Trenow, L: Kastanienhaus
Roman. Deutsche Erstausgabe
England 1938: Mitten im Zweiten Weltkrieg verliebt sich die junge Lily in den deutschen Flüchtling Stephan. Eine unmögliche Liebe zu Kriegszeiten. Stephan wird des Landes verwiesen und Lily begeht einen fatalen Fehler.
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Produktinformationen zu „Trenow, L: Kastanienhaus “
England 1938: Mitten im Zweiten Weltkrieg verliebt sich die junge Lily in den deutschen Flüchtling Stephan. Eine unmögliche Liebe zu Kriegszeiten. Stephan wird des Landes verwiesen und Lily begeht einen fatalen Fehler.
Klappentext zu „Trenow, L: Kastanienhaus “
Eine verbotene Liebe, eine unheilvolle Entscheidung, ein dunkles Geheimnis ...England 1938: Lily Verner ist jung, lebenslustig und will etwas von der Welt sehen, doch der heraufziehende Zweite Weltkrieg macht ihre Reisepläne zunichte. Stattdessen arbeitet sie in der väterlichen Seidenweberei. Dort verliebt Lily sich in den deutschen Flüchtling Stephan - eine unmögliche Liebe in Kriegszeiten. Stephan wird des Landes verwiesen, und Lily bleibt nur die drückende Verantwortung für die Produktion der kriegswichtigen Fallschirmseide, die seit dem Tod des Vaters allein auf ihren Schultern lastet. Eine Verantwortung, die zu einem fatalen Fehler führt, der Lilys Leben für immer verändern wird ...
Lese-Probe zu „Trenow, L: Kastanienhaus “
Das Kastanienhaus von Liz TrenowDeutsch von Barbara Müller
Kapitel 1
Die Geschichte der Seide hat vieles mit dem schönen Geschlecht zu tun. Ihre Entdeckung wird der chinesischen Kaiserin Hsi Ling zugeschrieben. Angeblich ist im Jahr 2640 vor Christus eine Seidenraupenpuppe aus dem Maulbeerbaum, unter dem sie saß, in ihre Teetasse gefallen. Als sie versuchte, den Kokon zu entfernen, begannen die klebrigen Fäden sich zu lösen und sich an ihre Finger zu heften. Sie untersuchte den Faden genauer und erkannte sofort dessen Potenzial. Von diesem Moment an widmete sie ihr Leben der Zucht von Seidenraupen und der Produktion von Seide zum Weben und Sticken.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Vielleicht liegt es daran, dass der Tod alle sprachlos macht, wenn sich die Gäste bei Beerdigungen in Plattitüden flüchten. »Er hatte ein ausgefülltes Leben ... Ein wundervoller Abschied ... Eine sehr bewegende Trauerfeier ... So schöne Blumen ... Du hältst dich so tapfer, Lily.«
Das ist keine Tapferkeit: meine geraden Schultern, der erhobene Kopf, dieser bemühte Ausdruck von Dankbarkeit. Es ist nichts als die Entschlossenheit, den heutigen Tag zu überleben und so bald wie möglich mit dem weiterzumachen, was von meinem Leben noch übrig ist.
Der Tote in dem kostspieligen, mit Verner-Seide ausgeschlagenen und mit Lilien geschmückten Sarg, der jetzt tief in der Erde ruht, ist nicht der Mann, den ich geliebt und mit dem ich die letzten fünfundfünfzig Jahre meines Lebens geteilt habe.
... mehr
Auch nicht der Mann, der mir half, nach den traumatischen Kriegserlebnissen wieder zu mir zu finden, der meine Hand hielt und meinem wunden Herzen mit seiner klugen Art und seiner Zuversicht Ruhe schenkte. Es ist nicht der Mann, der mich zur Frau nahm und ein liebevoller Vater und Großvater wurde. Die Freude über unser gemeinsames Leben machte es uns möglich, die Schrecken der Vergangenheit zu begraben.
Nein, dieser Mann verschwand bereits vor Monaten, seit die Krankheit ihn fest in ihrem Griff hielt. Sein Tod war eine gnädige Erlösung, und ich habe meine Trauer bereits hinter mir. Oder zumindest rede ich mir das ein.
Nach der Beisetzung füllt sich das Haus mit Leuten, die ihm »ihre letzte Ehre erweisen wollen«. Aber ich sehne mich danach, dass sie gehen, und als sie es endlich tun, lassen sie neben Erinnerungen halb geleerte Gläser und Reste von kalten Platten zurück.
Um mich herum räumen mein Sohn und seine Familie auf. Sie spülen Geschirr, saugen Staub, leeren die Mülleimer. Im grellen Licht der Küchenlampe fallen mir erste graue Fäden in Simons dunklem Haar auf, und mit einem Mal bemerke ich überrascht, dass er inzwischen ein Mann mittleren Alters ist. Louise, seine Frau, ist in den vergangenen Jahren ein wenig rundlich geworden. Sie werden bald in dieses Haus einziehen, und ich freue mich für sie. Nicht nur weil sie mehr Platz gut gebrauchen können, sondern auch weil mir die Idee gefällt, dass die nächste Generation diese Mauern mit neuem Leben füllen wird. Unser Kastanienhaus, so haben wir es immer genannt nach den hohen Bäumen, die es umstehen. Aber heute ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über den bevorstehenden Umzug zu sprechen.
Sie schicken mich aus der Küche. Ich gehe in den Salon, schalte Fernseher und Wiedergabegerät ein und schaue mir die Diashow an, die sie für die Trauergäste zusammengestellt haben. Vorher, in der Gruppe, war mir nicht danach. Jetzt blicke ich gebannt auf den Bildschirm, auf dem Fotos einander ablösen und sein Leben Revue passieren lassen. Manche sind mir vertraut, andere habe ich lange nicht gesehen. Sepiafarben die Kindheit, schwarzweiß die frühen Erwachsenenjahre und dann farbig bis ins hohe Alter - jedes Bild blitzt bloß für wenige Sekunden auf und geht sogleich in das nächste über.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, empfinde es als Farce. Als ärgerlich, ja sogar beleidigend. Wie kann man ein langes Leben in eine Diashow pressen? Doch als die Bildfolge zu Ende ist und sich zu wiederholen beginnt, ergreift ein anderes Gefühl in mir Raum. Trauer. Meine Erleichterung darüber, dass er nicht länger leiden muss, weicht der erschreckenden Erkenntnis, dass ich einen großen Verlust erlitten habe.
Ich habe ihn geliebt. Er war ein gut aussehender Mann, aktiv und tatkräftig. Ein Mann, dessen Selbstlosigkeit keine Grenzen kannte, der nahezu unbegrenzt gutmütig war. Der jeden Teil von mir unendlich liebte und mich zu einer glücklichen Frau machte. Ich schaue auf die vorbeiziehenden Bilder und erwidere sein Lächeln mit Tränen in den Augen.
Meine Enkeltochter bringt eine Kanne Tee. Mit siebzehn ist Emily ein kluges, sensibles Mädchen, das schneller erwachsen wird, als ich es gerne hätte. Ich entdecke in ihr so viel von mir selbst, und in diesem Alter sah ich ganz ähnlich aus. Emily ist nicht wirklich hübsch, zumindest nach gängigen Vorstellungen nicht, wohl aber ausgesprochen apart. Ihre Nase ist ein wenig zu lang, doch sie hat eine schöne, weiche Haut und einen cremefarbenen Teint. Zu ihrem Ärger wird sie leicht rot - genau wie ich als junges Mädchen. Ihr schwarzes Haar ist dicht und glatt, und ihre dunklen wissbegierigen Augen können vor Schalk funkeln oder vor Missbilligung eisig werden. Je nachdem. Und sie hat dieses entschlossene Verner-Kinn geerbt, das jedem signalisiert: »Leg dich nicht mit mir an!« Sie ist groß und schlaksig mit langen Armen und Beinen und trägt kaum etwas anderes als gefickte Jeans und Pullover von Wohltätigkeitsbasaren, die heutzutage bei ihrer Generation offenbar en vogue sind. Unkompliziert und dabei selbstbewusst, manchmal anstrengend mit ihrer Betriebsamkeit, aber immer gut gelaunt. Wäre meine eigene Tochter nicht tot zur Welt gekommen, denke ich manchmal, würde sie wie Emily gewesen sein.
Bei der Beerdigung und dem anschließenden Empfang, wo die Farbe Schwarz dominierte, wirkte die purpurrote Strähne in ihrem Pony wie ein exotischer Vogel zwischen den dunklen Anzügen und Kleidern. Bald wird sie flügge werden wie all diese unabhängigen jungen Frauen. Doch noch schenkt sie mir ihre Gesellschaft, unterhält mich mit allerlei Geschichten, und ich genieße dankbar jeden Augenblick.
Sie reicht mir eine Tasse dünnen Tee ohne Sahne, genau wie ich ihn mag, und lässt sich dann auf den Hocker neben mir fallen. Wir sehen uns eine Weile gemeinsam weiter die Diashow an, als sie plötzlich sagt: »Ich vermisse Granpa, weißt du. Er war ein ganz besonderer Mann, so voller Ideen und so begeisterungsfähig. Allein, wie er uns bei allem, was wir taten, unterstützt hat - selbst bei den verrücktesten Sachen.« Sie hat recht, denke ich. Ich war wirklich eine glückliche Frau, einen solchen Ehemann zur Seite zu haben.
»Er hat mich immer nach allem Möglichen gefragt«, fährt sie fort. »Sich dafür interessiert, womit ich mich beschäftige. Nicht viele Erwachsene sind so. Ein toller Zuhörer.«
Mein kluges Mädchen trifft wie immer den Nagel auf den Kopf. In ihren Worten schwingt ein leichter Vorwurf mit, dass ich keine so gute Zuhörerin bin. »Du kannst ja in Zukunft mit mir sprechen, jetzt, wo er nicht mehr da ist«, sage ich ein bisschen zu schnell. »Erzähl mir, was es Neues gibt.«
»Willst du das tatsächlich wissen?«
»Ja, bestimmt«, sage ich. Ihre Beine, die in gemusterten schwarzen Leggings stecken, scheinen meterlang unter ihrem Minirock hervorzuragen, und mein Herz ist voller Liebe, weil sie mir in diesen Minuten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt.
»Habe ich dir erzählt, dass ich nach Indien gehe?«, fragt sie.
»Meine Güte, wie wunderbar«, sage ich. »Für wie lange?«
»Bloß für einen Monat«, antwortet sie unbekümmert.
Ich beneide sie schmerzlich um ihre Jugend, ihren Tatendrang, ihre Freiheit. Ich wollte in ihrem Alter ebenfalls reisen, doch der Krieg kam dazwischen. Meine Gedanken beginnen abzuschweifen, bis ich mich daran erinnere, dass ich ihr versprochen habe zuzuhören. »Was wirst du dort machen?«
»Wir besuchen ein Waisenhaus. Im Dezember. Mit einer Gruppe vom College. Um das Fundament für einen Kuhstall auszuheben«, sagt sie triumphierend. Ich bin verwirrt und von der Vorstellung gefangen, wie Emily, ein reines Stadtkind, in der Hitze einen Spaten schwingt, die schlanken Hände schmutzig und voller Schwielen, das Haar staubbedeckt.
»Warum braucht ein Waisenhaus einen Kuhstall?«
»Damit sie frische Milch für die Kinder haben. Die wird dort nicht an die Tür gebracht wie bei dir, Granma«, sagt sie tadelnd. »Und außerdem sammeln wir Geld, um Kühe zu kaufen.«
»Wie viel braucht ihr?«
»Ungefähr zweitausend Pfund. Und damit wir selbst möglichst viel zusammenbringen, springe ich mit dem Fallschirm ab. Für eine Werbung - der Sponsor zahlt gut. Habe ich dir das nicht erzählt?« Bei dem Gedanken, dass Emily, mein Ein und Alles, an einem Fallschirm hängt, wird mir ganz schwindlig. Meine Enkelin merkt es und will mich beruhigen. »Mach dir keine Sorgen, es ist absolut sicher«, sagt sie. »Ein guter Ausbilder begleitet mich, die machen das jeden Tag mit ihren Schülern. Warte, ich zeige dir was.«
Sie kehrt mit ihrer Handtasche zurück, einem unpraktischen, mit Pailletten besetzten Ding, zieht eine Broschüre heraus und reicht sie mir. Ich gebe vor, sie zu lesen, doch die Fotografien von fröhlichen jungen Leuten, die sich auf ihren Sprung vorbereiten, scheinen mich zu verhöhnen und machen mir nur noch mehr Angst. Sie nimmt mir das Heft wieder ab. »Du müsstest doch alles über Fallschirme wissen, denn schließlich habt ihr früher das Material dafür hergestellt, sagt Dad.«
»Tja«, setze ich vorsichtig zu einer Erklärung an, »das Weben von Fallschirmseide war unser Beitrag zum Krieg. Es half uns zu überleben, als viele andere Seidenwebereien aufgeben mussten.« Ich sehe es vor mir, als wäre es gestern gewesen. Erinnere mich an die Webmaschinen mit ihren weißen Schutzbezügen, an die Schiffchen, die klackend nach rechts und links wanderten, an die Rollen mit der fertigen Seide, die mit jeder Drehung des Warenbaums fast unmerklich dicker wurden.
»Warum hat man Seide genommen?«
»Sie ist reißfest und leicht, lässt sich in eine kleine Tasche packen und faltet sich schnell auseinander.« Meine Stimme wird fester, und Stolz schwingt darin mit, obwohl ich längst die Regie in andere Hände gegeben habe. Seide ist eben unabdingbar mit meinem Leben verwoben, liegt mir im Blut. Dieses leicht muffige Nussaroma, die schimmernde Intensität ihrer Farben - Smaragd, Aquamarin, Gold, Purpur, Violett, das alles gehört zu mir. Und ich kann die exotischen Namen noch immer wie ein Mantra herunterbeten: Brigandine, Bombazin, Brokat, Dupionseide, Organza, Pongé, Chappe.
Emily studiert den Flyer ein weiteres Mal und linst unter ihrem langen Pony hervor, der ihr in die Augen fällt. »Hier steht, dass die Fallschirme, die wir benutzen, aus qualitativ hochwertigem Ripstop-Nylon bestehen. Warum hat man damals kein Nylon benutzt? Wäre das nicht billiger gewesen?«
»Damals befand sich Nylon noch in der Erprobungsphase, war jedenfalls nicht ausgereift genug. Für die Produktion von Fallschirmen aber ist die Qualität von entscheidender Bedeutung. Da muss alles stimmen.« Und dann kommen mir nach all den Jahren die schonungslosen Worte in den Sinn, dass beim kleinsten Fehler Piloten sterben.
Ich bekomme eine Gänsehaut. Sie reibt mir zärtlich mit den Fingerspitzen über den Arm, sieht mich besorgt an. »Ist dir kalt, Gran?«
»Nein, Liebes, das sind bloß die Erinnerungen.« Ich schicke ein stilles Gebet zum Himmel, dass sie niemals die Kriegsangst erleben muss - diese grauenvolle Erfahrung, wenn es keine Normalität mehr gibt und das scheinbar Unmögliche gewöhnlich wird, wenn jede Entscheidung eine Angelegenheit von Leben und Tod zu sein scheint, wenn ein Abschied oft für immer ist.
Das alles raubt einem die Zuversicht.
Etwas später taucht Emilys Bruder auf und drückt sich auf seine jungenhafte Art eine Weile im Salon herum, bevor er zu mir kommt, sich neben mich setzt und stumm meine Hand nimmt. Es rührt mich zutiefst. Dann kommt ihr Vater herein - abgespannt sieht er aus, mein Sohn. Sie sind offenbar mit dem Aufräumen fertig, nun beugt er sich besorgt über mich. »Können wir noch irgendetwas für dich tun, Mum?« Ich schüttle den Kopf und murmele zum wiederholten Mal meinen Dank.
