Tanz mit dem Jahrhundert
Erinnerungen
Die Autobiografie des »Empört euch!«-Autors Stéphane Hessel: Résistance-Mitglied, KZ-Überlebender und Mitautor der UN-Menschenrechts-Charta. Sein packender Lebensbericht liest sich wie ein Roman und ist doch ein ganz realistisches Lehrstück in Sachen Demokratie.
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Produktinformationen zu „Tanz mit dem Jahrhundert “
Die Autobiografie des »Empört euch!«-Autors Stéphane Hessel: Résistance-Mitglied, KZ-Überlebender und Mitautor der UN-Menschenrechts-Charta. Sein packender Lebensbericht liest sich wie ein Roman und ist doch ein ganz realistisches Lehrstück in Sachen Demokratie.
Klappentext zu „Tanz mit dem Jahrhundert “
Die Autobiographie von Stéphane Hessel - Résistance-Mitglied, Überlebender von Buchenwald, Mitautor der Menschenrechts-Charta der UN - ist der packende Bericht über ein ungewöhnliches Leben und zugleich ein bewegendes Plädoyer für Humanität und Zivilcourage. Tanz mit dem Jahrhundert gleicht einem Roman und ist doch ein ganz realistisches Lehrstück in Sachen Demokratie. 'Der Diplomat Stéphane Hessel' - Ein Kinodokumentarfilm. Jetzt auf DVD: www.derdiplomatstéphanehessel-derfilm.deLese-Probe zu „Tanz mit dem Jahrhundert “
Tanz mit dem Jahrhundert von Stéphane HesselKapitel 1 VON BERLIN NACH PARIS
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Ich habe lange Zeit ein Heft aufbewahrt, in das ich die Episoden meines Lebens, angefangen mit meiner Geburt bis hin zu meiner Ankunft in Frankreich im Alter von sieben Jahren, gemalt habe. Jedes Aquarell hatte seine eigene Bildunterschrift. Ich erinnere mich an das erste: Es stellte ein Bett dar, in dem eine weibliche Figur und eine zweite, kleinere, lagen. Am Fußende des Bettes zwei Paar Pantoffeln, das eine doppelt so groß wie das andere. Gegenüber saß ein Mann in weißem Kittel an einem Tisch, vor sich einen Teller mit einem roten Fleck. Die Bildunterschrift hieß: »Nach meiner Geburt isst der Doktor eine Scheibe Schinken.« Ich hatte den Bericht meiner Mutter wiedergegeben, die sich über die ungebührliche Geste ihres Geburtshelfers im Berlin des Oktober 1917, wo es an allem fehlte, amüsierte. Meine Eltern lebten in einer großen Wohnung in einem schönen Haus der Jahrhundertwende, ausgestattet mit einer breiten, gewundenen Treppe, deren roten Teppich ich mit Wonne betrat. Es stand Ecke Friedrich-Wilhelm-Straße und Von-der-Heydt-Straße, hundert Meter vom Tiergarten entfernt, dem großen Park der Hauptstadt, wohin mein Bruder und ich zum Reifenspielen gingen. Dieses Botschaftsviertel, das ich so lebhaft in Erinnerung behalten habe, dass ich noch heute einen Plan davon zeichnen könnte, ist durch Bomben gänzlich dem Erdboden gleichgemacht worden. Von meinem Geburtshaus existiert nichts mehr. In meiner Erinnerung gibt es ein Bild, das ich der Zeit kurz nach Ende des Krieges zuordne. Ich muss damals etwas über zwei Jahre alt gewesen sein. Es ist Weihnachten, und ich tanze in dem großen, für das Fest leergeräumten Salon. Ich trage an meinen Handgelenken und Knöcheln blaue und rote Bastbänder. Mein Bruder sieht mir zu. Die Eltern applaudieren. Ich drehe, drehe und drehe mich.
Wer sind diese Eltern?
Die Familie meines Vaters war durch den Handel mit Getreide zu beträchtlichem Wohlstand gekommen. Sie hatte Polen, wo sie der jüdischen Gemeinschaft angehörte, verlassen, um sich dort niederzulassen, wo sich damals der große deutsche pommersche Hafen befand: Stettin, das 1945 wieder das polnische Szczecin geworden ist. Ihr dritter Sohn Franz wurde dort im Jahre 1880 geboren. Um die Jahrhundertwende brachen Heinrich Hessel und seine Frau Fanny mit der jüdischen Tradition, wurden in Berlin ansässig und ließen ihre Kinder im lutherischen Glauben taufen. Zwei von ihnen, der älteste Sohn Alfred und der jüngste Hans, entsprechen dem Bild der assimilierten jüdischen Bourgeoisie, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine breite Skala gesellschaftlicher Positionen ersten Ranges in Banken, Universitäten, Theater, Presse, Intelligenz im allgemeinen innehatte, wodurch sie zur Zielscheibe zunächst der nationalistischen Rechten und dann der Nazis wurde.
