Unter den Sternen von Rio
Roman. Originalausgabe
1924. Als die schöne Brasilianerin Ana Carolina in Paris den geheimnisvollen Antoine kennenlernt und mit ihm den Rausch der ersten Liebe erlebt, ahnt sie nicht, dass dieser Mann ihr Schicksal werden wird. Doch ihr ist kein Wiedersehen mit ihm...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Unter den Sternen von Rio “
1924. Als die schöne Brasilianerin Ana Carolina in Paris den geheimnisvollen Antoine kennenlernt und mit ihm den Rausch der ersten Liebe erlebt, ahnt sie nicht, dass dieser Mann ihr Schicksal werden wird. Doch ihr ist kein Wiedersehen mit ihm vergönnt. Zurück in Brasilien soll sie den Ingenieur Henrique heiraten, der am Bau der Christusstatue in Rio beteiligt ist. Da stellt dieser ihr eines Tages seinen besten Freund vor, und Ana Carolina glaubt zu träumen, denn vor ihr steht - Antoine! Die lang erwartete Fortsetzung des Bestsellers Der Duft der Kaffeeblüte
Klappentext zu „Unter den Sternen von Rio “
1924. Als die schöne Brasilianerin Ana Carolina in Paris den geheimnisvollen Antoine kennenlernt und mit ihm den Rausch der ersten Liebe erlebt, ahnt sie nicht, dass dieser Mann ihr Schicksal werden wird. Durch einen unglücklichen Zufall ist ihr kein Wiedersehen mit ihm vergönnt, und sie reist zurück in ihre Heimat. Hier soll sie den Ingenieur Henrique heiraten, der am Bau der Christusstatue in Rio beteiligt ist. Da stellt dieser ihr eines Tages seinen besten Freund vor, und Ana Carolina glaubt zu träumen, denn vor ihr steht Antoine ...
Lese-Probe zu „Unter den Sternen von Rio “
Unter den Sternen von Rio von Ana Veloso Prolog
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Paris, 1923
Ana Carolina betrachtete die aufperlenden Bläschen in ihrem Champagnerglas. Langsam bewegten sich die winzigen Luftblasen aufwärts, strebten an die Oberfläche des Getränks, wo sie, einzeln kaum wahrnehmbar, zerplatzten und sich in der Raumluft in nichts auflösten. Und genau das hätte Ana Carolina jetzt ebenfalls gern getan: sich in nichts aufgelöst.
Es war einfach zu entwürdigend. Das Spektakel auf der Bühne trieb der jungen Frau die Schamröte ins Gesicht, ihr, die sich für so aufgeschlossen und modern gehalten hatte. Aber wie hätte sie auch ahnen können, dass die »frivole« Darbietung, die man ihr angekündigt hatte, sich nicht darauf beschränkte, ein paar Unterröcke hervorblitzen und ein Paar hübscher nackter Beine sehen zu lassen? Nichts und niemand hatte sie darauf vorbereitet, eine fast vollständig entkleidete Dame in äußerst obszönen Posen tanzen zu sehen. Die »Künstlerin« trug nicht mehr als drei große Muschelschalen, die ihre Scham und ihre Brüste bedeckten, sowie einen türkisfarbenen Organzaschleier, der um sie herumwaberte und der Aufführung einen geheimnisvollen östlichen Zauber verleihen sollte. Immerhin nannte die Show sich »Die orientalische Meerjungfrau«.
Ana Carolina nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und stellte es schwungvoll wieder ab - einzig, um abermals die aufsteigenden Perlen zu zählen und nicht auf die Bühne schauen zu müssen. Oder gar in die Zuschauermenge. Die geröteten Gesichter der Männer, das aufdringliche Lachen ihrer Begleiterinnen sowie die aufreizend kurzen Röcke der Serviermädchen waren beinahe genauso peinlich wie der Tanz dieser Möchtegern-Mata-Hari auf der Bühne.
Ana Carolina trank ihren Champagner aus. Sie fühlte sich bereits ein wenig beschwipst, dennoch bestellte sie sich sofort ein weiteres Glas. Mit irgendetwas musste sie sich schließlich beschäftigen, und lieber trank sie zu viel, als dass sie sich eine weitere Zigarette anzündete. Ihr wurde übel vom Qualm, leider. Sie fand die Attitüde eleganter Raucherinnen äußerst schick und stellte sich gern den Namen des entsprechenden Gemäldes vor: »Dame mit Pelzstola und Zigarettenspitze«. Nun, dann war sie eben die »Einsame Demoiselle im Pariser Cabaret«.
Es war zum Heulen. Wie konnte Marie sie so schmählich im Stich lassen? Was hatte ihre Cousine sich nur dabei gedacht? Erst schleppte sie sie hierher, in dieses abscheuliche Etablissement, das eine Mischung aus Café Concert und Bordell, aus Music Hall und Spelunke war, und dann verzog sie sich mit ihrem Verehrer und ließ sie, Ana Carolina, allein am Tisch zurück. So hatte sie sich ihren Ausfl ug in das verruchte Pariser Nachtleben ganz sicher nicht vorgestellt.