»In ein paar Minuten machen wir uns auf den Weg. Bist du dir sicher, dass das okay für dich ist?«, fragt er. »Wir können auch ein bisschen länger bleiben, wenn du möchtest.«
Am Ende lassen sie sich überreden, nach Hause zu fahren. Obwohl ich ihre Gesellschaft liebe, sehne ich mich im Moment nach dem Alleinsein - danach, nicht länger die tapfere Witwe spielen zu müssen und mein wie eingefroren wirkendes freundliches Lächeln ablegen zu können. Ich brühe eine frische Kanne Tee auf und finde auf dem Küchentisch die von Emily zurückgelassene Broschüre über das Waisenhausprojekt - vermutlich ein dezenter Hinweis, mich um finanzielle Unterstützung zu bitten. Ich lege die Zeitung darauf, um nicht mehr an den Fallschirmsprung zu denken, doch meine zitternden Hände vermögen die Tasse nicht zu halten, ohne dass etwas überschwappt. Ich gieße den Tee in einen Becher um und trage ihn mit beiden Händen zu meinem Lieblingssessel im Salon.
Ich bin erleichtert, dass irgendjemand den Fernseher ausgeschaltet und damit die Diashow beendet hat. Durch das große Erkerfenster blicke ich nach Westen über die Flussauen auf die Landschaft und den Himmel - ein Anblick, der mir immer hilft, klarer zu denken.
Das Haus ist eine schöne Villa mit Doppelerker im edwardianischen Stil, errichtet aus Suffolk-Ziegeln, die bei Regenwetter grau aussehen, im Sonnenlicht jedoch die Farbe von goldenem Honig annehmen. Nicht protzig, sondern bloß behaglich und gut proportioniert, spiegelt es wider, wie meine Eltern sich selbst und ihre Stellung in der Welt sahen. Sie ließen es während des wirtschaftlichen Aufschwungs kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf einem freien Stück Land neben der Seidenmanufaktur errichten. »Wir verdanken dieses Haus Seidenschirmen, Satinverkleidungen und Trauerforen«, pflegte mein Vater, der den Kaufmann nie verleugnen konnte, fröhlich und unbefangen unseren Besuchern zu erklären.
Türen mit Buntglasscheiben werfen ein Kaleidoskop von Lichtmustern in großzügige Flure, und der Salon ist geräumig genug, um Platz zu bieten für Mutters Stutzfügel sowie drei Chintzsofas, die um einen hübschen marmornen Kamin gruppiert sind.
Auf der Seite des Hauses, die an die Weberei grenzt, gab es in meiner Kindheit einen von Mauern umgebenen Küchengarten voller duftender Obststräucher und Gemüsebeete. Auf der anderen Seite versorgte uns eine Streuobstwiese im Herbst mit einem Überfuss an Äpfeln und Birnen, die besonders während der langen Jahre der Lebensmittelzuteilungen sehr geschätzt wurden. Dort befand sich auch ein Tennisplatz, doch sorgte der von Maulwurfhügeln durchsetzte Rasen dafür, dass beim Spielen kein allzu großer Ehrgeiz aufkam. Der Tennisplatz existiert nicht mehr, aber die Rosskastanien sind noch da und erfreuen mich jedes Jahr im Mai mit ihren prachtvollen Blütenkerzen.
Von meinem Platz im Salon sehe ich den ans Haus angrenzenden Wintergarten. Im letzten Kriegsjahr wurde er durch eine V2Rakete, Hitlers sogenannte Wunderwaffe, zerstört. Es war ein einziges Scherbenmeer. Von der Terrasse führen einige gemauerte Stufen zum Rasen hinunter, der sich bis zu den Flussauen erstreckt. Durch diese Wiesen, die im Frühling gelb leuchten von Schlüsselblumen und im Sommer von Butterblumen, schlängelt sich der Fluss, an dessen Ufern knorrige Weiden stehen, die auf mich als Kind immer wie eine Prozession buckliger Hexen wirkten. Es ist eine Landschaft wie aus einem Gemälde von John Constable.
»Schau dir nur diesen Ausblick an«, rief meine Mutter gerne aus, wenn sie mit einem Korb voller Wäsche auf dem Treppenabsatz haltmachte, ihn auf der breiten Fensterbank abstellte und den Rücken durchstreckte. »Die Leute bezahlen ein Vermögen für Bilder von solchen Landschaften, und wir haben es jeden Tag vor Augen. Vergiss niemals, kleine Lily, wie viel Glück du hast, hier zu leben.«
Nein, Mutter, das habe ich nie vergessen.
Ich schließe die Augen und atme tief ein. Das Zimmer riecht nach altem Whisky und Holzfeuer und hallt von lange vergangenen Gesprächen wider. Familiengeheimnisse scheinen sich in allen Winkeln zu verstecken. Hier bin ich aufgewachsen. Ich habe nie woanders gelebt, und nach fast achtzig Jahren wird es wehtun fortzugehen. Das Haus steckt voller Erinnerungen an meine Kindheit, an ihn, an Liebe und Verlust.
Wenn ich heute durch die Flure und Räume gehe, folgen mir die Schatten der Vergangenheit: banal und außergewöhnlich, fröhlich und traurig, tröstlich und entsetzlich. Szenen meines Lebens. Jetzt, da mein Mann gegangen ist, bin ich fest entschlossen, ein letztes Mal von vorne anzufangen. Keine Schuld mehr, keine Gewissenserforschung. Kein Was-wäre-wenn. Ich muss das Beste aus den wenigen Jahren machen, die mir vielleicht noch vergönnt sind.
Kapitel 2
China behauptete sein Monopol der Seidenproduktion ungefähr dreitausend Jahre lang. Angeblich wurde das Geheimnis von einer chinesischen Prinzessin verraten. Nachdem sie mit einem indischen Prinzen verheiratet worden war, bekümmerte sie der Gedanke, in Zukunft auf ihre Seidenkleider verzichten zu müssen, derart, dass sie einige Eier der Seidenraupe in ihrem Kopfputz versteckte, bevor sie sich auf den Weg nach Indien zur Hochzeitszeremonie begab. So exportierte sie das Geheimnis der Seidenproduktion in ihre neue Heimat.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Die Beerdigung ist nun eine Woche her, und alle machen Bemerkungen darüber, wie gut ich mich halte, doch seit ein paar Tagen ist meine Stimmung eher schlecht. Wenn ich im Flur am Spiegel vorbeigehe, sehe ich eine hagere alte Frau, die jeden Tag kleiner zu werden scheint, mit eingesunkenen Augen und strähnigem grauem Haar und in zweckmäßigem Rentnerbeige. Das kann doch nicht ich sein! Sehe ich so aus? Bin ich so sehr geschrumpft?
Natürlich vermisse ich ihn. Obwohl es in den letzten Jahren nicht immer einfach war für mich, weil er viel Pflege brauchte und ich mich immer um sein Befinden sorgte, war doch ständig jemand im Haus. Jetzt wohne ich zum ersten Mal ganz alleine hier, und die einzige Aufgabe, die mir noch bleibt, besteht darin, dieses Haus aufzuräumen - und mein Leben.
Emily kommt nach der Schule vorbei. Normalerweise freue ich mich, sie zu sehen, und halte für solche Gelegenheiten eine Dose mit ihren Lieblingskeksen bereit. Heute allerdings würde ich am liebsten niemanden um mich haben.
»Was ist los, Gran? Sonst lehnst du doch nie eine Tasse Tee ab.«
»Ich weiß nicht. Ich bin einfach schlecht gelaunt.«
»Warum?«
»Keine Ahnung, vielleicht wegen allem und nichts.«
Sie sieht mich an, zu weise für ihr Alter. »Ich weiß, warum das so ist, Gran.«
»Ich bin nur eine launische Alte, die einen schlechten Tag hat.«
»Nein, ganz und gar nicht. Das ist Teil des Trauerprozesses und völlig normal.«
»Was meinst du damit: Trauerprozess? Man trauert, und dann kommt man drüber hinweg?« Ich merke, dass ich unduldsam reagiere. Warum glauben die jungen Leute immer, einfach alles zu wissen?
Emily ignoriert meine leichte Verärgerung. »Es gibt fünf Stufen des Trauerns. Wie war das noch mal?« Sie dreht eine Haarsträhne zwischen den Fingern und denkt einen Augenblick nach. »Irgend so eine Psychologin hat sie beschrieben. Okay, ich hab's. Hörst du mir zu? Die fünf Stufen des Trauerns sind ...« Sie zählt sie an ihren schlanken Fingern ab: »Nichtwahrhabenwollen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz - so was in der Art.«
»Heutzutage gibt es Listen für alles: in zehn Stufen zum Erfolg, zwanzig Arten, sein Leben zu verändern, diesen ganzen Müll«, murmele ich.
»Die Autorin ist wirklich renommiert, ehrlich. Wenn ich mich nur an ihren Namen erinnern könnte. Wir haben es im Psychologiekurs durchgenommen. Du solltest darüber nachdenken. Vielleicht befindest du dich gerade auf der Stufe der Wut?«
Sie geht, um Tee aufzubrühen, und lässt mich nachdenklich zurück. Warum sollte ich wütend sein? Meine Generation hat nicht einmal darüber nachgedacht, wie man trauert, und dabei waren wir weiß Gott häufig genug damit konfrontiert. Vielleicht gab es damals zu viel zu betrauern. Wir machten einfach weiter. Beschwer dich nicht, versuch trotz allem dein Bestes zu geben - und vor allem immer schön lächeln. So haben wir den Krieg gewonnen, zumindest wurde uns das so gesagt.
Emily kehrt mit dem Teetablett zurück. Und den Keksen. Offenbar hat sie mein Versteck gefunden.
»Keine Schule heute?«
»Vorbereitungszeit für die Prüfungen nächste Woche«, sagt sie sorglos. »Was hast du vor?«
»Packen. Sachen für den Wohltätigkeitsbasar aussortieren. «
»Kann ich helfen?«
»Nichts wäre mir lieber.«
Nach dem Tee gehen wir nach oben ins Gästezimmer, wo ich zaghaft damit begonnen habe, Kommoden und Schränke auszuräumen, die seit Jahren niemand mehr angerührt hat. In einem dieser nach Mottenkugeln riechenden Mausoleen finden wir drei meiner Kostüme, die als traurige Hüllen dort hängen. Warum habe ich sie so lange aufbewahrt? Der Gedanke, eines Tages wieder einen klassischen Bleistiftrock oder ein tailliertes Jackett zu tragen, ist schließlich lächerlich. Seit Jahrzehnten habe ich die Sachen nicht mehr angezogen - sie sind Relikte aus meiner Zeit als erfolgreiche Geschäftsfrau und weisen entsprechende Gebrauchsspuren auf. Die Rückseiten der Röcke glänzen vom langen Sitzen auf Bürostühlen, und die Ellenbogen der Jacketts sind dünn geworden. Es war eine Angewohnheit von mir, bei den vielen Meetings, die ich in meinem Leben absolviert habe, die Arme auf den Tisch und das Kinn in die Hände zu stützen.
»Also, das nenne ich Powerkleidung«, sagt Emily, während sie ein Jackett anzieht und sich selbst in dem hohen Spiegel an der Innenseite der Schranktür bewundert. »Schau dir nur diese Schulterpolster an und die winzige Taille. Du musst super ausgesehen haben, Gran. Kann ich das behalten? Breite Schultern sind so was von cool.«
»Natürlich, Schatz. Ich dachte, die seien in den Achtzigern aus der Mode gekommen?«
»Sie sind wieder in«, sagt sie, schiebt die Kleiderhaufen und schwarzen Müllsäcke beiseite und setzt sich aufs Bett. Dann klopft sie auf die freie Stelle neben sich. »Du hast deinen Job gerne gemacht, oder?«
»Ich glaube schon«, sage ich und lasse mich neben ihr nieder. »Allerdings habe ich nie wirklich darüber nachgedacht. Es war irgendwann ganz selbstverständlich, aber ich denke schon, dass ich meine Arbeit wirklich geliebt habe.« Und dann sage ich etwas, das Gwen, in schweren Zeiten meine engste Mitarbeiterin und Vertraute, einmal folgendermaßen ausgedrückt hat: »Es ist eine Art Alchemie, weißt du? Als würde man stumpfes Metall in Gold verwandeln. Nur noch besser, weil Seide so schöne Muster und Farben hat.«
»Das ist ziemlich poetisch«, sagt Emily. »Dad redet nie so darüber.«
»Das tat dein Großvater auch nicht«, antworte ich. »Männer können ihre Gefühle zumeist weniger gut ausdrücken. Außerdem neigt man dazu, selbst etwas so Wundervolles wie Seide als alltäglich hinzunehmen, wenn man ständig damit umgeht.«
»Ist dir nie langweilig geworden?« Ich muss einen Augenblick überlegen. »Nein, ich glaube nicht.« »Du kamst mir nicht besonders glücklich vor, als ich dich neulich wegen der Fallschirmseide gefragt habe.«
Ich wünschte, die Worte würden nicht so schmerzen und sich nicht wie ein Druck auf meine Seele legen. »Das liegt bloß daran, weil ich den Gedanken nicht ertrage, dass du aus einem Flugzeug springst, Liebes«, sage ich und versuche mich selbst und sie damit zu beschwichtigen.
»Mir passiert schon nichts, Gran«, sagt sie leichthin. »Mach dir keine Sorgen. Wir planen auch noch andere Sachen, um Geld zusammenzukriegen. Wenn du beim Aufräumen deiner Schränke irgendetwas findest, was ich für unsere Onlineauktion gebrauchen könnte, wäre das toll.«
»Du kannst dir nehmen, was du willst«, sage ich. Sie wendet sich wieder dem Kleiderschrank zu und kramt auf dem Boden herum.
»Was ist das, Granma?«, ertönt ihre gedämpfte Stimme.
»Ich weiß nicht, was du gefunden hast«, sage ich.
Als sie den braunen Koffer herauszieht, macht mein Herz einen Sprung und beginnt wild zu klopfen. Das Leder ist abgenutzt und verschlissen, aber die geprägten Initialen auf dem Verschluss sind nach wie vor deutlich zu erkennen. S.H. Natürlich wusste ich, dass er dort war, doch während der letzten sechzig Jahre habe ich ihn nicht nur in den dunkelsten Ecken des Schranks versteckt, sondern auch in den letzten Winkel meines Gehirns geschoben. Obwohl ich die ganze Zeit über keinen Blick mehr darauf geworfen habe, überfallen mich sofort diese vertrauten Gefühle von Schuld und Gram und ergreifen machtvoll von mir Besitz.
»Was ist da drin, Gran?«, fragt sie und macht sich ungeduldig an den Verschlüssen zu schaffen. »Die scheinen zu klemmen.«
Er ist abgeschlossen. Zum Glück, denke ich - der Schlüssel liegt sicher in meinem Sekretär verwahrt. Irgendetwas in mir sträubt sich, den Koffer zu öffnen. »Bloß alte Papiere, wahrscheinlich Müll.« Ich bemühe mich, gleichmütig zu klingen, und bin doch wie benommen von dieser unerwarteten Entdeckung. Selbstverständlich kenne ich jedes einzelne Stück, das sich in dem alten Koffer befindet - es ist ein Bündel von Erinnerungen, die so intensiv und schmerzhaft sind, dass ich mich ihnen am liebsten nie wieder stellen möchte. Dennoch bringe ich es nicht über mich, ihn wegzuwerfen.
Vielleicht hole ich ihn hervor, wenn Emily gegangen ist, um die quälenden Erinnerungen ein für alle Mal loszuwerden, denke ich. Ja, das werde ich tun. »Leg ihn wieder zurück in den Schrank, Liebes. Ich schaue ihn mir später an«, sage ich so ruhig wie möglich. »Sollen wir etwas zu Mittag essen?«
Nach diesem Schock lässt mein Enthusiasmus fürs Aufräumen deutlich nach, und ich versuche mich auf anderes zu konzentrieren. Mir fällt ein, dass ich mal wieder in den Supermarkt zum Einkaufen müsste, und weil es angefangen hat zu regnen, suche ich im Schrank unter der Treppe nach meinem Regenmantel. Dabei fällt mir ein alter hölzerner Tennisschläger in die Hände. Er steckt in seiner Hülle, und als ich ihn herausziehe, sehe ich, dass die Flügelschrauben rostig sind. Mit der ausgeleierten Bespannung ließe sich kein Ball mehr schlagen, und der mit Leder umwickelte Griff ist ausgefranst und grau vor Schimmel.
