Such mich!
Thriller
Detective Kathleen Mallory ist anders als die anderen. Seit sie als Kind ihre Mutter verloren hat und bei Pflegeeltern aufwuchs, ist sie eine ordnungssüchtige Einzelgängerin: Ihr Schreibtisch ist stets akkurat aufgeräumt, sie fährt ein frisiertes VW-Cabrio,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Such mich! “
Detective Kathleen Mallory ist anders als die anderen. Seit sie als Kind ihre Mutter verloren hat und bei Pflegeeltern aufwuchs, ist sie eine ordnungssüchtige Einzelgängerin: Ihr Schreibtisch ist stets akkurat aufgeräumt, sie fährt ein frisiertes VW-Cabrio, und an den Wänden ihrer Wohnung hat sie akribisch endlose Reihen von Telefonnummern notiert, die mit ihrer Vergangenheit in Verbindung stehen. Denn Mallory ist davon besessen, ihren leiblichen Vater zu finden. Und nur einer bringt der eigenwilligen Ermittlerin Verständnis entgegen: ihr langjähriger Kollege Riker. Als Mallory Briefe ihres Vaters in die Hände gespielt werden, die wichtige Hinweise enthalten, macht sie sich auf eigene Faust auf, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen. Doch dann geschieht eine Serie von Morden. Der Täter ist offensichtlich auf Mallorys Spur - ohne, dass sie es ahnt. Und ihr Kollege Riker versucht verzweifelt, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren ...
Detective Kathleen Mallory hat das Herz einer Hackerin, den Spürsinn einer Fährtenleserin und die Grazie einer Grace Kelly.
Detective Kathleen Mallory hat das Herz einer Hackerin, den Spürsinn einer Fährtenleserin und die Grazie einer Grace Kelly.
Klappentext zu „Such mich! “
Die Zeit ist reif für eine Heldin wie Detective Kathleen Mallory!Detective Kathleen Mallory ist anders als die anderen. Seit sie als Kind ihre Mutter verloren hat und bei Pflegeeltern aufwuchs, ist sie eine ordnungssüchtige Einzelgängerin: Ihr Schreibtisch ist akkurat aufgeräumt, sie fährt ein frisiertes VW-Cabrio, und an den Wänden ihrer Wohnung hat sie akribisch endlose Reihen von Telefonnummern notiert, die mit ihrer Vergangenheit in Verbindung stehen. Denn Mallory ist davon besessen, ihren leiblichen Vater zu finden. Als Mallory Briefe in die Hände gespielt werden, die wichtige Hinweise enthalten, macht sie sich auf eigene Faust auf, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen. Doch dann geschieht eine Serie von Morden. Und der Täter ist offensichtlich auch auf Mallorys Spur ...
Lese-Probe zu „Such mich! “
Such mich! von Carol O'Connell Prolog
Wie ein Gespenst geisterte ein kleines Mädchen mit verfilztem Haar und verschmutzten Sachen durch die Grand Central Station. Nur zu den Pendlerzeiten wurde es gesichtet, morgens und abends, wenn die Kleine glaubte, im Gewimmel der Reisenden unsichtbar zu sein - dabei war völlig klar, dass dieses unglaubliche Gesicht nirgendwo auftauchen konnte, ohne alle Blicke auf sich zu ziehen. Ladenbesitzer griffen zum Telefon, wählten die Nummer auf der Visitenkarte eines Polizeibeamten und meldeten: »Sie ist wieder da.« Sie stellte sich immer unter den großen Bogen, denn sie hatte sich auf den Tipp eines Bettlers verlassen. Irgendwann kommen hier alle vorbei, hatte der stinkende alte Penner gesagt, wenn du nur lange genug wartest. Geduldig sah das Kind in tausend Gesichter und wartete auf einen Mann, den sie nicht kannte. Aber sie würde ihn an den Augen erkennen, das wusste sie genau, an den Augen, deren Farbe ebenso selten war wie ihre, und er würde sofort sehen, dass Kathy das Gesicht ihrer Mutter hatte, und er würde überglücklich sein. Dieser Glaube war unerschütterlich, denn dieses Kind ohne Vater neigte von klein auf zu rigoroser Ausschließlichkeit. Er kam nie. Monate vergingen. Sie gab die Hoffnung nicht auf. Wenn der Tag zu Ende ging, war sie müde und hungrig. Mit geballten Fäusten wütete sie gegen den Bettler, dessen Lügengeschichten sie hier gefangen hielten.
