Und dennoch...
Nachdenken über Zeitgeschichte - Erinnern für die Zukunft
Die FDP-Politikerin und "Grande Dame" der deutschen Politik, die im Mai 90 Jahre alt wird, blickt zurück auf die Zeit seit dem Ende der Nazi-Diktatur. Eindringlich wirbt sie für ihre großen Lebensthemen: das Lernen aus den Irrtümern...
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Produktinformationen zu „Und dennoch... “
Die FDP-Politikerin und "Grande Dame" der deutschen Politik, die im Mai 90 Jahre alt wird, blickt zurück auf die Zeit seit dem Ende der Nazi-Diktatur. Eindringlich wirbt sie für ihre großen Lebensthemen: das Lernen aus den Irrtümern der Geschichte, die Stärkung der Demokratie und die Verteidigung der Freiheit.
Klappentext zu „Und dennoch... “
Erinnern für die ZukunftHildegard Hamm-Brücher, die Grande Dame der deutschen Politik, blickt auf die Zeit seit dem Ende der Nazi-Diktatur zurück und wirbt eindringlich für ihre grossen Lebensthemen - das Lernen aus den Irrtümern der Geschichte, die Stärkung der Demokratie und die Verteidigung der Freiheit. 2016 starb Hildegard Hamm-Brücher im Alter von 95 Jahren in München, eine "unverbesserliche, freischaffende Liberale", wie sie sich selbst nannte, eine leidenschaftliche Kämpferin für die Demokratie.
Hans-Jochen Vogel (Ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin):
"Eine Demokratin nicht nur mit dem Lippenbekenntnis, sondern wirklich mit ihrem Lebensbeispiel, die unmittelbare Bürgerbeteiligung, Zivilcourage, und das alles hat Hildegard Hamm-Brücher nun weiss Gott ein Leben lang getan."
"Für Menschen aller Generationen sind diese Lebenserinnerungen einer aufrechten und emanzipierten Frau ein Geschichtsbuch über unsere Demokratie nach 1945 und ein persönliches Zeugnis davon, dass es immer konkrete Menschen sind, die diese Demokratie aufbauen und am Leben erhalten. Vielleicht der wichtigste Beitrag zu der aktuellen Debatte um die Krise der FDP." -- lovelybooks.de, 12.05.2011
"Ein lesenswertes Buch, gerade zum 90. Geburtstag dieser beeindruckenden Persönlichkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte." -- NDR Info - Das Politische Buch, 11.05.2011
"Ein lesenswertes Buch, gerade zum 90. Geburtstag dieser beeindruckenden Persönlichkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte." -- NDR Info - Das Politische Buch, 11.05.2011
Lese-Probe zu „Und dennoch... “
Und dennoch ... von Hildegard Hamm-Brücher Vorwort
Am Ende meines neunten Lebensjahrzehnts möchte ich noch
einmal zurückblicken. Nicht in Form einer Autobiographie oder
einer Beschreibung von historischen Abläufen, sondern als politische
Zeugin meiner Lebenszeit seit 1945. Es ist eine lange
Wegstrecke, in der ich die Ereignisse und Prozesse in Deutschland
seit der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur
als Beteiligte miterlebt habe, also ein Zeitraum von über fünfundsechzig
Jahren. Er beginnt mit dem Ende des Krieges und
der Teilung Deutschlands in vier Zonen und endet mit der
Wiedervereinigung und der vollständigen Souveränität. Entscheidend
war für mich, zu erleben, wie unsere Demokratie, die
zunächst von den westlichen Siegermächten angeordnet, mit
steigendem Wohlstand jedoch akzeptiert, zu guter Letzt angenommen
wurde und aus eigenen Kräften Gestalt annahm. Von
Anfang an nahm ich daran aktiv und engagiert teil, eine brave
Mitläuferin war ich nie. Nun möchte ich auf diese Stationen
noch einmal zurückblicken. Es ist also eine Art Spätlese.
... mehr
Dafür habe ich mehrere Gründe. So habe ich in der Nach-
Hitler-Zeit Erfahrungen gesammelt, die meiner Meinung nach
für die politische Bewusstseinsbildung kommender Generationen
wissenswert sind. Es sind Erfahrungen über unsere Demokratiewerdung
auf den Trümmern der Nazi-Diktatur, über die
langwierige und schwierige Abkehr von Obrigkeitsstaat und traditioneller
Untertanengesinnung. Dies schließt auch die Auseinandersetzung
mit der Hitler-Diktatur ein, die mit einer überwiegend
missglückten Entnazifizierung sowie einer verzögerten,
teilweise unzulänglichen Wiedergutmachung der Opfer des nationalsozialistischen
Terrors verbunden ist. Aus eigenem Erleben
schildere ich die Ursachen für Versäumnisse und Verspätungen
bei überfälligen Reformen, insbesondere in der Bildungs-und
Gesellschaftspolitik, und als ehemaliges FDP-Mitglied habe ich
etliche Stationen des Glanzes und Elends des politischen Liberalismus
miterlebt. Auch beschäftigten und beschäftigen mich
noch immer die Probleme anlässlich der Wiedervereinigung des
vierzig Jahre geteilten deutschen Staates; und nicht zuletzt kann
ich auch auf sechs Jahrzehnte Politik als Frauenberuf zurückblicken,
in denen sich in jeder Hinsicht viel getan hat.
All das sind Erfahrungen und Entwicklungen, die ich gegen
Geschichtsvergessenheit, ja Geschichtslosigkeit setzen möchte.
Diese, unsere Geschichtsvergessenheit halte ich nicht nur bei
nachwachsenden, sondern auch bei in Verantwortung stehenden
Generationen für besorgniserregend: Immer mehr Deutsche wissen
immer weniger von historischen Geschehnissen der jüngsten
Vergangenheit, weshalb es ihnen auch nicht möglich ist, zu beurteilen,
wie diese im gegenwärtigen und künftigen politischen
Geschehen weiterwirken. Besonders ist das der Fall, wenn es die
dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit betrifft, die oftmals
unterschwellig fortwirken. Diese Geschichtsvergessenheit wird
wahrscheinlich dann weiter zunehmen, wenn die letzten Zeugen
der Nazizeit gestorben sind und ihre mahnende Erinnerung verstummt.
Meine zeitgeschichtliche Rückschau will dagegenhalten. Sie
erfolgt als pragmatisch-politische Berichterstattung, nicht als
wissenschaftliche Aufarbeitung, und ist nur dann biographisch,
wenn es zur Thematik gehört. Sie soll informieren und aufklären,
aber auch Wertungen einer freischaffenden liberalen Politikerin
anbieten.
Damit möchte ich Interesse für die Vorgeschichte von aktuellen
politischen Zusammenhängen wecken, wenn es etwa um
das Wiederaufleben von Rechtsextremismus, Rassismus und
Antisemitismus geht. Ein weiteres Thema ist die aktuell grassierende
Politik(er)-und Demokratieverdrossenheit, die eine
erschreckende Entfremdung zwischen Gesellschaft und demo-
kratischen Institutionen zur Folge hat. Gemeint sind damit Parteien
und Parlamente. Diese Verdrossenheit ist nicht »vom
Himmel gefallen«, sondern Ergebnis einer traditionellen Abneigung
der Deutschen gegen Parteien und demokratische Prozesse,
die neuerlich wieder stärker aufgebrochen ist. Nur wenn
man diese bedenkliche Entwicklung und ihre Wurzeln erkennt,
kann sie überwunden werden. Das gilt ebenso für das notwendige
Fingerspitzengefühl in internationalen Beziehungen. Ich
greife hier den Nahost-Konflikt als Beispiel heraus: Um zu verstehen,
weshalb die Erinnerungen an den Holocaust und die
Nazi-Verbrechen in der westlichen Welt weiterschwelen und
gelegentlich von Neuem aufbrechen, ist es erforderlich, diese
Zusammenhänge zu kennen.