Trotzdem mache ich ein paar Bewegungen, als wolle ich aufschlagen, und fühle mich plötzlich zurückversetzt ins Jahr 1938 an einen besonders heißen Julitag. Vera und ich hatten eines unserer halbherzigen Tennismatche ausgetragen, barfuß auf dem Rasen zwischen den Maulwurfhügeln, und die Bälle binnen Kurzem alle über den Maschendrahtzaun ins hohe Gras der Streuobstwiese geschlagen. Aus Furcht davor, auf eine der Bienen zu treten, die geschäftig in dem blühenden Klee summten, staksten wir auf Zehenspitzen herum und fanden zwei wieder. Der dritte blieb verschwunden.
»Gib's auf«, seufzte Vera und ließ sich bäuchlings auf den Rasen fallen, ohne sich um Grasflecken zu scheren, Arme und Beine wie ein Schwimmer weit ausgestreckt. Ihre rot lackierten Fingernägel verkündeten demonstrativ unsere Befreiung von der Schule. Ich legte mich neben sie und malte mir meine Zukunft in den schönsten Farben aus. Die Sonne auf meiner Wange wurde zur Berührung einer warmen Hand, der sanfte Windhauch in meinem Haar zum Atem eines attraktiven jungen Mannes, der mir zu flüsterte, dass er mich liebte.
»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Vera nach einer Weile. »Das Übliche. Das weißt du ganz genau. Und jetzt halt den Mund und lass mich zu ihm zurück.«
Vera war meine beste Freundin, seit ich ihr vergeben hatte, dass sie mich in der Vorschule immer an den Zöpfen zog. Mit anderen Worten: seit einer Ewigkeit fast. Als wir ins Teenageralter kamen, waren wir ein seltsames Gespann; ich war inzwischen gut fünfzehn Zentimeter größer als sie, nur mein Busen wuchs nicht, obwohl ich allerlei dubiose Ratschläge befolgte, die angeblich Abhilfe schaffen sollten. Vera hingegen entwickelte eine Figur, die einem Hollywoodstarlet Ehre gemacht hätte.
Neben ihr kam ich mir irgendwie unweiblich vor - dabei wollte ich genau das so gerne sein. Also unternahm ich einige Versuche, meinem festen braunen Haar eine Dauerwelle und mir mehr Sexappeal zu verpassen. Es endete mit einem Fiasko, und selbst heute noch erinnert mich der Geruch von Dauerwellenlotion daran, wie grauenvoll ich damals aussah. Sobald meine Haare wieder in ihren Normalzustand zurückgekehrt waren, entschied ich mich für einen glatten, kinnlangen Bob, mit dem ich mir enorm verwegen und modern vorkam, während Vera ihr Haar gewagt platinblond bleichte und à la Hollywood frisierte.
Gemeinsam verbrachten wir Stunden vor dem Spiegel, um unser Makeup zu verfeinern, und Vera probierte aus, wie sie ihre Grübchen und Lippen betonen konnte. Damit ich mir nicht allzu unterlegen vorkam, erklärte sie großzügig, sie gäbe alles in der Welt dafür, wenn sie bloß meine Wangenknochen und meine langen Wimpern hätte.
In allen anderen Dingen waren wir uns sehr ähnlich - wir lachten über dieselben Dinge, schwärmten für dieselben Jungs, liebten dieselbe Musik, regten uns über dieselben Ungerechtigkeiten auf. Waren beide achtzehn, gerade mit der Schule fertig und sehnten uns danach, uns zu verlieben.
»Höre ich dich etwa in den Armen deines imaginären Liebhabers seufzen?«
»Mais oui, un très sexy garçon français.«
»Du dumme Gans. Hast wohl zu viele Liebesromane gelesen.«
Außer unserem Reden und Lachen herrschte Stille ringsum, unterbrochen nur vom gelegentlichen Tuckern eines Traktors auf der Straße und dem Muhen der Kühe in den Auwiesen, die nach ihren Kälbern riefen. Die Schule schien inzwischen weit entfernt, wie ein anderes Leben fast. Abgesehen von der Ungewissheit, wie unsere Prüfungen ausgefallen waren, lag die Zukunft strahlend und verheißungsvoll vor uns. Plötzlich sagte Vera: »Was glaubst du, was wird wirklich passieren?«
»Wie meinst du das? Wissen wir das nicht längst? Ich gehe nach Genf, um Französisch zu lernen, treffe dort den attraktivsten Mann auf Erden, und du leerst Bettpfannen im Krankenhaus. So haben wir das doch geplant, oder?«
Sie ignorierte die Stichelei. »Ich meine mit den Deutschen. Jetzt, nachdem Hitler Österreich vereinnahmt hat und so.«
»Die werden das schon hinkriegen, oder?«, sagte ich und betrachtete die Schleierwolken, die beinahe unmerklich über den tiefblauen Himmel zogen. An diesem Morgen hatte mein Vater am Frühstückstisch über der Times gesessen, dabei geseufzt und gemurmelt: »Chamberlain sollte langsam in die Gänge kommen. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein Krieg.« Doch hier im Sonnenschein weigerte ich mich, mir irgendetwas anderes vorzustellen als ein perfektes Leben.
»Das wollen wir weiß Gott hoffen«, sagte Vera.
Die Bummelbahn nach Braintree pfiff in der Ferne, und der Duft nach gemähtem Gras hing schwer in der Luft. Es war für uns nicht vorstellbar, dass die Armee eines Landes einfach in ein anderes einmarschierte und es an sich riss. »Anschluss« nannten die Nazis das.
Genau betrachtet passierte das alles in gar nicht weiter Entfernung. Österreich lag schließlich gleich hinter Frankreich und der Schweiz. Bekannte von uns machten dort Wander- oder Skiurlaub. Mein Bruder war erst im letzten Winter zum Skifahren dort gewesen und hatte uns eine Ansichtskarte von schneebedeckten, unglaublich spitzen Bergen geschickt.
Inzwischen brannte die Sonne nicht mehr so heiß vom Himmel, stand jetzt hinter den Pappeln und warf lange Schatten über die Wiese. Wir erhoben uns, um nochmals nach dem verlorenen Ball zu suchen.
»Wir sollten besser nach Hause gehen«, sagte ich. »Mutter meinte, dass John vielleicht heute Nachmittag kommt, sofern alles mit der Fähre und dem Umsteigen in London klappt.« Dann sollte ich zu Hause sein, hatte sie mich ermahnt.
»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Er war ja monatelang weg.«
»Fast ein Jahr. Ich habe ihn vermisst.«
»Ich dachte, du würdest ihn hassen«, kicherte Vera, während sie rückwärts vor mir herging. »Ich jedenfalls habe ihm seine Rüpeleien nicht verziehen. Schau, das ist immer noch die Narbe von damals, als er mich angeblich ganz aus Versehen von der Schaukel geschubst hat«, sagte sie und deutete auf ihre Stirn. »Das hat er mit voller Absicht gemacht.«
»Seine kleine Schwester und deren beste Freundin zu ärgern, gehörte einfach dazu.« Zwar waren John und ich immer ein wenig eifersüchtig gewesen, was die Aufmerksamkeit unserer Eltern anging - trotzdem hatte ich zu ihm aufgesehen und war stolz auf ihn. Groß und sportlich, gut aussehend mit dem modisch frisierten dunklen Haar, ähnelte er den gefeierten Tennishelden jener Zeit. Und das wusste er auch und hegte keinerlei Zweifel an seiner Anziehungskraft auf Mädchen. Eine Überheblichkeit, die mich bisweilen ärgerte, und doch hatte ich ihn vermisst, während er zum Studium in der Schweiz weilte.
Vera und ich deckten gerade im Salon den Teetisch, als es läutete. Ich rannte zur Eingangstür.
»Hallo, Schwesterchen«, dröhnte John mit einer Stimme, die tiefer war, als ich sie in Erinnerung hatte. Dann schlang er zu meiner Überraschung die Arme um mich und drückte mich kräftig an sich. Das hätte er früher nicht gemacht, dachte ich. Er trat einen Schritt zurück und musterte mich von oben bis unten. »Donnerwetter, bist du groß geworden. Es dauert nicht mehr lange, und du musst nicht mehr zu mir aufschauen.«
Ich lachte. »Keine Sorge, ich werde dich bestimmt nie einholen.«
»Das ist auch gut so«, gab er grinsend zurück. »Übrigens gefällt mir deine Frisur.« Sein unerwartetes Kompliment, das erste, das ich von meinem Bruder zu hören bekam, warf mich völlig aus der Bahn. Dann sah ich, wie seine Miene einen ganz merkwürdigen Ausdruck annahm, und während ich mich noch nach dem Grund fragte, bemerkte ich, dass Vera inzwischen ebenfalls zur Tür gekommen war und hinter mir stand.
»Vera?« Sie nickte und fuhr sich mit den Fingern durch die Locken - ich war mir nicht sicher, ob es aus Verlegenheit geschah oder weil sie mit ihm kokettierte.
John fasste sich wieder. »Meine Güte, du siehst ja aus wie eine junge Frau«, sagte er bewundernd und gab ihr die Hand. Sie lächelte sittsam und schaute ihn unter gesenkten Wimpern hervor an. Ich kannte diesen Blick bei ihr - nur hatte er nie zuvor meinem Bruder gegolten. Irgendwie gefiel mir das nicht.
»Wie sind die Prüfungen bei euch beiden gelaufen?«
Ich zuckte zusammen. »Frag nicht danach. Die Wahrheit wird früh genug in ein paar Wochen ans Licht kommen.«
Mutter erschien hinter uns und schlang glücklich lachend die Arme um ihn. »Mein lieber Junge. Dem Himmel sei Dank, dass du heil wieder zu Hause bist. Komm schnell herein!«
Er atmete tief durch, als er in den Flur trat. »Wie schön. Trautes Heim, Glück allein, heißt es nicht so? Hätte nie gedacht, dass es mir so fehlen würde. Was riecht denn hier so herrlich?«
»Ich habe dir zu Ehren Zitronenkuchen gebacken, ich hoffe, du magst ihn immer noch so gerne wie früher«, sagte Mutter. »Du bleibst doch zum Tee, Vera?«
»Haben Sie je erlebt, dass ich mir ein Stück Ihres Kuchens entgehen lasse, Mrs. Verner?«
Mutter servierte den Tee, und während wir uns unterhielten, stellte ich fest, wie sehr John sich verändert hatte, wie weltmännisch er geworden war. Vera schien es ebenfalls zu bemerken. Sie lächelte ihn öfter an als wirklich nötig und kicherte sogar über die lahmsten seiner Witze.
»Warum bist du so früh zurück?«, fragte Vater. »Ich hoffe sehr, du hast das Semester ordentlich abgeschlossen?«
»Keine Sorge, ich bin mit allen meinen Prüfungen durch«, sagte John fröhlich. »Ehrlich. Ich habe an der Hochschule so viel gelernt und kann es gar nicht erwarten, mich in die Praxis zu stürzen.«
Vater nickte erfreut, runzelte jedoch missbilligend die Stirn, als John seinen Tee schlürfte - seine Manieren schienen sich in der Schweiz nicht gerade verbessert zu haben.
»Was ist mit deinen Zeugnissen?«, wollte er wissen.
»Sie schicken sie mir zu. Ich bin nicht durchgefallen oder rausgeflogen, wenn du das denkst. Nein, ich war ein Musterschüler, haben sie gesagt.«
»Trotzdem verstehe ich das nicht, John«, beharrte Vater. »Das Semester sollte bis Ende des Monats gehen.« John schüttelte den Kopf, den Mund voller Kuchen. »Warum bist du also früher weggefahren?«
»Noch jemand Tee?«, fragte Mutter, um das unbehagliche Schweigen zu überbrücken. »Ich setze rasch den Kessel auf.«
Als sie sich erhob, murmelte John vor sich hin: »Um ehrlich zu sein: Ich wollte nach Hause zurück.«
»Deswegen musst du dich doch nicht schämen, mein Junge«, sagte sie. »Wir alle bekommen manchmal Heimweh. «
»Das ist es nicht«, antwortete er mit ernster Stimme. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie man sich dort im Augenblick fühlt. Was da drüben alles passiert, vor allem in Österreich.«
»Was genau meinst du damit?«, fragte ich mit unfreiwilligem Schaudern.
»Heraus mit der Sprache, Junge«, ergänzte Vater schroff. »Erklär das mal genauer.«
John stellte Teller und Tasse ab, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute aus dem Fenster in die wundervolle Constable-Landschaft. Mutter hielt inne, die Kanne in der Hand, und wir alle warteten.
»Es ist so«, fing er an und wählte seine Worte mit Bedacht. »Wir waren ein paarmal in Österreich - ihr wisst ja, zum Skifahren. Habt ihr meine Postkarte bekommen?«
Mutter nickte. »Sie hat einen Ehrenplatz auf dem Kaminsims bekommen«, sagte sie.
»Damals schien die Welt dort noch in Ordnung zu sein. Dann waren wir vor einigen Wochen erneut in Wien, um verschiedene Webstuhlfabriken zu besichtigen. Unter anderem die der Fischers. Der Sohn des Besitzers, Franz, hat uns herumgeführt.«
»Ich erinnere mich an Herrn Fischer. Wir haben hin und wieder bei ihm Maschinen gekauft. Ein guter Mann«, sagte Vater. »Wie geht es ihnen?«
»Erst klang es bloß so, als würden die Geschäfte etwas schleppend laufen - Franz machte ein paar vage Bemerkungen. Draußen aber, als niemand zuhörte, fragte ich ihn direkt, was los sei. Erst wollte er nicht raus mit der Sprache, doch schließlich flüsterte er mir zu, dass sie gezwungen würden, die Fabrik zu verkaufen.«
»Gezwungen?«, fragte ich. »Wer kann die Fischers dazu zwingen?«
»O ja, sie können. Im Großdeutschen Reich, wie das jetzt heißt, sind Juden völlig rechtlos. Und die Fischers sind Juden«, sagte John. »Die Nazis haben schon vor Jahren entsprechende Gesetze erlassen und sie immer mehr verschärft. Mittlerweile dürfen Juden keine Fabriken und keine Läden mehr besitzen, dürfen nicht mehr als Ärzte. Lehrer oder Rechtsanwälte tätig sein. Es sei denn in jüdischen Organisationen.«
»Ja, ich habe darüber gelesen, das ist wirklich ungeheuerlich «, meinte Vater. »Nur ist es noch einmal eine andere Sache, wenn man von einem konkreten Fall hört.
»Die Fischers hoffen, dass sie ungeschoren davonkommen, solange sie sich ganz ruhig verhalten«, sagte John, während ich das Gehörte nicht zusammenbrachte mit meinem Bild von Wien. Wie konnte so etwas in einer Stadt passieren, in der man weißen Pferden das Tanzen beibrachte und in Walzerseligkeit schwelgte.
»Meinst du, wir können etwas für sie tun?«, fragte Mutter. Ihr erster Impuls bestand immer darin, jedem zu helfen, der in Schwierigkeiten steckte.
»Ich bin mir nicht sicher. Franz meinte, die Entwicklung sei nicht mehr aufzuhalten und besser werde es bestimmt nicht. Es ist für ihn und seine Familie ziemlich beängstigend, weil niemand weiß, was die Nazis als Nächstes planen«, erklärte John mit ernstem Gesicht. »Die Juden werden schikaniert, wo es nur geht. Ich habe gelbe Sterne an Häusern und Läden gesehen. Zerbrochene Fenster. Die Ärmsten wurden auf der Straße angepöbelt.« Sein Blick schweifte abwesend zum Fenster, als könne er selbst nicht glauben, was er gesehen hatte. »Sie nennen es Pogrom«, füsterte er. Ich hatte das Wort nie zuvor gehört, doch es klang bedrohlich und hing lastend im Raum.