Die beiden anderen Kinder schienen nicht aus demselben Holz geschnitzt zu sein: ein Mädchen, Anna, zweifellos sehr schön, sehr zart, das im Alter von 25 Jahren von der Tuberkulose hinweggerafft wurde, und ein Sohn, Franz, mein Vater, 15 Jahre jünger als sie, den dieser Tod bis ins Innerste erschütterte. Daher rührten vielleicht jene Melancholie und Gleichgültigkeit materiellen Dingen gegenüber, wie es sich für Dichter ziemt. Was für Paul Briske, seinen Schwager, der das Vermögen der Familie durchbringen sollte, die Geschäfte sind, ist für Hans die Bank und für Alfred, der, von seinen Studenten beweint, 1939 in Göttingen starb, die Universität. Was Franz betrifft, so widmet er sich seit frühester Jugend der Literatur, den Sprachen und dem Studium der griechischen Antike.
Meine Mutter, Helen Grund, kam 1886 in Berlin zur Welt. Sie war die jüngste Tochter eines musikbegeisterten Bankiers, dessen protestantische, aus Schlesien stammende Familie Preußen hervorragende Architekten und bedeutende Staatsbeamte geschenkt hatte. Ich habe erst kürzlich erfahren, dass mein Urgroßvater zum Commandeur de la Légion d'honneur* ernannt worden war, weil er in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Zusammenarbeit mit den kaiserlichen französischen Behörden bei der Gestaltung des Flussbeckens der Saar mitgewirkt hatte. Meine Großmutter wurde in Zürich in einer deutschen Familie geboren, die nach der Revolution von 1848 in die Schweiz ausgewandert war. Sie hatte eine französische und eine englische Schwägerin. Die Erzählungen meiner Mutter über ihre Kindheit, ihre vier Brüder und Schwestern, die die jüngste herumkutschierten, lassen eine Welt voll unbändiger Freude, ausgelassenem Leichtsinn, mütterlicher Ängste und väterlicher Nachgiebigkeit erahnen, die meine Großmutter in eine Nervenheilanstalt bringen sollten, wo sie vor meiner Geburt starb.
Franz ist zunächst angezogen von der Künstlerbohème in Schwabing, dem Montparnasse von München, wo er drei Jahre lang zu Füßen der Gräfin Franziska zu Reventlow in dem elitären Kreis um den Dichter Stefan George und seinen Schüler Karl Wolfskehl lebt, was ihn stark beeindruckt, auch wenn er sich in Satiren darüber lustig macht. 1906 geht er nach Paris, wo er sich mit Henri-Pierre Roché, Guillaume Apollinaire und Marie Laurencin anfreundet. Helen möchte Malerin werden, und ihr Lehrer Mosson, der auch ihr erster Liebhaber ist, rät ihr, an der Grande Chaumière in Paris bei Maurice Denis zu studieren. Franz und Helen, beide Deutsche, beide Kosmopoliten, lernen einander 1912 in Montparnasse im Café du Dôme kennen. Dieses Paris der Vorkriegsjahre ist der kulturelle und moralische Schmelztiegel, aus dem mein Bruder und ich hervorgingen, ein Ort der Träume und der Revolten. Dort haben unsere Eltern beschlossen zu heiraten, nicht etwa um sich Ketten zu schmieden, sondern um ihre kühn in Anspruch genommene Ungebundenheit noch zu steigern. Ungebundenheit ihren Familien gegenüber: Helens Brüder fanden, unter den Hochzeitsgästen seien zu viele Juden; die von Franz, die toleranter waren, fragten sich, ob er nicht seines Vermögens wegen geheiratet worden sei. Wer von ihnen hätte die so besonderen Bande verstehen können, die sie vereinten und zugleich unabhängig voneinander machten? Die Hochzeit findet in Berlin statt, ein Jahr vor der Kriegserklärung. Helen erwartet ein Kind. Sie beschließt, es in Genf zur Welt zu bringen. Ihr erstes Kind, Ulrich, wird am 27. Juli 1914 unter gefährlichen Umständen geboren, während Franz sie verlässt, um sich seinem Regiment anzuschließen. Der am Schädelverletzte Säugling wird dank der Hartnäckigkeit seiner Mutter gerettet. Ulrich behielt davon ein Gebrechen zurück, das aus ihm gleichzeitig meinen großen wie meinen kleinen Bruder werden ließ. Drei Jahre später bin ich, während man sich in Verdun massakriert, in Berlin das Ergebnis eines Urlaubs, der Franz von der Zensurdienststelle, wohin er sich hatte versetzen lassen, zugestanden worden war. Die Absurdität, die dieser Krieg für ihn bedeutete, kommt in seinem besten Buch, Pariser Romanze, zum Ausdruck, einem Briefwechsel mit seinem französischen Freund Henri-Pierre Roché. Er schildert darin seine Begegnung mit Helen in Paris, zu deren ambivalentem, liebevollem Beschützer er sich macht, und beschreibt sie so, wie er sie gern geliebt hätte. Während der gesamten kriegerischen Phase französisch-deutscher Beziehungen