Tiefe Wunden
Das Ermittler-Duo Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff verfolgt diesmal Spuren in die Vergangenheit - bis nach Ostpreußen '45.
Wer ist wohl dazu fähig, Menschen im Greisenalter kaltblütig...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tiefe Wunden “
Das Ermittler-Duo Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff verfolgt diesmal Spuren in die Vergangenheit - bis nach Ostpreußen '45.
Wer ist wohl dazu fähig, Menschen im Greisenalter kaltblütig hinzurichten? Zuerst stirbt ein 92-Jähriger durch Genickschuss, dann zwei weitere Senioren, darunter eine 88-Jährige, die man zuvor aus dem Stift entführt hatte - Hauptkommissar von Bodenstein und seine Kollegin sammeln Indizien, die samt und sonders in Deutschlands finsterste Zeit zurückweisen. Alle Spuren führen zu der angesehenen Unternehmerwitwe Dr. Vera Kaltensee und ins Ostpreußen des Jahres 1945.
Lese-Probe zu „Tiefe Wunden “
Tiefe Wunden von Nele NeuhausProlog
Niemand aus seiner Familie hatte seine Entscheidung, den Lebensabend in Deutschland zu verbringen, verstanden, am wenigsten er selbst. Ganz plötzlich hatte er gespürt, dass er in dem Land, das über sechzig Jahre so gut zu ihm gewesen war, nicht sterben wollte. Er sehnte sich nach der Lektüre deutscher Zeitungen, nach dem Klang der deutschen Sprache in seinen Ohren. David Goldberg hatte Deutschland nicht freiwillig verlassen, es war damals, 1945, lebensnotwendig gewesen, und er hatte das Beste aus dem Verlust seiner Heimat gemacht. Aber nun gab es nichts mehr, was ihn in Amerika hielt. Das Haus in der Nähe von Frankfurt hatte er kurz nach Sarahs Tod vor beinahe zwanzig Jahren gekauft, um nicht in anonymen Hotels übernachten zu müssen, wenn ihn seine zahlreichen geschäftlichen oder freundschaftlichen Verpflichtungen nach Deutschland führten.
... mehr
Goldberg stieß einen tiefen Seufzer aus und blickte durch die großen Panoramascheiben auf die Ausläufer des Taunus, die von der untergehenden Sonne in ein goldenes Licht getaucht wurden. Er konnte sich an Sarahs Gesicht kaum mehr erinnern. Überhaupt waren die sechzig Jahre, die er in den USA gelebt hatte, oft aus seinem Gedächtnis wie weggewischt, und er hatte Mühe, sich an die Namen seiner Enkelkinder zu erinnern. Dafür war seine Erinnerung an die Zeit vor Amerika, an die er lange nicht mehr gedacht hatte, umso schärfer. Manchmal, wenn er nach einem kurzen Nickerchen aufwachte, brauchte er Minuten, um zu begreifen, wo er war. Dann betrachtete er mit Verachtung seine knotigen, zittrigen Greisenhände, die schorfige, altersfleckige Haut. Alt zu werden war keine Gnade, so ein Unsinn. Wenigstens hatte ihm das Schicksal erspart, ein sabbernder, hilfloser Pflegefall zu werden, wie so viele seiner Freunde und Weggefährten, die nicht das Glück gehabt hatten, rechtzeitig von einem Herzinfarkt dahingerafft zu werden. Er hatte eine stabile Konstitution, die seine Ärzte immer wieder erstaunte, war lange Jahre geradezu immun gegen die meisten Alterserscheinungen gewesen. Das verdankte er seiner eisernen Disziplin, mit der er jede Herausforderung im Leben gemeistert hatte. Nie hatte er sich gehen lassen, bis heute achtete er auf korrekte Kleidung und ein ordentliches Äußeres. Goldberg schauderte beim Gedanken an seinen letzten, unerfreulichen Besuch in einem Altersheim. Der Anblick der Alten, die in Bademänteln und Hausschlappen mit wirrem Haar und leerem Blick wie Geister aus einer anderen Welt durch die Gänge schlurften oder einfach sinnlos herumsaßen, hatte ihn abgestoßen. Die meisten waren jünger als er, trotzdem hätte er es sich verbeten, wenn man ihn mit ihnen in einen Topf geworfen hätte.