»Das ist eine so trübsinnige Unterhaltung«, unterbrach Mutter das Gespräch. »Ich möchte die Rückkehr meines Sohnes feiern und mich nicht von den Ereignissen auf dem Kontinent deprimieren lassen. Noch jemand ein Stück Kuchen?«
Später schlenderten Vera und ich die Straße zum Haus ihrer Eltern hinunter. Sie wohnte nicht weit entfernt, und wir begleiteten einander normalerweise die Hälfte des Weges. »Was meinst du?«, fragte ich sie.
»Hat sich ganz schön verändert, was? Er ist richtig männlich geworden und sieht ziemlich gut aus.«
»Nicht wegen John«, fuhr ich ihr über den Mund. »Ich habe gesehen, wie du mit den Wimpern geklimpert hast, du kleine Kokotte. Hände weg von meinem Bruder!«
»Schon gut, schon gut. Krieg dich mal wieder ein.«
»Ich meinte wegen der Sachen, die er erzählt hat.«
»Ach das«, sagte sie. »Klingt hart.«
»Offenbar vor allem für die Juden.« Ich dachte eine Weile nach. »Ich habe das mit den Pogromen zwar immer noch nicht verstanden, aber es muss etwas ganz Schreckliches sein.«
»Na ja, da gibt es nicht viel, was wir von hier aus unternehmen können. Lass uns hoffen, dass dein Vater mit seiner unerschütterlichen Überzeugung recht behält, dass Chamberlain das irgendwie wieder in Ordnung bringt.«
»Und wenn er es nicht schafft?«
Sie antwortete nicht gleich, doch wir wussten beide, was das bedeuten würde.
»Nicht auszudenken«, sagte sie.
Als ich zurückkehrte, steckte Vater den Kopf aus der Tür seines Arbeitszimmers.
»Lily? Hast du einen Moment, bitte?«
Es war ein kleines Zimmer mit einem Fenster, das auf den Hof hinausging, und mit Regalen voller Bücher an den Wänden. Über allem hing ein schwerer Tabakgeruch, denn Vater war ein passionierter Pfeifenraucher. Außerdem war es der wärmste Raum von allen, denn sobald es kühl wurde, brannte immer ein Kohlefeuer in dem kleinen Kamin. Das Arbeitszimmer war Vaters Heiligtum, und die schwere, vertäfelte Tür blieb normalerweise geschlossen. Sogar meine Mutter klopfte an, bevor sie eintrat.
Trotzdem schlich ich mich öfters heimlich hinein, wenn er nicht da war, und schaute mir die Bücher an: Die Seidenweber von Spitalfields, Die Seidenraupenzucht in Japan, Die Hugenotten, So spinnt die Seidenraupe und viele andere mehr. Mir hatte es besonders die Biografie eines Bänder- und Etikettenherstellers angetan - nicht wegen des Inhalts, sondern wegen des komischen Titels: Renommee für Rüschen hieß sie. Am faszinierendsten aber war ein einfacher Kasten voll mit Dutzenden Bögen Kanzleipapier, die dicht mit Vaters sauberer Handschrift beschrieben waren. Auf dem ersten Blatt stand in selbstbewussten Großbuchstaben: DIE GESCHICHTE DER SEIDE von HAROLD VERNER. Zu gerne hätte ich ihn gefragt, ob er dieses Manuskript irgendwann zu veröffentlichen gedachte, ließ es aber trotzdem bleiben. Schließlich hätte ich damit verraten, dass ich gelegentlich in seinem Zimmer herumkramte.
Jetzt lehnte ich mich unbehaglich an den Schreibtisch, während Vater in seinem Ledersessel am Fenster saß. Er atmete so tief ein, dass es sich fast wie ein Seufzen anhörte.
»Mutter und ich hatten ein kleines Gespräch«, fing er an, was so viel hieß wie: Er hatte etwas entschieden und ihr mitgeteilt, was er dachte. Meine Gedanken überschlugen sich. Das ließ nichts Gutes erahnen. Was konnte es nur sein? Was hatte ich in letzter Zeit falsch gemacht?
»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, Liebes. Du liest die Zeitung, und nach dem, was John uns heute Nachmittag erzählt hat ...«
»Über das Pogrom?« Das Wort blieb wie ein Kloß in meiner Kehle stecken.
Er fuhr sich mit der Hand durch das dünner werdende Haar, das er inzwischen immer sorgfältig über eine fast kahle Stelle am Hinterkopf kämmte. »Hör zu, ich weiß, dass du enttäuscht sein wirst, doch du hast ja die schlimmen Geschichten gehört.«
Ich hielt den Atem an, weil ich mich vor dem fürchtete, was als Nächstes kommen würde.
»Unter den gegebenen Umständen hielten Mutter und ich es für unklug, dich im September nach Genf gehen zu lassen.«
Eine Ader an meiner Schläfe begann schmerzhaft zu pochen. »Unklug? Was meinst du damit? Ich bin keine Jüdin. Diese Sache mit den Pogromen betrifft mich gar nicht.« Er hielt mit steinerner Miene meinem Blick stand. Seine Entscheidung war gefallen. »Das ist nicht fair«, hörte ich mich jammern. »John durfte schließlich auch gehen.«
»Das war vor einem Jahr. Die Lage hat sich verändert, mein Kind.«
»Die Nazis sind nicht in der Schweiz.«
Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Hitler ist ein unberechenbarer Mann. Man weiß nie, welches Land er als Nächstes überfällt.«
»Und Chamberlain?« Ich wusste nicht weiter, klammerte mich an Treibgut, von dem ich ahnte, dass es mich nicht retten würde.
»Er tut sein Bestes, der arme Mann.« Vater schüttelte traurig den Kopf. »Er glaubt an den Frieden - wie ich. Niemand will wieder Krieg. Nur sieht es leider nicht gerade gut aus.«
Ich konnte nicht fassen, was gerade geschah. Binnen weniger Minuten war mir mein zukünftiges Leben, wie ich es mir gerne ausgemalt hatte, entglitten, und ich vermochte nichts dagegen zu tun. »Aber ich muss fahren. Ich habe es seit Monaten geplant«, unternahm ich einen letzten Versuch.
»Betrachte es als vorläufige Entscheidung. Wir teilen dem Institut in Genf mit, dass du im September nicht kommen wirst, und später werden wir weitersehen.« Vaters Stimme klang ruhig und besonnen und zugleich endgültig.
»Ich will mir keine Zeit lassen. Ich will jetzt fahren«, begehrte ich auf wie ein trotziges Kind. »Außerdem, was soll ich denn sonst machen?«
Er tastete in seiner Tasche nach seinem Tabakbeutel und seiner Lieblingspfeife aus Bruyère. Mit beinahe provozierender Langsamkeit stopfte er die Pfeife, zündete geschickt ein Streichholz an, hielt es an den Pfeifenkopf und paffte nachdenklich. Nach einer Weile blickte er auf und schaute mich strahlend an, als sei ihm soeben die beste Idee aller Zeiten gekommen. »Wie wäre es mit einem Kochkurs? Das ist immer nützlich.«
Ich starrte ihn entgeistert an, während es in meinem Innern zu brodeln begann. »Du verstehst das einfach nicht, oder?« Obwohl ich seine missbilligende Miene bemerkte, sprudelten die Worte unkontrolliert aus mir heraus. »Weil ich ein Mädchen bin, glaubst du, mein einziger Ehrgeiz müsse darin bestehen, eine perfekte dumme, kleine Ehefrau zu sein, meinen Mann mit köstlichen Mahlzeiten zu verwöhnen und ihm jeden Abend die Pantoffeln hinzustellen. «
»Pass auf, was du sagst, Lily«, warnte er mich.
Um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, fing ich an, vor dem Schreibtisch auf und ab zu gehen, den Blick auf den Perserteppich gerichtet. »Die Zeiten haben sich geändert, Vater. Ich bin genauso intelligent wie jeder beliebige Mann, und ich werde meinen Verstand, den der liebe Gott mir zum Glück geschenkt hat, nicht damit vergeuden, eine meisterliche Köchin oder eine perfekte Näherin zu werden. Und genauso wenig denke ich daran, bald zu heiraten - vorher möchte ich nämlich noch etwas aus meinem Leben machen.«
»Das sollst du auch, Lily. Wir werden bestimmt etwas Passendes für dich finden. Nur nicht in Genf oder irgendwo anders auf dem Kontinent«, sagte er abschließend. »Und jetzt, glaube ich, sollten wir diese Diskussion beenden. Es ist Zeit, zu Bett zu gehen.«
Um ein Haar hätte ich die Arbeitszimmertür hinter mir zugeknallt, besann mich jedoch im letzten Augenblick und zog sie behutsam ins Schloss. In meinem Schlafzimmer verfluchte ich Vater, Chamberlain und Hitler. In dieser Reihenfolge.
Normalerweise liebte ich mein eigenes kleines Reich mit seinen hübschen Damastvorhängen und dem passenden Bettüberwurf - jetzt allerdings schien mich jeder einzelne Gegenstand zu verhöhnen und wie mit Ketten an Westbury zu fesseln. Ich warf einen Blick in den Spiegel und bemerkte, wie erbärmlich ich aussah. Selbstmitleid würde mich nirgendwohin bringen, dachte ich mir, und schon gar nicht in ein interessanteres Leben. Irgendetwas musste mir einfallen, wie ich von zu Hause wegkam, vielleicht nach London, in Veras Nähe. Wenn ich das schaffen wollte, brauchte ich gute Argumente. Immerhin bestand mein Problem darin, dass ich außer einem Schulabschluss nichts vorzuweisen hatte.
Plötzlich erinnerte ich mich an Tante Phoebe, eine entfernte Verwandte, die nie geheiratet hatte und mit einer Freundin in London lebte. Sie arbeitete irgendwo in einem Büro, fuhr mit ihrem Austin Seven in ganz Europa herum und scherte sich keinen Deut darum, was die Leute von ihrem unkonventionellen Lebensstil hielten. Vielleicht konnte ich mich zur Sekretärin ausbilden lassen, so wie sie es gemacht hatte? Genug verdienen, um mir eine kleine Wohnung zu mieten? Der Gedanke gefiel mir immer besser. Es war nicht so romantisch wie Genf, aber zumindest würde ich von hier fortkommen und interessante Leute treffen.
Jetzt musste ich nur noch meinen Vater davon überzeugen, dass es sich um einen vernünftigen Plan und nicht bloß eine verrückte Idee handelte.
Beim Frühstück am nächsten Morgen kreuzte ich die Finger hinter dem Rücken und verkündete: »Ich habe beschlossen, mir in London einen Job zu suchen. Vera und ich teilen uns ein möbliertes Zimmer, das kommt billiger. « Sie wusste noch nichts von ihrem Glück, würde aber bestimmt Ja sagen.
»Reizend, Liebes.« Mutter war mit den Gedanken offenbar ganz woanders und verteilte zudem gerade Frühstückseier mit Speck, die auf einer Warmhalteplatte standen.
»Klingt gut«, sagte John und schüttete den größten Teil des Kaffees, der eigentlich für alle reichen sollte, in die riesige Tasse, die er irgendwo in Frankreich gekauft hatte. »Vera ist ein lustiger Vogel. Was hast du denn genau vor?«
»Lass mir ein bisschen Kaffee übrig«, sagte ich. »Ich denke, irgendeine Büroarbeit wäre für mich am besten. Und um vorher Erfahrung zu sammeln, würde ich gerne ein paar Wochen bei Beryl in der Cheapside aushelfen.« Beryl leitete die Londoner Niederlassung von Verner's & Sons. »Was meinst du, Vater?«
»Nun ja«, sagte er, während er sorgfältig seine Zeitung zusammenfaltete und neben sein Besteck legte. »Ein weiteres Familienmitglied in der Firma? Gute Idee.« Er nahm einen gefüllten Teller von Mutter entgegen und fing an, sorgfältig Butter auf seinen Toast zu streichen. »Eine sehr gute Idee sogar. Aber du müsstest natürlich von der Pike auf das Geschäft erlernen.«
»Was meinst du damit?« Verstand er mich absichtlich falsch? Ich wollte ins Büro, nicht in die Fabrik!
»Du müsstest genau wie John den ganzen Prozess durchlaufen und als Weber anfangen«, sagte er und schob Rührei auf seinen Toast.
»Das habe ich nicht gemeint. Ich möchte Erfahrungen als Sekretärin sammeln«, sagte ich scharf. »Um in einem Büro zu arbeiten, muss ich schließlich nicht wissen, wie man das Zeug webt. Kann Beryl weben?«
Er warf mir einen strengen Blick zu, und im Raum wurde es unbehaglich still. Mutter schlüpfte hinaus und murmelte etwas über mehr Toast vor sich hin, und John betrachtete angelegentlich das Muster der Tischdecke. Vater legte leise seufzend Messer und Gabel ab, als habe er sich damit abgefunden, sein warmes Frühstück hintanzustellen, bis er seine eigensinnige Tochter belehrt hatte.
»Meine liebe Lily, lass mich dir die grundlegenden Prinzipien des Arbeitslebens erklären. Beryl kam als qualifizierte Verwaltungskraft zu uns, wohingegen du keinerlei Fähigkeiten oder Erfahrungen vorweisen kannst. Du weißt sehr gut, dass ich keine Vorzugsbehandlung für meine Familienangehörigen dulde, und ich werde dir keinen Job anbieten, bloß weil du eine Verner bist. Wenn du in der Firma arbeiten willst, dann lernst du das Geschäft von Grund auf. Du musst mir beweisen, dass du nicht nur herumspielst.«
Er holte tief Luft und fuhr dann fort: »Aber ich mache dir ein Angebot. Beweise dich hier in Westbury, und wenn du nach sechs Monaten immer noch nach London gehen und dort im Büro arbeiten möchtest, dann werde ich dir den Besuch der Sekretärinnenfachschule ermöglichen. Falls es das ist, was du wirklich willst. Falls nicht, lernst du kochen - du hast die Wahl.«
Kapitel 3
Beim Weben wird ein Schussfaden, üblicherweise mittels eines Schiffchens, durch Kettfäden gezogen, die parallel zueinander um einen Baum gespannt sind, der die gesamte Breite des Gewebes bestimmt. Dessen Struktur wird durch Heben und Senken ausgewählter Kettfäden bei jedem Durchschießen des Schussfadens variiert.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Ich hatte nie beabsichtigt, Seidenweberin zu werden, aber Adolf Hitler und mein Vater ließen mir kaum eine Wahl.
Natürlich war ich bereits vertraut mit der Fabrik. Ich wohnte nebenan, hatte Botengänge für meine Mutter gemacht, war dort gewesen, wenn ich irgendetwas von Vater wollte, doch ich hatte keine besondere Beziehung dazu. Für mich war es ein Gebäude voll lärmender Maschinen und staubigen Zubehörs, in dem kompromisslos nach den Grundsätzen von Kommerz und Profit gewirtschaftet wurde. Die Vorstellung, dort sechs Monate verbringen zu müssen, kam mir vor wie die Aussicht auf eine lebenslange Haftstrafe.
Damals bestand die Fabrik nur aus dem zweigeschossigen Backsteingebäude mit Schieferdach. Der Haupteingang besaß eine grün gestrichene Doppeltür mit zwei Schiebefenstern zu beiden Seiten und dreien darüber. Heutzutage macht dieser Trakt bloß einen kleinen Teil des Fabrikkomplexes aus, den mein Sohn leitet und eindrucksvoll erweitert hat.
Hinter der alten Fabrik erstrecken sich mittlerweile niedrige Baracken, in denen Greiferwebmaschinen rasseln und rattern und in einem Umfang Gewebe produzieren, der zu meiner Zeit undenkbar gewesen wäre. Selbst jetzt, wenn in der Hitze des Sommers die Türen offen stehen, um eine kühlende Brise hereinzulassen, höre ich die Webmaschinen. Aus der Ferne klingt es wie das Summen riesiger Bienenschwärme, und dieses Geräusch gibt mir das beruhigende Gefühl, dass alles in Ordnung ist.