Keine drei Stunden zuvor hatte Ana Carolina noch vor dem Spiegel gestanden und, freudig erregt angesichts des bevorstehenden Abenteuers, die Wellen ihres Pagenkopfs in Form gelegt. Dann hatte sie ein wenig von Maries Rouge aufgetragen und ein Stirnband mit Feder umgebunden. Zu guter Letzt hatte sie die Pelzstola ihrer Tante Joana über ihren Schultern drapiert und sich vor dem Spiegel gedreht, verzückt über ihr mondänes und erwachsenes Aussehen. Sie wirkte deutlich älter als zwanzig Jahre. Sie sah aus wie eine Femme fatale, und als eine solche würde sie sich auch geben. Es war das erste Mal, dass sie und Marie den Abend außer Haus verbrachten, ohne den argwöhnischen Blicken von Tante Joana und Onkel Max ausgesetzt zu sein, Maries Eltern, die unerwartet zu einer erkrankten Freundin gerufen worden waren.
Ach, in welch schillernden Farben hatte Ana Carolina sich diesen Spaß ausgemalt! Tanzen wollte sie und flirten, trinken und rauchen, sich amüsieren bis zum Morgengrauen. Über anzügliche Witze würde sie überlegen lächeln, während sie den geistreichen Bemerkungen ihrer zahlreichen Verehrer ein wohlklingendes Lachen schenken würde. Sie würde sich unnahbar geben und doch zugänglich genug, um das Interesse der Männer zu fesseln. Sie hatte sogar schon das Übereinanderschlagen ihrer Beine geübt, so dass es nicht vulgär aussah und doch verführerisch. Ein kleines bisschen Haut zu viel, gerade genug, um ihre langen, schlanken Beine zur Geltung zu bringen.
Aber in diesem grässlichen Lokal war keiner, der als Galan auch nur annähernd in Frage gekommen wäre und dem sie einen Blick auf ihre Beine gegönnt hätte. Sie presste die Knie unter dem Tisch fest zusammen und stierte weiter auf das Glas, nur um nicht einem der lüsternen Blicke der Männer an den Nachbartischen begegnen zu müssen.
Seit Marie und dieser Schuft Maurice sie hier allein zurückgelassen hatten, musste etwa eine halbe Stunde vergangen sein, wenn man nach der Anzahl der Tanznummern ging. Ana Carolina kam es vor wie eine Ewigkeit. Sie wünschte sich inständig, dass die beiden draußen in der beißenden Februarkälte an ihren Mündern zusammenfroren. Und dass sie sich eine schwere Erkältung zuzogen, ach was, eine Lungenentzündung! Sie würde jetzt noch höchstens weitere drei der erschütternd schlechten Darbietungen über sich ergehen lassen, und wenn die beiden bis dahin nicht wiedernauftauchten, dann würde sie gehen. Für ein Taxi würde ihr Budget noch eben so reichen.
Ihr Glas war schon wieder leer. Ana Carolina kramte umständlich in ihrer Handtasche herum, einem mit Fransen besetzten Satintäschchen ihrer Tante, um ihre Barschaft zu überprüfen. Nein, einen weiteren Champagner konnte sie sich nicht leisten, wenn sie noch die Heimfahrt bezahlen wollte. Verflucht! Sie hängte die Tasche wieder an den Stuhlrücken und widmete sich dann intensiv dem weißen Tischtuch. Mit einem Streichholz zeichnete sie geometrische Formen hinein. Warum hatte sie nicht selber einen Verehrer? Nicht so einen Einfaltspinsel wie Maurice, nein, einen kultivierten, womöglich exzentrischen Mann, der ihr etwas wirklich Spannendes bieten konnte? Wäre sie zwanzig
Jahre früher in Paris gewesen, hätte sie mit ihrem Landsmann Alberto Santos-Dumont in seinem Luftschiff »La Baladeuse« vor dem »Maxim's« landen können. Das waren noch Zeiten gewesen! Da hatten die Menschen noch Stil besessen. Aber heute? Sie sah nichts als vulgäres Pack und billige Vergnügungssucht.
Als die Musik immer schwülstiger wurde und das Gejohle der Männer immer lauter, gab sie sich einen Ruck. Warum sollte sie eigentlich noch länger warten? Es war ja nicht so, als würden Marie und Maurice sie für irgendetwas brauchen. Als sie in dem »Cabaret«, das den Namen nicht verdiente, angekommen waren, hatten sie kurze Zeit geplaudert und sich noch der Illusion hingegeben, es könne ein vergnüglicher Abend für alle werden, doch selbst dieses harmlose Gespräch hatten Marie und Maurice fast zur Gänze unter sich bestritten. Ein Küsschen hier, ein Wimpernflattern dort, eine laszive Pose, ein zweideutiger Witz - und schon waren sie nach draußen entschwunden, »um frische Luft zu schnappen«.
Als Ana Carolina aufstand, wurde ihr schwindelig. Herrje, erst jetzt merkte sie, wie beschwipst sie wirklich war. Sie hielt sich an der Tischkante fest, bis sie glaubte, ihr Gleichgewicht gefunden zu haben. Dann hängte sie sich ihre Tasche über die Schulter und bewegte sich vorsichtig, das Kinn nach oben gereckt und die schmal gezupften Augenbrauen zu einem arroganten Bogen gehoben, durch die Stuhlreihen. Hoffentlich merkte man ihr nicht an, wie schwer es ihr fiel, nicht zu torkeln.
Wenige Sekunden später stolperte sie über eine Jacke, die von der Stuhllehne ihres Besitzers herabgefallen war. Ana Carolina landete praktisch auf dem Schoß seines Sitznachbarn.
»Hoppla! Nicht so stürmisch, meine Schöne«, sagte der Mann und gab ihr einen Klaps auf ihr Hinterteil.
»Finger weg, Dreckskerl!«, schimpfte sie.