»Herr Goldberg?«
Er fuhr zusammen und wandte den Kopf. Die Pflegerin, deren Anwesenheit und Namen er bisweilen vergaß, stand im Türrahmen. Wie hieß sie noch gleich? Elvira, Edith ... egal. Seine Familie hatte darauf bestanden, dass er nicht alleine lebte, und diese Frau für ihn organisiert. Fünf Bewerberinnen hatte Goldberg abgelehnt. Er wollte nicht mit einer Polin oder einer Asiatin unter einem Dach leben, außerdem spielte das Äußere für ihn eine Rolle. Sie hatte ihm sofort gefallen: groß, blond, energisch. Sie war Deutsche, examinierte Hauswirtschafterin und Krankenschwester. Für alle Fälle, hatte Goldbergs Ältester Sal gesagt. Er zahlte dieser Frau sicherlich ein fürstliches Gehalt, denn sie ertrug seine Schrullen und beseitigte die Spuren seiner zunehmenden Hinfälligkeit, ohne jemals mit der Wimper zu zucken. Sie trat neben seinen Sessel und blickte ihn prüfend an. Goldberg erwiderte ihren Blick. Sie war geschminkt, der Ausschnitt ihrer Bluse ließ den Ansatz ihrer Brüste sehen, von denen er gelegentlich träumte. Wohin sie wohl ging? Ob sie einen Freund hatte, mit dem sie sich an ihrem freien Abend traf? Sie war höchstens vierzig und sehr attraktiv. Aber er würde sie nicht fragen. Er wollte keine Vertraulichkeit.
»Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt gehe?« Ihre Stimme hatte einen leicht ungeduldigen Beiklang. »Haben Sie alles, was Sie brauchen? Ich habe Ihr Abendbrot und die Tabletten vorbereitet und ...«
Goldberg schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. Sie neigte bisweilen dazu, ihn wie ein zurückgebliebenes Kind zu behandeln.
»Gehen Sie nur«, sagte er knapp, »ich komme klar.«
»Morgen früh um halb acht bin ich wieder da.«
Daran zweifelte er nicht. Deutsche Pünktlichkeit.
»Ihren dunklen Anzug für morgen habe ich schon aufgebügelt, auch das Hemd.«
»Ja, ja. Danke.«
»Soll ich die Alarmanlage einschalten?«
»Nein, das mache ich später schon selbst. Gehen Sie nur. Viel Spaß.«
»Danke.« Das klang erstaunt. Er hatte ihr noch nie viel Spaß gewünscht. Goldberg hörte die Absätze ihrer Schuhe über den Marmorboden der Eingangshalle klappern, dann fiel die schwere Haustür ins Schloss. Die Sonne war hinter den Bergen des Taunus verschwunden, es dämmerte. Er starrte mit düsterer Miene hinaus. Da draußen machten sich Millionen junger Menschen auf den Weg zu Verabredungen, zu unbeschwertem Vergnügen. Früher einmal hatte er zu ihnen gehört, er war ein gutaussehender Mann gewesen, wohlhabend, einflussreich, bewundert. In Elviras Alter hatte er keinen Gedanken an die Greise verschwendet, die mit schmerzenden Knochen ständig fröstelnd in ihren Sesseln saßen, um mit einer Wolldecke über arthritischen Knien dem letzten großen Ereignis in ihrem Leben entgegenzudämmern: dem Tod. Kaum zu fassen, dass es ihn nun auch erwischt hatte. Jetzt war er ein solches Fossil, ein Überbleibsel aus grauer Vorzeit, dessen Freunde, Bekannte und Weggefährten ihm längst vorausgegangen waren. Drei Menschen gab es noch auf dieser Welt, mit denen er über früher sprechen konnte, die sich an ihn erinnerten, als er noch jung und stark gewesen war.