kommen die Kinder, mein Bruder und ich, kaum in den Genuss väterlicher Anwesenheit. Unser physisches und mentales Universum, das aus Lachen und Zärtlichkeit, aus Spiel und Verkleiden besteht, bilden Helen und ihre Schwester Bobann: zwei Berliner Teufelsweiber. Helen trug für mich mit ihren blauen Augen und ihrem langen blonden Haar, ihrer ungestümen Zärtlichkeit und ihrem Drang zu verführen die Züge Aphrodites. Ihr ganzes Verhältnis zu mir beruhte auf Bewunderung: mich zur Geltung zu bringen, beinahe ohne mich je zu kritisieren oder zu schelten. Die Auswirkungen einer solchen Erziehung hätten verheerend sein können. Sie wollte mir jedoch ebenso Bescheidenheit eintrichtern, eine in ihren Augen fundamentale Tugend. Sie hat sie in einem ihrer liebsten Aphorismen charakterisiert: »Bescheidenheit ziert nur den Erfolgreichen.« Viel später fand ich in ihrem Tagebuch den Beweis für diese Widersinnigkeit: Sie war wütend, wenn man sich ihrer Verführung entzog, stand sich selbst jedoch erbarmungslos kritisch gegenüber. Und was war mit unserem Vater? Helen vermittelte uns von ihm ein ziemlich blasses Bild, das eines subtilen Geistes in einem von der Natur stiefmütterlich behandelten Körper. Franz war nahezu kahl, von kleiner Statur und ziemlich korpulent. Sein Gesicht und seine Gesten wirkten sanft, er war in unseren Augen ein etwas zerstreuter Weiser, der für sich lebte und sich kaum mit uns befasste. Nicht eben redselig, achtete er sehr auf seine Ausdrucksweise und fand spielerisches Vergnügen in der Anordnung von Wörtern. Ich sehe noch sein Arbeitszimmer ganz am Ende des Flures vor mir, wo es immer stark nach Tabak roch. Er kam heraus, um uns Passagen aus seiner Übersetzung der Odyssee vorzulesen. Die Stelle, wo Odysseus das Auge des Polyphem durchbohrt, ließ den kleinen Jungen, der ich war, bis zur Übelkeit erschauern. Weit mehr als Grimms Märchen oder die Bücher von Wilhelm Busch, die wir, auf dem Teppich im Wohnzimmer meiner Großmutter Fanny liegend, lasen, waren
die griechische Mythologie und Homers Heldenepen meine erste geistige Nahrung. Franz hat in mir die Vorliebe für den Polytheismus geweckt, der das Göttliche nicht auf die einzigartige und ein wenig furchteinflößende Wesenheit des Ewigen Vaters reduziert, sondern uns der erschütternden Willkür der Athene, der Aphrodite, des Apollon und des Hermes ausliefert. 40 Jahre nach seinem Tode ist er für mich zu einer Initiationsfigur geworden. Sein Werk, das ich wenig kannte und von dem ich nichts weiter als Zerstreuung erwartete, wird wieder lebendig und wirft, im Einklang mit Bertolt Brecht und Walter Benjamin, ein prophetisches und melancholisches Licht auf das erste Viertel dieses Jahrhunderts. Erst kürzlich habe ich von einem deutschen Verleger einen fünfseitigen Text erhalten, den er in der Sammlung eines Literaturarchivs entdeckt hatte und in dem mein Vater uns, seinen beiden Söhnen, die Lektüre von Auszügen aus seinem Werk empfiehlt, von denen wir, wie er annahm, profitieren könnten. Die Mischung aus Bescheidenheit, Zärtlichkeit und Verantwortungsgefühl, die daraus spricht, machte einen tiefen Eindruck auf mich. Als erreiche mich ein Signal aus weiter Ferne und rufe in mir weniger ein Erbe als vielmehr eine Verpflichtung wach, die ich nicht eingelöst hatte. Bei einem so ungewöhnlichen Paar, wie es meine Eltern waren, hatte ich so sehr unter dem Einfluss von Helens Persönlichkeit gestanden, dass ich die von Franz verdrängt hatte. Helen hatte ein großes Bedürfnis nach Ungebundenheit, das sich mit einem Leben ohne Arbeit schlecht vertrug. Außerdem hatte das Vermögen der Hessels die galoppierende Inflation der Nachkriegszeit in Berlin nicht überdauert. Ihre Leidenschaft galt der Malerei, und sie war immer von Malern umgeben gewesen. Sie selbst malte jedoch nicht mehr, da sie diese Tätigkeit zu schmutzig fand. Sie hat immer weiter - mit der Feder - gezeichnet und talentierte Porträts ihrer Angehörigen geschaffen. Aber während des Krieges beschloss sie, ihren Lebensunterhalt als Landarbeiterin bei einem Gutsbesitzer zu verdienen. Später wollte sie Tänzerin oder vielleicht auch Schauspielerin werden. Schließlich hatte jedoch das Schreiben das letzte Wort.Sie war 34 Jahre alt und ich drei, als die Familie sich in einer alles in allem ziemlich banalen Dreieckssituation befand, deren romanhafte und spätere filmische Umsetzung jedoch zu einem Mythos werden sollte.
