Tochter und Vater
Roman
Nach ihrem Bestseller 'Familienleben' schreibt Viola Roggenkamp die Geschichte der deutsch-jüdischen Hamburger Familie fort. Paul war kein Held, urteilt die Tochter über ihren Vater. Und ausgerechnet er hat seine jüdische Geliebte und deren...
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Produktinformationen zu „Tochter und Vater “
Nach ihrem Bestseller 'Familienleben' schreibt Viola Roggenkamp die Geschichte der deutsch-jüdischen Hamburger Familie fort. Paul war kein Held, urteilt die Tochter über ihren Vater. Und ausgerechnet er hat seine jüdische Geliebte und deren Mutter vor der Deportation gerettet: Papiere gefälscht, die Gestapo in Berlin ausgetrickst und in Krakau im Schleichhandel Geld gescheffelt auf Kosten der Nazis. Wie hat er das gemacht? Genügt es, verliebt und jung zu sein? Er hatte Angst, und er war nur ein kleiner Angestellter. Um auf seiner Beerdigung eine Rede zu halten, spürt die Tochter seinem Leben nach und gerät dabei in eigene Katastrophen. Viola Roggenkamp erzählt ebenso leicht wie bildmächtig die Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung und die Suche nach der Vergangenheit als Weg ins eigene Leben.
Klappentext zu „Tochter und Vater “
Nach ihrem Bestseller 'Familienleben' schreibt Viola Roggenkamp die Geschichte der deutsch-jüdischen Hamburger Familie fort.Paul war kein Held, urteilt die Tochter über ihren Vater. Und ausgerechnet er hat seine jüdische Geliebte und deren Mutter vor der Deportation gerettet: Papiere gefälscht, die Gestapo in Berlin ausgetrickst und in Krakau im Schleichhandel Geld gescheffelt auf Kosten der Nazis. Wie hat er das gemacht? Genügt es, verliebt und jung zu sein? Er hatte Angst, und er war nur ein kleiner Angestellter. Um auf seiner Beerdigung eine Rede zu halten, spürt die Tochter seinem Leben nach und gerät dabei in eigene Katastrophen. Viola Roggenkamp erzählt ebenso leicht wie bildmächtig die Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung und die Suche nach der Vergangenheit als Weg ins eigene Leben.
Lese-Probe zu „Tochter und Vater “
Tochter und Vater von Viola RoggenkampI.
Ihr Vater war kurzsichtig und weitsichtig. Er konnte hellsehen und sah meistens schwarz. Niemals eilte er jemandem voraus. Dazu war er zu bequem. Er war vorauseilend in seiner Besorgnis. Beim Gehen hielt er den Kopf gesenkt und setzte seine Fußspitzen weit nach außen, wie um jedes Eindringen in anderer Leute Raum zu vermeiden. Aber seit Wochen ging er nicht mehr spazieren, er trat inzwischen nicht einmal mehr ans Fenster. Zu Hause, im Pyjama, in seinen Ohrensessel zurückgelehnt und dermaßen geschwächt, daß er seine eigenen Knochen nicht mehr zu tragen vermochte, bat er seine Tochter, ihm aus dem Schlafzimmer vom Nachttisch seine Brieftasche zu holen. Entschuldige, daß ich sitzen bleibe. Sie beugte sich über ihn. Er war unrasiert, und das war ihm unangenehm. Du wirst dich aufkratzen. Er betastete ihre Wange. Deine schöne Haut. Sie mochte ihn unrasiert. Sie mochte seine stoppelig kratzende, seine eigene Art an ihrem Gesicht. Er würde sich nicht mehr rasieren vor dem Sterben.
Ihre Schritte von ihm fort und aus dem Zimmer, über den Flur, jede ihrer Bewegungen entfernte ihn von ihr. Sie sah sich nach ihm um. Er nickte ihr zu. Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Auf dem linken Nachttisch wartete seine Brieftasche darauf, von ihr geholt zu werden. Dunkles Leder, abgewetzt und ausgebessert an den Nähten. Sie sah in das ungemachte Doppelbett und eilte zurück über den Flur. Wieder an seiner Seite, erkannte sie, daß er sich unaufhaltsam davonmachte.
... mehr
Sie gab ihm die Brieftasche. Sein weißes, großes Taschentuch, das gebügelt und zu einem kleinen Quadrat zusammengefaltet neben seinem zerwühlten Kopfkissen gelegen hatte, steckte jetzt in ihrer Rocktasche. Sie hatte es an sich genommen, nicht ohne zu zögern, dann schnell. Ein Vorgriff auf die Zeit nach seinem Dasein. Es beschlich sie deshalb ein Schuldgefühl. Sie konnte ihn fragen, und er würde es ihr geben. Sie sah seine knochigen Schultern, sie sah seinen eingefallenen Hals. Und sie behielt es für sich.
Alma war fortgegangen. Er hätte seine Tochter nicht ins Schlafzimmer geschickt, wäre seine Frau dagewesen. Kauf uns etwas Schönes zu essen, hatte er zu Alma gesagt. Er konnte nichts mehr essen, nur Astronautenkost, farbloser Glibber in winzigen Metalldöschen. Und Alma war gegangen. Für ihn hatte sie sich schön gemacht, hatte ihr Parfum aufgetragen, jeweils einen Tropfen hinters Ohrläppchen. Dann war sie auf Pumps hinausgeschwebt, nach draußen, in die Sonne.
Ihr Vater saß über seine Brieftasche gebeugt und fingerte ein Adreßbuch daraus hervor. Es war schmal und klein, wie für eine Damenhandtasche gemacht. Sein Bruder und dessen Frau sollten nicht zur Beerdigung kommen. Besser für Alma, du kannst ihn später benachrichtigen, laß eine Woche vergehen. Er befeuchtete seinen Zeigefinger, tippte und tappte mit der Fingerkuppe gegen seine schlaff hängende Unterlippe und blätterte sich durch Verwandte und Freunde. Auf keinen Fall Leimann und Misch. Auch Leimann und Misch würden Alma zu sehr aufregen. Das sah er voraus. Um mehrere Namen zog er einen Kreis, legte den so Bezeichneten die Rotstiftfessel an, und seine Tochter versprach, nach seinem Wunsch zu handeln. Von Leimann und Misch hatte sie noch nie gehört. Gib keine Anzeige auf, sonst wird womöglich doch jemand kommen, der nicht dabei sein soll.