Zudem möchte ich mit meinen Berichten aber auch einen
Beitrag für die Zukunft einer Erinnerungskultur leisten. Es genügt
nicht, Gedenkstätten zu errichten oder Gedenktage zu
zelebrieren, damit die einstigen Katastrophen nicht vergessen
werden. Mein Wunsch ist es, dass kommende Generationen
sich unseres wechselvollen zeitgeschichtlichen Erbes bewusst
werden - und zwar bevor es verblasst und es zu Rückfällen kommen
kann. Dafür ist es wichtig, die Irrwege und Irrtümer unserer
Vergangenheit zu kennen, so wie es der deutsch-jüdische
Kulturphilosoph Karl Popper auf die Frage nach dem Sinn der
Geschichte formuliert hat: Der Sinn bestünde darin, aus ihren
Irrtümern dauerhaft zu lernen. Meiner Meinung nach sind
Politik und Geschichte nicht voneinander zu trennen: Politik
bedarf immer auch geschichtlicher Bezüge, und Geschichte ist
zugleich das Ergebnis von Politik - und somit verpflichtender
Lernstoff.
Gelingen kann dies jedoch nur, wenn man die entsprechenden
Fehler kennt und benennt, und auch dazu möchte ich mit
meinen Berichten ein Scherflein beitragen. Nicht weil ich ein
ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hätte oder auf politischer
Besserwisserei bestehe, sondern weil für mich das »Dennoch-
Sagen« - im Sinne Max Webers - trotz aller Aufs und Abs im
eigenen Lebenslauf als Prüfstein für Politik als Lebensberuf unverzichtbar
ist.
Schließlich möchte ich, gemäß meiner persönlichen Befindlichkeit,
noch einen weiteren Grund für meine Erfahrungsberichte
hinzufügen: Viel zu lange war Politik ausschließlich Sache
von Männern, auch war es ihr Privileg, sie zu deuten. Da nun
aber zum Glück Frauen begonnen haben, sich politisch einzumischen,
ist auch die Interpretation ihrer Sichtweise unverzichtbar
geworden. Auch dazu möchte ich beitragen, dass künftig nicht
nur Männer, sondern auch Frauen ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen,
selbst wenn sie kritischer Art sind, aufarbeiten.
Insgesamt war ich achtunddreißig Jahre Volksvertreterin
mit einem Mandat, das ich erstmals 1948, als Stadtratskandidatin
der Münchner FDP, errungen habe: Davon war ich zweiundzwanzig
Jahre Abgeordnete im Bayerischen Landtag, vierzehn
Jahre im Deutschen Bundestag, elf Jahre Mitglied von Regierungen,
davon fünf Jahre Staatssekretärin für Bildung und Wissenschaft
in Hessen und Bonn und sechs Jahre Staatsministerin
im Auswärtigen Amt. Dies ist meine Legitimation für die Behauptung,
dass ich unsere repräsentative Demokratie »von der
Pike auf« kennengelernt habe und über ihren Ist-Zustand Rechenschaft
abzulegen vermag. Dazu sollen auch die im Anhang
beigefügten vier Texte beitragen, die ich aus ungezählten ausgewählt
habe, weil sie wichtige Stationen in meiner politischen
Lebensbilanz belegen.
Dabei bin ich mir bewusst, dass gerade ein neues politisches,
technologisches und demographisches Zeitalter anbricht, das uns
und unsere Demokratien im Westen und vor allem in Europa vor
neue Herausforderungen und Bewährungsproben stellt.
Demokratie und Freiheit sind lebensgestaltende Werte.
Als der Krieg zu Ende ging - auf dem Weg in die Freiheit.
1
Über Glück und Enttäuschungen der ersten Nach-Hitler-Zeit
Als der Krieg 1945 zu Ende ging, war ich knapp vierundzwanzig
Jahre alt. Eine junge Frau, die nach zwölf Jahren vielfacher
Drangsal, Diskriminierungen und Gefährdungen durch die
Nürnberger Rassengesetze endlich ein angstfreies Leben führen
konnte. Welch ein Glück! Es wurden keine Bomben mehr
abgeworfen, es gab kein Blutvergießen mehr und - fast symbolisch
- keine Verdunkelung. Ich spürte die Vorfreude, was es
heißt, von nun an fröhlich und zuversichtlich sein zu dürfen. Ich
hatte überlebt,und darüber waren alle Nachkriegsnöte,Trümmer
und Mängel leicht zu ertragen. Nie wieder in meinem Leben,
ausgenommen bei der Geburt meiner beiden Kinder, war ich so
glücklich und dankbar wie nach der Befreiung durch die Sieger.
Große Sorgen machte ich mir nur um meine beiden Brüder,
die im thüringischen Zwangsarbeitslager Rositz inhaftiert waren.
Ein Jahr zuvor hatte man sie dorthin gebracht. Auch ängstigte ich
mich um einen Studienfreund, der in Stalingrad verschollen war
und es für immer blieb. Meine Brüder kehrten erst Wochen nach
Kriegsende ausgemergelt, aber tatenfroh zurück und holten ihre
zwangsweise unterbrochene Schul-beziehungsweise Studienzeit
nach.
Kriegsende in Starnberg
Mein eigenes Kriegsende erlebte ich Anfang Mai 1945 in Starnberg,
wo ich, nachdem ich in München mehrfach ausgebombt
worden war, mit den Resten meiner Habe ein kleines Zimmer
mit einem Kachelofen bei einer fürsorglichen Schneidermeis-
terin bewohnte, die mich rührend mit Brennholz und Kartoffelsuppe
versorgte und mir in ihrem Garten ein Gemüsebeet überließ.
So hatte ich die Kriegsjahre physisch einigermaßen gut
überstanden und sogar die Vorbereitung für mein mündliches
Doktorexamen in Tag-und Nachtarbeit geschafft, allerdings
mithilfe von kleinen Dosen des Aufputschmittels Pervitin, das
von Luftwaffenpiloten zur Leistungs-und Konzentrationssteigerung
eingenommen wurde.
Als die Amerikaner im Anmarsch auf Starnberg waren, besser
gesagt ihre Panzer heranrollten, wurde vor unserem Haus in der
Hanfelder Straße von »werwolfverpflichteten« Männern eine
Panzersperre errichtet. (»Reichsführer SS« Heinrich Himmler
hatte ab September 1944 sogenannte Werwolf-Kampftruppen
aufstellen lassen, deren Aufgabe es war, Sabotageakte zu verüben.)
Die bestand in diesem Fall aus einer aufgerissenen Straße und
drei mageren Baumstämmen. Wir Anwohner bekamen von einer
Werwolf-Führerin die Order, im Waschkessel heißes Wasser bereitzuhalten,
um mit Hilfe einer Eimerkette bei der Einfahrt des
Feindes, sollte er vor der Sperre stoppen, dieses oben in die Panzer
zu schütten. Selbstverständlich dachten wir nicht daran, das zu
tun. Auch waren die dünnen Baumstämmchen für die Panzer
ohnehin kein Hindernis; es machte einen kleinen Knacks, und
schon rollten sie ungestört in das nun mit weißen Betttüchern
oder weiß-blau - also bayerisch - geflaggte Starnberg in Richtung
Marktplatz. Dort spendierte der Bäcker für Sieger und Besiegte
wässriges Eis und Roggenkekse ohne Brotmarken. Finis Germaniae!
Natürlich blieb es nicht bei diesem fast operettenartigen
Kriegsende. In Starnberg nicht und auch nicht anderswo: Man
beschlagnahmte Häuser, verhängte Sperrstunden, es gab Ausgehverbote.