Der Klang der Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. War es schon halb neun? Wahrscheinlich. Sie war immer pünktlich, genau wie diese Edith. Goldberg erhob sich mit einem unterdrückten Stöhnen aus dem Sessel. Sie hatte vor der Geburtstagsfeier morgen noch einmal dringend mit ihm sprechen wollen, unter vier Augen. Kaum zu glauben, dass sie auch schon fünfundachtzig wurde, die Kleine. Er durchquerte mit steifen Schritten Wohnzimmer und Eingangshalle, warf einen kurzen Blick in den Spiegel neben der Tür und glättete mit den Händen sein immer noch ziemlich volles weißes Haar. Auch wenn er wusste, dass sie sich mit ihm streiten würde, so freute er sich, sie zu sehen. Er freute sich immer. Sie war der wichtigste Grund, weshalb er nach Deutschland zurückgekehrt war. Mit einem Lächeln öffnete er die Haustür.
Samstag, 28. April 2007
Oliver von Bodenstein nahm den Topf mit der heißen Milch vom Herd, rührte zwei Löffel Kakaopulver hinein und füllte das dampfende Getränk in eine Kanne. So lange Cosima stillte, verzichtete sie auf ihren geliebten Kaffee, und er zeigte sich gelegentlich solidarisch. Ein heißer Kakao war auch nicht zu verachten. Sein Blick begegnete dem von Rosalie, und er grinste, als er die kritische Miene seiner neunzehnjährigen Tochter sah.
»Das sind mindestens zweitausend Kalorien«, sagte sie und rümpfte die Nase. »Wie könnt ihr nur!«
»Da siehst du mal, was man seinen Kindern zuliebe alles tut«, erwiderte er.
»Auf meinen Kaffee würde ich sicher nicht verzichten«, behauptete sie und nahm demonstrativ einen Schluck aus ihrer Tasse.
»Abwarten.« Bodenstein nahm zwei Porzellanbecher aus dem Schrank und stellte sie neben die Kakaokanne auf ein Tablett. Cosima hatte sich noch einmal hingelegt, nachdem das Baby sie bereits um fünf Uhr aus dem Bett gescheucht hatte. Ihr aller Leben hatte sich seit der Geburt von Sophia Gabriela im vergangenen Dezember komplett verändert. Der erste Schreck über die Nachricht, dass Cosima und er noch einmal Eltern werden würden, war zuerst einer glücklichen Vorfreude, dann aber einiger Besorgnis gewichen. Lorenz und Rosalie waren dreiundzwanzig und neunzehn, längst erwachsen und mit der Schule fertig. Wie würde es sein, das alles noch einmal von vorne durchzumachen? Waren er und Cosima überhaupt dazu in der Lage? Würde das Kind gesund sein? Bodensteins heimliche Sorgen hatten sich als unbegründet erwiesen. Bis zum Tag vor der Niederkunft war Cosima ihrer Arbeit nachgegangen, das positive Ergebnis einer Fruchtwasseruntersuchung hatte sich bei Sophias Geburt bestätigt: Die Kleine war kerngesund. Und jetzt, nach knapp fünf Monaten, fuhr Cosima wieder täglich in ihr Büro, das Baby im MaxiCosi immer dabei. Eigentlich, dachte Bodenstein, war alles viel einfacher als bei Lorenz und Rosalie. Zwar waren sie damals noch jünger und robuster gewesen, aber sie hatten nur wenig Geld und eine kleine Wohnung gehabt. Außerdem hatte er gespürt, dass Cosima darunter litt, ihren heißgeliebten Beruf als Fernsehreporterin aufgeben zu müssen.