... mehr
Auf dem Höhepunkt der Rushhour sichtete sie ein vertrautes Gesicht, aber es war nicht das, auf das sie gewartet hatte. In den schmalen Lücken zwischen den Reisenden sah sie die füllige Gestalt des Kriminalbeamten. Er war noch auf der anderen Seite des Zwischenstocks, trotzdem meinte Kathy schon von weitem sein Keuchen und Schnaufen zu hören. Sie wartete. Geduckt. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei. Sobald sie in seiner Griffweite war, begann das Spiel - kläglicher Spielersatz für ein obdachloses kleines Mädchen. Sie lief auf die große Treppe zu, schoss an dem Mann vorbei, so dass er sich rasch umdrehen musste. Die Sohlen ihrer Turnschuhe klatschten auf die Stufen, als sie wie ein blondes Geschoss, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hochlief. Und lachte, lachte. Oben angekommen, drehte sie sich um. Die Jagd war vorbei, und so schnell diesmal! Der Verfolger hatte an der untersten Stufe aufgegeben. Er rang nach Atem und legte eine Hand an die Brust, als ob ihm das Herz Probleme machte. Kratz ab, Alter, flüsterte die Kleine. Sie sahen sich in die Augen, er bittend, sie unerbittlich und mit ihrem berühmten siegesbewussten Lächeln: Ätsch, jetzt hab ich dich! Eines Tages - aber nicht an jenem Abend - sollte Louis Markowitz sie fangen und ihr Pflegevater werden. Noch Jahre danach, als sie einander schon sehr nahe waren, griff er sich, wenn Kathy ihn so anlächelte, an die Gesäßtasche, um sicherzugehen, dass seine Brieftasche noch da war.
1
So, wie es aussah, war die Frau in diesem Appartment der Upper West Side von eigener Hand gestorben. Und so, wie das Apartment aussah, musste man sich fragen, ob hier überhaupt mal jemand gewohnt hatte. Alles im Raum war streng rechtwinklig angelegt, mit scharfen Kanten, viel Glas und Stahl, schroffen Kontrasten von schwarzem Leder und kahlen weißen Wänden. Die Wohnung war komplett möbliert und wirkte doch leer. Allerdings war sie wohl erst vor kurzem verlassen worden, zurückgeblieben war nur die Tote, die in Kathy Mallorys Wohnzimmer lag. Der Schuss ins Herz wirkte einleuchtender, wenn man den handgeschriebenen Satz auf dem Zettel gelesen hatte, der als Abschiedsbrief gelten mochte: Die Liebe ist mein Tod. »Hätte sie den Wisch nicht unterschreiben können?«, murrte Dr. Slope. Der Detective nickte. Chefpathologe Edward Slope hatte sich nur ausnahmsweise und in diesem besonderen Fall - plötzlicher Tod in der Wohnung einer Kriminalbeamtin - aus dem Haus bequemt. Wäre da nicht dieses persönliche Interesse gewesen, hätte man seinetwegen die Tote auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln in seine Leichenhalle verfrachten können. Hausbesuche waren in seiner Stellenbeschreibung nicht vorgesehen, dafür gab es die Kollegen vom Bereitschaftsdienst. Heute Abend hatte Dr. Slope sich nicht an diese Regel gehalten und prompt seine Socken vergessen. Aber obwohl er unter seinem Sakko ein Pyjamaoberteil trug, war er immer noch der bestangezogenste Mann im Zimmer. Detective Sergeant Riker dagegen sah aus, als hätte er sich mit Straßenkleidung ins Bett gelegt. Auch sein Gesicht, auf dem man den Abdruck einer zerknüllten