Nazis wurden verhaftet. Natürlich wollte keiner ein
Nationalsozialist gewesen sein, und zu Juden hatte man sich immer
freundlich verhalten! Die Nazizeit aber wollten - nicht nur
die Starnberger - möglichst rasch vergessen. Schon in den nächsten
Tagen erlebte ich erste Kostproben dieser Wandlung. Be
schwingt schlenderte ich bei meinem ersten »Freigang« durch
die vertrauten Straßen und bedachte alte Bekannte mit einem
ungewohnten »Grüß Gott«. Weit und breit waren keine Braunhemden
mehr zu sehen. Wo wohl die Wehrwolf-Führerin und
ihre Mitstreiter geblieben waren?
Vor einem Lebensmittelgeschäft war eine kleine Menschenansammlung
nicht zu übersehen. Ein Trüppchen ausgemergelter
Gestalten in zerschlissener KZ-Kleidung drängte in den Laden
und wurde von umstehenden Starnbergern ganz und gar nicht
mitleidig begrüßt. »So ein Gesindel hat der Hitler ja wohl zu
Recht eingesperrt« war noch der harmloseste Kommentar. Einige
amerikanische Soldaten kamen den Ex-KZlern zu Hilfe und versorgten
sie mit Candies. Ein paar Einheimische schämten sich für
das Verhalten der Bevölkerung, jedoch nur wenige. Ähnliche Szenen
gab es auch in anderen Gemeinden rund um den Starnberger
See, wo die Güterzüge mit verelendeten Konzentrationslagerhäftlingen
aus Dachau stehen geblieben waren. Die Eingepferchten
erregten wenig Mitleid, von Unterstützung ganz zu schweigen.
Das Erschrecken hörte damit jedoch keineswegs auf. Als die
ersten Berichte über die von den Alliierten befreiten Konzentrationslager
bekannt wurden, schienen die Zustände, die dort geherrscht
hatten, unfassbar zu sein: die Leichenberge, die Überlebenden,
die am Verhungern waren, die Zustände in den Baracken,
die Stätten der Qualen und Folter. Eigentlich hätte das allein
genügen müssen, um die Bevölkerung ein für alle Mal vom Nationalsozialismus
zu heilen. Doch es genügte nicht.
Noch Jahrzehnte später, als Bürger dieser Ortschaften eine
Gedenkplakette für die Opfer dieser Barbarei gegen KZ-Häftlinge
anbringen wollten, weigerte sich zum Beispiel in Seeshaupt
jahrzehntelag eine Mehrheit der Gemeinderäte. Überhaupt: Den
anfänglichen Beteuerungen, niemals ein Nazi gewesen zu sein,
folgten wenige Beweise der Einsicht und der Bereitschaft zur
Wiedergutmachung. Schon damals empfand ich dies als kein
besonders ermutigendes Vorzeichen für eine aufrichtige Auseinandersetzung
mit der Hitler-Diktatur. Wie würden wir Deut-
schen nun damit umgehen, fragte ich mich. Ehrliche Einsicht
oder rasches Verdrängen?
Von meinem ersten »Freigang« ist noch der Besuch bei meinem
Doktorvater Heinrich Wieland nachzutragen; eigentlich
war es eine Suche. 1927 hatte er den Nobelpreis für Chemie erhalten,
später wurde er Direktor des Chemischen Staatsinstituts
der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Wieland war
einer der wenigen widerständigen Professoren, die den sogenannten
»Nichtariern« geholfen hatten. Als 1943 Studenten des
Widerstandskreises Weiße Rose verhaftet wurden, schützte er
mich, bewahrte mich vor Verhören, vielleicht sogar vor Schlimmerem.
Als Nobelpreisträger und »kriegswichtiger« Forscher auf
dem Gebiet von Giftstoffen und Hormonen galt er als sakrosankt.
Zwar wurde ich als »Halbjüdin« von der Universität
zwangsexmatrikuliert, Wieland behielt mich aber sozusagen privat
als Doktorandin und zahlte mir sogar ein kleines Stipendium,
wahrscheinlich aus eigener Tasche. Auf diese Weise überstand
ich weitere Nachprüfungen und konnte meine experimentelle
Arbeit über Vitamine in Hefemutterlaugen abschließen, die zur
Herstellung von Vitaminpräparaten wichtig waren.
Wenn es an jeder deutschen Universität nur eine Handvoll
so integrer Wissenschaftler vom Schlage Wielands gegeben
hätte, so wären diese vormaligen Elite-Einrichtungen keine so
willigen Vollstrecker von Hitlers Wissenschafts-und Hochschulpolitik
geworden. Wielands Institut ist immer eine Oase der
Anständigkeit geblieben, und ich hatte das große Glück, dort
studieren und überleben zu dürfen. Aus Dankbarkeit und Anhänglichkeit
hatte ich Starnberg zu meinem Ausweichquartier
gemacht, denn dort hatte Wieland sein Sommerhaus.
Nun also stand ich vor seinem Haus in der Schießstättstraße,
aus dem Jazzmusik und Gelächter dröhnte. Der Zugang war abgesperrt,
und auf meine in holprigem Schulenglisch formulierte
Frage, wo denn der Professor sei, deutete ein GI mit dem Daumen
die Treppe hinunter: »The old man? Downstairs!« Ja, dort saß
der couragierte alte Herr im Kohlenkeller mit seiner Frau und
wartete darauf, von seinen Kindern abgeholt zu werden, da man
sein Haus konfisziert hatte. Zum ersten Mal seit ich ihn kannte
begrüßte er mich mit einem sarkastisch-humorigen »Heil Hitler,
Fräulein Brücher«. Nach einer Schrecksekunde lachten wir schallend,
und ich versuchte den amerikanischen Soldaten radebrechend
zu erklären, dass the old man ein weltberühmter Nobelpreisträger
sei, ein mutiger Anti-Nazi, der zudem am Grünen
Star leide und äußerst gebrechlich sei. Das beeindruckte sie zwar
nicht besonders, doch Wieland konnte alsbald zu seinen Kindern
ziehen, bis sein Haus wieder freigegeben wurde. Hier hatte es
wirklich den Falschen getroffen.
Erste Ernüchterung
Das Kriegsende wurde von den Deutschen höchst unterschiedlich
erlebt. Wie jedoch hätte es anders sein können? Wir hatten
diesen grausamen Krieg, der Europa in Schutt und Asche gelegt
und der den Tod von Millionen unschuldiger Menschen verschuldet
hatte, zu verantworten. Oft hatte ich das Gefühl, dass
die meisten Deutschen gar nicht verstehen wollten, warum man
sie nun, ohne Ansehen der Person, dafür in die Pflicht und Verantwortung
nahm. So beklagten sie ihr persönliches Elend meist
lauter als das politische und zerstörerische Unheil, das wir über
die Menschen und Völker Europas gebracht hatten. Selten erlebte
ich, nun, da wir von der Diktatur und dem Unrechtsstaat
befreit waren, eine Bereitschaft, das Geschehen aufzuarbeiten,
seine Ursachen zu ergründen und zu bereuen. Stattdessen hörte
ich häufiges Zetern und Jammern. Und weil man dies jetzt ungestraft
tun durfte, tat man bei jedem Ärgernis im Brustton der
Überzeugung kund: »Und das soll Demokratie sein?«
Wir waren in den Anfängen der Nach-Hitler-Zeit mit wenigen
Ausnahmen kein schuldbewusstes, reumütiges und um
Aufklärung bemühtes Volk, sondern überwiegend mit den eigenen
Nachkriegslasten beschäftigt und von persönlichen Be-
schwernissen absorbiert. Nein, die meisten waren nicht zu radikaler
Umkehr bereit, auch konnten oder wollten sie das Ausmaß
der persönlichen und kollektiven Schuld nicht ermessen. Die
Deutschen waren zwar durch die Siegermächte von den Exzessen
des Nationalsozialismus erlöst, aber ansonsten konnten sie sich
weder eine pluralistische Demokratie vorstellen noch eine konsequente
Abkehr vom obrigkeitsstaatlichen Denken und von rassistischer
Überheblichkeit.