Der Autor des Romans Jules und Jim, Henri-Pierre Roché, war vor dem Krieg ein sehr enger Freund von Franz gewesen. Er teilte mit Marcel Duchamp, mit dem er ebenfalls sehr befreundet war und von dem er ein höchst liebevolles Porträt entwarf, eine bewusst radikal neue, freie Auffassung von einer Beziehung zwischen Männern und Frauen ohne Zugeständnisse. Franz und Henri-Pierre interessierten sich für dieselben Frauen und teilten ihre Eroberungen und Freuden miteinander. Der Krieg hatte sie getrennt, der Frieden führte sie ganz selbstverständlich wieder zusammen.
Wie sollte der elegante und verführerische Franzose nicht der Geliebte der Frau seines alten Freundes werden? Doch das Dreiecksverhältnis trug eher tragische denn frivole Züge, indem es die Ecken und Kanten von denen, die sich darin verfangen hatten, zutage förderte. Mein Vater begriff, dass das, was mit seiner Frau und seinem Freund geschah, eine ernste und schöne Erfahrung war, die beide womöglich verändern würde. Er wollte nicht nur kein Hindernis, sondern vielmehr der literarische Mittler dieser Leidenschaft sein. Er ermutigte die beiden, sie minutiös in einem intimen Tagebuch zu schildern, woraus ein zu zweit oder sogar zu dritt geschriebenes Buch entstehen könne.
Mein damals siebenjähriger Bruder und ich mit meinen vier Jahren nahmen an diesem seltsamen Abenteuer teil, das uns unsere Mutter hätte rauben können, wenn ihr Vorhaben, ein neues Leben zu beginnen und ein Kind mit Roché zu haben, Wirklichkeit geworden wäre. Mir ist von den Szenen, die Truffaut an die Öffentlichkeit gebracht hat, so gut wie nichts in Erinnerung geblieben, und ich ärgere mich, wenn ein neuer Gesprächspartner, der den Film gesehen hat, zu mir sagt: »Ach, Sie sind das kleine Mädchen aus Jules et Jim!« Ich war ein kleiner Narr, der meinte, dieser große, hagere, hochaufgeschossene, sympathische Franzose mit den so natürlichen Bewegungen sei ein großartiger Spielkamerad auf den bayerischen Wiesen und am Ufer des Sees, wo er uns beibrachte, Steine auf dem Wasser hüpfen zu lassen. Ich überließ es meinem Bruder Ulrich, Franz beizustehen, wie er es sein ganzes Leben lang getan hat. Mir scheint, wir haben seit frühester Kindheit die Welt zweigeteilt: in die meines Bruders und in die meine. Sein Teil bestand aus Franz, aus Strenge, Rechtschaffenheit und Musik; meiner aus Helen, aus Respektlosigkeit, Einfallsreichtum und Poesie. Eine willkürliche, anfechtbare Teilung, die zu leugnen mir jedoch noch heute schwerfällt. Im Zentrum dieses ganzen Treibens hielt ein Mensch das Gleichgewicht: Emmy Toepffer. Diese aus einer protestantischen Familie in Mecklenburg stammende Säuglings- und Kinderschwester litt unter einer Verformung der Hüfte, was ihr einen seltsam tänzelnden Gang verlieh. Emmy war von meiner Tante eingestellt worden, die ein Kinderheim 20 Kilometer östlich von Berlin führte, wo mein Bruder und ich mit unseren Cousins spielten. Emmy hatte eine hervorragende pädagogische Ausbildung erhalten und kannte viele Spiele, Gedichte und Lieder; ihr Zugang zu jungen Menschen war ungewöhnlich liebevoll und feinfühlig. Meine Mutter setzte bei ihrer älteren Schwester durch, dass sie ihr Emmy überließ, damit diese sich um ihre Kinder kümmert.