Cocktailserviette sah, wirkte reichlich ramponiert. Riker war - betrunken oder nüchtern - ein eher lässiger Typ. Dass seine verhangenen Augen Argwohn signalisierten, war nicht seine Schuld, aber ausgerechnet heute trog der Eindruck nicht. Die Tote war in der Wohnung seiner Kollegin gefunden worden, und jetzt wartete er auf die immer wieder spannende Entscheidung: Mord oder Selbstmord? Weil der Gerichtsmediziner Detective Mallory seit Kindertagen kannte, fragte er mit einem winzigen Anflug von Misstrauen und einem ganz kleinen Schuss Sarkasmus: »Und wo steckt Kathy heute Abend?« Rikers wortloses Schulterzucken besagte, dass er keine Ahnung hatte, was eine stumme Lüge war. Er hatte ihre Kreditkarte checken lassen und wusste, dass Mallory in Pennsylvania und Ohio getankt hatte. Dass seine Kollegin auf der Flucht war, behielt er wohlweislich für sich, denn Dr. Slope hatte sich noch nicht auf eine Todesursache festgelegt. Riker betrachtete die Tote. Mitte fünfzig, schätzte er, also etwa in seinem Alter. Ohne die Einschussstelle in der Brust hätte man denken können, dass Savannah Sirus schlief - total erledigt, des Lebens müde. Der Gerichtsmediziner kniete sich neben die Leiche. »Ich kann mir schon vorstellen, warum Ihnen eine zweite Meinung wichtig war.« Ja, warum wohl? Und diese zweite Meinung brauchte Detective Riker von jemandem aus dem äußerst kleinen Kreis von Menschen, der seiner jungen Kollegin zugetan war, auch wenn sie selbst sich selten um Zuneigung bemühte. Weder er noch Slope durften sie noch Kathy nennen, nachdem sie ihren Abschluss an der Polizeiakademie gemacht hatte. Sie legte großen Wert auf die frostige Distanz, die ihr Nachname schuf. Dem Arzt fiel es allerdings schwer, eine liebe alte Gewohnheit abzulegen, für ihn war und blieb sie Kathy, und so nannte er sie auch in aller Öffentlichkeit. Riker bewunderte seinen Mut. »Auf diese Art bringen Frauen sich normalerweise nicht um«, sagte Slope jetzt. »Frauen stehen auf Gift und schneiden sich die Pulsadern auf, das ist weniger brutal.« »Kommt aber vor«, stellte Riker fest. »Schaut mir so aus, als wäre hier ein Stück Eitelkeit im Spiel gewesen. «Männer steckten sich vorzugsweise die Mündung der Waffe in den Mund, während Damen es tunlichst vermieden, sich mit Kopfschüssen das Gesicht zu verschandeln. Die Brustwunde war demnach eher eine Entlastung für Mallory. »Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Miss Sirus sich aus nächster Nähe erschossen hat«, widersprach Dr. Slope, womit dieser Ansatz entfiel. Schmauchspuren, die auf einen Nahschuss hingedeutet hätten, waren nicht zu sehen, und das hatte bei dem Cop, der zuerst am Tatort eingetroffen war, die Alarmglocken schrillen lassen. Die Wunde ließ eher auf eine kurze Distanz zwischen Opfer und Täter schließen. Um nicht schon wieder das Dezernat für interne Ermittlungen einschalten zu müssen, hatten die Kollegen von der West Side den Fall nach SoHo abgeschoben, wo Mallory arbeitete. Riker hielt einen Selbstmord immer noch für möglich, vielleicht hatte die Frau die Waffe auf Armeslänge von sich gehalten. Vielleicht hatte sie vor Angst sogar die Augen geschlossen, bevor sie schoss.