Die anderen Personen an dem Tisch brachen in lautes Gelächter aus, während der Grabscher Ana Carolina konsterniert ansah. »Nun aber mal halblang, du kleine Hexe. Für was hältst du dich eigentlich? Allein und betrunken durch den Saal taumeln, und dann ...« Weiter kam er nicht, denn
ein junger Mann war neben Ana Carolina aufgetaucht und hielt ihr die Hand hin.
»Schatz, wo hast du denn gesteckt? Komm mit.«
Sie reichte ihm ihre Hand und ließ sich bereitwillig fortführen. Sie fühlte sich merkwürdig benommen, was nicht allein auf den übermäßigen Alkoholgenuss zurückzuführen war. Der Schreck über ihr kleines Malheur saß ihr noch in den Knochen, dazu kam die Verwunderung über ihre überraschende Rettung. Ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, durchquerten sie den Raum. Ana Carolina betrachtete den Fremden, dessen Hand sie so vertrauensselig ergriffen hatte. Er sah blendend aus mit seinem pomadisierten schwarzen Haar und seinen kantigen Gesichtszügen. Er war sehr elegant gekleidet und passte überhaupt nicht in dieses drittklassige Nachtlokal. Sonderbar, dass er ihr nicht schon früher aufgefallen war.
Erst als sie die Eingangshalle des Etablissements erreichten, richtete der gutaussehende Kavalier das Wort an sie. Er blickte ziemlich streng drein, und plötzlich fand Ana Carolina ihn nicht mehr ganz so vertrauenerweckend wie noch Sekunden zuvor. Und auch nicht mehr so schön.
»Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«, tadelte er sie.
»Sie hätten auf die Rückkehr Ihrer Freunde warten sollen.«
»Sie sind nicht meine Freunde«, erwiderte Ana Carolina und schämte sich Augenblicke später für ihre dumme Antwort. Was ging es diesen Mann an, ob sie in Begleitung ihrer Cousine ausging oder in der von Freunden?
»Es freut mich, dass Sie wenigstens in diesem Punkt noch klar sehen. Freunde lassen eine junge Dame wie Sie nicht allein in einer solchen Umgebung zurück.«
»Geschweige denn in der Obhut eines Wildfremden ... Schatz.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Sie haben völlig recht. Verzeihen Sie bitte meinen Mangel an Umgangsformen. Ich bin ... nennen Sie mich einfach Antoine.«
»Enchantée, Monsieur Antoine. Und danke für Ihren heldenhaften Einsatz. Wären Sie vielleicht noch so freundlich, mir ein Taxi zu rufen?«
»Selbstverständlich, Mademoiselle ...« Er schaute sie fragend an.
»Sie dürfen mich Caro nennen.« Sie sprach die Kurzform aus wie die Franzosen, also mit der Betonung auf der letzten Silbe - Caroh.
Sie traten durch die Drehtür, deren abgewetzte Mattglasscheiben einmal mit goldenen Schnörkeln verziert gewesen sein mussten, ins Freie. Die Kälte ernüchterte Ana Carolina augenblicklich. Ihre dünnen Seidenstrümpfe und die feinen Tanzschuhe waren für derart arktische Temperaturen denkbar ungeeignet.
»Sie sollten lieber drinnen warten, Mademoiselle Caro, bis ich einen Wagen aufgetrieben habe.«
Dankbar lächelte sie ihm zu und nickte. Er erwiderte ihr Lächeln, und prompt verwandelte sich sein Gesicht wieder in das eines strahlenden Helden. Er hatte blendend weiße, perfekt angeordnete Zähne - etwas, was man im Nachkriegseuropa nur selten zu sehen bekam.
Ana Carolina stapfte über den mit Brandlöchern übersäten Teppich zu einem Sofa. Es sah schmuddelig aus, aber das war ihr egal. Sie musste sich setzen, denn plötzlich überfiel sie eine schier unüberwindbare Erschöpfung.
»Mademoiselle Caro?«, hörte sie eine Stimme wie aus großer Entfernung. »Kommen Sie, Ihr Wagen ist da.«
Ana Carolina schlug die Augen auf. Sie musste eingenickt sein. Jesus Christus! Blieb ihr denn vor diesem Antoine keine einzige Peinlichkeit erspart? Erst wurde er Zeuge ihres traurigen Aufenthalts in dieser Spelunke, nun erwischte er sie auch noch dabei, wie sie ihren Rausch ausschlief.
Er nahm ihren Arm und führte sie die Stufen zum Trottoir hinab. Dann hielt er ihr die Tür des Wagens auf und ließ sie einsteigen. Kurz bevor er die Tür wieder schloss, raunte er ihr zu: »Wenn Sie einen wirklich unvergesslichen Abend erleben wollen, dann kommen Sie am Freitag um 20 Uhr zu Alfred, an der Madeleine. Ich erwarte Sie dort.«
Der Wagen fuhr an. Ana Carolina verschlief die gesamte Fahrt und wachte erst wieder auf, leicht benebelt, als der Fahrer sie unsanft anstupste.
»Was macht das?«, konnte sie sich gerade noch aufraffen zu fragen.