Als ich fünfundsechzig Jahre später Starnberger Gymnasiasten
von den Erfahrungen erzählte, die ich bei Kriegsende in ihrer
Stadt gemacht hatte, schauten sie mich ungläubig an. Von all
dem hatten sie noch nie etwas gehört, und das fand ich bedauerlich:
Sogar die selbst erlebte Zeitgeschichte haben Eltern und
Großeltern nicht an ihre Kinder und Enkel weitergegeben. Es
hätte sicher dazu beigetragen, den mühsamen Weg aus der Nazi-
Diktatur in eine freiheitliche Demokratie anschaulich zu vermitteln.
Wie stand es nach Kriegsende um mich? Bereits 1943 hatte
ich ja den Entschluss gefasst, dass ich, falls ich die Nazizeit überstehen
sollte, dazu beitragen wollte, dass sich ein Unrechts- und
Terrorregime in Deutschland nie wiederholen könne. Diese Entscheidung
stand vor allem im Zusammenhang mit dem Freitod
meiner geliebten Großmutter, bei der wir fünf »Brücher-Waisen«
nach dem frühen Tod der Eltern 1933 ein Zuhause gefunden hatten.
Nun sollte sie nach Theresienstadt deportiert werden, da
sie - obgleich lebenslang Christin - nach den NS-Rassegesetzen
als Jüdin eingestuft wurde. Vor ihrem Abtransport nahm sie
sich - fast 80-jährig - mit Schlaftabletten das Leben.
Bei meinem Vorsatz hatte aber auch der Widerstand und
Mut der Studenten der Weißen Rose eine Rolle gespielt, und auch
die Hilfe meines Doktorvaters. Dies alles verstand ich nach
Kriegsende als eine Art Vermächtnis und wollte es zur Richtschnur
meines politischen Denkens und Handelns machen. Wie
aber konnte das gelingen?
Anfänge in Freiheit
Der erste Friedenssommer überbot sich an Sonnenschein, Blumen
und Früchten. Priorität hatte jedoch die Vorsorge für das
Lebensnotwendigste, was großes Improvisationstalent erforderte:
Wir trockneten Brotvorräte, machten die reiche Himbeerernte
in leeren Bierflaschen ein, fällten kleine Bäume und hackten
Holz für den Winter. Ich kochte eigenhändig Seife und
Süßstoff, destillierte vergällten Alkohol und vermischte ihn mit
gehamsterten Eiern zu Eierlikör, der reißenden Absatz fand. Das
erbrachte kleine Geldbeträge oder andere notwendige Dinge.
Doch damit konnte ich meine heimgekehrten Brüder und meine
jüngere Schwester nicht ernähren. Wie sollte ich es schaffen, dass
sie ihre Ausbildungen fortsetzen konnten?
Es gab nur eine Möglichkeit: Ein Broterwerb musste her,
und genau darum ging es mir in der zweiten Jahreshälfte 1945.
Die Chemie war keine Perspektive mehr, sie war von den Alliierten
als Forschung verboten worden. Aber wenn ich mit meinem
Examen nicht Wissenschaftlerin werden konnte, vielleicht
vermochte ich damit anderweitig zu punkten? »Versuch's doch
mal bei der amerikanischen Neuen Zeitung (NZ) mit freier Mitarbeit
über naturwissenschaftliche Themen«, riet mein Bruder,
der später Kunstbuchverleger wurde. Die Idee gefiel mir, und
dank meines blütenweißen Fragebogens hinsichtlich meiner politischen
Vergangenheit, meines Doktortitels und meiner »rassischen
Verfolgung« während der NS-Zeit wollte man einen Versuch
mit mir wagen. »Schreiben Sie doch mal über den jüdischen
Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber«, so lautete der
Probeauftrag. Im Keller des Deutschen Museums in München
machte ich dazu Literatur ausfindig und schrieb eine halbe Doktorarbeit,
die Wochen später als kleiner Zweispalter mit dem
Titel »Leben und Werk Fritz Habers, von Hildegard Brücher«
in der NZ erschien. Danach folgten weitere Aufträge, bei denen
ich den Lesern erklärte: Was ist Penicillin? Was ist DDT-Puder?
Was ist die Atomspaltung?
Im Frühjahr 1946 wurde ich für 800 Reichsmark Gehalt und
täglich ein warmes Essen als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei
der Zeitung fest angestellt. Mein zuständiger Chef war mein
Kinderschwarm Erich Kästner, der das Feuilleton leitete. Er und
seine Lebensgefährtin, die Redakteurin Luiselotte Enderle,
brachten mir das journalistische Handwerk bei, und mit einem
für die NZ beschlagnahmten Fiat-Zweisitzer mit Stoffdach fuhren
wir an den Wochenenden aufs Land, um ihre Freunde zu
besuchen und ein wenig zu hamstern. Wir hatten zu dritt viel
Spaß, bis Kästner die Arbeit als Feuilletonchef aufgab und wieder
zu schreiben begann.
Mit Hilfe seiner und Luiselotte Enderles Exerzitien durfte
ich mich auch bald an Reportagen wagen und an den täglichen
Redaktionskonferenzen teilnehmen. Mit drei Artikeln erregte
ich Aufsehen, darunter ein Interview mit den Atomphysikern
Otto Hahn und Werner Heisenberg, die nach ihrer Internierung
in der Nähe von Cambridge aus England zurückgekommen waren.
Mit ihnen sprach ich über den Stand der deutschen Atomforschung.
Im zweiten Beitrag berichtete ich unter der Überschrift
»Ein Wall gegen Hass und Not« über das Engagement
von Inge Scholl, der Schwester von Sophie und Hans, die wegen
ihrer Zugehörigkeit zur Weißen Rose hingerichtet worden
waren, wie auch der Mutter Magdalena Scholl, die in der Flüchtlingshilfe
rastlos tätig war.
Der dritte Artikel war eine Darstellung der materiellen
Schwierigkeiten in der von den beiden anderen Westzonen hermetisch
abgeschlossenen Französischen Besatzungszone. Er trug
den Titel: »Hinter dem seidenen Vorhang«. Nachdem der Beitrag
gedruckt war, gab es einen Protest im Alliierten Kontrollrat
und ein kurzzeitiges Verbot der NZ in der Französischen Zone.
Das war meine erste außenpolitische Verwicklung.
Und auch sonst begann ich mich für das erwachende politische
Leben zu interessieren. Parteien wurden neu oder wieder
gegründet; ich besuchte sämtliche Veranstaltungen in München,
die von Mitgliedern improvisiert wurden, und entschied mich für
die Freie Demokratische Partei. Denn »Freiheit« war ihr und
mein Losungswort.
Außerdem nahm ich an Treffen teil, bei denen es um erste
christlich-jüdische Kontakte ging. Ich besuchte politische Vorträge
in dem im Oktober 1945 eröffneten Amerika Haus in München
oder Diskussionen in den von Kirchen neu errichteten Akademien.
Durch Hans Werner Richter bekam ich Zugang zur berühmten
Gruppe 47, die sich mit der Erneuerung der deutschen
Literatur nach der Nazidiktatur auseinandersetzte. Kurzum: Ich
nahm alles wahr, was früher verboten war.
Politik beschäftigte die meisten Menschen damals wenig.
Hierzu ein anschauliches Beispiel vom Besuch meiner ersten
Wahlversammlung im ländlichen Oberbayern: Die ersten kommunalen
Wahlen sollten in dieser Region bereits im Frühjahr
1946 stattfinden, in den Städten folgten sie erst im Laufe des
Jahres. Der Zufall wollte es, dass mich der damalige Münchner
Oberbürgermeister Karl Scharnagl einlud, an einer Fahrt zu
einigen Veranstaltungen der Bayerischen Christlich-Sozialen
Union (CSU) an einem Sonntagnachmittag teilzunehmen. Vor
der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte er der BVP
angehört, der Bayerischen Volkspartei, bis er 1933 sein damaliges
Amt als Oberbürgermeister niederlegen musste, kurzfristig im
Konzentrationslager Dachau inhaftiert war, schließlich in seinem
erlernten Beruf als Bäcker überlebte.