(c) List TB. Verlag
Ich habe lange Zeit ein Heft aufbewahrt, in das ich die Episoden meines Lebens, angefangen mit meiner Geburt bis hin zu meiner Ankunft in Frankreich im Alter von sieben Jahren, gemalt habe. Jedes Aquarell hatte seine eigene Bildunterschrift. Ich erinnere mich an das erste: Es stellte ein Bett dar, in dem eine weibliche Figur und eine zweite, kleinere, lagen. Am Fußende des Bettes zwei Paar Pantoffeln, das eine doppelt so groß wie das andere. Gegenüber saß ein Mann in weißem Kittel an einem Tisch, vor sich einen Teller mit einem roten Fleck. Die Bildunterschrift hieß: »Nach meiner Geburt isst der Doktor eine Scheibe Schinken.« Ich hatte den Bericht meiner Mutter wiedergegeben, die sich über die ungebührliche Geste ihres Geburtshelfers im Berlin des Oktober 1917, wo es an allem fehlte, amüsierte. Meine Eltern lebten in einer großen Wohnung in einem schönen Haus der Jahrhundertwende, ausgestattet mit einer breiten, gewundenen Treppe, deren roten Teppich ich mit Wonne betrat. Es stand Ecke Friedrich-Wilhelm-Straße und Von-der-Heydt-Straße, hundert Meter vom Tiergarten entfernt, dem großen Park der Hauptstadt, wohin mein Bruder und ich zum Reifenspielen gingen. Dieses Botschaftsviertel, das ich so lebhaft in Erinnerung behalten habe, dass ich noch heute einen Plan davon zeichnen könnte, ist durch Bomben gänzlich dem Erdboden gleichgemacht worden. Von meinem Geburtshaus existiert nichts mehr. In meiner Erinnerung gibt es ein Bild, das ich der Zeit kurz nach Ende des Krieges zuordne. Ich muss damals etwas über zwei Jahre alt gewesen sein. Es ist Weihnachten, und ich tanze in dem großen, für das Fest leergeräumten Salon. Ich trage an meinen Handgelenken und Knöcheln blaue und rote Bastbänder. Mein Bruder sieht mir zu. Die Eltern applaudieren. Ich drehe, drehe und drehe mich.
Wer sind diese Eltern?
Die Familie meines Vaters war durch den Handel mit Getreide zu beträchtlichem Wohlstand gekommen. Sie hatte Polen, wo sie der jüdischen Gemeinschaft angehörte, verlassen, um sich dort niederzulassen, wo sich damals der große deutsche pommersche Hafen befand: Stettin, das 1945 wieder das polnische Szczecin geworden ist. Ihr dritter Sohn Franz wurde dort im Jahre 1880 geboren. Um die Jahrhundertwende brachen Heinrich Hessel und seine Frau Fanny mit der jüdischen Tradition, wurden in Berlin ansässig und ließen ihre Kinder im lutherischen Glauben taufen. Zwei von ihnen, der älteste Sohn Alfred und der jüngste Hans, entsprechen dem Bild der assimilierten jüdischen Bourgeoisie, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine breite Skala gesellschaftlicher Positionen ersten Ranges in Banken, Universitäten, Theater, Presse, Intelligenz im allgemeinen innehatte, wodurch sie zur Zielscheibe zunächst der nationalistischen Rechten und dann der Nazis wurde.
Die beiden anderen Kinder schienen nicht aus demselben Holz geschnitzt zu sein: ein Mädchen, Anna, zweifellos sehr schön, sehr zart, das im Alter von 25 Jahren von der Tuberkulose hinweggerafft wurde, und ein Sohn, Franz, mein Vater, 15 Jahre jünger als sie, den dieser Tod bis ins Innerste erschütterte. Daher rührten vielleicht jene Melancholie und Gleichgültigkeit materiellen Dingen gegenüber, wie es sich für Dichter ziemt. Was für Paul Briske, seinen Schwager, der das Vermögen der Familie durchbringen sollte, die Geschäfte sind, ist für Hans die Bank und für Alfred, der, von seinen Studenten beweint, 1939 in Göttingen starb, die Universität. Was Franz betrifft, so widmet er sich seit frühester Jugend der Literatur, den Sprachen und dem Studium der griechischen Antike.