»Hat der Herr schon erledigt.«
Von dem heimlichen Ausflug der beiden jungen Frauen erfuhren Tante Joana und Onkel Max nie etwas. Als sie am nächsten Tag heimkehrten - »oh, es tut uns leid, Kinder, wir mussten über Nacht bleiben« - , hätten sie sich höchstens über die Ringe unter Maries Augen oder den Geruch nach kaltem Rauch in der Pelzstola wundern können. Doch sie waren zu sehr mit sich selbst und mit der Krankheit ihrer Freundin beschäftigt, um irgendetwas zu bemerken. Es entging ihnen ebenfalls, dass Ana Carolina und Marie, anders als sonst, kaum miteinander sprachen. Die Cousinen hatten sich heftig gestritten.
»Wie konntest du nur einfach verschwinden?«, empörte sich Marie. »Wir haben uns große Sorgen gemacht, als du fort warst, erst recht, nachdem wir vom Portier erfuhren, dass du in Begleitung eines Herrn warst. Wirklich, Ana Carolina, für so naiv hätte ich dich wirklich nicht gehalten. Auch bei euch in Brasilien geht man doch nicht einfach mit dem erstbesten Fremden mit!«
»Nein. Aber auch in Rio lässt man ein Mädchen nicht stundenlang allein in einem anrüchigen Etablissement hocken, umgeben von halbnackten Huren und sabbernden Männern.«
»Wessen Idee war es denn, dorthin zu gehen? Deine! Du hast dich ja förmlich ausgeschüttet vor Lachen, als du den Namen des Spektakels gelesen hattest, ›Die orientalische Meerjungfrau‹. Ich dachte, es macht dir Spaß, dir die Show anzusehen.«
»Du hast gar nichts gedacht, Marie. Dein Hirn war dir doch in die Körpermitte gerutscht, und ich bin sicher, dass Maurice sich nicht lange bitten ließ, es dort zu suchen.«
»Aus dir spricht der blanke Neid.«
Ana Carolina hob verächtlich die Schultern. »Wenn du meinst.«
Eine Weile starrten die beiden Cousinen einander an, jede von ihnen unversöhnlich und fest davon überzeugt, man habe ihr Unrecht getan. Ana Carolina wusste genau, wie sie die Situation hätte bereinigen können. Wenn sie ihrer Cousine nur in verschwörerischem Ton von dem geheimnisvollen Herrn erzählt und damit deren brennende Neugier befriedigt hätte, wäre wohl alles zwischen ihnen wieder gut gewesen. Warum sie es nicht tat, war Ana Carolina selber unerklärlich. Sie mochte Marie, ja, sie liebte sie beinahe wie eine Schwester. Sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt. Doch der Wunsch, Marie jetzt eine vermeintlich spannende Episode aus ihrem sonst so unaufregenden Alltag vorzuenthalten, war stärker als das Bedürfnis, die alte Harmonie wiederherzustellen. Und das nicht etwa aus Wichtigtuerei. Im Grunde gab es kaum etwas, das sie hätte berichten können, doch das wenige war ihr zu kostbar, um es durch flapsiges Geplauder und albernes Kichern herabzuwürdigen. Dieser Antoine hatte Eindruck auf sie gemacht.
Um nichts auf der Welt würde sie es versäumen, ihn wiederzusehen. Am Freitag, bei Alfred an der Madeleine. Um welche Art von Treffpunkt es sich dabei handelte, würde sie noch diskret in Erfahrung bringen müssen. Vielleicht ein Restaurant, »Chez Alfred«? Oder eine American Bar, »Alfred's«? Hatte er überhaupt »Alfred« gesagt und nicht vielmehr »Arthur« oder »Auguste«? Je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Auch in Bezug auf Ort und Zeit des Treffens traute sie ihrem Gedächtnis plötzlich nicht mehr. Aber was hatte sie schon zu verlieren? Sie würde sich am Freitagabend irgendwie davonstehlen, ein Taxi nehmen und darauf hoffen, dass der Chauffeur mit der ungenauen Angabe des Fahrziels mehr anfangen konnte als sie.
Die ganze Woche über dachte Ana Carolina an ihr heimliches Rendezvous. Dabei war die Vorfreude auf die Verabredung selber nicht halb so aufregend wie der Gedanke daran, sich überhaupt auf ein solches Abenteuer einzulassen: Ana Carolina gefiel sich einmal mehr in der Rolle der Femme fatale. Sich mit einem Fremden zu treffen gehörte zu den Dingen, die ein anständiges Mädchen nun einmal
nicht tat. Genau das machte ja den Reiz aus. Marie bemerkte, dass ihre Cousine etwas ausheckte, doch ihr Stolz verbot es ihr, nachzuforschen. Sie ließ gelegentlich eine Bemerkung fallen - »du gibst dich ja neuerdings so geheimnisumwittert« oder »ich bin dir wohl nicht mehr gut genug, seit du diesen Fremden aufgegabelt hast« - , aus deren spitzem Ton Ana Carolina die Enttäuschung Maries heraushörte, nicht eingeweiht worden zu sein. Dennoch behielt sie ihr Geheimnis für sich.
Sie verwandte viel Sorgfalt darauf, ein Alibi für den Freitag zu konstruieren, das auch vor Marie standhalten würde. Glücklicherweise war deren Geburtstag nicht mehr fern, so dass Ana Carolina eine vermeintliche Überraschung als Grund heranziehen konnte, warum sie allein aus dem Haus musste. Ihrer Tante Joana gab sie dieselbe Erklärung.