Vielleicht wollte ihre Mutter ein bißchen Gesellschaft im Krematorium haben? Er nahm seine Brille ab, er schüttelte den Kopf, er putzte die Gläser mit seinem großen, weißen Taschentuch. Genau so ein Taschentuch, wie sie es jetzt bei sich trug. Wenn es in meiner Macht stünde, sagte er, würde ich Alma das alles ersparen. Und bitte keine Reden. Sie nickte. So schnell wie möglich über die Bühne damit. Was zu sagen wäre, könne sowieso nicht gesagt werden. Sorge dafür, daß mein Sarg nicht vor Almas Augen zum Verbrennungsofen abgesenkt wird. Das darf nicht geschehen. Versprich es mir. Sie nickte.
Wer sind Leimann und Misch?
Er grinste. Er verzog seine Lippen auf eine Weise, wie seine Tochter es nie zuvor an ihrem Vater gesehen hatte. Ihr Vater pflegte zu lächeln. Und hob er dabei ein wenig den linken Mundwinkel, lag darin ein Hauch von Resignation. Dieser Vater hier im Sessel, dürr, fast vollständig vertrocknet, grinste breit. Bis zu seinen großen Ohren zerschnitt der Mund das ausgemergelte Gesicht. Wangenknochen und Jochbeine traten hervor, und über dem eckigen Kinn spannte sich die Haut, daß aus den Gelenkgruben des Unterkiefers die Bartstoppeln auferstanden.
Er zögerte, ihr zu sagen, wer Leimann und Misch waren. Er war von seinem Tod noch so weit entfernt, sich diesen Umweg zerrinnender Zeit leisten zu können. Er schob die Brille auf seine große Nase und öffnete das Zigarettenetui, in dessen Deckel Alma eingeklebt war, Alma, ausgeschnitten mit der Nagelschere, Teufelshörner in den dunklen Locken, ein Maskenball vor dreißig Jahren. Gib deinem Vater mal Feuer. Also, Leimann und Misch. Blaugrauer Rauch trat ihm vor Mund und Nase. Leimann und Misch sind alte Kameraden. Ja, da staunst du. Die haben mich vor ein paar Jahren aufgestöbert, haben mich eingeladen, und ich bin zweimal hingefahren, vielleicht auch dreimal.
Ihr Vater und Kameradentreffen? Das war ihr peinlich. Welche Kriegsgeschichten konnte ihr Vater mit solchen Männern teilen? Deine Mutter ist mitgefahren. Ihre Mutter war mitgefahren, um auf ihren Mann aufzupassen. Sie kannte ihre Mutter. Alma war dabeigewesen, um sein Reden im Sog der Erinnerung am Ausschweifen zu hindern, um zwischen Buttercremetorte und Bohnenkaffee bei erster Gelegenheit sein Wort in gemütlicher Runde abzuwürgen. Nein, Paul, laß mich mal, du erzählst es ja völlig falsch. Und er würde vor den alten Kameraden und deren guten Ehefrauen aufgelacht und gleich darauf geschwiegen haben. Während Alma die Version für sogenannte Freunde zum Besten gegeben hatte, sah seine Tochter ihn hinunterlächeln, was er wußte, was er für sich behielt, den linken Mundwinkel resigniert verzogen, und er würde wieder Tritt gefaßt haben auf dem offiziellen Erzählpfad.
Später, im Auto, auf der Heimfahrt über die Landstraße, Alma auf dem Beifahrersitz ihn fixierend: Paul, wie konntest du nur. Vor diesen Leuten! Und er am Steuer, beschämt über die Verletzung, ihm zugefügt von seiner Frau vor den Augen der anderen Männer, was er hätte voraussehen können, er kannte doch Alma, abgeschnitten sein Wort, ausgerechnet vor diesen Leuten, aber gerade vor diesen Leuten hatte er endlich mal etwas zeigen wollen, am Steuer seines Autos rang er darum, ihren Vorwurf der Unvorsichtigkeit von sich abzuwenden. Diese Zeiten waren schließlich vorbei. Das haben die bestimmt nicht kapiert. Und Alma: Was siehst du mich an? Sieh nach vorn. Du fährst viel zu dicht auf. Er blinkte nach links, gab Gas, die Lippen zusammengepreßt überholte er, reihte sich wieder ein, atmete durch, sprach weiter. Du weißt doch, wie die sind. Was damals war, davon wissen die heute nichts mehr. Damals hatte er Alma weggesperrt. Er mußte es tun, zu ihrer Sicherheit, es ging ja nicht anders. Alma war natürlich dennoch auf die Straße gegangen, in der Handtasche die von ihm gefälschte Kennkarte, das arische Papier. Was willst du? Ich bin jetzt eine verheiratete Frau, mein Mann ist ein guter Deutscher, dann kann ich mich auch gleich selbst umbringen, und wer weiß, wie lange wir noch leben. Wie schön sie aussah, seine jüdische Geliebte, und wie leicht konnte sie verhaftet werden. Das wäre ihr Ende gewesen, für sie alle drei. Für Alma, für ihn, für Almas Mutter. Auf dem Marktplatz in Krakau war Alma von SS-Männern auf einen Lastwagen gezerrt worden. Partisanen hatten zwei Nazis getötet. Oh Jubel und Furcht vor dem, was unweigerlich folgte. Razzia. Eingezwängt zwischen Frauen, Kindern, Männern, durchwühlte Alma ihre Handtasche nach dem von Paul gefälschten Papier, ihr falscher Geburtsname, schön arisch, und der Zusatz: ausgebombt in Hamburg, was ein sehr dürftiges und lediglich vorläufiges Legitimationspapier war, sie hatte es nicht bei sich, mein Gott, verzeih mir, oh, mein Gott, Paul, ich bin an allem schuld. Nein, doch nicht, da steckte es zwischen Puderdose und Portemonnaie. Hallo, hier, ich bin eine verheiratete Frau! Was ja nicht stimmte. Sie hielt die vermeintliche Kennkarte, vorsorglich von Paul in eine kleine Klarsichthülle gesteckt, weil die dünne Papierqualität sie verraten hätte, hielt die Fälschung dem SS-Mann entgegen, mußte aufpassen, nicht zu fallen, immer mehr Menschen wurden von Wehrmachtssoldaten und SS-Männern auf die Ladefläche geprügelt, mußte aufpassen, nicht nach hinten abgedrängt zu werden, alles schrie, weinte, zappelte, und dazwischen Alma, fuchtelte mit ihrem arischen Papier dem Betongesicht vor der Nase herum, schrie, sie sei keine Polin, schrie, sie sei keine Jüdin, sie sei eine deutsche Frau. Und da ließ der SS-Mann sie gehen, hob sie vom Lastwagen oder ließ sie hinunterklettern und griff sich eine andere Frau, einen anderen Mann, ein Kind, bloß um eine bestimmte Zahl beieinander zu haben.