Abgesehen von dem jeweiligen Dorfpfarrer, der uns mit Hilfe
seiner Haushälterin bei dieser Wahlkampftour großzügig - sogar
mit Schlagrahm, damals einer Rarität - bewirtete, erschienen zu
den Versammlungen immer nur einige ehemalige BVP-Freunde
von Scharnagl, die auf Urbayrisch schimpften. Scharnagl beschwor
sie, dass es wichtig sei, einen christlichen Gemeinderat
zu wählen, das sei doch schon ein großer Fortschritt. Mehr gab
es nicht zu debattieren. Kein Wort über Frauen und Politik. Das
aber hätte mich am meisten interessiert, da wir Frauen über das
Wahlrecht unsere Zukunft immerhin mitbestimmen konnten.
Erste Auflage April 2011
Copyright © 2011 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, HamburgLektorat: Regina Carstensen, MünchenSatz: Ditta Ahmadi, Berlin
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany 2011ISBN 978-3-88680-985-1
www.siedler-verlag.de
Dafür habe ich mehrere Gründe. So habe ich in der Nach-
Hitler-Zeit Erfahrungen gesammelt, die meiner Meinung nach
für die politische Bewusstseinsbildung kommender Generationen
wissenswert sind. Es sind Erfahrungen über unsere Demokratiewerdung
auf den Trümmern der Nazi-Diktatur, über die
langwierige und schwierige Abkehr von Obrigkeitsstaat und traditioneller
Untertanengesinnung. Dies schließt auch die Auseinandersetzung
mit der Hitler-Diktatur ein, die mit einer überwiegend
missglückten Entnazifizierung sowie einer verzögerten,
teilweise unzulänglichen Wiedergutmachung der Opfer des nationalsozialistischen
Terrors verbunden ist. Aus eigenem Erleben
schildere ich die Ursachen für Versäumnisse und Verspätungen
bei überfälligen Reformen, insbesondere in der Bildungs-und
Gesellschaftspolitik, und als ehemaliges FDP-Mitglied habe ich
etliche Stationen des Glanzes und Elends des politischen Liberalismus
miterlebt. Auch beschäftigten und beschäftigen mich
noch immer die Probleme anlässlich der Wiedervereinigung des
vierzig Jahre geteilten deutschen Staates; und nicht zuletzt kann
ich auch auf sechs Jahrzehnte Politik als Frauenberuf zurückblicken,
in denen sich in jeder Hinsicht viel getan hat.
All das sind Erfahrungen und Entwicklungen, die ich gegen
Geschichtsvergessenheit, ja Geschichtslosigkeit setzen möchte.
Diese, unsere Geschichtsvergessenheit halte ich nicht nur bei
nachwachsenden, sondern auch bei in Verantwortung stehenden
Generationen für besorgniserregend: Immer mehr Deutsche wissen
immer weniger von historischen Geschehnissen der jüngsten
Vergangenheit, weshalb es ihnen auch nicht möglich ist, zu beurteilen,
wie diese im gegenwärtigen und künftigen politischen
Geschehen weiterwirken. Besonders ist das der Fall, wenn es die
dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit betrifft, die oftmals
unterschwellig fortwirken. Diese Geschichtsvergessenheit wird
wahrscheinlich dann weiter zunehmen, wenn die letzten Zeugen
der Nazizeit gestorben sind und ihre mahnende Erinnerung verstummt.
Meine zeitgeschichtliche Rückschau will dagegenhalten. Sie
erfolgt als pragmatisch-politische Berichterstattung, nicht als
wissenschaftliche Aufarbeitung, und ist nur dann biographisch,
wenn es zur Thematik gehört. Sie soll informieren und aufklären,
aber auch Wertungen einer freischaffenden liberalen Politikerin
anbieten.
Damit möchte ich Interesse für die Vorgeschichte von aktuellen
politischen Zusammenhängen wecken, wenn es etwa um
das Wiederaufleben von Rechtsextremismus, Rassismus und
Antisemitismus geht. Ein weiteres Thema ist die aktuell grassierende
Politik(er)-und Demokratieverdrossenheit, die eine
erschreckende Entfremdung zwischen Gesellschaft und demo-
kratischen Institutionen zur Folge hat. Gemeint sind damit Parteien
und Parlamente. Diese Verdrossenheit ist nicht »vom
Himmel gefallen«, sondern Ergebnis einer traditionellen Abneigung
der Deutschen gegen Parteien und demokratische Prozesse,
die neuerlich wieder stärker aufgebrochen ist. Nur wenn
man diese bedenkliche Entwicklung und ihre Wurzeln erkennt,
kann sie überwunden werden. Das gilt ebenso für das notwendige
Fingerspitzengefühl in internationalen Beziehungen. Ich
greife hier den Nahost-Konflikt als Beispiel heraus: Um zu verstehen,
weshalb die Erinnerungen an den Holocaust und die
Nazi-Verbrechen in der westlichen Welt weiterschwelen und
gelegentlich von Neuem aufbrechen, ist es erforderlich, diese
Zusammenhänge zu kennen.
Zudem möchte ich mit meinen Berichten aber auch einen
Beitrag für die Zukunft einer Erinnerungskultur leisten. Es genügt
nicht, Gedenkstätten zu errichten oder Gedenktage zu
zelebrieren, damit die einstigen Katastrophen nicht vergessen
werden. Mein Wunsch ist es, dass kommende Generationen
sich unseres wechselvollen zeitgeschichtlichen Erbes bewusst
werden - und zwar bevor es verblasst und es zu Rückfällen kommen
kann. Dafür ist es wichtig, die Irrwege und Irrtümer unserer
Vergangenheit zu kennen, so wie es der deutsch-jüdische
Kulturphilosoph Karl Popper auf die Frage nach dem Sinn der
Geschichte formuliert hat: Der Sinn bestünde darin, aus ihren
Irrtümern dauerhaft zu lernen. Meiner Meinung nach sind
Politik und Geschichte nicht voneinander zu trennen: Politik
bedarf immer auch geschichtlicher Bezüge, und Geschichte ist
zugleich das Ergebnis von Politik - und somit verpflichtender
Lernstoff.
Gelingen kann dies jedoch nur, wenn man die entsprechenden
Fehler kennt und benennt, und auch dazu möchte ich mit
meinen Berichten ein Scherflein beitragen. Nicht weil ich ein
ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hätte oder auf politischer
Besserwisserei bestehe, sondern weil für mich das »Dennoch-
Sagen« - im Sinne Max Webers - trotz aller Aufs und Abs im
eigenen Lebenslauf als Prüfstein für Politik als Lebensberuf unverzichtbar
ist.
Schließlich möchte ich, gemäß meiner persönlichen Befindlichkeit,
noch einen weiteren Grund für meine Erfahrungsberichte
hinzufügen: Viel zu lange war Politik ausschließlich Sache
von Männern, auch war es ihr Privileg, sie zu deuten. Da nun
aber zum Glück Frauen begonnen haben, sich politisch einzumischen,
ist auch die Interpretation ihrer Sichtweise unverzichtbar
geworden. Auch dazu möchte ich beitragen, dass künftig nicht
nur Männer, sondern auch Frauen ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen,
selbst wenn sie kritischer Art sind, aufarbeiten.