Damals wurde in zwei Schichten gearbeitet. Die Angestellten kamen und gingen an jedem Werktag zu Fuß oder mit dem Fahrrad, mit Ausnahme der Betriebsferien an Weihnachten und im Sommer. Der Rhythmus der Arbeit ist der gleiche geblieben, nur dass die Mitarbeiter inzwischen mit dem Auto oder dem Motorrad kommen. Familien haben seit Generationen hier gearbeitet, seit mein Ururgroßvater das Unternehmen von London hierher verlegte, fort von den Wurzeln in Spitalfields. In East Anglia gab es genug Wasser, um die Mühlen anzutreiben, und zudem erfahrene Weber, die durch die Krise im Wollhandel arbeitslos geworden waren.
Selbst heute noch kommen mir die Gesichter der Weber vertraut vor, auch wenn ich nicht länger ihre Namen weiß. Aber ich erkenne Familienmerkmale - buschige Augenbrauen, gekerbte Kinne, krause Locken, breite Schultern, ungewöhnliche Größe oder eine besonders schlanke Figur -, die vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter übergegangen sind. Sie sind treue Seelen, diese Weberfamilien, stolz auf ihre Fertigkeiten und die Schönheit der Gewebe, die sie herstellen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Auch nicht der Mann, der mir half, nach den traumatischen Kriegserlebnissen wieder zu mir zu finden, der meine Hand hielt und meinem wunden Herzen mit seiner klugen Art und seiner Zuversicht Ruhe schenkte. Es ist nicht der Mann, der mich zur Frau nahm und ein liebevoller Vater und Großvater wurde. Die Freude über unser gemeinsames Leben machte es uns möglich, die Schrecken der Vergangenheit zu begraben.
Nein, dieser Mann verschwand bereits vor Monaten, seit die Krankheit ihn fest in ihrem Griff hielt. Sein Tod war eine gnädige Erlösung, und ich habe meine Trauer bereits hinter mir. Oder zumindest rede ich mir das ein.
Nach der Beisetzung füllt sich das Haus mit Leuten, die ihm »ihre letzte Ehre erweisen wollen«. Aber ich sehne mich danach, dass sie gehen, und als sie es endlich tun, lassen sie neben Erinnerungen halb geleerte Gläser und Reste von kalten Platten zurück.
Um mich herum räumen mein Sohn und seine Familie auf. Sie spülen Geschirr, saugen Staub, leeren die Mülleimer. Im grellen Licht der Küchenlampe fallen mir erste graue Fäden in Simons dunklem Haar auf, und mit einem Mal bemerke ich überrascht, dass er inzwischen ein Mann mittleren Alters ist. Louise, seine Frau, ist in den vergangenen Jahren ein wenig rundlich geworden. Sie werden bald in dieses Haus einziehen, und ich freue mich für sie. Nicht nur weil sie mehr Platz gut gebrauchen können, sondern auch weil mir die Idee gefällt, dass die nächste Generation diese Mauern mit neuem Leben füllen wird. Unser Kastanienhaus, so haben wir es immer genannt nach den hohen Bäumen, die es umstehen. Aber heute ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über den bevorstehenden Umzug zu sprechen.
Sie schicken mich aus der Küche. Ich gehe in den Salon, schalte Fernseher und Wiedergabegerät ein und schaue mir die Diashow an, die sie für die Trauergäste zusammengestellt haben. Vorher, in der Gruppe, war mir nicht danach. Jetzt blicke ich gebannt auf den Bildschirm, auf dem Fotos einander ablösen und sein Leben Revue passieren lassen. Manche sind mir vertraut, andere habe ich lange nicht gesehen. Sepiafarben die Kindheit, schwarzweiß die frühen Erwachsenenjahre und dann farbig bis ins hohe Alter - jedes Bild blitzt bloß für wenige Sekunden auf und geht sogleich in das nächste über.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, empfinde es als Farce. Als ärgerlich, ja sogar beleidigend. Wie kann man ein langes Leben in eine Diashow pressen? Doch als die Bildfolge zu Ende ist und sich zu wiederholen beginnt, ergreift ein anderes Gefühl in mir Raum. Trauer. Meine Erleichterung darüber, dass er nicht länger leiden muss, weicht der erschreckenden Erkenntnis, dass ich einen großen Verlust erlitten habe.
Ich habe ihn geliebt. Er war ein gut aussehender Mann, aktiv und tatkräftig. Ein Mann, dessen Selbstlosigkeit keine Grenzen kannte, der nahezu unbegrenzt gutmütig war. Der jeden Teil von mir unendlich liebte und mich zu einer glücklichen Frau machte. Ich schaue auf die vorbeiziehenden Bilder und erwidere sein Lächeln mit Tränen in den Augen.
Meine Enkeltochter bringt eine Kanne Tee. Mit siebzehn ist Emily ein kluges, sensibles Mädchen, das schneller erwachsen wird, als ich es gerne hätte. Ich entdecke in ihr so viel von mir selbst, und in diesem Alter sah ich ganz ähnlich aus. Emily ist nicht wirklich hübsch, zumindest nach gängigen Vorstellungen nicht, wohl aber ausgesprochen apart. Ihre Nase ist ein wenig zu lang, doch sie hat eine schöne, weiche Haut und einen cremefarbenen Teint. Zu ihrem Ärger wird sie leicht rot - genau wie ich als junges Mädchen. Ihr schwarzes Haar ist dicht und glatt, und ihre dunklen wissbegierigen Augen können vor Schalk funkeln oder vor Missbilligung eisig werden. Je nachdem. Und sie hat dieses entschlossene Verner-Kinn geerbt, das jedem signalisiert: »Leg dich nicht mit mir an!« Sie ist groß und schlaksig mit langen Armen und Beinen und trägt kaum etwas anderes als gefickte Jeans und Pullover von Wohltätigkeitsbasaren, die heutzutage bei ihrer Generation offenbar en vogue sind. Unkompliziert und dabei selbstbewusst, manchmal anstrengend mit ihrer Betriebsamkeit, aber immer gut gelaunt. Wäre meine eigene Tochter nicht tot zur Welt gekommen, denke ich manchmal, würde sie wie Emily gewesen sein.
Bei der Beerdigung und dem anschließenden Empfang, wo die Farbe Schwarz dominierte, wirkte die purpurrote Strähne in ihrem Pony wie ein exotischer Vogel zwischen den dunklen Anzügen und Kleidern. Bald wird sie flügge werden wie all diese unabhängigen jungen Frauen. Doch noch schenkt sie mir ihre Gesellschaft, unterhält mich mit allerlei Geschichten, und ich genieße dankbar jeden Augenblick.
Sie reicht mir eine Tasse dünnen Tee ohne Sahne, genau wie ich ihn mag, und lässt sich dann auf den Hocker neben mir fallen. Wir sehen uns eine Weile gemeinsam weiter die Diashow an, als sie plötzlich sagt: »Ich vermisse Granpa, weißt du. Er war ein ganz besonderer Mann, so voller Ideen und so begeisterungsfähig. Allein, wie er uns bei allem, was wir taten, unterstützt hat - selbst bei den verrücktesten Sachen.« Sie hat recht, denke ich. Ich war wirklich eine glückliche Frau, einen solchen Ehemann zur Seite zu haben.
»Er hat mich immer nach allem Möglichen gefragt«, fährt sie fort. »Sich dafür interessiert, womit ich mich beschäftige. Nicht viele Erwachsene sind so. Ein toller Zuhörer.«
Mein kluges Mädchen trifft wie immer den Nagel auf den Kopf. In ihren Worten schwingt ein leichter Vorwurf mit, dass ich keine so gute Zuhörerin bin. »Du kannst ja in Zukunft mit mir sprechen, jetzt, wo er nicht mehr da ist«, sage ich ein bisschen zu schnell. »Erzähl mir, was es Neues gibt.«
»Willst du das tatsächlich wissen?«
»Ja, bestimmt«, sage ich. Ihre Beine, die in gemusterten schwarzen Leggings stecken, scheinen meterlang unter ihrem Minirock hervorzuragen, und mein Herz ist voller Liebe, weil sie mir in diesen Minuten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt.
»Habe ich dir erzählt, dass ich nach Indien gehe?«, fragt sie.
»Meine Güte, wie wunderbar«, sage ich. »Für wie lange?«
»Bloß für einen Monat«, antwortet sie unbekümmert.
Ich beneide sie schmerzlich um ihre Jugend, ihren Tatendrang, ihre Freiheit. Ich wollte in ihrem Alter ebenfalls reisen, doch der Krieg kam dazwischen. Meine Gedanken beginnen abzuschweifen, bis ich mich daran erinnere, dass ich ihr versprochen habe zuzuhören. »Was wirst du dort machen?«
»Wir besuchen ein Waisenhaus. Im Dezember. Mit einer Gruppe vom College. Um das Fundament für einen Kuhstall auszuheben«, sagt sie triumphierend. Ich bin verwirrt und von der Vorstellung gefangen, wie Emily, ein reines Stadtkind, in der Hitze einen Spaten schwingt, die schlanken Hände schmutzig und voller Schwielen, das Haar staubbedeckt.
»Warum braucht ein Waisenhaus einen Kuhstall?«
»Damit sie frische Milch für die Kinder haben. Die wird dort nicht an die Tür gebracht wie bei dir, Granma«, sagt sie tadelnd. »Und außerdem sammeln wir Geld, um Kühe zu kaufen.«
»Wie viel braucht ihr?«
»Ungefähr zweitausend Pfund. Und damit wir selbst möglichst viel zusammenbringen, springe ich mit dem Fallschirm ab. Für eine Werbung - der Sponsor zahlt gut. Habe ich dir das nicht erzählt?« Bei dem Gedanken, dass Emily, mein Ein und Alles, an einem Fallschirm hängt, wird mir ganz schwindlig. Meine Enkelin merkt es und will mich beruhigen. »Mach dir keine Sorgen, es ist absolut sicher«, sagt sie. »Ein guter Ausbilder begleitet mich, die machen das jeden Tag mit ihren Schülern. Warte, ich zeige dir was.«
Sie kehrt mit ihrer Handtasche zurück, einem unpraktischen, mit Pailletten besetzten Ding, zieht eine Broschüre heraus und reicht sie mir. Ich gebe vor, sie zu lesen, doch die Fotografien von fröhlichen jungen Leuten, die sich auf ihren Sprung vorbereiten, scheinen mich zu verhöhnen und machen mir nur noch mehr Angst. Sie nimmt mir das Heft wieder ab. »Du müsstest doch alles über Fallschirme wissen, denn schließlich habt ihr früher das Material dafür hergestellt, sagt Dad.«
»Tja«, setze ich vorsichtig zu einer Erklärung an, »das Weben von Fallschirmseide war unser Beitrag zum Krieg. Es half uns zu überleben, als viele andere Seidenwebereien aufgeben mussten.« Ich sehe es vor mir, als wäre es gestern gewesen. Erinnere mich an die Webmaschinen mit ihren weißen Schutzbezügen, an die Schiffchen, die klackend nach rechts und links wanderten, an die Rollen mit der fertigen Seide, die mit jeder Drehung des Warenbaums fast unmerklich dicker wurden.
»Warum hat man Seide genommen?«
»Sie ist reißfest und leicht, lässt sich in eine kleine Tasche packen und faltet sich schnell auseinander.« Meine Stimme wird fester, und Stolz schwingt darin mit, obwohl ich längst die Regie in andere Hände gegeben habe. Seide ist eben unabdingbar mit meinem Leben verwoben, liegt mir im Blut. Dieses leicht muffige Nussaroma, die schimmernde Intensität ihrer Farben - Smaragd, Aquamarin, Gold, Purpur, Violett, das alles gehört zu mir. Und ich kann die exotischen Namen noch immer wie ein Mantra herunterbeten: Brigandine, Bombazin, Brokat, Dupionseide, Organza, Pongé, Chappe.
Emily studiert den Flyer ein weiteres Mal und linst unter ihrem langen Pony hervor, der ihr in die Augen fällt. »Hier steht, dass die Fallschirme, die wir benutzen, aus qualitativ hochwertigem Ripstop-Nylon bestehen. Warum hat man damals kein Nylon benutzt? Wäre das nicht billiger gewesen?«
»Damals befand sich Nylon noch in der Erprobungsphase, war jedenfalls nicht ausgereift genug. Für die Produktion von Fallschirmen aber ist die Qualität von entscheidender Bedeutung. Da muss alles stimmen.« Und dann kommen mir nach all den Jahren die schonungslosen Worte in den Sinn, dass beim kleinsten Fehler Piloten sterben.
Ich bekomme eine Gänsehaut. Sie reibt mir zärtlich mit den Fingerspitzen über den Arm, sieht mich besorgt an. »Ist dir kalt, Gran?«
»Nein, Liebes, das sind bloß die Erinnerungen.« Ich schicke ein stilles Gebet zum Himmel, dass sie niemals die Kriegsangst erleben muss - diese grauenvolle Erfahrung, wenn es keine Normalität mehr gibt und das scheinbar Unmögliche gewöhnlich wird, wenn jede Entscheidung eine Angelegenheit von Leben und Tod zu sein scheint, wenn ein Abschied oft für immer ist.
Das alles raubt einem die Zuversicht.
Etwas später taucht Emilys Bruder auf und drückt sich auf seine jungenhafte Art eine Weile im Salon herum, bevor er zu mir kommt, sich neben mich setzt und stumm meine Hand nimmt. Es rührt mich zutiefst. Dann kommt ihr Vater herein - abgespannt sieht er aus, mein Sohn. Sie sind offenbar mit dem Aufräumen fertig, nun beugt er sich besorgt über mich. »Können wir noch irgendetwas für dich tun, Mum?« Ich schüttle den Kopf und murmele zum wiederholten Mal meinen Dank.
»In ein paar Minuten machen wir uns auf den Weg. Bist du dir sicher, dass das okay für dich ist?«, fragt er. »Wir können auch ein bisschen länger bleiben, wenn du möchtest.«
Am Ende lassen sie sich überreden, nach Hause zu fahren. Obwohl ich ihre Gesellschaft liebe, sehne ich mich im Moment nach dem Alleinsein - danach, nicht länger die tapfere Witwe spielen zu müssen und mein wie eingefroren wirkendes freundliches Lächeln ablegen zu können. Ich brühe eine frische Kanne Tee auf und finde auf dem Küchentisch die von Emily zurückgelassene Broschüre über das Waisenhausprojekt - vermutlich ein dezenter Hinweis, mich um finanzielle Unterstützung zu bitten. Ich lege die Zeitung darauf, um nicht mehr an den Fallschirmsprung zu denken, doch meine zitternden Hände vermögen die Tasse nicht zu halten, ohne dass etwas überschwappt. Ich gieße den Tee in einen Becher um und trage ihn mit beiden Händen zu meinem Lieblingssessel im Salon.
Ich bin erleichtert, dass irgendjemand den Fernseher ausgeschaltet und damit die Diashow beendet hat. Durch das große Erkerfenster blicke ich nach Westen über die Flussauen auf die Landschaft und den Himmel - ein Anblick, der mir immer hilft, klarer zu denken.
Das Haus ist eine schöne Villa mit Doppelerker im edwardianischen Stil, errichtet aus Suffolk-Ziegeln, die bei Regenwetter grau aussehen, im Sonnenlicht jedoch die Farbe von goldenem Honig annehmen. Nicht protzig, sondern bloß behaglich und gut proportioniert, spiegelt es wider, wie meine Eltern sich selbst und ihre Stellung in der Welt sahen. Sie ließen es während des wirtschaftlichen Aufschwungs kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf einem freien Stück Land neben der Seidenmanufaktur errichten. »Wir verdanken dieses Haus Seidenschirmen, Satinverkleidungen und Trauerforen«, pflegte mein Vater, der den Kaufmann nie verleugnen konnte, fröhlich und unbefangen unseren Besuchern zu erklären.
Türen mit Buntglasscheiben werfen ein Kaleidoskop von Lichtmustern in großzügige Flure, und der Salon ist geräumig genug, um Platz zu bieten für Mutters Stutzfügel sowie drei Chintzsofas, die um einen hübschen marmornen Kamin gruppiert sind.