Wenn nicht doch Mallory abgedrückt hatte. Dr. Slope rollte die Tote herum und holte ein Thermometer aus seiner schwarzen Tasche. Riker, ein Cop der alten Schule, wandte den Blick ab, als der Arzt den Rock der Toten hob und das Höschen herunterstreifte. Er zog es vor, die Ergebnisse der Körpertemperaturmessung auf der Couch sitzend zu erwarten. Neben den Polaroidfotos, die Riker von der Toten gemacht hatte, lag auf dem Couchtisch eine billige Handtasche, die nur dem Opfer gehört haben konnte, denn Mallory hatte einen exklusiveren Geschmack. Selbst ihre Jeans waren maßgeschneidert, und auf dem Revier kursierte das Gerücht, die Nieten seien aus Gold. Widersprüchlich, wie sie war, ermutigte sie Gerüchte über illegale Einnahmen ihrerseits nach Kräften. Das war ihre besondere Art von Humor: Ihr wollt mir an den Kragen? Nur los, versucht's doch! Regen prasselte auf einen Wagen herunter, der fern der Heimat über die Autobahn jagte - einen kleinen Wagen, alles andere als ein Meilenfresser und trotzdem in halsbrecherischem Tempo unterwegs. Der einsame Cop amwestlichen Rand des verregneten Ohio blinzelte ein paar Mal müde, aber seine Sicht wurde dadurch nicht klarer. Sein Dienstwagen hatte einen starken Motor, den er auf der nassen Straße bis zum Limit ausgereizt hatte - und dieser VW-Käfer hängte ihn ab! Das war unmöglich. Seine Tante hatte ein ähnliches Modell, angeblich mit einer Spitzengeschwindigkeit von Meilen, was seiner Ansicht nach maßlos übertrieben war. Das Cabrio hatte die typische Farbkombination - silberfarbene Karosserie und dunkles Verdeck -, aber das Nummernschild war nicht zu erkennen, was die Identifikation zusätzlich erschwerte. Es war eine kurze Jagd, kein eigentliches Rennen. Der andere Wagen beschleunigte nicht; kein Schlingern, kein Schwanken verriet, dass der Fahrer sich wegen des roten Blinklichts und der jaulenden Sirene Sorgen gemacht hätte. Der Radar des Cops zeigte als Reisegeschwindigkeit des VW konstante einhundertachtzig Meilen an. Blödsinn, Mann, du spinnst! Der Trooper - so die Dienstbezeichnung der Cops, die bei Polizeidienststellen eines Bundesstaates arbeiten - hieb mit der Faust aufs Armaturenbrett. Auf diese verdammten Geräte war doch nie Verlass. Ob auf regennasser oder trockener Straße - so ein Tempo war für das kleine VW-Cabrio nicht machbar, egal, wer am Steuer saß. Was er allerdings ohnehin nie erfahren würde. Auf der leichten Steigung vor ihm meinte er unter den Rädern des VW grelle Blitze zu erkennen. Der silberfarbene Wagen hatte abgehoben und schwebte nahezu über der Fahrbahn. Der Beetle war schon außer Sicht, als der Trooper sich ein gutes Stück vor der Staatsgrenze von Ohio geschlagen gab. Einen Bericht darüber, dass sein Streifenwagen sich von einem VW hatte demütigen lassen, würde er nicht schreiben. Ebenso gut hätte er die Ankunft eines Raumschiffes voller Außerirdischer melden können. Und so rollte das kleine Cabrio durch den Nachbarstaat Indiana und über eine weitere Grenze nach Illinois, ohne auch nur einen einzigen Strafzettel zu kassieren. Ziel der Fahrt war die Kreuzung Adam Street und Michigan Avenue in Chicago - das Auge des Hurrikans. Riker hörte hinter sich die Latexhandschuhe schnalzen. Die Untersuchung war beendet. »Was vermerke ich also als Todeszeit, Doktor?«, fragte der Detective so beiläufig, als hinge nicht ungeheuer viel von der Antwort ab. »Ihr unerschütterlicher Glaube an Rektalthermometer ist geradezu rührend«, sagte Dr. Slope. »Zu hoffen, dass ein freundlicher Nachbar den Schuss gehört und gleichzeitig auf seine Armbanduhr gesehen hat, wäre wohl zu viel verlangt?