Insgesamt war ich achtunddreißig Jahre Volksvertreterin
mit einem Mandat, das ich erstmals 1948, als Stadtratskandidatin
der Münchner FDP, errungen habe: Davon war ich zweiundzwanzig
Jahre Abgeordnete im Bayerischen Landtag, vierzehn
Jahre im Deutschen Bundestag, elf Jahre Mitglied von Regierungen,
davon fünf Jahre Staatssekretärin für Bildung und Wissenschaft
in Hessen und Bonn und sechs Jahre Staatsministerin
im Auswärtigen Amt. Dies ist meine Legitimation für die Behauptung,
dass ich unsere repräsentative Demokratie »von der
Pike auf« kennengelernt habe und über ihren Ist-Zustand Rechenschaft
abzulegen vermag. Dazu sollen auch die im Anhang
beigefügten vier Texte beitragen, die ich aus ungezählten ausgewählt
habe, weil sie wichtige Stationen in meiner politischen
Lebensbilanz belegen.
Dabei bin ich mir bewusst, dass gerade ein neues politisches,
technologisches und demographisches Zeitalter anbricht, das uns
und unsere Demokratien im Westen und vor allem in Europa vor
neue Herausforderungen und Bewährungsproben stellt.
Demokratie und Freiheit sind lebensgestaltende Werte.
Als der Krieg zu Ende ging - auf dem Weg in die Freiheit.
1
Über Glück und Enttäuschungen der ersten Nach-Hitler-Zeit
Als der Krieg 1945 zu Ende ging, war ich knapp vierundzwanzig
Jahre alt. Eine junge Frau, die nach zwölf Jahren vielfacher
Drangsal, Diskriminierungen und Gefährdungen durch die
Nürnberger Rassengesetze endlich ein angstfreies Leben führen
konnte. Welch ein Glück! Es wurden keine Bomben mehr
abgeworfen, es gab kein Blutvergießen mehr und - fast symbolisch
- keine Verdunkelung. Ich spürte die Vorfreude, was es
heißt, von nun an fröhlich und zuversichtlich sein zu dürfen. Ich
hatte überlebt,und darüber waren alle Nachkriegsnöte,Trümmer
und Mängel leicht zu ertragen. Nie wieder in meinem Leben,
ausgenommen bei der Geburt meiner beiden Kinder, war ich so
glücklich und dankbar wie nach der Befreiung durch die Sieger.
Große Sorgen machte ich mir nur um meine beiden Brüder,
die im thüringischen Zwangsarbeitslager Rositz inhaftiert waren.
Ein Jahr zuvor hatte man sie dorthin gebracht. Auch ängstigte ich
mich um einen Studienfreund, der in Stalingrad verschollen war
und es für immer blieb. Meine Brüder kehrten erst Wochen nach
Kriegsende ausgemergelt, aber tatenfroh zurück und holten ihre
zwangsweise unterbrochene Schul-beziehungsweise Studienzeit
nach.
Kriegsende in Starnberg
Mein eigenes Kriegsende erlebte ich Anfang Mai 1945 in Starnberg,
wo ich, nachdem ich in München mehrfach ausgebombt
worden war, mit den Resten meiner Habe ein kleines Zimmer
mit einem Kachelofen bei einer fürsorglichen Schneidermeis-
terin bewohnte, die mich rührend mit Brennholz und Kartoffelsuppe
versorgte und mir in ihrem Garten ein Gemüsebeet überließ.
So hatte ich die Kriegsjahre physisch einigermaßen gut
überstanden und sogar die Vorbereitung für mein mündliches
Doktorexamen in Tag-und Nachtarbeit geschafft, allerdings
mithilfe von kleinen Dosen des Aufputschmittels Pervitin, das
von Luftwaffenpiloten zur Leistungs-und Konzentrationssteigerung
eingenommen wurde.
Als die Amerikaner im Anmarsch auf Starnberg waren, besser
gesagt ihre Panzer heranrollten, wurde vor unserem Haus in der
Hanfelder Straße von »werwolfverpflichteten« Männern eine
Panzersperre errichtet. (»Reichsführer SS« Heinrich Himmler
hatte ab September 1944 sogenannte Werwolf-Kampftruppen
aufstellen lassen, deren Aufgabe es war, Sabotageakte zu verüben.)
Die bestand in diesem Fall aus einer aufgerissenen Straße und
drei mageren Baumstämmen. Wir Anwohner bekamen von einer
Werwolf-Führerin die Order, im Waschkessel heißes Wasser bereitzuhalten,
um mit Hilfe einer Eimerkette bei der Einfahrt des
Feindes, sollte er vor der Sperre stoppen, dieses oben in die Panzer
zu schütten. Selbstverständlich dachten wir nicht daran, das zu
tun. Auch waren die dünnen Baumstämmchen für die Panzer
ohnehin kein Hindernis; es machte einen kleinen Knacks, und
schon rollten sie ungestört in das nun mit weißen Betttüchern
oder weiß-blau - also bayerisch - geflaggte Starnberg in Richtung
Marktplatz. Dort spendierte der Bäcker für Sieger und Besiegte
wässriges Eis und Roggenkekse ohne Brotmarken. Finis Germaniae!
Natürlich blieb es nicht bei diesem fast operettenartigen
Kriegsende. In Starnberg nicht und auch nicht anderswo: Man
beschlagnahmte Häuser, verhängte Sperrstunden, es gab Ausgehverbote.
Nazis wurden verhaftet. Natürlich wollte keiner ein
Nationalsozialist gewesen sein, und zu Juden hatte man sich immer
freundlich verhalten! Die Nazizeit aber wollten - nicht nur
die Starnberger - möglichst rasch vergessen. Schon in den nächsten
Tagen erlebte ich erste Kostproben dieser Wandlung. Be
schwingt schlenderte ich bei meinem ersten »Freigang« durch
die vertrauten Straßen und bedachte alte Bekannte mit einem
ungewohnten »Grüß Gott«. Weit und breit waren keine Braunhemden
mehr zu sehen. Wo wohl die Wehrwolf-Führerin und
ihre Mitstreiter geblieben waren?
Vor einem Lebensmittelgeschäft war eine kleine Menschenansammlung
nicht zu übersehen. Ein Trüppchen ausgemergelter
Gestalten in zerschlissener KZ-Kleidung drängte in den Laden
und wurde von umstehenden Starnbergern ganz und gar nicht
mitleidig begrüßt. »So ein Gesindel hat der Hitler ja wohl zu
Recht eingesperrt« war noch der harmloseste Kommentar. Einige
amerikanische Soldaten kamen den Ex-KZlern zu Hilfe und versorgten
sie mit Candies. Ein paar Einheimische schämten sich für
das Verhalten der Bevölkerung, jedoch nur wenige. Ähnliche Szenen
gab es auch in anderen Gemeinden rund um den Starnberger
See, wo die Güterzüge mit verelendeten Konzentrationslagerhäftlingen
aus Dachau stehen geblieben waren. Die Eingepferchten
erregten wenig Mitleid, von Unterstützung ganz zu schweigen.
Das Erschrecken hörte damit jedoch keineswegs auf. Als die
ersten Berichte über die von den Alliierten befreiten Konzentrationslager
bekannt wurden, schienen die Zustände, die dort geherrscht
hatten, unfassbar zu sein: die Leichenberge, die Überlebenden,
die am Verhungern waren, die Zustände in den Baracken,
die Stätten der Qualen und Folter. Eigentlich hätte das allein
genügen müssen, um die Bevölkerung ein für alle Mal vom Nationalsozialismus
zu heilen. Doch es genügte nicht.