Auf der Seite des Hauses, die an die Weberei grenzt, gab es in meiner Kindheit einen von Mauern umgebenen Küchengarten voller duftender Obststräucher und Gemüsebeete. Auf der anderen Seite versorgte uns eine Streuobstwiese im Herbst mit einem Überfuss an Äpfeln und Birnen, die besonders während der langen Jahre der Lebensmittelzuteilungen sehr geschätzt wurden. Dort befand sich auch ein Tennisplatz, doch sorgte der von Maulwurfhügeln durchsetzte Rasen dafür, dass beim Spielen kein allzu großer Ehrgeiz aufkam. Der Tennisplatz existiert nicht mehr, aber die Rosskastanien sind noch da und erfreuen mich jedes Jahr im Mai mit ihren prachtvollen Blütenkerzen.
Von meinem Platz im Salon sehe ich den ans Haus angrenzenden Wintergarten. Im letzten Kriegsjahr wurde er durch eine V2Rakete, Hitlers sogenannte Wunderwaffe, zerstört. Es war ein einziges Scherbenmeer. Von der Terrasse führen einige gemauerte Stufen zum Rasen hinunter, der sich bis zu den Flussauen erstreckt. Durch diese Wiesen, die im Frühling gelb leuchten von Schlüsselblumen und im Sommer von Butterblumen, schlängelt sich der Fluss, an dessen Ufern knorrige Weiden stehen, die auf mich als Kind immer wie eine Prozession buckliger Hexen wirkten. Es ist eine Landschaft wie aus einem Gemälde von John Constable.
»Schau dir nur diesen Ausblick an«, rief meine Mutter gerne aus, wenn sie mit einem Korb voller Wäsche auf dem Treppenabsatz haltmachte, ihn auf der breiten Fensterbank abstellte und den Rücken durchstreckte. »Die Leute bezahlen ein Vermögen für Bilder von solchen Landschaften, und wir haben es jeden Tag vor Augen. Vergiss niemals, kleine Lily, wie viel Glück du hast, hier zu leben.«
Nein, Mutter, das habe ich nie vergessen.
Ich schließe die Augen und atme tief ein. Das Zimmer riecht nach altem Whisky und Holzfeuer und hallt von lange vergangenen Gesprächen wider. Familiengeheimnisse scheinen sich in allen Winkeln zu verstecken. Hier bin ich aufgewachsen. Ich habe nie woanders gelebt, und nach fast achtzig Jahren wird es wehtun fortzugehen. Das Haus steckt voller Erinnerungen an meine Kindheit, an ihn, an Liebe und Verlust.
Wenn ich heute durch die Flure und Räume gehe, folgen mir die Schatten der Vergangenheit: banal und außergewöhnlich, fröhlich und traurig, tröstlich und entsetzlich. Szenen meines Lebens. Jetzt, da mein Mann gegangen ist, bin ich fest entschlossen, ein letztes Mal von vorne anzufangen. Keine Schuld mehr, keine Gewissenserforschung. Kein Was-wäre-wenn. Ich muss das Beste aus den wenigen Jahren machen, die mir vielleicht noch vergönnt sind.
Kapitel 2
China behauptete sein Monopol der Seidenproduktion ungefähr dreitausend Jahre lang. Angeblich wurde das Geheimnis von einer chinesischen Prinzessin verraten. Nachdem sie mit einem indischen Prinzen verheiratet worden war, bekümmerte sie der Gedanke, in Zukunft auf ihre Seidenkleider verzichten zu müssen, derart, dass sie einige Eier der Seidenraupe in ihrem Kopfputz versteckte, bevor sie sich auf den Weg nach Indien zur Hochzeitszeremonie begab. So exportierte sie das Geheimnis der Seidenproduktion in ihre neue Heimat.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Die Beerdigung ist nun eine Woche her, und alle machen Bemerkungen darüber, wie gut ich mich halte, doch seit ein paar Tagen ist meine Stimmung eher schlecht. Wenn ich im Flur am Spiegel vorbeigehe, sehe ich eine hagere alte Frau, die jeden Tag kleiner zu werden scheint, mit eingesunkenen Augen und strähnigem grauem Haar und in zweckmäßigem Rentnerbeige. Das kann doch nicht ich sein! Sehe ich so aus? Bin ich so sehr geschrumpft?
Natürlich vermisse ich ihn. Obwohl es in den letzten Jahren nicht immer einfach war für mich, weil er viel Pflege brauchte und ich mich immer um sein Befinden sorgte, war doch ständig jemand im Haus. Jetzt wohne ich zum ersten Mal ganz alleine hier, und die einzige Aufgabe, die mir noch bleibt, besteht darin, dieses Haus aufzuräumen - und mein Leben.
Emily kommt nach der Schule vorbei. Normalerweise freue ich mich, sie zu sehen, und halte für solche Gelegenheiten eine Dose mit ihren Lieblingskeksen bereit. Heute allerdings würde ich am liebsten niemanden um mich haben.
»Was ist los, Gran? Sonst lehnst du doch nie eine Tasse Tee ab.«
»Ich weiß nicht. Ich bin einfach schlecht gelaunt.«
»Warum?«
»Keine Ahnung, vielleicht wegen allem und nichts.«
Sie sieht mich an, zu weise für ihr Alter. »Ich weiß, warum das so ist, Gran.«
»Ich bin nur eine launische Alte, die einen schlechten Tag hat.«
»Nein, ganz und gar nicht. Das ist Teil des Trauerprozesses und völlig normal.«
»Was meinst du damit: Trauerprozess? Man trauert, und dann kommt man drüber hinweg?« Ich merke, dass ich unduldsam reagiere. Warum glauben die jungen Leute immer, einfach alles zu wissen?
Emily ignoriert meine leichte Verärgerung. »Es gibt fünf Stufen des Trauerns. Wie war das noch mal?« Sie dreht eine Haarsträhne zwischen den Fingern und denkt einen Augenblick nach. »Irgend so eine Psychologin hat sie beschrieben. Okay, ich hab's. Hörst du mir zu? Die fünf Stufen des Trauerns sind ...« Sie zählt sie an ihren schlanken Fingern ab: »Nichtwahrhabenwollen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz - so was in der Art.«
»Heutzutage gibt es Listen für alles: in zehn Stufen zum Erfolg, zwanzig Arten, sein Leben zu verändern, diesen ganzen Müll«, murmele ich.
»Die Autorin ist wirklich renommiert, ehrlich. Wenn ich mich nur an ihren Namen erinnern könnte. Wir haben es im Psychologiekurs durchgenommen. Du solltest darüber nachdenken. Vielleicht befindest du dich gerade auf der Stufe der Wut?«
Sie geht, um Tee aufzubrühen, und lässt mich nachdenklich zurück. Warum sollte ich wütend sein? Meine Generation hat nicht einmal darüber nachgedacht, wie man trauert, und dabei waren wir weiß Gott häufig genug damit konfrontiert. Vielleicht gab es damals zu viel zu betrauern. Wir machten einfach weiter. Beschwer dich nicht, versuch trotz allem dein Bestes zu geben - und vor allem immer schön lächeln. So haben wir den Krieg gewonnen, zumindest wurde uns das so gesagt.
Emily kehrt mit dem Teetablett zurück. Und den Keksen. Offenbar hat sie mein Versteck gefunden.
»Keine Schule heute?«
»Vorbereitungszeit für die Prüfungen nächste Woche«, sagt sie sorglos. »Was hast du vor?«
»Packen. Sachen für den Wohltätigkeitsbasar aussortieren. «
»Kann ich helfen?«
»Nichts wäre mir lieber.«
Nach dem Tee gehen wir nach oben ins Gästezimmer, wo ich zaghaft damit begonnen habe, Kommoden und Schränke auszuräumen, die seit Jahren niemand mehr angerührt hat. In einem dieser nach Mottenkugeln riechenden Mausoleen finden wir drei meiner Kostüme, die als traurige Hüllen dort hängen. Warum habe ich sie so lange aufbewahrt? Der Gedanke, eines Tages wieder einen klassischen Bleistiftrock oder ein tailliertes Jackett zu tragen, ist schließlich lächerlich. Seit Jahrzehnten habe ich die Sachen nicht mehr angezogen - sie sind Relikte aus meiner Zeit als erfolgreiche Geschäftsfrau und weisen entsprechende Gebrauchsspuren auf. Die Rückseiten der Röcke glänzen vom langen Sitzen auf Bürostühlen, und die Ellenbogen der Jacketts sind dünn geworden. Es war eine Angewohnheit von mir, bei den vielen Meetings, die ich in meinem Leben absolviert habe, die Arme auf den Tisch und das Kinn in die Hände zu stützen.
»Also, das nenne ich Powerkleidung«, sagt Emily, während sie ein Jackett anzieht und sich selbst in dem hohen Spiegel an der Innenseite der Schranktür bewundert. »Schau dir nur diese Schulterpolster an und die winzige Taille. Du musst super ausgesehen haben, Gran. Kann ich das behalten? Breite Schultern sind so was von cool.«
»Natürlich, Schatz. Ich dachte, die seien in den Achtzigern aus der Mode gekommen?«
»Sie sind wieder in«, sagt sie, schiebt die Kleiderhaufen und schwarzen Müllsäcke beiseite und setzt sich aufs Bett. Dann klopft sie auf die freie Stelle neben sich. »Du hast deinen Job gerne gemacht, oder?«
»Ich glaube schon«, sage ich und lasse mich neben ihr nieder. »Allerdings habe ich nie wirklich darüber nachgedacht. Es war irgendwann ganz selbstverständlich, aber ich denke schon, dass ich meine Arbeit wirklich geliebt habe.« Und dann sage ich etwas, das Gwen, in schweren Zeiten meine engste Mitarbeiterin und Vertraute, einmal folgendermaßen ausgedrückt hat: »Es ist eine Art Alchemie, weißt du? Als würde man stumpfes Metall in Gold verwandeln. Nur noch besser, weil Seide so schöne Muster und Farben hat.«
»Das ist ziemlich poetisch«, sagt Emily. »Dad redet nie so darüber.«
»Das tat dein Großvater auch nicht«, antworte ich. »Männer können ihre Gefühle zumeist weniger gut ausdrücken. Außerdem neigt man dazu, selbst etwas so Wundervolles wie Seide als alltäglich hinzunehmen, wenn man ständig damit umgeht.«
»Ist dir nie langweilig geworden?« Ich muss einen Augenblick überlegen. »Nein, ich glaube nicht.« »Du kamst mir nicht besonders glücklich vor, als ich dich neulich wegen der Fallschirmseide gefragt habe.«
Ich wünschte, die Worte würden nicht so schmerzen und sich nicht wie ein Druck auf meine Seele legen. »Das liegt bloß daran, weil ich den Gedanken nicht ertrage, dass du aus einem Flugzeug springst, Liebes«, sage ich und versuche mich selbst und sie damit zu beschwichtigen.
»Mir passiert schon nichts, Gran«, sagt sie leichthin. »Mach dir keine Sorgen. Wir planen auch noch andere Sachen, um Geld zusammenzukriegen. Wenn du beim Aufräumen deiner Schränke irgendetwas findest, was ich für unsere Onlineauktion gebrauchen könnte, wäre das toll.«
»Du kannst dir nehmen, was du willst«, sage ich. Sie wendet sich wieder dem Kleiderschrank zu und kramt auf dem Boden herum.
»Was ist das, Granma?«, ertönt ihre gedämpfte Stimme.
»Ich weiß nicht, was du gefunden hast«, sage ich.
Als sie den braunen Koffer herauszieht, macht mein Herz einen Sprung und beginnt wild zu klopfen. Das Leder ist abgenutzt und verschlissen, aber die geprägten Initialen auf dem Verschluss sind nach wie vor deutlich zu erkennen. S.H. Natürlich wusste ich, dass er dort war, doch während der letzten sechzig Jahre habe ich ihn nicht nur in den dunkelsten Ecken des Schranks versteckt, sondern auch in den letzten Winkel meines Gehirns geschoben. Obwohl ich die ganze Zeit über keinen Blick mehr darauf geworfen habe, überfallen mich sofort diese vertrauten Gefühle von Schuld und Gram und ergreifen machtvoll von mir Besitz.
»Was ist da drin, Gran?«, fragt sie und macht sich ungeduldig an den Verschlüssen zu schaffen. »Die scheinen zu klemmen.«
Er ist abgeschlossen. Zum Glück, denke ich - der Schlüssel liegt sicher in meinem Sekretär verwahrt. Irgendetwas in mir sträubt sich, den Koffer zu öffnen. »Bloß alte Papiere, wahrscheinlich Müll.« Ich bemühe mich, gleichmütig zu klingen, und bin doch wie benommen von dieser unerwarteten Entdeckung. Selbstverständlich kenne ich jedes einzelne Stück, das sich in dem alten Koffer befindet - es ist ein Bündel von Erinnerungen, die so intensiv und schmerzhaft sind, dass ich mich ihnen am liebsten nie wieder stellen möchte. Dennoch bringe ich es nicht über mich, ihn wegzuwerfen.
Vielleicht hole ich ihn hervor, wenn Emily gegangen ist, um die quälenden Erinnerungen ein für alle Mal loszuwerden, denke ich. Ja, das werde ich tun. »Leg ihn wieder zurück in den Schrank, Liebes. Ich schaue ihn mir später an«, sage ich so ruhig wie möglich. »Sollen wir etwas zu Mittag essen?«
Nach diesem Schock lässt mein Enthusiasmus fürs Aufräumen deutlich nach, und ich versuche mich auf anderes zu konzentrieren. Mir fällt ein, dass ich mal wieder in den Supermarkt zum Einkaufen müsste, und weil es angefangen hat zu regnen, suche ich im Schrank unter der Treppe nach meinem Regenmantel. Dabei fällt mir ein alter hölzerner Tennisschläger in die Hände. Er steckt in seiner Hülle, und als ich ihn herausziehe, sehe ich, dass die Flügelschrauben rostig sind. Mit der ausgeleierten Bespannung ließe sich kein Ball mehr schlagen, und der mit Leder umwickelte Griff ist ausgefranst und grau vor Schimmel.
Trotzdem mache ich ein paar Bewegungen, als wolle ich aufschlagen, und fühle mich plötzlich zurückversetzt ins Jahr 1938 an einen besonders heißen Julitag. Vera und ich hatten eines unserer halbherzigen Tennismatche ausgetragen, barfuß auf dem Rasen zwischen den Maulwurfhügeln, und die Bälle binnen Kurzem alle über den Maschendrahtzaun ins hohe Gras der Streuobstwiese geschlagen. Aus Furcht davor, auf eine der Bienen zu treten, die geschäftig in dem blühenden Klee summten, staksten wir auf Zehenspitzen herum und fanden zwei wieder. Der dritte blieb verschwunden.
»Gib's auf«, seufzte Vera und ließ sich bäuchlings auf den Rasen fallen, ohne sich um Grasflecken zu scheren, Arme und Beine wie ein Schwimmer weit ausgestreckt. Ihre rot lackierten Fingernägel verkündeten demonstrativ unsere Befreiung von der Schule. Ich legte mich neben sie und malte mir meine Zukunft in den schönsten Farben aus. Die Sonne auf meiner Wange wurde zur Berührung einer warmen Hand, der sanfte Windhauch in meinem Haar zum Atem eines attraktiven jungen Mannes, der mir zu flüsterte, dass er mich liebte.
»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Vera nach einer Weile. »Das Übliche. Das weißt du ganz genau. Und jetzt halt den Mund und lass mich zu ihm zurück.«
Vera war meine beste Freundin, seit ich ihr vergeben hatte, dass sie mich in der Vorschule immer an den Zöpfen zog. Mit anderen Worten: seit einer Ewigkeit fast. Als wir ins Teenageralter kamen, waren wir ein seltsames Gespann; ich war inzwischen gut fünfzehn Zentimeter größer als sie, nur mein Busen wuchs nicht, obwohl ich allerlei dubiose Ratschläge befolgte, die angeblich Abhilfe schaffen sollten. Vera hingegen entwickelte eine Figur, die einem Hollywoodstarlet Ehre gemacht hätte.