« Riker grinste verlegen. Die Nachbarn waren es gewohnt, dass hin und wieder Schüsse aus Mallorys Wohnung drangen, und stellten sich als gute New Yorker inzwischen taub. »Schön, dann schreiben Sie vorläufig nur das heutige Datum hin. Die Bestimmung der Leichenstarre ist immer Glückssache, und es gibt zu viele Variablen, um mich allein auf die Körpertemperatur verlassen zu können. Ein offenes Fenster in einer kalten Nacht, getrocknete Schweißflecken auf der Bluse... Wer weiß, die Frau hätte, als sie starb, ja sogar hohes Fieber haben können.« Er ging um die Couch herum und baute sich vor dem Detective auf. »Und was haben Sie gefunden?« Riker kippte den Inhalt von Savannah Sirus' Tasche auf den gläsernen Couchtisch. Zwei Satz Hausschlüssel. Den silbernen Anhänger am Schlüssel für die Wohnungstür kannte er. »Die Lady war demnach Mallorys Logierbesuch.« Ein Flugticket Chicago-New York. »Dafür brauchen wir wohl kaum die Spurensicherung zu bemühen«, tastete er sich vor, immerhin hatte der Pathologe sich noch nicht auf Selbstmord festgelegt. Dr. Slope nickte seinen Leuten zu, die im Hausflur warteten. Sie rollten eine fahrbare Trage herein und machten sich daran, die Tote in einen Leichensack zu hieven. Als sie mit Savannah Sirus abgezogen waren, ließ sich der Arzt neben Riker auf die Couch fallen. »Was meinen Sie, ob Ihre Kollegin weiß, was hier heute Abend passiert ist?« Riker scheute eine direkte Lüge. Er deutete mit der Linken auf Essensreste, ein leeres Weinglas und eine Untertasse voller Zigarettenkippen. »Und was meinen Sie?« Der Pathologe wusste nur zu gut, wie pingelig Mallory war, er wusste, dass in ihrer Wohnung alles am richtigen Platz liegen musste, dass sie zu den Menschen gehörte, die in anderer Leute Häuser jeden Bilderrahmen gerade rücken müssen. Die Unordnung konnte also erst entstanden sein, nachdem sie die Wohnung verlassen hatte. Dr. Slope sah zu dem offenen Fenster. »Wäre es möglich, dass unser Opfer zunächst aus dem Fenster springen wollte, es sich dann aber anders überlegt und sich erschossen hat?« »Nein.« Aber er konnte die Überlegung nachvollziehen. Dies war das einzige offene Fenster in einer kalten Frühlingsnacht, auch das Fliegengitter war hochgeschoben. »Die Frau muss Mallory gut gekannt haben, sie war schon eine Weile hier.« Er griff nach dem Flugticket. »Ist vor drei Wochen gekommen. « Dass es ein Hin- und Rückflugticket war, sagte er nicht. Mallorys Hausgast hatte nicht vorgehabt, in New York City zu sterben - jedenfalls nicht am Tag ihrer Ankunft. »Savannah Sirus verstand nicht viel von Schusswaffen und Munition. Ich sehe das so: Sie hat sich gedacht, dass die Kugel durch ihren Körper durchgehen und eine Wand verdrecken könnte. Das hätte Mallory nicht gefallen.« Der Arzt nickte. »Also hat die Lady das Fenster aufgemacht«, fuhr Riker fort, »und das Fliegengitter hochgeschoben. Da hat sie gestanden, als sie sich erschossen hat. Und es sieht so aus, als ob sie es von langer Hand geplant hat.« Er deutete auf die Waffe, die am Boden lag. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass dieses Spielzeug Mallory gehört?« »Nein, wohl nicht«, sagte Dr. Slope. Was da auf dem Teppich lag, war eine leichte Zweiundzwanziger, eine Damenwaffe. Kathy Mallory war keine Dame, ihr Arbeitsgerät war eine Smith & Wesson mit stärkerem Rückstoß und mehr Möglichkeiten, einen Gegner auszubremsen, zu verstümmeln und zu töten. Dabei wusste Riker natürlich, dass die Waffe doch Mallory gehörte. Sie hatte eine umfangreiche Sammlung von Schusswaffen aller Art - alle ohne Waffenschein -, und eine Zweiundzwanziger war vielseitig verwendbar, aber wenn das Slope erfuhr, würde er womöglich zögern, auf Selbstmord zu befinden. Der Detective rutschte tief in die schwarzen Lederpolster und grübelte. Wohin war seine Partnerin unterwegs? Und warum war sie seit einiger Zeit nicht mehr zum Dienst erschienen? Was hast du in dieser Zeit getrieben, Mallory? Entschlossen rappelte er sich wieder hoch und gähnte, als sei er so einer Gewalttat gegenüber inzwischen völlig abgestumpft. Und in gewisser Weise stimmte das sogar: Als echten Sohn New Yorks konnte ihn in dieser Hinsicht nichts schocken. »Ich seh mich mal in den anderen Räumen um.