Sein gelb gerauchter Zeigefinger blätterte sich bis Misch zurück. Er sah zu seiner Tochter auf. Fritz Misch aus W. in der Lüneburger Heide. Von dem Ort wußte sie, er lag an der Eisenbahnstrecke, die ihr Vater von Polen gekommen war, allein unter der Plane eines Lastwagens hockend, verladen auf einen offenen Güterwaggon, September 1944. Gebeugt über seine Schulter, las sie Name und Adresse, um sich Misch zu merken. Dann fiel ihr ein, daß sie sein kleines Adreßbuch in ein paar Tagen würde an sich nehmen können. Nichts wußte sie von den langen Stunden dieser Reise. Nichts hatte er jemals davon erzählt. Er war allein unterwegs gewesen. Ohne Alma. Der Zug ging nach Westen. Alma hatte mit ihrer Mutter im Osten zurückbleiben müssen. Alma hochschwanger und kurz vor der Entbindung in umkämpftem Gebiet, zwischen Roter Armee und deutscher Wehrmacht. Dein Vater hat uns da herausgeholt. Er ist zu uns zurückgekommen, in den Osten.
Jedoch vorher. Von Polen Richtung Westen in die Lüneburger Heide. War sonst niemand im Zug gewesen? Nur er im Lastwagen auf diesem Waggon, und alle anderen Waggons leer? Dieser mit seinem Sterben beschäftigte Mann war immer noch ihr Vater, obgleich er sich durch den ihm nähertretenden Tod aus der ihr vertrauten Väterlichkeit zu verflüchtigen schien.
Wenn sie ihn jetzt in den Zug und auf den Waggon zurückbrachte, konnte ihn das übermäßig anstrengen. Aber reden würde er. Schwach genug war er. Sie würde ihn zum Reden bringen können. Und Alma erwarteten sie erst in ein paar Stunden. Sie prüfte sein Gesicht. Es war von Heiterkeit durchwebt. Sie beobachtete seine Hände. Seine langen, knochigen Finger entleerten die Brieftasche. Sein Paß, sein Führerschein, mehrere Briefe, zusammengefaltet, dazwischen zwei Geldscheine, ein grünlicher Ein- Zloty-Schein und eine grünliche Ein-Dollar-Note. Ihre Eltern hatten nach der Befreiung ins gelobte Land gehen wollen. Für Alma war das Israel gewesen, für Paul Amerika, ein halbes Jahrhundert war das her. Sein gesamtes Bargeld, ein paar Fünfziger, Zwanziger und Zehner, hatte er gestern abend aus der Brieftasche genommen und seiner Frau gegeben. Beide hatten dabei geweint und gelacht und Anspielungen gemacht auf Almas leichtsinnige Kauflust und Pauls ängstlich vorsorgende Sparsamkeit. Sie war ihren Eltern Zuschauerin gewesen und Zeugin. Noch gab es das Paar Alma und Paul, das verliebte Paar, genau wie damals. Sie hatten überlebt, was so viele umbrachte.
Dieser Tod jedoch, der einfach kam, vor diesem Tod gab es keinen Ausweg. Was eigentlich hatten sie alles überlebt? Im großen und ganzen wußte sie es. Ihre Eltern hatten viel erzählt, phantastische Geschichten, wahnwitzige Geschichten, immer dieselben Geschichten. Geschafft, entkommen, entwischt. Atemlos hatten sie erzählt, und atemlos hatte sie zugehört. Diese Zugfahrt von Polen in die Lüneburger Heide war nie geschildert worden, und sie erschien ihr jetzt als eine Möglichkeit, innezuhalten. Ihm war es damals vielleicht ebenso gegangen. Er hatte festgesessen in diesem Lastwagen, auf diesem Waggon, in diesem Zug.
Ein kleiner Brustbeutel kam zum Vorschein. Ihr Vater zog ihn aus einem Seitenfach der Brieftasche. Schwärzlich verschwitzt, einstmals helles Leder. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. In vergilbtes Rechenpapier eingefaltet lag eine schwarze Haarlocke. Deine Mutter, da war Alma keine Zwanzig, und du wirst vierzig im kommenden Jahr. Er sah zu seiner Tochter auf. Im kommenden Jahr gab es ihn nicht mehr. Versprich mir, daß du dir eine Nebelleuchte kaufen wirst. Sie nickte. Du hast es also noch nicht getan. Wieder nickte sie. Dein Auto ist so klein, und die Leute fahren viel zu dicht auf. Ich werde dir keine Ruhe lassen. Er drohte ihr scherzhaft, und sie sah ihm an, er hielt es für durchaus möglich, ihr aus dem Jenseits mit seiner Vorsorge hinterhereilen zu können. Sie versprach, gleich morgen oder übermorgen, nein, morgen, fiel er ihr ins Wort, also gut, gleich morgen wollte sie zur Autowerkstatt fahren. Er streichelte ihr Gesicht. Seit Tagen war er ohne Nahrung und ohne Hunger. Was ihn schwächte, belebte ihn. Euphorisch liebte er jeden Augenblick. Ich bin so glücklich, sagte er.
Wie lange warst du im Zug unterwegs?
Eine Woche, viel länger als gedacht. Rund 1200 Kilometer. Das wären normalerweise in einem D-Zug allerhöchstens zwanzig Stunden gewesen. Ich habe etwas für dich. Nimm das zu dir. Bei dir ist es gut aufgehoben.
Ohne erfassen zu können, was es war, sah sie auf das, was er aus dem Brustbeutel zog. Ein zweimal schmal Zusammengefaltetes. Ein grauweißlich Blankgewetztes. Er trage es seit damals bei sich. Sie nahm es zwischen ihre Finger. Es war ein Stück Haut, harte, alte Haut. Sie erkannte darauf einen hebräischen Buchstaben, geschrieben mit schwarzer Tinte, und sie erschrak. Das gehörte in eine Mesusa, in eine Kapsel, angenagelt neben die Wohnungstür frommer Juden. Schadai stand darauf. Das durfte er nicht haben. Das durfte niemand einfach so in die Hand nehmen. Schadai. Das Zeichen Gottes.