Noch Jahrzehnte später, als Bürger dieser Ortschaften eine
Gedenkplakette für die Opfer dieser Barbarei gegen KZ-Häftlinge
anbringen wollten, weigerte sich zum Beispiel in Seeshaupt
jahrzehntelag eine Mehrheit der Gemeinderäte. Überhaupt: Den
anfänglichen Beteuerungen, niemals ein Nazi gewesen zu sein,
folgten wenige Beweise der Einsicht und der Bereitschaft zur
Wiedergutmachung. Schon damals empfand ich dies als kein
besonders ermutigendes Vorzeichen für eine aufrichtige Auseinandersetzung
mit der Hitler-Diktatur. Wie würden wir Deut-
schen nun damit umgehen, fragte ich mich. Ehrliche Einsicht
oder rasches Verdrängen?
Von meinem ersten »Freigang« ist noch der Besuch bei meinem
Doktorvater Heinrich Wieland nachzutragen; eigentlich
war es eine Suche. 1927 hatte er den Nobelpreis für Chemie erhalten,
später wurde er Direktor des Chemischen Staatsinstituts
der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Wieland war
einer der wenigen widerständigen Professoren, die den sogenannten
»Nichtariern« geholfen hatten. Als 1943 Studenten des
Widerstandskreises Weiße Rose verhaftet wurden, schützte er
mich, bewahrte mich vor Verhören, vielleicht sogar vor Schlimmerem.
Als Nobelpreisträger und »kriegswichtiger« Forscher auf
dem Gebiet von Giftstoffen und Hormonen galt er als sakrosankt.
Zwar wurde ich als »Halbjüdin« von der Universität
zwangsexmatrikuliert, Wieland behielt mich aber sozusagen privat
als Doktorandin und zahlte mir sogar ein kleines Stipendium,
wahrscheinlich aus eigener Tasche. Auf diese Weise überstand
ich weitere Nachprüfungen und konnte meine experimentelle
Arbeit über Vitamine in Hefemutterlaugen abschließen, die zur
Herstellung von Vitaminpräparaten wichtig waren.
Wenn es an jeder deutschen Universität nur eine Handvoll
so integrer Wissenschaftler vom Schlage Wielands gegeben
hätte, so wären diese vormaligen Elite-Einrichtungen keine so
willigen Vollstrecker von Hitlers Wissenschafts-und Hochschulpolitik
geworden. Wielands Institut ist immer eine Oase der
Anständigkeit geblieben, und ich hatte das große Glück, dort
studieren und überleben zu dürfen. Aus Dankbarkeit und Anhänglichkeit
hatte ich Starnberg zu meinem Ausweichquartier
gemacht, denn dort hatte Wieland sein Sommerhaus.
Nun also stand ich vor seinem Haus in der Schießstättstraße,
aus dem Jazzmusik und Gelächter dröhnte. Der Zugang war abgesperrt,
und auf meine in holprigem Schulenglisch formulierte
Frage, wo denn der Professor sei, deutete ein GI mit dem Daumen
die Treppe hinunter: »The old man? Downstairs!« Ja, dort saß
der couragierte alte Herr im Kohlenkeller mit seiner Frau und
wartete darauf, von seinen Kindern abgeholt zu werden, da man
sein Haus konfisziert hatte. Zum ersten Mal seit ich ihn kannte
begrüßte er mich mit einem sarkastisch-humorigen »Heil Hitler,
Fräulein Brücher«. Nach einer Schrecksekunde lachten wir schallend,
und ich versuchte den amerikanischen Soldaten radebrechend
zu erklären, dass the old man ein weltberühmter Nobelpreisträger
sei, ein mutiger Anti-Nazi, der zudem am Grünen
Star leide und äußerst gebrechlich sei. Das beeindruckte sie zwar
nicht besonders, doch Wieland konnte alsbald zu seinen Kindern
ziehen, bis sein Haus wieder freigegeben wurde. Hier hatte es
wirklich den Falschen getroffen.
Erste Ernüchterung
Das Kriegsende wurde von den Deutschen höchst unterschiedlich
erlebt. Wie jedoch hätte es anders sein können? Wir hatten
diesen grausamen Krieg, der Europa in Schutt und Asche gelegt
und der den Tod von Millionen unschuldiger Menschen verschuldet
hatte, zu verantworten. Oft hatte ich das Gefühl, dass
die meisten Deutschen gar nicht verstehen wollten, warum man
sie nun, ohne Ansehen der Person, dafür in die Pflicht und Verantwortung
nahm. So beklagten sie ihr persönliches Elend meist
lauter als das politische und zerstörerische Unheil, das wir über
die Menschen und Völker Europas gebracht hatten. Selten erlebte
ich, nun, da wir von der Diktatur und dem Unrechtsstaat
befreit waren, eine Bereitschaft, das Geschehen aufzuarbeiten,
seine Ursachen zu ergründen und zu bereuen. Stattdessen hörte
ich häufiges Zetern und Jammern. Und weil man dies jetzt ungestraft
tun durfte, tat man bei jedem Ärgernis im Brustton der
Überzeugung kund: »Und das soll Demokratie sein?«
Wir waren in den Anfängen der Nach-Hitler-Zeit mit wenigen
Ausnahmen kein schuldbewusstes, reumütiges und um
Aufklärung bemühtes Volk, sondern überwiegend mit den eigenen
Nachkriegslasten beschäftigt und von persönlichen Be-
schwernissen absorbiert. Nein, die meisten waren nicht zu radikaler
Umkehr bereit, auch konnten oder wollten sie das Ausmaß
der persönlichen und kollektiven Schuld nicht ermessen. Die
Deutschen waren zwar durch die Siegermächte von den Exzessen
des Nationalsozialismus erlöst, aber ansonsten konnten sie sich
weder eine pluralistische Demokratie vorstellen noch eine konsequente
Abkehr vom obrigkeitsstaatlichen Denken und von rassistischer
Überheblichkeit.
Als ich fünfundsechzig Jahre später Starnberger Gymnasiasten
von den Erfahrungen erzählte, die ich bei Kriegsende in ihrer
Stadt gemacht hatte, schauten sie mich ungläubig an. Von all
dem hatten sie noch nie etwas gehört, und das fand ich bedauerlich:
Sogar die selbst erlebte Zeitgeschichte haben Eltern und
Großeltern nicht an ihre Kinder und Enkel weitergegeben. Es
hätte sicher dazu beigetragen, den mühsamen Weg aus der Nazi-
Diktatur in eine freiheitliche Demokratie anschaulich zu vermitteln.
Wie stand es nach Kriegsende um mich? Bereits 1943 hatte
ich ja den Entschluss gefasst, dass ich, falls ich die Nazizeit überstehen
sollte, dazu beitragen wollte, dass sich ein Unrechts- und
Terrorregime in Deutschland nie wiederholen könne. Diese Entscheidung
stand vor allem im Zusammenhang mit dem Freitod
meiner geliebten Großmutter, bei der wir fünf »Brücher-Waisen«
nach dem frühen Tod der Eltern 1933 ein Zuhause gefunden hatten.
Nun sollte sie nach Theresienstadt deportiert werden, da
sie - obgleich lebenslang Christin - nach den NS-Rassegesetzen
als Jüdin eingestuft wurde. Vor ihrem Abtransport nahm sie
sich - fast 80-jährig - mit Schlaftabletten das Leben.
Bei meinem Vorsatz hatte aber auch der Widerstand und
Mut der Studenten der Weißen Rose eine Rolle gespielt, und auch
die Hilfe meines Doktorvaters. Dies alles verstand ich nach
Kriegsende als eine Art Vermächtnis und wollte es zur Richtschnur
meines politischen Denkens und Handelns machen. Wie
aber konnte das gelingen?
Anfänge in Freiheit
Der erste Friedenssommer überbot sich an Sonnenschein, Blumen
und Früchten. Priorität hatte jedoch die Vorsorge für das
Lebensnotwendigste, was großes Improvisationstalent erforderte:
Wir trockneten Brotvorräte, machten die reiche Himbeerernte
in leeren Bierflaschen ein, fällten kleine Bäume und hackten
Holz für den Winter. Ich kochte eigenhändig Seife und
Süßstoff, destillierte vergällten Alkohol und vermischte ihn mit
gehamsterten Eiern zu Eierlikör, der reißenden Absatz fand. Das
erbrachte kleine Geldbeträge oder andere notwendige Dinge.