»Weißt du, tia, ich habe mir etwas wirklich Außergewöhnliches für Marie ausgedacht, und ich muss dafür eine Spezialistin aufsuchen. Die aber hatte nur noch diesen einen Termin für mich frei. Bitte, dringt nicht in mich, ich verspreche, dass alles ganz harmlos ist und ich um Punkt 22 Uhr wieder zu Hause sein werde. Wenn du möchtest, kannst du mir ja auch Yvette als Aufpasserin mitgeben.« Yvette war das Hausmädchen, und Ana Carolina wusste genau, dass sie am Freitag ihren freien Abend haben würde, an dem sie ihre Familie in einem Vorort von Paris besuchen wollte.
»Na schön«, ließ sich Tante Joana schließlich erweichen, »du bist ja immerhin schon eine ziemlich erwachsene junge Dame.«
© 2012 Knaur Taschenbuch
Paris, 1923
Ana Carolina betrachtete die aufperlenden Bläschen in ihrem Champagnerglas. Langsam bewegten sich die winzigen Luftblasen aufwärts, strebten an die Oberfläche des Getränks, wo sie, einzeln kaum wahrnehmbar, zerplatzten und sich in der Raumluft in nichts auflösten. Und genau das hätte Ana Carolina jetzt ebenfalls gern getan: sich in nichts aufgelöst.
Es war einfach zu entwürdigend. Das Spektakel auf der Bühne trieb der jungen Frau die Schamröte ins Gesicht, ihr, die sich für so aufgeschlossen und modern gehalten hatte. Aber wie hätte sie auch ahnen können, dass die »frivole« Darbietung, die man ihr angekündigt hatte, sich nicht darauf beschränkte, ein paar Unterröcke hervorblitzen und ein Paar hübscher nackter Beine sehen zu lassen? Nichts und niemand hatte sie darauf vorbereitet, eine fast vollständig entkleidete Dame in äußerst obszönen Posen tanzen zu sehen. Die »Künstlerin« trug nicht mehr als drei große Muschelschalen, die ihre Scham und ihre Brüste bedeckten, sowie einen türkisfarbenen Organzaschleier, der um sie herumwaberte und der Aufführung einen geheimnisvollen östlichen Zauber verleihen sollte. Immerhin nannte die Show sich »Die orientalische Meerjungfrau«.
Ana Carolina nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und stellte es schwungvoll wieder ab - einzig, um abermals die aufsteigenden Perlen zu zählen und nicht auf die Bühne schauen zu müssen. Oder gar in die Zuschauermenge. Die geröteten Gesichter der Männer, das aufdringliche Lachen ihrer Begleiterinnen sowie die aufreizend kurzen Röcke der Serviermädchen waren beinahe genauso peinlich wie der Tanz dieser Möchtegern-Mata-Hari auf der Bühne.
Ana Carolina trank ihren Champagner aus. Sie fühlte sich bereits ein wenig beschwipst, dennoch bestellte sie sich sofort ein weiteres Glas. Mit irgendetwas musste sie sich schließlich beschäftigen, und lieber trank sie zu viel, als dass sie sich eine weitere Zigarette anzündete. Ihr wurde übel vom Qualm, leider. Sie fand die Attitüde eleganter Raucherinnen äußerst schick und stellte sich gern den Namen des entsprechenden Gemäldes vor: »Dame mit Pelzstola und Zigarettenspitze«. Nun, dann war sie eben die »Einsame Demoiselle im Pariser Cabaret«.
Es war zum Heulen. Wie konnte Marie sie so schmählich im Stich lassen? Was hatte ihre Cousine sich nur dabei gedacht? Erst schleppte sie sie hierher, in dieses abscheuliche Etablissement, das eine Mischung aus Café Concert und Bordell, aus Music Hall und Spelunke war, und dann verzog sie sich mit ihrem Verehrer und ließ sie, Ana Carolina, allein am Tisch zurück. So hatte sie sich ihren Ausfl ug in das verruchte Pariser Nachtleben ganz sicher nicht vorgestellt.
Keine drei Stunden zuvor hatte Ana Carolina noch vor dem Spiegel gestanden und, freudig erregt angesichts des bevorstehenden Abenteuers, die Wellen ihres Pagenkopfs in Form gelegt. Dann hatte sie ein wenig von Maries Rouge aufgetragen und ein Stirnband mit Feder umgebunden. Zu guter Letzt hatte sie die Pelzstola ihrer Tante Joana über ihren Schultern drapiert und sich vor dem Spiegel gedreht, verzückt über ihr mondänes und erwachsenes Aussehen. Sie wirkte deutlich älter als zwanzig Jahre. Sie sah aus wie eine Femme fatale, und als eine solche würde sie sich auch geben. Es war das erste Mal, dass sie und Marie den Abend außer Haus verbrachten, ohne den argwöhnischen Blicken von Tante Joana und Onkel Max ausgesetzt zu sein, Maries Eltern, die unerwartet zu einer erkrankten Freundin gerufen worden waren.
Ach, in welch schillernden Farben hatte Ana Carolina sich diesen Spaß ausgemalt! Tanzen wollte sie und flirten, trinken und rauchen, sich amüsieren bis zum Morgengrauen. Über anzügliche Witze würde sie überlegen lächeln, während sie den geistreichen Bemerkungen ihrer zahlreichen Verehrer ein wohlklingendes Lachen schenken würde. Sie würde sich unnahbar geben und doch zugänglich genug, um das Interesse der Männer zu fesseln. Sie hatte sogar schon das Übereinanderschlagen ihrer Beine geübt, so dass es nicht vulgär aussah und doch verführerisch. Ein kleines bisschen Haut zu viel, gerade genug, um ihre langen, schlanken Beine zur Geltung zu bringen.