II.
In dem Schaufenster waren vor einem grauen Vorhang Deckelgefäße in unterschiedlichen Brauntönen dekoriert. Noch auf der Straße und bevor sie mit ihrer Mutter das Geschäft betrat, sagte Alma zu ihrer Tochter, sie solle nur alles ihr überlassen. Und wenn dem Beerdigungsunternehmer etwas an unseren Heiratspapieren komisch vorkommt, sagst du nichts. Du sagst überhaupt nichts. Hinter ihnen staute sich der morgendliche Berufsverkehr.
Im Gesicht ihrer Mutter war der Kummer über seinen Tod durchzogen von Empörung darüber, daß man ihn ihr genommen hatte. Und andere Männer waren einfach noch am Leben. Leimann und Misch beispielsweise, und dieser und jener Politiker, und dieser und jener Unternehmer, und dieser und jener auf der Straße, Männer in seinem Alter, schätzungsweise sogar älter als er. Und alles wegen damals. Das hat ihn kaputtgemacht. Alma trauerte nicht, sie klagte an, und beinahe zürnte sie sogar Paul, daß er schon gegangen war, da sie noch lebte.
Ihre Mutter war geschminkt wie immer. Dunkelroter Mund, etwas Rouge auf den bleichen Wangen, die Augenbrauen nachgezogen. Soll ich mir etwa nicht die Lippen anmalen? Nur, weil die Leute das jetzt von mir erwarten? Sämtlichen Schmuck hatte Alma angelegt, den Paul ihr in beinah fünfzig Jahren Ehe geschenkt hatte. Eine einreihige Perlenkette, es waren Zuchtperlen. Dein Vater hätte mir echte gekauft, wenn wir das Geld gehabt hätten. Er hat sich betrügen lassen, von diesem Fabrikanten, du weißt schon. Sie wußte schon. Paul hat dem vertraut, weil der aus der Tschechoslowakei kam, und ich habe zu ihm gesagt, Paul, das ist ein Sudetendeutscher, der bescheißt uns, und als der uns pfänden lassen wollte, da habe ich bei dem angerufen, Paul wollte erst nicht, doch ich habe mich nicht von ihm, und am Telefon war die Frau, da habe ich gesagt, geben Sie mir sofort Ihren Mann, und dann habe ich zu dem, wenn Sie glauben, daß Sie uns, dann schicke ich Ihnen morgen die Steuerfahndung ins Haus. Den Armreif aus Weißgold hatte Paul seiner Frau zur Silberhochzeit geschenkt, darin eingefaßt war ein kleiner Aquamarin, flankiert von zwei Diamantsplittern. Und den Ehering selbstverständlich. Alma nahm ihn niemals ab, nicht beim Waschen ihrer Hände und bei keiner Arbeit, was sie stets betonte, sobald in irgendeiner Weise und bloß allgemein von Eheringen die Rede war. Sie trage ihn seit dem Tag, an dem Paul ihr den Ring aufgesteckt habe. An einem Septembertag, genauso schön wie heute. Aber ich will jetzt nicht weinen. Und Almas Stimme erstickte.
Versuchte sie sich vorzustellen, wie ihr Vater ihrer Mutter den Ehering aufgesteckt hatte, kamen die elterlichen Hände nicht zusammen, und gelang es dem väterlichen Daumen und Zeigefinger, den goldenen Ring über den rotlackierten mütterlichen Fingernagel zu schieben, fehlten zu den Händen die beiden Menschen. Sie nahm die Hand ihrer Mutter und drückte sie fest. Alma wehrte sich gegen den Trost. Laß mich. Alma lehnte stets jede Hilfe ab. Es geht schon. Und den Ehering hatte sie sich damals an jenem Septembertag selbst aufgesteckt. Denn ihre Mutter war allein gewesen. Das wußte sie allerdings erst seit ein paar Tagen. Sie tastete in ihrer Jackentasche nach seinem Taschentuch und schwieg.
Der September in diesem Jahr präsentierte sich als ein kaum von Herbstluft durchzogener Spätsommer. Dessen ungeachtet trug Alma ihren Nutriapelz. Den Mantel hatte sie Paul vor Jahrzehnten abgeschmeichelt, bitte, Paul, nur ein kleines Nutriajäckchen, dazu schwarze Lacklederpumps, und zwei Tropfen von dem Parfum, welches er nie versäumt hatte, ihr zu kaufen: Je Reviens. Der würzig schwere Duft seines Versprechens wiederzukommen. Du brauchst neues Parfum von mir. Paul stand in der Tür zum Schlafzimmer, und Alma balancierte auf der Trittleiter, um in der Deckenlampe die Glühbirne auszuwechseln. Hab ich es denn aufgebraucht? Ihm wäre da oben schwindelig geworden. Er hob den kleinen Flakon zu ihr in die Höhe und hielt ihn gegen das Licht. Fast leer.
Sie öffnete ihrer Mutter die Ladentür. Ein dumpfer Glockenton schlug an. Hinter einem Schreibtisch erhob sich eine Frau, die Beerdigungen zu verkaufen hatte. Eine Frau in grauem Kostüm und mittleren Jahren. Alma hielt die schwarze Handtasche aus Nappaleder an sich gepreßt. Darin brachte sie die erforderlichen Dokumente, Totenschein, Geburtsurkunde und das Heiratspapier. Der amtliche Nachweis, daß der Tote ihr Mann war. Und mein Mann bleibt er. Sie sei keine Witwe, sie sei eine verheiratete Frau, hatte Alma zu ihrer Tochter heute morgen gesagt. Selbst wenn er jetzt nicht mehr bei ihr sei, sei er immer bei ihr. Von dem besonderen Inhalt des elterlichen Trauscheins wußte sie. Gesehen hatte sie das Dokument nie. Auf jeden Fall kein Trauschein, wie ihn andere Frauen im Alter ihrer Mutter aus dieser Zeit besaßen und selbstverständlich vorzulegen vermochten, Trauscheine mit damals amtlichem Hakenkreuz, wie sie noch heute in den Familienpapieren zu finden waren. Bei Paul und Alma nicht. Und daß es so war, bezeugte seine Heldentat. Seine Heldentaten.