Meine Mutter, Helen Grund, kam 1886 in Berlin zur Welt. Sie war die jüngste Tochter eines musikbegeisterten Bankiers, dessen protestantische, aus Schlesien stammende Familie Preußen hervorragende Architekten und bedeutende Staatsbeamte geschenkt hatte. Ich habe erst kürzlich erfahren, dass mein Urgroßvater zum Commandeur de la Légion d'honneur* ernannt worden war, weil er in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Zusammenarbeit mit den kaiserlichen französischen Behörden bei der Gestaltung des Flussbeckens der Saar mitgewirkt hatte. Meine Großmutter wurde in Zürich in einer deutschen Familie geboren, die nach der Revolution von 1848 in die Schweiz ausgewandert war. Sie hatte eine französische und eine englische Schwägerin. Die Erzählungen meiner Mutter über ihre Kindheit, ihre vier Brüder und Schwestern, die die jüngste herumkutschierten, lassen eine Welt voll unbändiger Freude, ausgelassenem Leichtsinn, mütterlicher Ängste und väterlicher Nachgiebigkeit erahnen, die meine Großmutter in eine Nervenheilanstalt bringen sollten, wo sie vor meiner Geburt starb.
Franz ist zunächst angezogen von der Künstlerbohème in Schwabing, dem Montparnasse von München, wo er drei Jahre lang zu Füßen der Gräfin Franziska zu Reventlow in dem elitären Kreis um den Dichter Stefan George und seinen Schüler Karl Wolfskehl lebt, was ihn stark beeindruckt, auch wenn er sich in Satiren darüber lustig macht. 1906 geht er nach Paris, wo er sich mit Henri-Pierre Roché, Guillaume Apollinaire und Marie Laurencin anfreundet. Helen möchte Malerin werden, und ihr Lehrer Mosson, der auch ihr erster Liebhaber ist, rät ihr, an der Grande Chaumière in Paris bei Maurice Denis zu studieren. Franz und Helen, beide Deutsche, beide Kosmopoliten, lernen einander 1912 in Montparnasse im Café du Dôme kennen. Dieses Paris der Vorkriegsjahre ist der kulturelle und moralische Schmelztiegel, aus dem mein Bruder und ich hervorgingen, ein Ort der Träume und der Revolten. Dort haben unsere Eltern beschlossen zu heiraten, nicht etwa um sich Ketten zu schmieden, sondern um ihre kühn in Anspruch genommene Ungebundenheit noch zu steigern. Ungebundenheit ihren Familien gegenüber: Helens Brüder fanden, unter den Hochzeitsgästen seien zu viele Juden; die von Franz, die toleranter waren, fragten sich, ob er nicht seines Vermögens wegen geheiratet worden sei. Wer von ihnen hätte die so besonderen Bande verstehen können, die sie vereinten und zugleich unabhängig voneinander machten? Die Hochzeit findet in Berlin statt, ein Jahr vor der Kriegserklärung. Helen erwartet ein Kind. Sie beschließt, es in Genf zur Welt zu bringen. Ihr erstes Kind, Ulrich, wird am 27. Juli 1914 unter gefährlichen Umständen geboren, während Franz sie verlässt, um sich seinem Regiment anzuschließen. Der am Schädelverletzte Säugling wird dank der Hartnäckigkeit seiner Mutter gerettet. Ulrich behielt davon ein Gebrechen zurück, das aus ihm gleichzeitig meinen großen wie meinen kleinen Bruder werden ließ. Drei Jahre später bin ich, während man sich in Verdun massakriert, in Berlin das Ergebnis eines Urlaubs, der Franz von der Zensurdienststelle, wohin er sich hatte versetzen lassen, zugestanden worden war. Die Absurdität, die dieser Krieg für ihn bedeutete, kommt in seinem besten Buch, Pariser Romanze, zum Ausdruck, einem Briefwechsel mit seinem französischen Freund Henri-Pierre Roché. Er schildert darin seine Begegnung mit Helen in Paris, zu deren ambivalentem, liebevollem Beschützer er sich macht, und beschreibt sie so, wie er sie gern geliebt hätte. Während der gesamten kriegerischen Phase französisch-deutscher Beziehungen kommen die Kinder, mein Bruder und ich, kaum in den Genuss väterlicher Anwesenheit. Unser physisches und mentales Universum, das aus Lachen und Zärtlichkeit, aus Spiel und Verkleiden besteht, bilden Helen und ihre Schwester Bobann: zwei Berliner Teufelsweiber. Helen trug für mich mit ihren blauen Augen und ihrem langen blonden Haar, ihrer ungestümen Zärtlichkeit und ihrem Drang zu verführen die Züge Aphrodites. Ihr ganzes Verhältnis zu mir beruhte auf Bewunderung: mich zur Geltung zu bringen, beinahe ohne mich je zu kritisieren oder zu schelten. Die Auswirkungen einer solchen Erziehung hätten verheerend sein können. Sie wollte mir jedoch ebenso Bescheidenheit eintrichtern, eine in ihren Augen fundamentale Tugend. Sie hat sie in einem ihrer liebsten Aphorismen charakterisiert: »Bescheidenheit ziert nur den Erfolgreichen.