Aber in diesem grässlichen Lokal war keiner, der als Galan auch nur annähernd in Frage gekommen wäre und dem sie einen Blick auf ihre Beine gegönnt hätte. Sie presste die Knie unter dem Tisch fest zusammen und stierte weiter auf das Glas, nur um nicht einem der lüsternen Blicke der Männer an den Nachbartischen begegnen zu müssen.
Seit Marie und dieser Schuft Maurice sie hier allein zurückgelassen hatten, musste etwa eine halbe Stunde vergangen sein, wenn man nach der Anzahl der Tanznummern ging. Ana Carolina kam es vor wie eine Ewigkeit. Sie wünschte sich inständig, dass die beiden draußen in der beißenden Februarkälte an ihren Mündern zusammenfroren. Und dass sie sich eine schwere Erkältung zuzogen, ach was, eine Lungenentzündung! Sie würde jetzt noch höchstens weitere drei der erschütternd schlechten Darbietungen über sich ergehen lassen, und wenn die beiden bis dahin nicht wiedernauftauchten, dann würde sie gehen. Für ein Taxi würde ihr Budget noch eben so reichen.
Ihr Glas war schon wieder leer. Ana Carolina kramte umständlich in ihrer Handtasche herum, einem mit Fransen besetzten Satintäschchen ihrer Tante, um ihre Barschaft zu überprüfen. Nein, einen weiteren Champagner konnte sie sich nicht leisten, wenn sie noch die Heimfahrt bezahlen wollte. Verflucht! Sie hängte die Tasche wieder an den Stuhlrücken und widmete sich dann intensiv dem weißen Tischtuch. Mit einem Streichholz zeichnete sie geometrische Formen hinein. Warum hatte sie nicht selber einen Verehrer? Nicht so einen Einfaltspinsel wie Maurice, nein, einen kultivierten, womöglich exzentrischen Mann, der ihr etwas wirklich Spannendes bieten konnte? Wäre sie zwanzig
Jahre früher in Paris gewesen, hätte sie mit ihrem Landsmann Alberto Santos-Dumont in seinem Luftschiff »La Baladeuse« vor dem »Maxim's« landen können. Das waren noch Zeiten gewesen! Da hatten die Menschen noch Stil besessen. Aber heute? Sie sah nichts als vulgäres Pack und billige Vergnügungssucht.
Als die Musik immer schwülstiger wurde und das Gejohle der Männer immer lauter, gab sie sich einen Ruck. Warum sollte sie eigentlich noch länger warten? Es war ja nicht so, als würden Marie und Maurice sie für irgendetwas brauchen. Als sie in dem »Cabaret«, das den Namen nicht verdiente, angekommen waren, hatten sie kurze Zeit geplaudert und sich noch der Illusion hingegeben, es könne ein vergnüglicher Abend für alle werden, doch selbst dieses harmlose Gespräch hatten Marie und Maurice fast zur Gänze unter sich bestritten. Ein Küsschen hier, ein Wimpernflattern dort, eine laszive Pose, ein zweideutiger Witz - und schon waren sie nach draußen entschwunden, »um frische Luft zu schnappen«.
Als Ana Carolina aufstand, wurde ihr schwindelig. Herrje, erst jetzt merkte sie, wie beschwipst sie wirklich war. Sie hielt sich an der Tischkante fest, bis sie glaubte, ihr Gleichgewicht gefunden zu haben. Dann hängte sie sich ihre Tasche über die Schulter und bewegte sich vorsichtig, das Kinn nach oben gereckt und die schmal gezupften Augenbrauen zu einem arroganten Bogen gehoben, durch die Stuhlreihen. Hoffentlich merkte man ihr nicht an, wie schwer es ihr fiel, nicht zu torkeln.
Wenige Sekunden später stolperte sie über eine Jacke, die von der Stuhllehne ihres Besitzers herabgefallen war. Ana Carolina landete praktisch auf dem Schoß seines Sitznachbarn.
»Hoppla! Nicht so stürmisch, meine Schöne«, sagte der Mann und gab ihr einen Klaps auf ihr Hinterteil.
»Finger weg, Dreckskerl!«, schimpfte sie.
Die anderen Personen an dem Tisch brachen in lautes Gelächter aus, während der Grabscher Ana Carolina konsterniert ansah. »Nun aber mal halblang, du kleine Hexe. Für was hältst du dich eigentlich? Allein und betrunken durch den Saal taumeln, und dann ...« Weiter kam er nicht, denn
ein junger Mann war neben Ana Carolina aufgetaucht und hielt ihr die Hand hin.
»Schatz, wo hast du denn gesteckt? Komm mit.«
Sie reichte ihm ihre Hand und ließ sich bereitwillig fortführen. Sie fühlte sich merkwürdig benommen, was nicht allein auf den übermäßigen Alkoholgenuss zurückzuführen war. Der Schreck über ihr kleines Malheur saß ihr noch in den Knochen, dazu kam die Verwunderung über ihre überraschende Rettung. Ohne ein weiteres Wort miteinander zu wechseln, durchquerten sie den Raum. Ana Carolina betrachtete den Fremden, dessen Hand sie so vertrauensselig ergriffen hatte. Er sah blendend aus mit seinem pomadisierten schwarzen Haar und seinen kantigen Gesichtszügen. Er war sehr elegant gekleidet und passte überhaupt nicht in dieses drittklassige Nachtlokal. Sonderbar, dass er ihr nicht schon früher aufgefallen war.