« Als er am Gästezimmer vorbeikam, registrierte er zerknitterte Bettwäsche und eine schlampig hingeworfene Decke. Ein paar Schritte weiter, in Mallorys Zimmer, war das Bett glatt und faltenlos, als habe nie jemand darin geschlafen. Tatsächlich gab es eine Theorie, die besagte, dass Mallory nie schlief. Mallory, die Maschine - so hieß sie in Kollegenkreisen. Dr. Slope war Riker dicht auf den Fersen, als der ein weiteres peinlich aufgeräumtes Zimmer betrat. In Mallorys Arbeitszimmer wagte es keine Staubflocke, sich häuslich niederzulassen. Manche Leute hielten sich Hunde, Mallory hielt sich Computer. In Reih und Glied saßen sie da, die Zyklopenaugen zur Tür gerichtet, und warteten auf die Rückkehr ihrer Herrin. Selbst die technischen Handbücher lagen genau auf Kante im Bücherregal. Die hintere Wand war mit Kork verkleidet, und Riker registrierte verblüfft etwas, was auf den ersten Blick aussah wie ein gestreiftes Tapetenmuster. Als er sich umdrehte, sah er tiefe Bestürzung im Blick des Pathologen. Von der Decke bis zur Fußbodenleiste war die Korkwand mit Papierbogen bepflastert, auf denen dicht an dicht Spalten mit Zahlen standen. Zwischen den einzelnen Ziffern gab es Abstände, die darauf schließen ließen, dass es sich um Telefonnummern mit Vorwahl handelte. Er hatte eine Lesebrille in der Brusttasche, kniff aber lieber die Augen zusammen, um die Zahlen besser erkennen zu können. Jetzt sah er, dass sechs Ziffern jeweils beliebig angeordnet waren, eine Folge von vier Ziffern aber in jeder Zeile konstant blieb. Das also war die Antwort auf die Frage, was sie in letzter Zeit so getrieben hatte - oder Teil der Antwort. Hin und wieder hatte sie offenbar auch an die Wand geballert und Ungeziefer in die Ewigkeit befördert, wenn sie keine Fliegenklatsche zur Hand hatte, und womöglich - wenn er an die Leiche im Wohnzimmer dachte - noch Schlimmeres angestellt. Zuzutrauen war es ihr. Immerhin hatte sie in klaren Momenten die Löcher im Putz geflickt. Dr. Slope bestaunte die Tausenden von Zahlen auf der Korkwand. Die meisten waren rot durchgestrichen, und zwar schnurgerade und mit größter Präzision. Er ging einen Schritt näher heran und linste durch seine Bifokalbrille. »So akkurat wie auf einer technischen Zeichnung. Nicht zu glauben!« Die sorgfältig durchgestrichenen Zahlen konnten nur Telefonnummern sein, die für Mallory wertlos geworden waren. Riker packte den Arzt am Arm und zog ihn zu sich herum. »Sie haben das schon mal gesehen.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, ja fast ein Vorwurf. »Sie wissen, was das bedeutet. Los, raus mit der Sprache.«
Der Arzt nickte. Er war nicht gekränkt. »Ja, aber es ist lange her. Auf alten Telefonrechnungen von Markowitz. Das war in Mallorys ersten Monaten bei ihnen, wenn ich mich recht erinnere, da muss sie elf gewesen sein.« Stimmt genau. Louis Markowitz, ein großartiger Polizist und leider tot, und seine Frau Helen hatten die Kleine an Kindes statt angenommen, aber Kathy hatte ihnen nie etwas über ihre Herkunft gesagt, ihnen nicht einmal ihr wahres Alter verraten. Zuerst hatte sie steif und fest behauptet, sie sei zwölf, und Lou hatte ihr ein Jahr abgehandelt, aber sie hätte ebenso gut zehn oder neun sein können. Der Arzt stand mitten im Zimmer und putzte sich mit einem Taschentuch die Brille. »Lou hat mir damals Telefonrechnungen gezeigt, da waren reihenweise Ferngespräche, die hatte alle Kathy geführt.