Acht Jahre lang täglich, alltäglich ein Held. Das Wort paßte nicht zu ihrem Vater. Mit gebeugtem Rücken und krummen Knien knickte der Held darunter ein. Daß er nicht mehr da war, begriff sie vielleicht in diesem Augenblick zum ersten Mal, da sie ihre Mutter sich ausweisen sah. Vor dieser Frau. Deren Mitarbeiter ihn abgeholt hatten. In einem Zinksarg. Die Almas Hand ergriff. Eine schmale, schwarze Wildlederhand. Alma hatte ihren langen Handschuh nicht abgestreift. Die Almas Blick begegnete. Unter schweren Lidern dunkler Schmerz. Und nun kam es. Aus berufsbedingt tiefen Mundwinkeln ließ die Beerdigungsunternehmerin die kleine Redewendung in dieser Angelegenheit hervorschlüpfen.
Zu ihrer Überraschung hörte sie ihre Mutter danke murmeln. An Beischlaf oder Beilager erinnerte sie das Wort. Je nach Geschäftsverlauf entrichtete diese Frau ihr tief empfundenes Beileid mehrfach am Tag, und unausweichlich jeden Moment ihr, der Tochter. Sie mußte ihre Hand dazu hergeben. Auf keinen Fall wollte sie etwas erwidern. Da war es passiert und vorbei.
Aus der Handschuhhand ihrer Mutter glitt die Heiratsurkunde vom 14. Juli 1945, deutlich abgestempelt mit einem Reichsadler, dem man das Hakenkreuz abgeschnitten hatte. Und daneben das besondere Ehepapier. Beide Dokumente lagen auf dem nackten Schreibtisch. Kopfüber tastete sie sich die Zeilen entlang, Schreibmaschinenschrift auf einem halben Briefbogen.
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Sie gab ihm die Brieftasche. Sein weißes, großes Taschentuch, das gebügelt und zu einem kleinen Quadrat zusammengefaltet neben seinem zerwühlten Kopfkissen gelegen hatte, steckte jetzt in ihrer Rocktasche. Sie hatte es an sich genommen, nicht ohne zu zögern, dann schnell. Ein Vorgriff auf die Zeit nach seinem Dasein. Es beschlich sie deshalb ein Schuldgefühl. Sie konnte ihn fragen, und er würde es ihr geben. Sie sah seine knochigen Schultern, sie sah seinen eingefallenen Hals. Und sie behielt es für sich.
Alma war fortgegangen. Er hätte seine Tochter nicht ins Schlafzimmer geschickt, wäre seine Frau dagewesen. Kauf uns etwas Schönes zu essen, hatte er zu Alma gesagt. Er konnte nichts mehr essen, nur Astronautenkost, farbloser Glibber in winzigen Metalldöschen. Und Alma war gegangen. Für ihn hatte sie sich schön gemacht, hatte ihr Parfum aufgetragen, jeweils einen Tropfen hinters Ohrläppchen. Dann war sie auf Pumps hinausgeschwebt, nach draußen, in die Sonne.
Ihr Vater saß über seine Brieftasche gebeugt und fingerte ein Adreßbuch daraus hervor. Es war schmal und klein, wie für eine Damenhandtasche gemacht. Sein Bruder und dessen Frau sollten nicht zur Beerdigung kommen. Besser für Alma, du kannst ihn später benachrichtigen, laß eine Woche vergehen. Er befeuchtete seinen Zeigefinger, tippte und tappte mit der Fingerkuppe gegen seine schlaff hängende Unterlippe und blätterte sich durch Verwandte und Freunde. Auf keinen Fall Leimann und Misch. Auch Leimann und Misch würden Alma zu sehr aufregen. Das sah er voraus. Um mehrere Namen zog er einen Kreis, legte den so Bezeichneten die Rotstiftfessel an, und seine Tochter versprach, nach seinem Wunsch zu handeln. Von Leimann und Misch hatte sie noch nie gehört. Gib keine Anzeige auf, sonst wird womöglich doch jemand kommen, der nicht dabei sein soll.
Vielleicht wollte ihre Mutter ein bißchen Gesellschaft im Krematorium haben? Er nahm seine Brille ab, er schüttelte den Kopf, er putzte die Gläser mit seinem großen, weißen Taschentuch. Genau so ein Taschentuch, wie sie es jetzt bei sich trug. Wenn es in meiner Macht stünde, sagte er, würde ich Alma das alles ersparen. Und bitte keine Reden. Sie nickte. So schnell wie möglich über die Bühne damit. Was zu sagen wäre, könne sowieso nicht gesagt werden. Sorge dafür, daß mein Sarg nicht vor Almas Augen zum Verbrennungsofen abgesenkt wird. Das darf nicht geschehen. Versprich es mir. Sie nickte.
Wer sind Leimann und Misch?
Er grinste. Er verzog seine Lippen auf eine Weise, wie seine Tochter es nie zuvor an ihrem Vater gesehen hatte. Ihr Vater pflegte zu lächeln. Und hob er dabei ein wenig den linken Mundwinkel, lag darin ein Hauch von Resignation. Dieser Vater hier im Sessel, dürr, fast vollständig vertrocknet, grinste breit. Bis zu seinen großen Ohren zerschnitt der Mund das ausgemergelte Gesicht. Wangenknochen und Jochbeine traten hervor, und über dem eckigen Kinn spannte sich die Haut, daß aus den Gelenkgruben des Unterkiefers die Bartstoppeln auferstanden.
Er zögerte, ihr zu sagen, wer Leimann und Misch waren. Er war von seinem Tod noch so weit entfernt, sich diesen Umweg zerrinnender Zeit leisten zu können. Er schob die Brille auf seine große Nase und öffnete das Zigarettenetui, in dessen Deckel Alma eingeklebt war, Alma, ausgeschnitten mit der Nagelschere, Teufelshörner in den dunklen Locken, ein Maskenball vor dreißig Jahren. Gib deinem Vater mal Feuer. Also, Leimann und Misch. Blaugrauer Rauch trat ihm vor Mund und Nase. Leimann und Misch sind alte Kameraden. Ja, da staunst du. Die haben mich vor ein paar Jahren aufgestöbert, haben mich eingeladen, und ich bin zweimal hingefahren, vielleicht auch dreimal.