»Warum bist du eigentlich so früh auf den Beinen?«, fragte er seine ältere Tochter. »Heute ist doch Samstag.«
»Ich muss um neun im Schloss sein«, entgegnete Rosalie. »Wir haben heute eine Riesenveranstaltung. Champagnerempfang und danach Sechs-Gänge-Menü für dreiundfünfzig Leute. Eine von Omas Freundinnen feiert bei uns ihren 85. Geburtstag.«
»Aha.«
Rosalie hatte sich nach ihrem bestandenen Abitur im vergangenen Sommer gegen ein Studium und stattdessen für eine Lehre als Köchin im noblen Restaurant von Bodensteins Bruder Quentin und seiner Schwägerin Marie-Louise entschieden. Zur Überraschung ihrer Eltern war Rosalie voller Begeisterung bei der Sache. Sie beklagte sich weder über unchristliche Arbeitszeiten noch über ihren strengen und cholerischen Chef. Cosima argwöhnte, dass genau dieser Chef, der temperamentvolle Sterne-Koch Jean-Yves St. Clair, der eigentliche Grund für Rosalies Entscheidung gewesen sei.
»Die haben mindestens zehnmal die Menüfolge, die Weinauswahl und die Anzahl der Gäste geändert.« Rosalie stellte ihre Kaffeetasse in die Spülmaschine. »Bin mal gespannt, ob denen noch was Neues eingefallen ist.«
Das Telefon klingelte. An einem Samstagmorgen um halb neun verhieß das erfahrungsgemäß nichts Gutes. Rosalie ging dran und kam wenig später mit dem tragbaren Telefon zurück in die Küche. »Für dich, Papa«, sagte sie, hielt ihm das Gerät entgegen und verabschiedete sich mit einem kurzen Winken. Bodenstein seufzte. Aus dem Spaziergang im Taunus und einem gemütlichen Mittagessen mit Cosima und Sophia würde wohl nichts werden. Seine Befürchtungen bestätigten sich, als er die angespannte Stimme von Kriminalkommissarin Pia Kirchhoff hörte.
»Wir haben einen Toten. Ich weiß, ich habe heute Bereitschaft, aber vielleicht sollten Sie mal kurz herkommen, Chef. Der Mann war ein hohes Tier, außerdem Amerikaner.«
Das klang stark nach einem verdorbenen Wochenende.
»Wo?«, fragte Bodenstein knapp.
»Sie haben es nicht weit. Kelkheim. Drosselweg 39a. David Goldberg. Seine Haushälterin hat ihn heute Morgen um halb acht gefunden.«
Bodenstein versprach, sich zu beeilen, dann brachte er Cosima den Kakao und verkündete ihr die schlechte Nachricht.
»Leichen am Wochenende gehören verboten«, murmelte Cosima und gähnte herzhaft. Bodenstein lächelte. Noch nie in den vierundzwanzig Jahren ihrer Ehe hatte seine Frau verärgert oder missmutig reagiert, wenn er überraschend wegmusste und damit die Pläne eines Tages ruinierte. Sie setzte sich auf und ergriff den Becher. »Danke. Wo musst du hin?«
Bodenstein nahm ein Hemd aus dem Kleiderschrank. »In
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Goldberg stieß einen tiefen Seufzer aus und blickte durch die großen Panoramascheiben auf die Ausläufer des Taunus, die von der untergehenden Sonne in ein goldenes Licht getaucht wurden. Er konnte sich an Sarahs Gesicht kaum mehr erinnern. Überhaupt waren die sechzig Jahre, die er in den USA gelebt hatte, oft aus seinem Gedächtnis wie weggewischt, und er hatte Mühe, sich an die Namen seiner Enkelkinder zu erinnern. Dafür war seine Erinnerung an die Zeit vor Amerika, an die er lange nicht mehr gedacht hatte, umso schärfer. Manchmal, wenn er nach einem kurzen Nickerchen aufwachte, brauchte er Minuten, um zu begreifen, wo er war. Dann betrachtete er mit Verachtung seine knotigen, zittrigen Greisenhände, die schorfige, altersfleckige Haut. Alt zu werden war keine Gnade, so ein Unsinn. Wenigstens hatte ihm das Schicksal erspart, ein sabbernder, hilfloser Pflegefall zu werden, wie so viele seiner Freunde und Weggefährten, die nicht das Glück gehabt hatten, rechtzeitig von einem Herzinfarkt dahingerafft zu werden. Er hatte eine stabile Konstitution, die seine Ärzte immer wieder erstaunte, war lange Jahre geradezu immun gegen die meisten Alterserscheinungen gewesen. Das verdankte er seiner eisernen Disziplin, mit der er jede Herausforderung im Leben gemeistert hatte. Nie hatte er sich gehen lassen, bis heute achtete er auf korrekte Kleidung und ein ordentliches Äußeres. Goldberg schauderte beim Gedanken an seinen letzten, unerfreulichen Besuch in einem Altersheim. Der Anblick der Alten, die in Bademänteln und Hausschlappen mit wirrem Haar und leerem Blick wie Geister aus einer anderen Welt durch die Gänge schlurften oder einfach sinnlos herumsaßen, hatte ihn abgestoßen. Die meisten waren jünger als er, trotzdem hätte er es sich verbeten, wenn man ihn mit ihnen in einen Topf geworfen hätte.
