblichen Sinne - vom Weg abgekommen ist.
WelcheRolle nimmt "Vermiss mein nicht" innerhalb Ihrer Entwicklung ein?
"Vermiss meinnicht" ist für mich ein sehr wichtiges Buch, und auch eines, auf das ich sehrstolz bin. "P.S. Ich liebe Dich" war mein Debüt und gleichzeitig der Roman, mitdem mir der "Durchbruch" gelang. Auch auf dieses Buch bin ich ausserordentlichstolz, aber "Vermiss mein nicht" ist in verschiedener Hinsicht einechter Sprung in meiner Entwicklung. Mit Sandy habe ich eine komplexe undvielschichtige Persönlichkeit geschaffen, und auch mein Stil hat sich, denkeich, weiterentwickelt. "Vermiss mein nicht" war für mich auch ein Experiment,denn in ihm entwerfe ich eine andere Welt. Dennoch sind die Themen des Buchesähnlich denen meiner anderen Bücher: Auch sie erzählen Geschichten von Menschenauf ihrer Reise durchs Leben, vom Gefühl der Verlorenheit, vonSelbstverwirklichung und der Fähigkeit, etwas zu verändern. Dass das Buch fürmich etwas ganz Besonderes ist, sehe ich auch daran, dass ich es jedem nahelegen würde, der noch nichts von mir gelesen hat. "Vermiss mein nicht" ist derRoman, mit dem ich mich am stärksten identifiziere, er repräsentiert amehesten, was und wer ich bin.
Es gibt das wirkliche Leben, es gibt einen Hauch vonMagie, und ich sehe das Magische in den einfachen Dingen des Alltags. Das istes, was ich in meinen Büchern darstellen möchte. Ich freue mich sehr darüber,dass dieses Buch viele Menschen anspricht, wie sich bereits gezeigt hat. Ichliebe alle meine bisherigen Leser, und ich kann ihnen niemals genug für ihreUnterstützung danken. Aber ich finde es immer sehr aufregend, neue Leser fürmeine Bücher zu gewinnen.Wird es eine Fortsetzung von "Vermissmein nicht" geben? Woran arbeiten Sie gerade?
Nein, eine Fortsetzung plane ich nicht. Ich habe dasGefühl, dass ich Sandy an einen wichtigen Punkt geführt habe, und ich möchtedie Geschichte nicht dort weiterführen, wo ich sie abgeschlossen habe. Das gehtmir mit all meinen Büchern so. Ich führe die Figuren zu einem Punkt, der zwarkein konventionelles Happyend darstellt, aber doch eine Situation, in der sietief durchatmen, den Blick nach vorne richten und denken können: "Okay, nun binich bereit für alles, was da kommen mag."
ImAugenblick arbeite ich an meinem fünften Roman. Das ist ziemlich aufregend! Ichhabe ein ganzes Tableau neuer Figuren geschaffen, in die ich mich bereitsverliebt habe. Ausserdem arbeite ich im Moment an einer Pilotsendung für ABC TVNetwork in den USA (wo ich mich übrigens gerade aufhalte). Und vor ein paarWochen habe ich ein Drehbuch abgeschlossen - ich bin also immer beschäftigt,schreibe und schreibe! Sie haben sehr viele Fans imdeutschsprachigen Raum. Die wüssten natürlich gerne: Kommen Sie in diesem Jahrnach Deutschland, Österreich und die Schweiz?
Ich freue mich so darauf, wiederdurch Deutschland zu touren - zumal ich dieses Mal im Mai komme und nicht wiesonst im März, als es immer furchtbar kalt war. Vielleicht habe ich dieses JahrGlück und sehe die deutsche Sonne! Ich kann es kaum erwarten, meine Leserwiederzusehen, ihre Unterstützung über all die Jahre war einfach toll. Ichkönnte überhaupt nicht schreiben, wenn all die wunderbaren Leser inDeutschland, Österreich und der Schweiz meine Bücher nicht lesen würden! Um somehr freue ich mich, dass ich im Mai auch in Österreich und der Schweiz seinwerde. Hier meine vorläufigen "Tourdaten":
Montag, 7.5.2007: Hamburg
Dienstag, 8.5.2007: Rostock
Mittwoch, 9.5.2007: Berlin
Donnerstag, 10.5.2007: Bielefeld
Freitag, 11.5.2007: Giessen
Samstag, 12.5.2007: Kaiserslautern
Mittwoch, 23.5.2007: Schweiz, Bern
Donnerstag,24.5.07: N.N., Österreich Die Fragen stellte Roland Grosse Holtforth, Literaturtest.
- Autor: Cecelia Ahern
- 2007, 1, 425 Seiten, Masse: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Strüh, Christine
- Übersetzer: Christine Strüh
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810501433
- ISBN-13: 9783810501431
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