Erst als sie die Eingangshalle des Etablissements erreichten, richtete der gutaussehende Kavalier das Wort an sie. Er blickte ziemlich streng drein, und plötzlich fand Ana Carolina ihn nicht mehr ganz so vertrauenerweckend wie noch Sekunden zuvor. Und auch nicht mehr so schön.
»Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«, tadelte er sie.
»Sie hätten auf die Rückkehr Ihrer Freunde warten sollen.«
»Sie sind nicht meine Freunde«, erwiderte Ana Carolina und schämte sich Augenblicke später für ihre dumme Antwort. Was ging es diesen Mann an, ob sie in Begleitung ihrer Cousine ausging oder in der von Freunden?
»Es freut mich, dass Sie wenigstens in diesem Punkt noch klar sehen. Freunde lassen eine junge Dame wie Sie nicht allein in einer solchen Umgebung zurück.«
»Geschweige denn in der Obhut eines Wildfremden ... Schatz.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Sie haben völlig recht. Verzeihen Sie bitte meinen Mangel an Umgangsformen. Ich bin ... nennen Sie mich einfach Antoine.«
»Enchantée, Monsieur Antoine. Und danke für Ihren heldenhaften Einsatz. Wären Sie vielleicht noch so freundlich, mir ein Taxi zu rufen?«
»Selbstverständlich, Mademoiselle ...« Er schaute sie fragend an.
»Sie dürfen mich Caro nennen.« Sie sprach die Kurzform aus wie die Franzosen, also mit der Betonung auf der letzten Silbe - Caroh.
Sie traten durch die Drehtür, deren abgewetzte Mattglasscheiben einmal mit goldenen Schnörkeln verziert gewesen sein mussten, ins Freie. Die Kälte ernüchterte Ana Carolina augenblicklich. Ihre dünnen Seidenstrümpfe und die feinen Tanzschuhe waren für derart arktische Temperaturen denkbar ungeeignet.
»Sie sollten lieber drinnen warten, Mademoiselle Caro, bis ich einen Wagen aufgetrieben habe.«
Dankbar lächelte sie ihm zu und nickte. Er erwiderte ihr Lächeln, und prompt verwandelte sich sein Gesicht wieder in das eines strahlenden Helden. Er hatte blendend weiße, perfekt angeordnete Zähne - etwas, was man im Nachkriegseuropa nur selten zu sehen bekam.
Ana Carolina stapfte über den mit Brandlöchern übersäten Teppich zu einem Sofa. Es sah schmuddelig aus, aber das war ihr egal. Sie musste sich setzen, denn plötzlich überfiel sie eine schier unüberwindbare Erschöpfung.
»Mademoiselle Caro?«, hörte sie eine Stimme wie aus großer Entfernung. »Kommen Sie, Ihr Wagen ist da.«
Ana Carolina schlug die Augen auf. Sie musste eingenickt sein. Jesus Christus! Blieb ihr denn vor diesem Antoine keine einzige Peinlichkeit erspart? Erst wurde er Zeuge ihres traurigen Aufenthalts in dieser Spelunke, nun erwischte er sie auch noch dabei, wie sie ihren Rausch ausschlief.
Er nahm ihren Arm und führte sie die Stufen zum Trottoir hinab. Dann hielt er ihr die Tür des Wagens auf und ließ sie einsteigen. Kurz bevor er die Tür wieder schloss, raunte er ihr zu: »Wenn Sie einen wirklich unvergesslichen Abend erleben wollen, dann kommen Sie am Freitag um 20 Uhr zu Alfred, an der Madeleine. Ich erwarte Sie dort.«
Der Wagen fuhr an. Ana Carolina verschlief die gesamte Fahrt und wachte erst wieder auf, leicht benebelt, als der Fahrer sie unsanft anstupste.
»Was macht das?«, konnte sie sich gerade noch aufraffen zu fragen.
»Hat der Herr schon erledigt.«
Von dem heimlichen Ausflug der beiden jungen Frauen erfuhren Tante Joana und Onkel Max nie etwas. Als sie am nächsten Tag heimkehrten - »oh, es tut uns leid, Kinder, wir mussten über Nacht bleiben« - , hätten sie sich höchstens über die Ringe unter Maries Augen oder den Geruch nach kaltem Rauch in der Pelzstola wundern können. Doch sie waren zu sehr mit sich selbst und mit der Krankheit ihrer Freundin beschäftigt, um irgendetwas zu bemerken. Es entging ihnen ebenfalls, dass Ana Carolina und Marie, anders als sonst, kaum miteinander sprachen. Die Cousinen hatten sich heftig gestritten.