»Herr Goldberg?«
Er fuhr zusammen und wandte den Kopf. Die Pflegerin, deren Anwesenheit und Namen er bisweilen vergaß, stand im Türrahmen. Wie hieß sie noch gleich? Elvira, Edith ... egal. Seine Familie hatte darauf bestanden, dass er nicht alleine lebte, und diese Frau für ihn organisiert. Fünf Bewerberinnen hatte Goldberg abgelehnt. Er wollte nicht mit einer Polin oder einer Asiatin unter einem Dach leben, außerdem spielte das Äußere für ihn eine Rolle. Sie hatte ihm sofort gefallen: groß, blond, energisch. Sie war Deutsche, examinierte Hauswirtschafterin und Krankenschwester. Für alle Fälle, hatte Goldbergs Ältester Sal gesagt. Er zahlte dieser Frau sicherlich ein fürstliches Gehalt, denn sie ertrug seine Schrullen und beseitigte die Spuren seiner zunehmenden Hinfälligkeit, ohne jemals mit der Wimper zu zucken. Sie trat neben seinen Sessel und blickte ihn prüfend an. Goldberg erwiderte ihren Blick. Sie war geschminkt, der Ausschnitt ihrer Bluse ließ den Ansatz ihrer Brüste sehen, von denen er gelegentlich träumte. Wohin sie wohl ging? Ob sie einen Freund hatte, mit dem sie sich an ihrem freien Abend traf? Sie war höchstens vierzig und sehr attraktiv. Aber er würde sie nicht fragen. Er wollte keine Vertraulichkeit.
»Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt gehe?« Ihre Stimme hatte einen leicht ungeduldigen Beiklang. »Haben Sie alles, was Sie brauchen? Ich habe Ihr Abendbrot und die Tabletten vorbereitet und ...«
Goldberg schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. Sie neigte bisweilen dazu, ihn wie ein zurückgebliebenes Kind zu behandeln.
»Gehen Sie nur«, sagte er knapp, »ich komme klar.«
»Morgen früh um halb acht bin ich wieder da.«
Daran zweifelte er nicht. Deutsche Pünktlichkeit.