« Er trat wieder näher an die Wand heran. »Als Kind litt sie an Alpträumen. Lou machte die Anrufe dafür verantwortlich. Manchmal kam er mitten in der Nacht herunter und ertappte sie am Telefon. Hunderte von Malen hat sie in diesen ersten Monaten in der Gegend herumtelefoniert. In allen Ferngesprächen blieben sich vier Zahlen gleich, die anderen waren mehr oder weniger beliebig. Lou gegenüber hat sie nichts darüber rausgelassen, aber er hatte eine ziemlich überzeugende Theorie. Es gab da einen Menschen, den sie erreichen wollte, jemanden aus ihrem früheren Leben, aber die Telefonnummer hatte sie nur unvollständig im Gedächtnis.« »Also hat Lou die Nummern auch angewählt.« »Ja, alle. Und dabei ergab sich ein eigenartiges Muster. Weil die Anrufe alle so spät in der Nacht kamen, waren sie sogar den Männern im Gedächtnis geblieben. Wenn ein Mann sich meldete, legte Mallory gleich wieder auf. Bei einer Frau sagte sie: ›Hier Kathy. Ich habe mich verirrt.«
»Muss ein scheußlicher Schock für die Frauen gewesen sein.« »Ja, es traf einen Nerv, sie wurden ganz panisch.« Der Arzt sah zu einem der Hochhausfenster in der dunklen Stadt auf. »Sie flehten Kathy an, ihnen zu sagen, wer und wo sie war, aber sie legte danach immer wortlos auf. Sie bekam wohl nie die erhoffte Reaktion. Sie erreichte nie eine Frau, die sie kannte.« »Eine Frau.« Riker kramte einen Zettel aus der Tasche, den ihm der erste Cop am Tatort gegeben hatte. Darauf standen ein paar Stichworte zur Identität des Opfers, unter anderem auch die Telefonnummer von Savannah Sirus. Eine Vier-Ziffern- Gruppe deckte sich mit der an der Korkwand. »Schätze, Mallory hat endlich die richtige Verbindung bekommen.« Achthundert Meilen weiter westlich hatte man ebenfalls eine Leiche gefunden. Die Fenster der Geschäfte und Büros waren schon seit Stunden dunkel, als eine regenschwere Bö einen Schirm erfasste, der schlitternd und kreiselnd über die breiten Stufen des Chicago Art Institute schurrte. Einzige Zeugen waren zwei Großkatzen, stehende Bronzelöwen, die den hoffnungslosen Kampf des Regendachs gegen die fast waagerecht über die Straße fegenden Wasserschwaden ignorierten. Ihre grüne Patina changierte im grellen Weiß der Blitze und des roten Blinklichts der Polizeifahrzeuge. Pkws und Vans sammelten sich an der Baustelle auf der gegenüberliegenden Seite der Michigan Avenue. Zwei Beamte vom Morddezernat, nass bis auf die Knochen, steckten resigniert die Hände in die Jackentaschen und sahen hilflos zu, wie die Regenfluten ihre kostbaren Spuren davonschwemmten. Die Körperflüssigkeiten, die Haare und Fasern - alles verschwand in der Gosse. Die sauber gewaschene Leiche konnte ihnen nichts sagen außer der Todesursache: extreme Gewalteinwirkung. So einen Tatort hatte es in der Geschichte von Chicago, Illinois, noch nie gegeben, keinen, der so schockierend, keinen, der so traurig gewesen wäre. Der gläubige Beamte bekreuzigte sich. Der andere machte die Augen zu. Der Tote zu ihren Füßen war auf die Adams Street ausgerichtet, besser bekannt als Route, eine Straße mit vielen Namen. Eine Straße der Fluchten hatte Steinbeck sie genannt. Der Gewitterregen hatte sich gelegt, aber für normale Kundschaft war es zu spät am Tag. Hinter der massiven Tür der Werkstatt saß eine muntere Zockerclique beisammen, es ging um hohe Summen, das Bier floss in Strömen, die Würfel klickten, und die Geldbündel klatschten auf den Betonboden. Eine denkwürdige Nacht. In den Zigarrenschwaden wurde um Vermögen gespielt, als die Frau im silberfarbenen VW vor der Tankstelle hielt. Sie schlug erst leise, dann mit beiden Fäusten gegen die schwere Stahltür und trat ein paar Mal dagegen, womit sie unliebsame Aufmerksamkeit erregte. Ruhe da draußen!, dachte der Tankwart. Er trat unter die hellen Lichter seiner Zapfsäule - und die Kartenspieler waren vergessen. »Nicht schlecht!« Hingerissen besah er sich den Motor. »Wie haben Sie das gemacht, Mädchen?« Breit grinsend sah er zu ihr hoch. »Ein Porschemotor in einem VW-Käfer?