Ihr Vater und Kameradentreffen? Das war ihr peinlich. Welche Kriegsgeschichten konnte ihr Vater mit solchen Männern teilen? Deine Mutter ist mitgefahren. Ihre Mutter war mitgefahren, um auf ihren Mann aufzupassen. Sie kannte ihre Mutter. Alma war dabeigewesen, um sein Reden im Sog der Erinnerung am Ausschweifen zu hindern, um zwischen Buttercremetorte und Bohnenkaffee bei erster Gelegenheit sein Wort in gemütlicher Runde abzuwürgen. Nein, Paul, laß mich mal, du erzählst es ja völlig falsch. Und er würde vor den alten Kameraden und deren guten Ehefrauen aufgelacht und gleich darauf geschwiegen haben. Während Alma die Version für sogenannte Freunde zum Besten gegeben hatte, sah seine Tochter ihn hinunterlächeln, was er wußte, was er für sich behielt, den linken Mundwinkel resigniert verzogen, und er würde wieder Tritt gefaßt haben auf dem offiziellen Erzählpfad.
Später, im Auto, auf der Heimfahrt über die Landstraße, Alma auf dem Beifahrersitz ihn fixierend: Paul, wie konntest du nur. Vor diesen Leuten! Und er am Steuer, beschämt über die Verletzung, ihm zugefügt von seiner Frau vor den Augen der anderen Männer, was er hätte voraussehen können, er kannte doch Alma, abgeschnitten sein Wort, ausgerechnet vor diesen Leuten, aber gerade vor diesen Leuten hatte er endlich mal etwas zeigen wollen, am Steuer seines Autos rang er darum, ihren Vorwurf der Unvorsichtigkeit von sich abzuwenden. Diese Zeiten waren schließlich vorbei. Das haben die bestimmt nicht kapiert. Und Alma: Was siehst du mich an? Sieh nach vorn. Du fährst viel zu dicht auf. Er blinkte nach links, gab Gas, die Lippen zusammengepreßt überholte er, reihte sich wieder ein, atmete durch, sprach weiter. Du weißt doch, wie die sind. Was damals war, davon wissen die heute nichts mehr. Damals hatte er Alma weggesperrt. Er mußte es tun, zu ihrer Sicherheit, es ging ja nicht anders. Alma war natürlich dennoch auf die Straße gegangen, in der Handtasche die von ihm gefälschte Kennkarte, das arische Papier. Was willst du? Ich bin jetzt eine verheiratete Frau, mein Mann ist ein guter Deutscher, dann kann ich mich auch gleich selbst umbringen, und wer weiß, wie lange wir noch leben. Wie schön sie aussah, seine jüdische Geliebte, und wie leicht konnte sie verhaftet werden. Das wäre ihr Ende gewesen, für sie alle drei. Für Alma, für ihn, für Almas Mutter. Auf dem Marktplatz in Krakau war Alma von SS-Männern auf einen Lastwagen gezerrt worden. Partisanen hatten zwei Nazis getötet. Oh Jubel und Furcht vor dem, was unweigerlich folgte. Razzia. Eingezwängt zwischen Frauen, Kindern, Männern, durchwühlte Alma ihre Handtasche nach dem von Paul gefälschten Papier, ihr falscher Geburtsname, schön arisch, und der Zusatz: ausgebombt in Hamburg, was ein sehr dürftiges und lediglich vorläufiges Legitimationspapier war, sie hatte es nicht bei sich, mein Gott, verzeih mir, oh, mein Gott, Paul, ich bin an allem schuld. Nein, doch nicht, da steckte es zwischen Puderdose und Portemonnaie. Hallo, hier, ich bin eine verheiratete Frau! Was ja nicht stimmte. Sie hielt die vermeintliche Kennkarte, vorsorglich von Paul in eine kleine Klarsichthülle gesteckt, weil die dünne Papierqualität sie verraten hätte, hielt die Fälschung dem SS-Mann entgegen, mußte aufpassen, nicht zu fallen, immer mehr Menschen wurden von Wehrmachtssoldaten und SS-Männern auf die Ladefläche geprügelt, mußte aufpassen, nicht nach hinten abgedrängt zu werden, alles schrie, weinte, zappelte, und dazwischen Alma, fuchtelte mit ihrem arischen Papier dem Betongesicht vor der Nase herum, schrie, sie sei keine Polin, schrie, sie sei keine Jüdin, sie sei eine deutsche Frau. Und da ließ der SS-Mann sie gehen, hob sie vom Lastwagen oder ließ sie hinunterklettern und griff sich eine andere Frau, einen anderen Mann, ein Kind, bloß um eine bestimmte Zahl beieinander zu haben.
Sein gelb gerauchter Zeigefinger blätterte sich bis Misch zurück. Er sah zu seiner Tochter auf. Fritz Misch aus W. in der Lüneburger Heide. Von dem Ort wußte sie, er lag an der Eisenbahnstrecke, die ihr Vater von Polen gekommen war, allein unter der Plane eines Lastwagens hockend, verladen auf einen offenen Güterwaggon, September 1944. Gebeugt über seine Schulter, las sie Name und Adresse, um sich Misch zu merken. Dann fiel ihr ein, daß sie sein kleines Adreßbuch in ein paar Tagen würde an sich nehmen können. Nichts wußte sie von den langen Stunden dieser Reise. Nichts hatte er jemals davon erzählt. Er war allein unterwegs gewesen. Ohne Alma. Der Zug ging nach Westen. Alma hatte mit ihrer Mutter im Osten zurückbleiben müssen. Alma hochschwanger und kurz vor der Entbindung in umkämpftem Gebiet, zwischen Roter Armee und deutscher Wehrmacht. Dein Vater hat uns da herausgeholt. Er ist zu uns zurückgekommen, in den Osten.
Jedoch vorher. Von Polen Richtung Westen in die Lüneburger Heide. War sonst niemand im Zug gewesen? Nur er im Lastwagen auf diesem Waggon, und alle anderen Waggons leer? Dieser mit seinem Sterben beschäftigte Mann war immer noch ihr Vater, obgleich er sich durch den ihm nähertretenden Tod aus der ihr vertrauten Väterlichkeit zu verflüchtigen schien.