»Ihren dunklen Anzug für morgen habe ich schon aufgebügelt, auch das Hemd.«
»Ja, ja. Danke.«
»Soll ich die Alarmanlage einschalten?«
»Nein, das mache ich später schon selbst. Gehen Sie nur. Viel Spaß.«
»Danke.« Das klang erstaunt. Er hatte ihr noch nie viel Spaß gewünscht. Goldberg hörte die Absätze ihrer Schuhe über den Marmorboden der Eingangshalle klappern, dann fiel die schwere Haustür ins Schloss. Die Sonne war hinter den Bergen des Taunus verschwunden, es dämmerte. Er starrte mit düsterer Miene hinaus. Da draußen machten sich Millionen junger Menschen auf den Weg zu Verabredungen, zu unbeschwertem Vergnügen. Früher einmal hatte er zu ihnen gehört, er war ein gutaussehender Mann gewesen, wohlhabend, einflussreich, bewundert. In Elviras Alter hatte er keinen Gedanken an die Greise verschwendet, die mit schmerzenden Knochen ständig fröstelnd in ihren Sesseln saßen, um mit einer Wolldecke über arthritischen Knien dem letzten großen Ereignis in ihrem Leben entgegenzudämmern: dem Tod. Kaum zu fassen, dass es ihn nun auch erwischt hatte. Jetzt war er ein solches Fossil, ein Überbleibsel aus grauer Vorzeit, dessen Freunde, Bekannte und Weggefährten ihm längst vorausgegangen waren. Drei Menschen gab es noch auf dieser Welt, mit denen er über früher sprechen konnte, die sich an ihn erinnerten, als er noch jung und stark gewesen war.
Der Klang der Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. War es schon halb neun? Wahrscheinlich. Sie war immer pünktlich, genau wie diese Edith. Goldberg erhob sich mit einem unterdrückten Stöhnen aus dem Sessel. Sie hatte vor der Geburtstagsfeier morgen noch einmal dringend mit ihm sprechen wollen, unter vier Augen. Kaum zu glauben, dass sie auch schon fünfundachtzig wurde, die Kleine. Er durchquerte mit steifen Schritten Wohnzimmer und Eingangshalle, warf einen kurzen Blick in den Spiegel neben der Tür und glättete mit den Händen sein immer noch ziemlich volles weißes Haar. Auch wenn er wusste, dass sie sich mit ihm streiten würde, so freute er sich, sie zu sehen. Er freute sich immer. Sie war der wichtigste Grund, weshalb er nach Deutschland zurückgekehrt war. Mit einem Lächeln öffnete er die Haustür.
Samstag, 28. April 2007
Oliver von Bodenstein nahm den Topf mit der heißen Milch vom Herd, rührte zwei Löffel Kakaopulver hinein und füllte das dampfende Getränk in eine Kanne. So lange Cosima stillte, verzichtete sie auf ihren geliebten Kaffee, und er zeigte sich gelegentlich solidarisch. Ein heißer Kakao war auch nicht zu verachten. Sein Blick begegnete dem von Rosalie, und er grinste, als er die kritische Miene seiner neunzehnjährigen Tochter sah.
»Das sind mindestens zweitausend Kalorien«, sagte sie und rümpfte die Nase. »Wie könnt ihr nur!«
»Da siehst du mal, was man seinen Kindern zuliebe alles tut«, erwiderte er.
»Auf meinen Kaffee würde ich sicher nicht verzichten«, behauptete sie und nahm demonstrativ einen Schluck aus ihrer Tasse.
»Abwarten.« Bodenstein nahm zwei Porzellanbecher aus dem Schrank und stellte sie neben die Kakaokanne auf ein Tablett. Cosima hatte sich noch einmal hingelegt, nachdem das Baby sie bereits um fünf Uhr aus dem Bett gescheucht hatte. Ihr aller Leben hatte sich seit der Geburt von Sophia Gabriela im vergangenen Dezember komplett verändert. Der erste Schreck über die Nachricht, dass Cosima und er noch einmal Eltern werden würden, war zuerst einer glücklichen Vorfreude, dann aber einiger Besorgnis gewichen. Lorenz und Rosalie waren dreiundzwanzig und neunzehn, längst erwachsen und mit der Schule fertig. Wie würde es sein, das alles noch einmal von vorne durchzumachen? Waren er und Cosima überhaupt dazu in der Lage? Würde das Kind gesund sein? Bodensteins heimliche Sorgen hatten sich als unbegründet erwiesen. Bis zum Tag vor der Niederkunft war Cosima ihrer Arbeit nachgegangen, das positive Ergebnis einer Fruchtwasseruntersuchung hatte sich bei Sophias Geburt bestätigt: Die Kleine war kerngesund. Und jetzt, nach knapp fünf Monaten, fuhr Cosima wieder täglich in ihr Büro, das Baby im MaxiCosi immer dabei. Eigentlich, dachte Bodenstein, war alles viel einfacher als bei Lorenz und Rosalie. Zwar waren sie damals noch jünger und robuster gewesen, aber sie hatten nur wenig Geld und eine kleine Wohnung gehabt. Außerdem hatte er gespürt, dass Cosima darunter litt, ihren heißgeliebten Beruf als Fernsehreporterin aufgeben zu müssen.