Doch damit konnte ich meine heimgekehrten Brüder und meine
jüngere Schwester nicht ernähren. Wie sollte ich es schaffen, dass
sie ihre Ausbildungen fortsetzen konnten?
Es gab nur eine Möglichkeit: Ein Broterwerb musste her,
und genau darum ging es mir in der zweiten Jahreshälfte 1945.
Die Chemie war keine Perspektive mehr, sie war von den Alliierten
als Forschung verboten worden. Aber wenn ich mit meinem
Examen nicht Wissenschaftlerin werden konnte, vielleicht
vermochte ich damit anderweitig zu punkten? »Versuch's doch
mal bei der amerikanischen Neuen Zeitung (NZ) mit freier Mitarbeit
über naturwissenschaftliche Themen«, riet mein Bruder,
der später Kunstbuchverleger wurde. Die Idee gefiel mir, und
dank meines blütenweißen Fragebogens hinsichtlich meiner politischen
Vergangenheit, meines Doktortitels und meiner »rassischen
Verfolgung« während der NS-Zeit wollte man einen Versuch
mit mir wagen. »Schreiben Sie doch mal über den jüdischen
Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber«, so lautete der
Probeauftrag. Im Keller des Deutschen Museums in München
machte ich dazu Literatur ausfindig und schrieb eine halbe Doktorarbeit,
die Wochen später als kleiner Zweispalter mit dem
Titel »Leben und Werk Fritz Habers, von Hildegard Brücher«
in der NZ erschien. Danach folgten weitere Aufträge, bei denen
ich den Lesern erklärte: Was ist Penicillin? Was ist DDT-Puder?
Was ist die Atomspaltung?
Im Frühjahr 1946 wurde ich für 800 Reichsmark Gehalt und
täglich ein warmes Essen als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei
der Zeitung fest angestellt. Mein zuständiger Chef war mein
Kinderschwarm Erich Kästner, der das Feuilleton leitete. Er und
seine Lebensgefährtin, die Redakteurin Luiselotte Enderle,
brachten mir das journalistische Handwerk bei, und mit einem
für die NZ beschlagnahmten Fiat-Zweisitzer mit Stoffdach fuhren
wir an den Wochenenden aufs Land, um ihre Freunde zu
besuchen und ein wenig zu hamstern. Wir hatten zu dritt viel
Spaß, bis Kästner die Arbeit als Feuilletonchef aufgab und wieder
zu schreiben begann.
Mit Hilfe seiner und Luiselotte Enderles Exerzitien durfte
ich mich auch bald an Reportagen wagen und an den täglichen
Redaktionskonferenzen teilnehmen. Mit drei Artikeln erregte
ich Aufsehen, darunter ein Interview mit den Atomphysikern
Otto Hahn und Werner Heisenberg, die nach ihrer Internierung
in der Nähe von Cambridge aus England zurückgekommen waren.
Mit ihnen sprach ich über den Stand der deutschen Atomforschung.
Im zweiten Beitrag berichtete ich unter der Überschrift
»Ein Wall gegen Hass und Not« über das Engagement
von Inge Scholl, der Schwester von Sophie und Hans, die wegen
ihrer Zugehörigkeit zur Weißen Rose hingerichtet worden
waren, wie auch der Mutter Magdalena Scholl, die in der Flüchtlingshilfe
rastlos tätig war.
Der dritte Artikel war eine Darstellung der materiellen
Schwierigkeiten in der von den beiden anderen Westzonen hermetisch
abgeschlossenen Französischen Besatzungszone. Er trug
den Titel: »Hinter dem seidenen Vorhang«. Nachdem der Beitrag
gedruckt war, gab es einen Protest im Alliierten Kontrollrat
und ein kurzzeitiges Verbot der NZ in der Französischen Zone.
Das war meine erste außenpolitische Verwicklung.
Und auch sonst begann ich mich für das erwachende politische
Leben zu interessieren. Parteien wurden neu oder wieder
gegründet; ich besuchte sämtliche Veranstaltungen in München,
die von Mitgliedern improvisiert wurden, und entschied mich für
die Freie Demokratische Partei. Denn »Freiheit« war ihr und
mein Losungswort.
Außerdem nahm ich an Treffen teil, bei denen es um erste
christlich-jüdische Kontakte ging. Ich besuchte politische Vorträge
in dem im Oktober 1945 eröffneten Amerika Haus in München
oder Diskussionen in den von Kirchen neu errichteten Akademien.
Durch Hans Werner Richter bekam ich Zugang zur berühmten
Gruppe 47, die sich mit der Erneuerung der deutschen
Literatur nach der Nazidiktatur auseinandersetzte. Kurzum: Ich
nahm alles wahr, was früher verboten war.
Politik beschäftigte die meisten Menschen damals wenig.
Hierzu ein anschauliches Beispiel vom Besuch meiner ersten
Wahlversammlung im ländlichen Oberbayern: Die ersten kommunalen
Wahlen sollten in dieser Region bereits im Frühjahr
1946 stattfinden, in den Städten folgten sie erst im Laufe des
Jahres. Der Zufall wollte es, dass mich der damalige Münchner
Oberbürgermeister Karl Scharnagl einlud, an einer Fahrt zu
einigen Veranstaltungen der Bayerischen Christlich-Sozialen
Union (CSU) an einem Sonntagnachmittag teilzunehmen. Vor
der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte er der BVP
angehört, der Bayerischen Volkspartei, bis er 1933 sein damaliges
Amt als Oberbürgermeister niederlegen musste, kurzfristig im
Konzentrationslager Dachau inhaftiert war, schließlich in seinem
erlernten Beruf als Bäcker überlebte.
Abgesehen von dem jeweiligen Dorfpfarrer, der uns mit Hilfe
seiner Haushälterin bei dieser Wahlkampftour großzügig - sogar
mit Schlagrahm, damals einer Rarität - bewirtete, erschienen zu
den Versammlungen immer nur einige ehemalige BVP-Freunde
von Scharnagl, die auf Urbayrisch schimpften. Scharnagl beschwor
sie, dass es wichtig sei, einen christlichen Gemeinderat
zu wählen, das sei doch schon ein großer Fortschritt. Mehr gab
es nicht zu debattieren. Kein Wort über Frauen und Politik. Das
aber hätte mich am meisten interessiert, da wir Frauen über das
Wahlrecht unsere Zukunft immerhin mitbestimmen konnten.
Erste Auflage April 2011
Copyright © 2011 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, HamburgLektorat: Regina Carstensen, MünchenSatz: Ditta Ahmadi, Berlin
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany 2011ISBN 978-3-88680-985-1
www.siedler-verlag.de
... weniger
Autoren-Porträt von Hildegard Hamm-Brücher
Hildegard Hamm-Brücher ist eine der bedeutendsten Frauen der deutschen Politik seit 1945. Die langjährige Abgeordnete, Staatsministerin und Präsidentschaftskandidatin mischte sich auch nach dem Ausscheiden aus ihren Ämtern immer wieder vernehmbar in gesellschaftliche und politische Debatten ein. Für ihr Engagement, vor allem in Demokratie- und Bildungsfragen, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Die in München lebende Politikerin hat zahlreiche Bücher geschrieben und herausgegeben. Sie verstarb im Dezember 2016.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hildegard Hamm-Brücher
- 2011, 175 Seiten, mit Abbildungen, Masse: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Siedler
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2000000080376
- Erscheinungsdatum: 25.04.2011
Rezension zu „Und dennoch... “
»Ein lesenswertes Buch, gerade zum 90. Geburtstag dieser beeindruckenden Persönlichkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte.«
Kommentar zu "Und dennoch..."
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