Wenn sie ihn jetzt in den Zug und auf den Waggon zurückbrachte, konnte ihn das übermäßig anstrengen. Aber reden würde er. Schwach genug war er. Sie würde ihn zum Reden bringen können. Und Alma erwarteten sie erst in ein paar Stunden. Sie prüfte sein Gesicht. Es war von Heiterkeit durchwebt. Sie beobachtete seine Hände. Seine langen, knochigen Finger entleerten die Brieftasche. Sein Paß, sein Führerschein, mehrere Briefe, zusammengefaltet, dazwischen zwei Geldscheine, ein grünlicher Ein- Zloty-Schein und eine grünliche Ein-Dollar-Note. Ihre Eltern hatten nach der Befreiung ins gelobte Land gehen wollen. Für Alma war das Israel gewesen, für Paul Amerika, ein halbes Jahrhundert war das her. Sein gesamtes Bargeld, ein paar Fünfziger, Zwanziger und Zehner, hatte er gestern abend aus der Brieftasche genommen und seiner Frau gegeben. Beide hatten dabei geweint und gelacht und Anspielungen gemacht auf Almas leichtsinnige Kauflust und Pauls ängstlich vorsorgende Sparsamkeit. Sie war ihren Eltern Zuschauerin gewesen und Zeugin. Noch gab es das Paar Alma und Paul, das verliebte Paar, genau wie damals. Sie hatten überlebt, was so viele umbrachte.
Dieser Tod jedoch, der einfach kam, vor diesem Tod gab es keinen Ausweg. Was eigentlich hatten sie alles überlebt? Im großen und ganzen wußte sie es. Ihre Eltern hatten viel erzählt, phantastische Geschichten, wahnwitzige Geschichten, immer dieselben Geschichten. Geschafft, entkommen, entwischt. Atemlos hatten sie erzählt, und atemlos hatte sie zugehört. Diese Zugfahrt von Polen in die Lüneburger Heide war nie geschildert worden, und sie erschien ihr jetzt als eine Möglichkeit, innezuhalten. Ihm war es damals vielleicht ebenso gegangen. Er hatte festgesessen in diesem Lastwagen, auf diesem Waggon, in diesem Zug.
Ein kleiner Brustbeutel kam zum Vorschein. Ihr Vater zog ihn aus einem Seitenfach der Brieftasche. Schwärzlich verschwitzt, einstmals helles Leder. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen. In vergilbtes Rechenpapier eingefaltet lag eine schwarze Haarlocke. Deine Mutter, da war Alma keine Zwanzig, und du wirst vierzig im kommenden Jahr. Er sah zu seiner Tochter auf. Im kommenden Jahr gab es ihn nicht mehr. Versprich mir, daß du dir eine Nebelleuchte kaufen wirst. Sie nickte. Du hast es also noch nicht getan. Wieder nickte sie. Dein Auto ist so klein, und die Leute fahren viel zu dicht auf. Ich werde dir keine Ruhe lassen. Er drohte ihr scherzhaft, und sie sah ihm an, er hielt es für durchaus möglich, ihr aus dem Jenseits mit seiner Vorsorge hinterhereilen zu können. Sie versprach, gleich morgen oder übermorgen, nein, morgen, fiel er ihr ins Wort, also gut, gleich morgen wollte sie zur Autowerkstatt fahren. Er streichelte ihr Gesicht. Seit Tagen war er ohne Nahrung und ohne Hunger. Was ihn schwächte, belebte ihn. Euphorisch liebte er jeden Augenblick. Ich bin so glücklich, sagte er.
Wie lange warst du im Zug unterwegs?
Eine Woche, viel länger als gedacht. Rund 1200 Kilometer. Das wären normalerweise in einem D-Zug allerhöchstens zwanzig Stunden gewesen. Ich habe etwas für dich. Nimm das zu dir. Bei dir ist es gut aufgehoben.
Ohne erfassen zu können, was es war, sah sie auf das, was er aus dem Brustbeutel zog. Ein zweimal schmal Zusammengefaltetes. Ein grauweißlich Blankgewetztes. Er trage es seit damals bei sich. Sie nahm es zwischen ihre Finger. Es war ein Stück Haut, harte, alte Haut. Sie erkannte darauf einen hebräischen Buchstaben, geschrieben mit schwarzer Tinte, und sie erschrak. Das gehörte in eine Mesusa, in eine Kapsel, angenagelt neben die Wohnungstür frommer Juden. Schadai stand darauf. Das durfte er nicht haben. Das durfte niemand einfach so in die Hand nehmen. Schadai. Das Zeichen Gottes.
II.
In dem Schaufenster waren vor einem grauen Vorhang Deckelgefäße in unterschiedlichen Brauntönen dekoriert. Noch auf der Straße und bevor sie mit ihrer Mutter das Geschäft betrat, sagte Alma zu ihrer Tochter, sie solle nur alles ihr überlassen. Und wenn dem Beerdigungsunternehmer etwas an unseren Heiratspapieren komisch vorkommt, sagst du nichts. Du sagst überhaupt nichts. Hinter ihnen staute sich der morgendliche Berufsverkehr.
Im Gesicht ihrer Mutter war der Kummer über seinen Tod durchzogen von Empörung darüber, daß man ihn ihr genommen hatte. Und andere Männer waren einfach noch am Leben. Leimann und Misch beispielsweise, und dieser und jener Politiker, und dieser und jener Unternehmer, und dieser und jener auf der Straße, Männer in seinem Alter, schätzungsweise sogar älter als er. Und alles wegen damals. Das hat ihn kaputtgemacht. Alma trauerte nicht, sie klagte an, und beinahe zürnte sie sogar Paul, daß er schon gegangen war, da sie noch lebte.
Ihre Mutter war geschminkt wie immer. Dunkelroter Mund, etwas Rouge auf den bleichen Wangen, die Augenbrauen nachgezogen. Soll ich mir etwa nicht die Lippen anmalen? Nur, weil die Leute das jetzt von mir erwarten? Sämtlichen Schmuck hatte Alma angelegt, den Paul ihr in beinah fünfzig Jahren Ehe geschenkt hatte. Eine einreihige Perlenkette, es waren Zuchtperlen. Dein Vater hätte mir echte gekauft, wenn wir das Geld gehabt hätten. Er hat sich betrügen lassen, von diesem Fabrikanten, du weißt schon. Sie wußte schon. Paul hat dem vertraut, weil der aus der Tschechoslowakei kam, und ich habe zu ihm gesagt, Paul, das ist ein Sudetendeutscher, der bescheißt uns, und als der uns pfänden lassen wollte, da habe ich bei dem angerufen, Paul wollte erst nicht, doch ich habe mich nicht von ihm, und am Telefon war die Frau, da habe ich gesagt, geben Sie mir sofort Ihren Mann, und dann habe ich zu dem, wenn Sie glauben, daß Sie uns, dann schicke ich Ihnen morgen die Steuerfahndung ins Haus. Den Armreif aus Weißgold hatte Paul seiner Frau zur Silberhochzeit geschenkt, darin eingefaßt war ein kleiner Aquamarin, flankiert von zwei Diamantsplittern. Und den Ehering selbstverständlich. Alma nahm ihn niemals ab, nicht beim Waschen ihrer Hände und bei keiner Arbeit, was sie stets betonte, sobald in irgendeiner Weise und bloß allgemein von Eheringen die Rede war. Sie trage ihn seit dem Tag, an dem Paul ihr den Ring aufgesteckt habe. An einem Septembertag, genauso schön wie heute. Aber ich will jetzt nicht weinen. Und Almas Stimme erstickte.