Neben ihr kam ich mir irgendwie unweiblich vor - dabei wollte ich genau das so gerne sein. Also unternahm ich einige Versuche, meinem festen braunen Haar eine Dauerwelle und mir mehr Sexappeal zu verpassen. Es endete mit einem Fiasko, und selbst heute noch erinnert mich der Geruch von Dauerwellenlotion daran, wie grauenvoll ich damals aussah. Sobald meine Haare wieder in ihren Normalzustand zurückgekehrt waren, entschied ich mich für einen glatten, kinnlangen Bob, mit dem ich mir enorm verwegen und modern vorkam, während Vera ihr Haar gewagt platinblond bleichte und à la Hollywood frisierte.
Gemeinsam verbrachten wir Stunden vor dem Spiegel, um unser Makeup zu verfeinern, und Vera probierte aus, wie sie ihre Grübchen und Lippen betonen konnte. Damit ich mir nicht allzu unterlegen vorkam, erklärte sie großzügig, sie gäbe alles in der Welt dafür, wenn sie bloß meine Wangenknochen und meine langen Wimpern hätte.
In allen anderen Dingen waren wir uns sehr ähnlich - wir lachten über dieselben Dinge, schwärmten für dieselben Jungs, liebten dieselbe Musik, regten uns über dieselben Ungerechtigkeiten auf. Waren beide achtzehn, gerade mit der Schule fertig und sehnten uns danach, uns zu verlieben.
»Höre ich dich etwa in den Armen deines imaginären Liebhabers seufzen?«
»Mais oui, un très sexy garçon français.«
»Du dumme Gans. Hast wohl zu viele Liebesromane gelesen.«
Außer unserem Reden und Lachen herrschte Stille ringsum, unterbrochen nur vom gelegentlichen Tuckern eines Traktors auf der Straße und dem Muhen der Kühe in den Auwiesen, die nach ihren Kälbern riefen. Die Schule schien inzwischen weit entfernt, wie ein anderes Leben fast. Abgesehen von der Ungewissheit, wie unsere Prüfungen ausgefallen waren, lag die Zukunft strahlend und verheißungsvoll vor uns. Plötzlich sagte Vera: »Was glaubst du, was wird wirklich passieren?«
»Wie meinst du das? Wissen wir das nicht längst? Ich gehe nach Genf, um Französisch zu lernen, treffe dort den attraktivsten Mann auf Erden, und du leerst Bettpfannen im Krankenhaus. So haben wir das doch geplant, oder?«
Sie ignorierte die Stichelei. »Ich meine mit den Deutschen. Jetzt, nachdem Hitler Österreich vereinnahmt hat und so.«
»Die werden das schon hinkriegen, oder?«, sagte ich und betrachtete die Schleierwolken, die beinahe unmerklich über den tiefblauen Himmel zogen. An diesem Morgen hatte mein Vater am Frühstückstisch über der Times gesessen, dabei geseufzt und gemurmelt: »Chamberlain sollte langsam in die Gänge kommen. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein Krieg.« Doch hier im Sonnenschein weigerte ich mich, mir irgendetwas anderes vorzustellen als ein perfektes Leben.
»Das wollen wir weiß Gott hoffen«, sagte Vera.
Die Bummelbahn nach Braintree pfiff in der Ferne, und der Duft nach gemähtem Gras hing schwer in der Luft. Es war für uns nicht vorstellbar, dass die Armee eines Landes einfach in ein anderes einmarschierte und es an sich riss. »Anschluss« nannten die Nazis das.
Genau betrachtet passierte das alles in gar nicht weiter Entfernung. Österreich lag schließlich gleich hinter Frankreich und der Schweiz. Bekannte von uns machten dort Wander- oder Skiurlaub. Mein Bruder war erst im letzten Winter zum Skifahren dort gewesen und hatte uns eine Ansichtskarte von schneebedeckten, unglaublich spitzen Bergen geschickt.
Inzwischen brannte die Sonne nicht mehr so heiß vom Himmel, stand jetzt hinter den Pappeln und warf lange Schatten über die Wiese. Wir erhoben uns, um nochmals nach dem verlorenen Ball zu suchen.
»Wir sollten besser nach Hause gehen«, sagte ich. »Mutter meinte, dass John vielleicht heute Nachmittag kommt, sofern alles mit der Fähre und dem Umsteigen in London klappt.« Dann sollte ich zu Hause sein, hatte sie mich ermahnt.
»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Er war ja monatelang weg.«
»Fast ein Jahr. Ich habe ihn vermisst.«
»Ich dachte, du würdest ihn hassen«, kicherte Vera, während sie rückwärts vor mir herging. »Ich jedenfalls habe ihm seine Rüpeleien nicht verziehen. Schau, das ist immer noch die Narbe von damals, als er mich angeblich ganz aus Versehen von der Schaukel geschubst hat«, sagte sie und deutete auf ihre Stirn. »Das hat er mit voller Absicht gemacht.«
»Seine kleine Schwester und deren beste Freundin zu ärgern, gehörte einfach dazu.« Zwar waren John und ich immer ein wenig eifersüchtig gewesen, was die Aufmerksamkeit unserer Eltern anging - trotzdem hatte ich zu ihm aufgesehen und war stolz auf ihn. Groß und sportlich, gut aussehend mit dem modisch frisierten dunklen Haar, ähnelte er den gefeierten Tennishelden jener Zeit. Und das wusste er auch und hegte keinerlei Zweifel an seiner Anziehungskraft auf Mädchen. Eine Überheblichkeit, die mich bisweilen ärgerte, und doch hatte ich ihn vermisst, während er zum Studium in der Schweiz weilte.
Vera und ich deckten gerade im Salon den Teetisch, als es läutete. Ich rannte zur Eingangstür.
»Hallo, Schwesterchen«, dröhnte John mit einer Stimme, die tiefer war, als ich sie in Erinnerung hatte. Dann schlang er zu meiner Überraschung die Arme um mich und drückte mich kräftig an sich. Das hätte er früher nicht gemacht, dachte ich. Er trat einen Schritt zurück und musterte mich von oben bis unten. »Donnerwetter, bist du groß geworden. Es dauert nicht mehr lange, und du musst nicht mehr zu mir aufschauen.«
Ich lachte. »Keine Sorge, ich werde dich bestimmt nie einholen.«
»Das ist auch gut so«, gab er grinsend zurück. »Übrigens gefällt mir deine Frisur.« Sein unerwartetes Kompliment, das erste, das ich von meinem Bruder zu hören bekam, warf mich völlig aus der Bahn. Dann sah ich, wie seine Miene einen ganz merkwürdigen Ausdruck annahm, und während ich mich noch nach dem Grund fragte, bemerkte ich, dass Vera inzwischen ebenfalls zur Tür gekommen war und hinter mir stand.
»Vera?« Sie nickte und fuhr sich mit den Fingern durch die Locken - ich war mir nicht sicher, ob es aus Verlegenheit geschah oder weil sie mit ihm kokettierte.
John fasste sich wieder. »Meine Güte, du siehst ja aus wie eine junge Frau«, sagte er bewundernd und gab ihr die Hand. Sie lächelte sittsam und schaute ihn unter gesenkten Wimpern hervor an. Ich kannte diesen Blick bei ihr - nur hatte er nie zuvor meinem Bruder gegolten. Irgendwie gefiel mir das nicht.
»Wie sind die Prüfungen bei euch beiden gelaufen?«
Ich zuckte zusammen. »Frag nicht danach. Die Wahrheit wird früh genug in ein paar Wochen ans Licht kommen.«
Mutter erschien hinter uns und schlang glücklich lachend die Arme um ihn. »Mein lieber Junge. Dem Himmel sei Dank, dass du heil wieder zu Hause bist. Komm schnell herein!«
Er atmete tief durch, als er in den Flur trat. »Wie schön. Trautes Heim, Glück allein, heißt es nicht so? Hätte nie gedacht, dass es mir so fehlen würde. Was riecht denn hier so herrlich?«
»Ich habe dir zu Ehren Zitronenkuchen gebacken, ich hoffe, du magst ihn immer noch so gerne wie früher«, sagte Mutter. »Du bleibst doch zum Tee, Vera?«
»Haben Sie je erlebt, dass ich mir ein Stück Ihres Kuchens entgehen lasse, Mrs. Verner?«
Mutter servierte den Tee, und während wir uns unterhielten, stellte ich fest, wie sehr John sich verändert hatte, wie weltmännisch er geworden war. Vera schien es ebenfalls zu bemerken. Sie lächelte ihn öfter an als wirklich nötig und kicherte sogar über die lahmsten seiner Witze.
»Warum bist du so früh zurück?«, fragte Vater. »Ich hoffe sehr, du hast das Semester ordentlich abgeschlossen?«
»Keine Sorge, ich bin mit allen meinen Prüfungen durch«, sagte John fröhlich. »Ehrlich. Ich habe an der Hochschule so viel gelernt und kann es gar nicht erwarten, mich in die Praxis zu stürzen.«
Vater nickte erfreut, runzelte jedoch missbilligend die Stirn, als John seinen Tee schlürfte - seine Manieren schienen sich in der Schweiz nicht gerade verbessert zu haben.
»Was ist mit deinen Zeugnissen?«, wollte er wissen.
»Sie schicken sie mir zu. Ich bin nicht durchgefallen oder rausgeflogen, wenn du das denkst. Nein, ich war ein Musterschüler, haben sie gesagt.«
»Trotzdem verstehe ich das nicht, John«, beharrte Vater. »Das Semester sollte bis Ende des Monats gehen.« John schüttelte den Kopf, den Mund voller Kuchen. »Warum bist du also früher weggefahren?«
»Noch jemand Tee?«, fragte Mutter, um das unbehagliche Schweigen zu überbrücken. »Ich setze rasch den Kessel auf.«
Als sie sich erhob, murmelte John vor sich hin: »Um ehrlich zu sein: Ich wollte nach Hause zurück.«
»Deswegen musst du dich doch nicht schämen, mein Junge«, sagte sie. »Wir alle bekommen manchmal Heimweh. «
»Das ist es nicht«, antwortete er mit ernster Stimme. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie man sich dort im Augenblick fühlt. Was da drüben alles passiert, vor allem in Österreich.«
»Was genau meinst du damit?«, fragte ich mit unfreiwilligem Schaudern.
»Heraus mit der Sprache, Junge«, ergänzte Vater schroff. »Erklär das mal genauer.«
John stellte Teller und Tasse ab, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute aus dem Fenster in die wundervolle Constable-Landschaft. Mutter hielt inne, die Kanne in der Hand, und wir alle warteten.
»Es ist so«, fing er an und wählte seine Worte mit Bedacht. »Wir waren ein paarmal in Österreich - ihr wisst ja, zum Skifahren. Habt ihr meine Postkarte bekommen?«
Mutter nickte. »Sie hat einen Ehrenplatz auf dem Kaminsims bekommen«, sagte sie.
»Damals schien die Welt dort noch in Ordnung zu sein. Dann waren wir vor einigen Wochen erneut in Wien, um verschiedene Webstuhlfabriken zu besichtigen. Unter anderem die der Fischers. Der Sohn des Besitzers, Franz, hat uns herumgeführt.«
»Ich erinnere mich an Herrn Fischer. Wir haben hin und wieder bei ihm Maschinen gekauft. Ein guter Mann«, sagte Vater. »Wie geht es ihnen?«
»Erst klang es bloß so, als würden die Geschäfte etwas schleppend laufen - Franz machte ein paar vage Bemerkungen. Draußen aber, als niemand zuhörte, fragte ich ihn direkt, was los sei. Erst wollte er nicht raus mit der Sprache, doch schließlich flüsterte er mir zu, dass sie gezwungen würden, die Fabrik zu verkaufen.«
»Gezwungen?«, fragte ich. »Wer kann die Fischers dazu zwingen?«
»O ja, sie können. Im Großdeutschen Reich, wie das jetzt heißt, sind Juden völlig rechtlos. Und die Fischers sind Juden«, sagte John. »Die Nazis haben schon vor Jahren entsprechende Gesetze erlassen und sie immer mehr verschärft. Mittlerweile dürfen Juden keine Fabriken und keine Läden mehr besitzen, dürfen nicht mehr als Ärzte. Lehrer oder Rechtsanwälte tätig sein. Es sei denn in jüdischen Organisationen.«
»Ja, ich habe darüber gelesen, das ist wirklich ungeheuerlich «, meinte Vater. »Nur ist es noch einmal eine andere Sache, wenn man von einem konkreten Fall hört.
»Die Fischers hoffen, dass sie ungeschoren davonkommen, solange sie sich ganz ruhig verhalten«, sagte John, während ich das Gehörte nicht zusammenbrachte mit meinem Bild von Wien. Wie konnte so etwas in einer Stadt passieren, in der man weißen Pferden das Tanzen beibrachte und in Walzerseligkeit schwelgte.
»Meinst du, wir können etwas für sie tun?«, fragte Mutter. Ihr erster Impuls bestand immer darin, jedem zu helfen, der in Schwierigkeiten steckte.
»Ich bin mir nicht sicher. Franz meinte, die Entwicklung sei nicht mehr aufzuhalten und besser werde es bestimmt nicht. Es ist für ihn und seine Familie ziemlich beängstigend, weil niemand weiß, was die Nazis als Nächstes planen«, erklärte John mit ernstem Gesicht. »Die Juden werden schikaniert, wo es nur geht. Ich habe gelbe Sterne an Häusern und Läden gesehen. Zerbrochene Fenster. Die Ärmsten wurden auf der Straße angepöbelt.« Sein Blick schweifte abwesend zum Fenster, als könne er selbst nicht glauben, was er gesehen hatte. »Sie nennen es Pogrom«, füsterte er. Ich hatte das Wort nie zuvor gehört, doch es klang bedrohlich und hing lastend im Raum.
»Das ist eine so trübsinnige Unterhaltung«, unterbrach Mutter das Gespräch. »Ich möchte die Rückkehr meines Sohnes feiern und mich nicht von den Ereignissen auf dem Kontinent deprimieren lassen. Noch jemand ein Stück Kuchen?«
Später schlenderten Vera und ich die Straße zum Haus ihrer Eltern hinunter. Sie wohnte nicht weit entfernt, und wir begleiteten einander normalerweise die Hälfte des Weges. »Was meinst du?«, fragte ich sie.
»Hat sich ganz schön verändert, was? Er ist richtig männlich geworden und sieht ziemlich gut aus.«
»Nicht wegen John«, fuhr ich ihr über den Mund. »Ich habe gesehen, wie du mit den Wimpern geklimpert hast, du kleine Kokotte. Hände weg von meinem Bruder!«
»Schon gut, schon gut. Krieg dich mal wieder ein.«
»Ich meinte wegen der Sachen, die er erzählt hat.«
»Ach das«, sagte sie. »Klingt hart.«
»Offenbar vor allem für die Juden.« Ich dachte eine Weile nach. »Ich habe das mit den Pogromen zwar immer noch nicht verstanden, aber es muss etwas ganz Schreckliches sein.«
»Na ja, da gibt es nicht viel, was wir von hier aus unternehmen können. Lass uns hoffen, dass dein Vater mit seiner unerschütterlichen Überzeugung recht behält, dass Chamberlain das irgendwie wieder in Ordnung bringt.«
»Und wenn er es nicht schafft?«
Sie antwortete nicht gleich, doch wir wussten beide, was das bedeuten würde.
»Nicht auszudenken«, sagte sie.
Als ich zurückkehrte, steckte Vater den Kopf aus der Tür seines Arbeitszimmers.
»Lily? Hast du einen Moment, bitte?«
Es war ein kleines Zimmer mit einem Fenster, das auf den Hof hinausging, und mit Regalen voller Bücher an den Wänden. Über allem hing ein schwerer Tabakgeruch, denn Vater war ein passionierter Pfeifenraucher. Außerdem war es der wärmste Raum von allen, denn sobald es kühl wurde, brannte immer ein Kohlefeuer in dem kleinen Kamin. Das Arbeitszimmer war Vaters Heiligtum, und die schwere, vertäfelte Tür blieb normalerweise geschlossen. Sogar meine Mutter klopfte an, bevor sie eintrat.