« Viel später fand ich in ihrem Tagebuch den Beweis für diese Widersinnigkeit: Sie war wütend, wenn man sich ihrer Verführung entzog, stand sich selbst jedoch erbarmungslos kritisch gegenüber. Und was war mit unserem Vater? Helen vermittelte uns von ihm ein ziemlich blasses Bild, das eines subtilen Geistes in einem von der Natur stiefmütterlich behandelten Körper. Franz war nahezu kahl, von kleiner Statur und ziemlich korpulent. Sein Gesicht und seine Gesten wirkten sanft, er war in unseren Augen ein etwas zerstreuter Weiser, der für sich lebte und sich kaum mit uns befasste. Nicht eben redselig, achtete er sehr auf seine Ausdrucksweise und fand spielerisches Vergnügen in der Anordnung von Wörtern. Ich sehe noch sein Arbeitszimmer ganz am Ende des Flures vor mir, wo es immer stark nach Tabak roch. Er kam heraus, um uns Passagen aus seiner Übersetzung der Odyssee vorzulesen. Die Stelle, wo Odysseus das Auge des Polyphem durchbohrt, ließ den kleinen Jungen, der ich war, bis zur Übelkeit erschauern. Weit mehr als Grimms Märchen oder die Bücher von Wilhelm Busch, die wir, auf dem Teppich im Wohnzimmer meiner Großmutter Fanny liegend, lasen, waren
die griechische Mythologie und Homers Heldenepen meine erste geistige Nahrung. Franz hat in mir die Vorliebe für den Polytheismus geweckt, der das Göttliche nicht auf die einzigartige und ein wenig furchteinflößende Wesenheit des Ewigen Vaters reduziert, sondern uns der erschütternden Willkür der Athene, der Aphrodite, des Apollon und des Hermes ausliefert. 40 Jahre nach seinem Tode ist er für mich zu einer Initiationsfigur geworden. Sein Werk, das ich wenig kannte und von dem ich nichts weiter als Zerstreuung erwartete, wird wieder lebendig und wirft, im Einklang mit Bertolt Brecht und Walter Benjamin, ein prophetisches und melancholisches Licht auf das erste Viertel dieses Jahrhunderts. Erst kürzlich habe ich von einem deutschen Verleger einen fünfseitigen Text erhalten, den er in der Sammlung eines Literaturarchivs entdeckt hatte und in dem mein Vater uns, seinen beiden Söhnen, die Lektüre von Auszügen aus seinem Werk empfiehlt, von denen wir, wie er annahm, profitieren könnten. Die Mischung aus Bescheidenheit, Zärtlichkeit und Verantwortungsgefühl, die daraus spricht, machte einen tiefen Eindruck auf mich. Als erreiche mich ein Signal aus weiter Ferne und rufe in mir weniger ein Erbe als vielmehr eine Verpflichtung wach, die ich nicht eingelöst hatte. Bei einem so ungewöhnlichen Paar, wie es meine Eltern waren, hatte ich so sehr unter dem Einfluss von Helens Persönlichkeit gestanden, dass ich die von Franz verdrängt hatte. Helen hatte ein großes Bedürfnis nach Ungebundenheit, das sich mit einem Leben ohne Arbeit schlecht vertrug. Außerdem hatte das Vermögen der Hessels die galoppierende Inflation der Nachkriegszeit in Berlin nicht überdauert. Ihre Leidenschaft galt der Malerei, und sie war immer von Malern umgeben gewesen. Sie selbst malte jedoch nicht mehr, da sie diese Tätigkeit zu schmutzig fand. Sie hat immer weiter - mit der Feder - gezeichnet und talentierte Porträts ihrer Angehörigen geschaffen. Aber während des Krieges beschloss sie, ihren Lebensunterhalt als Landarbeiterin bei einem Gutsbesitzer zu verdienen. Später wollte sie Tänzerin oder vielleicht auch Schauspielerin werden. Schließlich hatte jedoch das Schreiben das letzte Wort.Sie war 34 Jahre alt und ich drei, als die Familie sich in einer alles in allem ziemlich banalen Dreieckssituation befand, deren romanhafte und spätere filmische Umsetzung jedoch zu einem Mythos werden sollte.