Versuchte sie sich vorzustellen, wie ihr Vater ihrer Mutter den Ehering aufgesteckt hatte, kamen die elterlichen Hände nicht zusammen, und gelang es dem väterlichen Daumen und Zeigefinger, den goldenen Ring über den rotlackierten mütterlichen Fingernagel zu schieben, fehlten zu den Händen die beiden Menschen. Sie nahm die Hand ihrer Mutter und drückte sie fest. Alma wehrte sich gegen den Trost. Laß mich. Alma lehnte stets jede Hilfe ab. Es geht schon. Und den Ehering hatte sie sich damals an jenem Septembertag selbst aufgesteckt. Denn ihre Mutter war allein gewesen. Das wußte sie allerdings erst seit ein paar Tagen. Sie tastete in ihrer Jackentasche nach seinem Taschentuch und schwieg.
Der September in diesem Jahr präsentierte sich als ein kaum von Herbstluft durchzogener Spätsommer. Dessen ungeachtet trug Alma ihren Nutriapelz. Den Mantel hatte sie Paul vor Jahrzehnten abgeschmeichelt, bitte, Paul, nur ein kleines Nutriajäckchen, dazu schwarze Lacklederpumps, und zwei Tropfen von dem Parfum, welches er nie versäumt hatte, ihr zu kaufen: Je Reviens. Der würzig schwere Duft seines Versprechens wiederzukommen. Du brauchst neues Parfum von mir. Paul stand in der Tür zum Schlafzimmer, und Alma balancierte auf der Trittleiter, um in der Deckenlampe die Glühbirne auszuwechseln. Hab ich es denn aufgebraucht? Ihm wäre da oben schwindelig geworden. Er hob den kleinen Flakon zu ihr in die Höhe und hielt ihn gegen das Licht. Fast leer.
Sie öffnete ihrer Mutter die Ladentür. Ein dumpfer Glockenton schlug an. Hinter einem Schreibtisch erhob sich eine Frau, die Beerdigungen zu verkaufen hatte. Eine Frau in grauem Kostüm und mittleren Jahren. Alma hielt die schwarze Handtasche aus Nappaleder an sich gepreßt. Darin brachte sie die erforderlichen Dokumente, Totenschein, Geburtsurkunde und das Heiratspapier. Der amtliche Nachweis, daß der Tote ihr Mann war. Und mein Mann bleibt er. Sie sei keine Witwe, sie sei eine verheiratete Frau, hatte Alma zu ihrer Tochter heute morgen gesagt. Selbst wenn er jetzt nicht mehr bei ihr sei, sei er immer bei ihr. Von dem besonderen Inhalt des elterlichen Trauscheins wußte sie. Gesehen hatte sie das Dokument nie. Auf jeden Fall kein Trauschein, wie ihn andere Frauen im Alter ihrer Mutter aus dieser Zeit besaßen und selbstverständlich vorzulegen vermochten, Trauscheine mit damals amtlichem Hakenkreuz, wie sie noch heute in den Familienpapieren zu finden waren. Bei Paul und Alma nicht. Und daß es so war, bezeugte seine Heldentat. Seine Heldentaten.
Acht Jahre lang täglich, alltäglich ein Held. Das Wort paßte nicht zu ihrem Vater. Mit gebeugtem Rücken und krummen Knien knickte der Held darunter ein. Daß er nicht mehr da war, begriff sie vielleicht in diesem Augenblick zum ersten Mal, da sie ihre Mutter sich ausweisen sah. Vor dieser Frau. Deren Mitarbeiter ihn abgeholt hatten. In einem Zinksarg. Die Almas Hand ergriff. Eine schmale, schwarze Wildlederhand. Alma hatte ihren langen Handschuh nicht abgestreift. Die Almas Blick begegnete. Unter schweren Lidern dunkler Schmerz. Und nun kam es. Aus berufsbedingt tiefen Mundwinkeln ließ die Beerdigungsunternehmerin die kleine Redewendung in dieser Angelegenheit hervorschlüpfen.
Zu ihrer Überraschung hörte sie ihre Mutter danke murmeln. An Beischlaf oder Beilager erinnerte sie das Wort. Je nach Geschäftsverlauf entrichtete diese Frau ihr tief empfundenes Beileid mehrfach am Tag, und unausweichlich jeden Moment ihr, der Tochter. Sie mußte ihre Hand dazu hergeben. Auf keinen Fall wollte sie etwas erwidern. Da war es passiert und vorbei.
Aus der Handschuhhand ihrer Mutter glitt die Heiratsurkunde vom 14. Juli 1945, deutlich abgestempelt mit einem Reichsadler, dem man das Hakenkreuz abgeschnitten hatte. Und daneben das besondere Ehepapier. Beide Dokumente lagen auf dem nackten Schreibtisch. Kopfüber tastete sie sich die Zeilen entlang, Schreibmaschinenschrift auf einem halben Briefbogen.
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Autoren-Porträt von Viola Roggenkamp
Viola Roggenkamp, in Hamburg geboren, aus deutsch-jüdischer Familie, Studium der Psychologie, Philosophie und Musik. Sie reiste und lebte mehrere Jahre in verschiedenen Ländern Asiens und in Israel. Als Schriftstellerin und Publizistin lebt sie heute wieder in Hamburg. 2004 erschien ihr Roman 'Familienleben', ein Bestseller, übersetzt in mehrere Sprachen, 2005 ihr grosser Essay 'Erika Mann. Eine jüdische Tochter' und 2009 der Roman 'Die Frau im Turm'. Zuletzt erschien 2011 ihr Roman 'Tochter und Vater'.
Bibliographische Angaben
- Autor: Viola Roggenkamp
- 2012, 1. Auflage, 272 Seiten, Masse: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596190495
- ISBN-13: 9783596190492
- Erscheinungsdatum: 21.11.2012
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