»Wie konntest du nur einfach verschwinden?«, empörte sich Marie. »Wir haben uns große Sorgen gemacht, als du fort warst, erst recht, nachdem wir vom Portier erfuhren, dass du in Begleitung eines Herrn warst. Wirklich, Ana Carolina, für so naiv hätte ich dich wirklich nicht gehalten. Auch bei euch in Brasilien geht man doch nicht einfach mit dem erstbesten Fremden mit!«
»Nein. Aber auch in Rio lässt man ein Mädchen nicht stundenlang allein in einem anrüchigen Etablissement hocken, umgeben von halbnackten Huren und sabbernden Männern.«
»Wessen Idee war es denn, dorthin zu gehen? Deine! Du hast dich ja förmlich ausgeschüttet vor Lachen, als du den Namen des Spektakels gelesen hattest, ›Die orientalische Meerjungfrau‹. Ich dachte, es macht dir Spaß, dir die Show anzusehen.«
»Du hast gar nichts gedacht, Marie. Dein Hirn war dir doch in die Körpermitte gerutscht, und ich bin sicher, dass Maurice sich nicht lange bitten ließ, es dort zu suchen.«
»Aus dir spricht der blanke Neid.«
Ana Carolina hob verächtlich die Schultern. »Wenn du meinst.«
Eine Weile starrten die beiden Cousinen einander an, jede von ihnen unversöhnlich und fest davon überzeugt, man habe ihr Unrecht getan. Ana Carolina wusste genau, wie sie die Situation hätte bereinigen können. Wenn sie ihrer Cousine nur in verschwörerischem Ton von dem geheimnisvollen Herrn erzählt und damit deren brennende Neugier befriedigt hätte, wäre wohl alles zwischen ihnen wieder gut gewesen. Warum sie es nicht tat, war Ana Carolina selber unerklärlich. Sie mochte Marie, ja, sie liebte sie beinahe wie eine Schwester. Sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt. Doch der Wunsch, Marie jetzt eine vermeintlich spannende Episode aus ihrem sonst so unaufregenden Alltag vorzuenthalten, war stärker als das Bedürfnis, die alte Harmonie wiederherzustellen. Und das nicht etwa aus Wichtigtuerei. Im Grunde gab es kaum etwas, das sie hätte berichten können, doch das wenige war ihr zu kostbar, um es durch flapsiges Geplauder und albernes Kichern herabzuwürdigen. Dieser Antoine hatte Eindruck auf sie gemacht.
Um nichts auf der Welt würde sie es versäumen, ihn wiederzusehen. Am Freitag, bei Alfred an der Madeleine. Um welche Art von Treffpunkt es sich dabei handelte, würde sie noch diskret in Erfahrung bringen müssen. Vielleicht ein Restaurant, »Chez Alfred«? Oder eine American Bar, »Alfred's«? Hatte er überhaupt »Alfred« gesagt und nicht vielmehr »Arthur« oder »Auguste«? Je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Auch in Bezug auf Ort und Zeit des Treffens traute sie ihrem Gedächtnis plötzlich nicht mehr. Aber was hatte sie schon zu verlieren? Sie würde sich am Freitagabend irgendwie davonstehlen, ein Taxi nehmen und darauf hoffen, dass der Chauffeur mit der ungenauen Angabe des Fahrziels mehr anfangen konnte als sie.
Die ganze Woche über dachte Ana Carolina an ihr heimliches Rendezvous. Dabei war die Vorfreude auf die Verabredung selber nicht halb so aufregend wie der Gedanke daran, sich überhaupt auf ein solches Abenteuer einzulassen: Ana Carolina gefiel sich einmal mehr in der Rolle der Femme fatale. Sich mit einem Fremden zu treffen gehörte zu den Dingen, die ein anständiges Mädchen nun einmal
nicht tat. Genau das machte ja den Reiz aus. Marie bemerkte, dass ihre Cousine etwas ausheckte, doch ihr Stolz verbot es ihr, nachzuforschen. Sie ließ gelegentlich eine Bemerkung fallen - »du gibst dich ja neuerdings so geheimnisumwittert« oder »ich bin dir wohl nicht mehr gut genug, seit du diesen Fremden aufgegabelt hast« - , aus deren spitzem Ton Ana Carolina die Enttäuschung Maries heraushörte, nicht eingeweiht worden zu sein. Dennoch behielt sie ihr Geheimnis für sich.
Sie verwandte viel Sorgfalt darauf, ein Alibi für den Freitag zu konstruieren, das auch vor Marie standhalten würde. Glücklicherweise war deren Geburtstag nicht mehr fern, so dass Ana Carolina eine vermeintliche Überraschung als Grund heranziehen konnte, warum sie allein aus dem Haus musste. Ihrer Tante Joana gab sie dieselbe Erklärung.
»Weißt du, tia, ich habe mir etwas wirklich Außergewöhnliches für Marie ausgedacht, und ich muss dafür eine Spezialistin aufsuchen. Die aber hatte nur noch diesen einen Termin für mich frei. Bitte, dringt nicht in mich, ich verspreche, dass alles ganz harmlos ist und ich um Punkt 22 Uhr wieder zu Hause sein werde. Wenn du möchtest, kannst du mir ja auch Yvette als Aufpasserin mitgeben.« Yvette war das Hausmädchen, und Ana Carolina wusste genau, dass sie am Freitag ihren freien Abend haben würde, an dem sie ihre Familie in einem Vorort von Paris besuchen wollte.
»Na schön«, ließ sich Tante Joana schließlich erweichen, »du bist ja immerhin schon eine ziemlich erwachsene junge Dame.«
© 2012 Knaur Taschenbuch
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Autoren-Porträt von Ana Veloso
Ana Veloso, 1964 geboren, ist Romanistin und lebte viele Jahre in Rio de Janeiro. Bereits ihr erster Roman, "Der Duft der Kaffeeblüte", war ein grosser Erfolg, ebenso "So weit der Wind uns trägt". Ana Veloso lebt als Journalistin und Autorin in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ana Veloso
- 2012, 1. Auflage, 704 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426510790
- ISBN-13: 9783426510797
- Erscheinungsdatum: 27.11.2012
Rezension zu „Unter den Sternen von Rio “
"Fesselnde Saga" Joy 20130310
Pressezitat
"Fesselnde Saga" Joy 20130310
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