»Warum bist du eigentlich so früh auf den Beinen?«, fragte er seine ältere Tochter. »Heute ist doch Samstag.«
»Ich muss um neun im Schloss sein«, entgegnete Rosalie. »Wir haben heute eine Riesenveranstaltung. Champagnerempfang und danach Sechs-Gänge-Menü für dreiundfünfzig Leute. Eine von Omas Freundinnen feiert bei uns ihren 85. Geburtstag.«
»Aha.«
Rosalie hatte sich nach ihrem bestandenen Abitur im vergangenen Sommer gegen ein Studium und stattdessen für eine Lehre als Köchin im noblen Restaurant von Bodensteins Bruder Quentin und seiner Schwägerin Marie-Louise entschieden. Zur Überraschung ihrer Eltern war Rosalie voller Begeisterung bei der Sache. Sie beklagte sich weder über unchristliche Arbeitszeiten noch über ihren strengen und cholerischen Chef. Cosima argwöhnte, dass genau dieser Chef, der temperamentvolle Sterne-Koch Jean-Yves St. Clair, der eigentliche Grund für Rosalies Entscheidung gewesen sei.
»Die haben mindestens zehnmal die Menüfolge, die Weinauswahl und die Anzahl der Gäste geändert.« Rosalie stellte ihre Kaffeetasse in die Spülmaschine. »Bin mal gespannt, ob denen noch was Neues eingefallen ist.«
Das Telefon klingelte. An einem Samstagmorgen um halb neun verhieß das erfahrungsgemäß nichts Gutes. Rosalie ging dran und kam wenig später mit dem tragbaren Telefon zurück in die Küche. »Für dich, Papa«, sagte sie, hielt ihm das Gerät entgegen und verabschiedete sich mit einem kurzen Winken. Bodenstein seufzte. Aus dem Spaziergang im Taunus und einem gemütlichen Mittagessen mit Cosima und Sophia würde wohl nichts werden. Seine Befürchtungen bestätigten sich, als er die angespannte Stimme von Kriminalkommissarin Pia Kirchhoff hörte.
»Wir haben einen Toten. Ich weiß, ich habe heute Bereitschaft, aber vielleicht sollten Sie mal kurz herkommen, Chef. Der Mann war ein hohes Tier, außerdem Amerikaner.«
Das klang stark nach einem verdorbenen Wochenende.
»Wo?«, fragte Bodenstein knapp.
»Sie haben es nicht weit. Kelkheim. Drosselweg 39a. David Goldberg. Seine Haushälterin hat ihn heute Morgen um halb acht gefunden.«
Bodenstein versprach, sich zu beeilen, dann brachte er Cosima den Kakao und verkündete ihr die schlechte Nachricht.
»Leichen am Wochenende gehören verboten«, murmelte Cosima und gähnte herzhaft. Bodenstein lächelte. Noch nie in den vierundzwanzig Jahren ihrer Ehe hatte seine Frau verärgert oder missmutig reagiert, wenn er überraschend wegmusste und damit die Pläne eines Tages ruinierte. Sie setzte sich auf und ergriff den Becher. »Danke. Wo musst du hin?«
Bodenstein nahm ein Hemd aus dem Kleiderschrank. »In
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Nele Neuhaus
- 2011, 1, 477 Seiten, Masse: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009930
- ISBN-13: 9783868009934
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