Der Autor des Romans Jules und Jim, Henri-Pierre Roché, war vor dem Krieg ein sehr enger Freund von Franz gewesen. Er teilte mit Marcel Duchamp, mit dem er ebenfalls sehr befreundet war und von dem er ein höchst liebevolles Porträt entwarf, eine bewusst radikal neue, freie Auffassung von einer Beziehung zwischen Männern und Frauen ohne Zugeständnisse. Franz und Henri-Pierre interessierten sich für dieselben Frauen und teilten ihre Eroberungen und Freuden miteinander. Der Krieg hatte sie getrennt, der Frieden führte sie ganz selbstverständlich wieder zusammen.
Wie sollte der elegante und verführerische Franzose nicht der Geliebte der Frau seines alten Freundes werden? Doch das Dreiecksverhältnis trug eher tragische denn frivole Züge, indem es die Ecken und Kanten von denen, die sich darin verfangen hatten, zutage förderte. Mein Vater begriff, dass das, was mit seiner Frau und seinem Freund geschah, eine ernste und schöne Erfahrung war, die beide womöglich verändern würde. Er wollte nicht nur kein Hindernis, sondern vielmehr der literarische Mittler dieser Leidenschaft sein. Er ermutigte die beiden, sie minutiös in einem intimen Tagebuch zu schildern, woraus ein zu zweit oder sogar zu dritt geschriebenes Buch entstehen könne.
Mein damals siebenjähriger Bruder und ich mit meinen vier Jahren nahmen an diesem seltsamen Abenteuer teil, das uns unsere Mutter hätte rauben können, wenn ihr Vorhaben, ein neues Leben zu beginnen und ein Kind mit Roché zu haben, Wirklichkeit geworden wäre. Mir ist von den Szenen, die Truffaut an die Öffentlichkeit gebracht hat, so gut wie nichts in Erinnerung geblieben, und ich ärgere mich, wenn ein neuer Gesprächspartner, der den Film gesehen hat, zu mir sagt: »Ach, Sie sind das kleine Mädchen aus Jules et Jim!« Ich war ein kleiner Narr, der meinte, dieser große, hagere, hochaufgeschossene, sympathische Franzose mit den so natürlichen Bewegungen sei ein großartiger Spielkamerad auf den bayerischen Wiesen und am Ufer des Sees, wo er uns beibrachte, Steine auf dem Wasser hüpfen zu lassen. Ich überließ es meinem Bruder Ulrich, Franz beizustehen, wie er es sein ganzes Leben lang getan hat. Mir scheint, wir haben seit frühester Kindheit die Welt zweigeteilt: in die meines Bruders und in die meine. Sein Teil bestand aus Franz, aus Strenge, Rechtschaffenheit und Musik; meiner aus Helen, aus Respektlosigkeit, Einfallsreichtum und Poesie. Eine willkürliche, anfechtbare Teilung, die zu leugnen mir jedoch noch heute schwerfällt. Im Zentrum dieses ganzen Treibens hielt ein Mensch das Gleichgewicht: Emmy Toepffer. Diese aus einer protestantischen Familie in Mecklenburg stammende Säuglings- und Kinderschwester litt unter einer Verformung der Hüfte, was ihr einen seltsam tänzelnden Gang verlieh. Emmy war von meiner Tante eingestellt worden, die ein Kinderheim 20 Kilometer östlich von Berlin führte, wo mein Bruder und ich mit unseren Cousins spielten. Emmy hatte eine hervorragende pädagogische Ausbildung erhalten und kannte viele Spiele, Gedichte und Lieder; ihr Zugang zu jungen Menschen war ungewöhnlich liebevoll und feinfühlig. Meine Mutter setzte bei ihrer älteren Schwester durch, dass sie ihr Emmy überließ, damit diese sich um ihre Kinder kümmert.
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Autoren-Porträt von Stéphane Hessel
Stéphane Hessel, geboren am 20. Oktober 1917 in Berlin, gestorben am 27. Februar 2013 in Paris. Hessel war Sohn des Schriftstellers Franz Hessel. Er 1924 zog er mit seinen Eltern nach Paris; seit 1937 war er französischer Staatsbürger. Ab 1946 gehörte er der Vertretung Frankreichs bei den Vereinten Nationen in New York an und war an der Redaktion der Charta der Menschenrechte beteiligt. Im Auftrag der UNO und des französischen Aussenministeriums war er anschliessend jahrzehntelang als Diplomat tätig; der französische Staat verlieh ihm den Titel »Ambassadeur de France«. Stéphane Hessel lebte bis zu seinem Tod in Paris.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stéphane Hessel
- 2011, 8. Aufl., 400 Seiten, Masse: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Roseli Bontjes van Beek, Saskia Bontjes van Beek
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548610870
- ISBN-13: 9783548610870
- Erscheinungsdatum: 20.09.2011
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