Trotzdem schlich ich mich öfters heimlich hinein, wenn er nicht da war, und schaute mir die Bücher an: Die Seidenweber von Spitalfields, Die Seidenraupenzucht in Japan, Die Hugenotten, So spinnt die Seidenraupe und viele andere mehr. Mir hatte es besonders die Biografie eines Bänder- und Etikettenherstellers angetan - nicht wegen des Inhalts, sondern wegen des komischen Titels: Renommee für Rüschen hieß sie. Am faszinierendsten aber war ein einfacher Kasten voll mit Dutzenden Bögen Kanzleipapier, die dicht mit Vaters sauberer Handschrift beschrieben waren. Auf dem ersten Blatt stand in selbstbewussten Großbuchstaben: DIE GESCHICHTE DER SEIDE von HAROLD VERNER. Zu gerne hätte ich ihn gefragt, ob er dieses Manuskript irgendwann zu veröffentlichen gedachte, ließ es aber trotzdem bleiben. Schließlich hätte ich damit verraten, dass ich gelegentlich in seinem Zimmer herumkramte.
Jetzt lehnte ich mich unbehaglich an den Schreibtisch, während Vater in seinem Ledersessel am Fenster saß. Er atmete so tief ein, dass es sich fast wie ein Seufzen anhörte.
»Mutter und ich hatten ein kleines Gespräch«, fing er an, was so viel hieß wie: Er hatte etwas entschieden und ihr mitgeteilt, was er dachte. Meine Gedanken überschlugen sich. Das ließ nichts Gutes erahnen. Was konnte es nur sein? Was hatte ich in letzter Zeit falsch gemacht?
»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, Liebes. Du liest die Zeitung, und nach dem, was John uns heute Nachmittag erzählt hat ...«
»Über das Pogrom?« Das Wort blieb wie ein Kloß in meiner Kehle stecken.
Er fuhr sich mit der Hand durch das dünner werdende Haar, das er inzwischen immer sorgfältig über eine fast kahle Stelle am Hinterkopf kämmte. »Hör zu, ich weiß, dass du enttäuscht sein wirst, doch du hast ja die schlimmen Geschichten gehört.«
Ich hielt den Atem an, weil ich mich vor dem fürchtete, was als Nächstes kommen würde.
»Unter den gegebenen Umständen hielten Mutter und ich es für unklug, dich im September nach Genf gehen zu lassen.«
Eine Ader an meiner Schläfe begann schmerzhaft zu pochen. »Unklug? Was meinst du damit? Ich bin keine Jüdin. Diese Sache mit den Pogromen betrifft mich gar nicht.« Er hielt mit steinerner Miene meinem Blick stand. Seine Entscheidung war gefallen. »Das ist nicht fair«, hörte ich mich jammern. »John durfte schließlich auch gehen.«
»Das war vor einem Jahr. Die Lage hat sich verändert, mein Kind.«
»Die Nazis sind nicht in der Schweiz.«
Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Hitler ist ein unberechenbarer Mann. Man weiß nie, welches Land er als Nächstes überfällt.«
»Und Chamberlain?« Ich wusste nicht weiter, klammerte mich an Treibgut, von dem ich ahnte, dass es mich nicht retten würde.
»Er tut sein Bestes, der arme Mann.« Vater schüttelte traurig den Kopf. »Er glaubt an den Frieden - wie ich. Niemand will wieder Krieg. Nur sieht es leider nicht gerade gut aus.«
Ich konnte nicht fassen, was gerade geschah. Binnen weniger Minuten war mir mein zukünftiges Leben, wie ich es mir gerne ausgemalt hatte, entglitten, und ich vermochte nichts dagegen zu tun. »Aber ich muss fahren. Ich habe es seit Monaten geplant«, unternahm ich einen letzten Versuch.
»Betrachte es als vorläufige Entscheidung. Wir teilen dem Institut in Genf mit, dass du im September nicht kommen wirst, und später werden wir weitersehen.« Vaters Stimme klang ruhig und besonnen und zugleich endgültig.
»Ich will mir keine Zeit lassen. Ich will jetzt fahren«, begehrte ich auf wie ein trotziges Kind. »Außerdem, was soll ich denn sonst machen?«
Er tastete in seiner Tasche nach seinem Tabakbeutel und seiner Lieblingspfeife aus Bruyère. Mit beinahe provozierender Langsamkeit stopfte er die Pfeife, zündete geschickt ein Streichholz an, hielt es an den Pfeifenkopf und paffte nachdenklich. Nach einer Weile blickte er auf und schaute mich strahlend an, als sei ihm soeben die beste Idee aller Zeiten gekommen. »Wie wäre es mit einem Kochkurs? Das ist immer nützlich.«
Ich starrte ihn entgeistert an, während es in meinem Innern zu brodeln begann. »Du verstehst das einfach nicht, oder?« Obwohl ich seine missbilligende Miene bemerkte, sprudelten die Worte unkontrolliert aus mir heraus. »Weil ich ein Mädchen bin, glaubst du, mein einziger Ehrgeiz müsse darin bestehen, eine perfekte dumme, kleine Ehefrau zu sein, meinen Mann mit köstlichen Mahlzeiten zu verwöhnen und ihm jeden Abend die Pantoffeln hinzustellen. «
»Pass auf, was du sagst, Lily«, warnte er mich.
Um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, fing ich an, vor dem Schreibtisch auf und ab zu gehen, den Blick auf den Perserteppich gerichtet. »Die Zeiten haben sich geändert, Vater. Ich bin genauso intelligent wie jeder beliebige Mann, und ich werde meinen Verstand, den der liebe Gott mir zum Glück geschenkt hat, nicht damit vergeuden, eine meisterliche Köchin oder eine perfekte Näherin zu werden. Und genauso wenig denke ich daran, bald zu heiraten - vorher möchte ich nämlich noch etwas aus meinem Leben machen.«
»Das sollst du auch, Lily. Wir werden bestimmt etwas Passendes für dich finden. Nur nicht in Genf oder irgendwo anders auf dem Kontinent«, sagte er abschließend. »Und jetzt, glaube ich, sollten wir diese Diskussion beenden. Es ist Zeit, zu Bett zu gehen.«
Um ein Haar hätte ich die Arbeitszimmertür hinter mir zugeknallt, besann mich jedoch im letzten Augenblick und zog sie behutsam ins Schloss. In meinem Schlafzimmer verfluchte ich Vater, Chamberlain und Hitler. In dieser Reihenfolge.
Normalerweise liebte ich mein eigenes kleines Reich mit seinen hübschen Damastvorhängen und dem passenden Bettüberwurf - jetzt allerdings schien mich jeder einzelne Gegenstand zu verhöhnen und wie mit Ketten an Westbury zu fesseln. Ich warf einen Blick in den Spiegel und bemerkte, wie erbärmlich ich aussah. Selbstmitleid würde mich nirgendwohin bringen, dachte ich mir, und schon gar nicht in ein interessanteres Leben. Irgendetwas musste mir einfallen, wie ich von zu Hause wegkam, vielleicht nach London, in Veras Nähe. Wenn ich das schaffen wollte, brauchte ich gute Argumente. Immerhin bestand mein Problem darin, dass ich außer einem Schulabschluss nichts vorzuweisen hatte.
Plötzlich erinnerte ich mich an Tante Phoebe, eine entfernte Verwandte, die nie geheiratet hatte und mit einer Freundin in London lebte. Sie arbeitete irgendwo in einem Büro, fuhr mit ihrem Austin Seven in ganz Europa herum und scherte sich keinen Deut darum, was die Leute von ihrem unkonventionellen Lebensstil hielten. Vielleicht konnte ich mich zur Sekretärin ausbilden lassen, so wie sie es gemacht hatte? Genug verdienen, um mir eine kleine Wohnung zu mieten? Der Gedanke gefiel mir immer besser. Es war nicht so romantisch wie Genf, aber zumindest würde ich von hier fortkommen und interessante Leute treffen.
Jetzt musste ich nur noch meinen Vater davon überzeugen, dass es sich um einen vernünftigen Plan und nicht bloß eine verrückte Idee handelte.
Beim Frühstück am nächsten Morgen kreuzte ich die Finger hinter dem Rücken und verkündete: »Ich habe beschlossen, mir in London einen Job zu suchen. Vera und ich teilen uns ein möbliertes Zimmer, das kommt billiger. « Sie wusste noch nichts von ihrem Glück, würde aber bestimmt Ja sagen.
»Reizend, Liebes.« Mutter war mit den Gedanken offenbar ganz woanders und verteilte zudem gerade Frühstückseier mit Speck, die auf einer Warmhalteplatte standen.
»Klingt gut«, sagte John und schüttete den größten Teil des Kaffees, der eigentlich für alle reichen sollte, in die riesige Tasse, die er irgendwo in Frankreich gekauft hatte. »Vera ist ein lustiger Vogel. Was hast du denn genau vor?«
»Lass mir ein bisschen Kaffee übrig«, sagte ich. »Ich denke, irgendeine Büroarbeit wäre für mich am besten. Und um vorher Erfahrung zu sammeln, würde ich gerne ein paar Wochen bei Beryl in der Cheapside aushelfen.« Beryl leitete die Londoner Niederlassung von Verner's & Sons. »Was meinst du, Vater?«
»Nun ja«, sagte er, während er sorgfältig seine Zeitung zusammenfaltete und neben sein Besteck legte. »Ein weiteres Familienmitglied in der Firma? Gute Idee.« Er nahm einen gefüllten Teller von Mutter entgegen und fing an, sorgfältig Butter auf seinen Toast zu streichen. »Eine sehr gute Idee sogar. Aber du müsstest natürlich von der Pike auf das Geschäft erlernen.«
»Was meinst du damit?« Verstand er mich absichtlich falsch? Ich wollte ins Büro, nicht in die Fabrik!
»Du müsstest genau wie John den ganzen Prozess durchlaufen und als Weber anfangen«, sagte er und schob Rührei auf seinen Toast.
»Das habe ich nicht gemeint. Ich möchte Erfahrungen als Sekretärin sammeln«, sagte ich scharf. »Um in einem Büro zu arbeiten, muss ich schließlich nicht wissen, wie man das Zeug webt. Kann Beryl weben?«
Er warf mir einen strengen Blick zu, und im Raum wurde es unbehaglich still. Mutter schlüpfte hinaus und murmelte etwas über mehr Toast vor sich hin, und John betrachtete angelegentlich das Muster der Tischdecke. Vater legte leise seufzend Messer und Gabel ab, als habe er sich damit abgefunden, sein warmes Frühstück hintanzustellen, bis er seine eigensinnige Tochter belehrt hatte.
»Meine liebe Lily, lass mich dir die grundlegenden Prinzipien des Arbeitslebens erklären. Beryl kam als qualifizierte Verwaltungskraft zu uns, wohingegen du keinerlei Fähigkeiten oder Erfahrungen vorweisen kannst. Du weißt sehr gut, dass ich keine Vorzugsbehandlung für meine Familienangehörigen dulde, und ich werde dir keinen Job anbieten, bloß weil du eine Verner bist. Wenn du in der Firma arbeiten willst, dann lernst du das Geschäft von Grund auf. Du musst mir beweisen, dass du nicht nur herumspielst.«
Er holte tief Luft und fuhr dann fort: »Aber ich mache dir ein Angebot. Beweise dich hier in Westbury, und wenn du nach sechs Monaten immer noch nach London gehen und dort im Büro arbeiten möchtest, dann werde ich dir den Besuch der Sekretärinnenfachschule ermöglichen. Falls es das ist, was du wirklich willst. Falls nicht, lernst du kochen - du hast die Wahl.«
Kapitel 3
Beim Weben wird ein Schussfaden, üblicherweise mittels eines Schiffchens, durch Kettfäden gezogen, die parallel zueinander um einen Baum gespannt sind, der die gesamte Breite des Gewebes bestimmt. Dessen Struktur wird durch Heben und Senken ausgewählter Kettfäden bei jedem Durchschießen des Schussfadens variiert.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Ich hatte nie beabsichtigt, Seidenweberin zu werden, aber Adolf Hitler und mein Vater ließen mir kaum eine Wahl.
Natürlich war ich bereits vertraut mit der Fabrik. Ich wohnte nebenan, hatte Botengänge für meine Mutter gemacht, war dort gewesen, wenn ich irgendetwas von Vater wollte, doch ich hatte keine besondere Beziehung dazu. Für mich war es ein Gebäude voll lärmender Maschinen und staubigen Zubehörs, in dem kompromisslos nach den Grundsätzen von Kommerz und Profit gewirtschaftet wurde. Die Vorstellung, dort sechs Monate verbringen zu müssen, kam mir vor wie die Aussicht auf eine lebenslange Haftstrafe.
Damals bestand die Fabrik nur aus dem zweigeschossigen Backsteingebäude mit Schieferdach. Der Haupteingang besaß eine grün gestrichene Doppeltür mit zwei Schiebefenstern zu beiden Seiten und dreien darüber. Heutzutage macht dieser Trakt bloß einen kleinen Teil des Fabrikkomplexes aus, den mein Sohn leitet und eindrucksvoll erweitert hat.
Hinter der alten Fabrik erstrecken sich mittlerweile niedrige Baracken, in denen Greiferwebmaschinen rasseln und rattern und in einem Umfang Gewebe produzieren, der zu meiner Zeit undenkbar gewesen wäre. Selbst jetzt, wenn in der Hitze des Sommers die Türen offen stehen, um eine kühlende Brise hereinzulassen, höre ich die Webmaschinen. Aus der Ferne klingt es wie das Summen riesiger Bienenschwärme, und dieses Geräusch gibt mir das beruhigende Gefühl, dass alles in Ordnung ist.
Damals wurde in zwei Schichten gearbeitet. Die Angestellten kamen und gingen an jedem Werktag zu Fuß oder mit dem Fahrrad, mit Ausnahme der Betriebsferien an Weihnachten und im Sommer. Der Rhythmus der Arbeit ist der gleiche geblieben, nur dass die Mitarbeiter inzwischen mit dem Auto oder dem Motorrad kommen. Familien haben seit Generationen hier gearbeitet, seit mein Ururgroßvater das Unternehmen von London hierher verlegte, fort von den Wurzeln in Spitalfields. In East Anglia gab es genug Wasser, um die Mühlen anzutreiben, und zudem erfahrene Weber, die durch die Krise im Wollhandel arbeitslos geworden waren.
Selbst heute noch kommen mir die Gesichter der Weber vertraut vor, auch wenn ich nicht länger ihre Namen weiß. Aber ich erkenne Familienmerkmale - buschige Augenbrauen, gekerbte Kinne, krause Locken, breite Schultern, ungewöhnliche Größe oder eine besonders schlanke Figur -, die vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter übergegangen sind. Sie sind treue Seelen, diese Weberfamilien, stolz auf ihre Fertigkeiten und die Schönheit der Gewebe, die sie herstellen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
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Autoren-Porträt von Liz Trenow
Trenow, LizLiz Trenow wuchs in der Nähe einer Seidenspinnerei auf, die auch heute noch in Betrieb ist und sie zu ihrem ersten Roman »Das Kastanienhaus« inspirierte. Obwohl ihre Vorfahren seit über dreihundert Jahren im Seidengeschäft tätig sind, entschied Liz Trenow sich für einen anderen Beruf. Sie arbeitete viele Jahre als Journalistin für nationale und internationale Zeitungen sowie für den Hörfunk und das Fernsehen, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete.
Bibliographische Angaben
- Autor: Liz Trenow
- 2013, 448 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Müller, Barbara
- Übersetzer: Barbara Müller
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442381185
- ISBN-13: 9783442381180
- Erscheinungsdatum: 15.07.2013
Rezension zu „Trenow, L: Kastanienhaus “
"Die großartige Autorin Liz Trenow erzählt faszinierend von einer verbotenen geheimen Liebe zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs."
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