« Der neue Beetle hatte Frontantrieb, da gehörte der Motor unter die Haube, nicht in den Kofferraum. Aber genau da war er. Er musste drei Schritte zurücktreten, um zu begreifen, wie sie es gemacht hatte. Die Konturen erschienen leicht gestreckt, ansonsten aber war alles perfekt. Sie hatte einen VW-Käfer auf den Rahmen des Twin Turbo Porsche montiert. Aber würde nicht das gewölbte Cabriodach das Tempo vermindern? Und wie würde diese Camouflage das Kurvenverhalten des Porsche beeinflussen? »Wenn Sie eine Kurve zu schnell nehmen, überschlagen Sie sich, ist Ihnen das klar?« Gute Ratschläge und Benzin - mehr hatte er nicht zu bieten. Die Blondine zog es vor, ihr Ding alleine zu machen. Mit eisigem Blick und klarer Körpersprache hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass er seine ölverschmierten Pfoten von ihrem makellosen Motor lassen sollte. »Wenn Sie Zeit haben, mach ich Ihnen einen Überrollbügel dran«, erbot er sich. Die Blondine schüttelte nur stumm den Kopf, holte das nächste Werkzeug aus einem Lammfellbeutel und machte sich an der Aufhängung für einen Kabelstrang zu schaffen, vermutlich hatte da was geklappert, was sie störte. Jetzt klapperte nichts mehr. Sie zog die Schrauben so fest, dass es knirschte. »Überlegen Sie sich's. Muss ja nicht hier sein, aber lassen Sie ihn anbringen.« Ihm ging es nicht ums Geld, sondern um das Leben der Frau. Sie mochte so alt sein wie seine Tochter. »Mit einem Überrollbügel haben Sie eine reelle Chance, Ihren hübschen Kopf zu behalten, wenn der Wagen Schlagseite kriegt.« Sie war wirklich verdammt hübsch mit ihrer milchweißen Haut, den Katzenaugen und den langen roten Fingernägeln. Fast übernatürlich hübsch. In echt sah aus der Nähe kein Mensch so gut aus. Wahrscheinlich ist sie gar nicht von dieser Welt, dachte er, sondern kommt von irgendwo hinter dem Mond. Noch nie hatte er so grüne Augen gesehen. Hätte man ihn gebeten, die Farbe zu beschreiben, wäre er ins Grübeln gekommen. Elektrisch aufgeladen, hätte er gesagt. Durchdringend grün und hell wie eine Lampe am Armaturenbrett. Im Übrigen kam es ihm so vor, als ob sie unter der Denimjacke eine Waffe trug. Sein Blick war zu lange an der Wölbung hängen geblieben, unter der sich vielleicht ein Schulterholster verbarg. Die eiskalten Augen hatten ihn im Visier wie die Katze die Maus. Die Warnung war unübersehbar. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Sie war entweder eine Frau, die über Leichen ging, oder sie funktionierte auf derselben Wellenlänge wie er. »Polizei?« Langsam - nur keine vorschnellen Bewegungen! - holte er eine Brieftasche aus dem schmierigen Overall und zeigte ihr das Dokument, das ihn als Chicagoer Cop im Ruhestand auswies. Ihr Gesicht verriet nichts - nicht ihre nächste Bewegung, nicht, was sie dachte. Null. Jede Sekunde konnte die Situation kippen. Falls er mit seiner Vermutung falsch lag, musste er sich auf das Schlimmste gefasst machen. Mit über sechzig werden die Reflexe langsamer. Aber dann wandte sie sich wortlos wieder ihrem Motor zu, und das begriff er als Vertrauensbeweis. Er begann wieder zu atmen. »Fünfunddreißig Jahre hab ich den Job gemacht.« Er sah zu dem umgebauten Wagen hin. »Und hab gedacht, dass es auf der Welt nichts gibt, was ich noch nicht gesehen hab. Niemand würde sie für eine halten, die Volkswagen fährt. Nicht Ihr Stil. Das ist eine Kiste für Leute in meinem Alter, ausgebrannte Rock-and-Roll-Typen, die nie aus den sechziger Jahren rausgefunden haben. Mann, wenn das mein Wagen gewesen wär...« Der Porsche unter dem silberfarbenen Blech erklärte vieles - in vielerlei Hinsicht. Ein echtes VW-Cabrio war ein lustiges kleines Fahrzeug ohne Ecken und Kanten, eine Karikatur von Auto, das für ein Lächeln sorgte, wohin es auch kam. Nachdenklich musterte er die Blondine. Keine kosmetische Maßnahme - wie dieses Chassis, unter dem sich ein Killermotor verbarg - konnte überzeugend darüber hinwegtäuschen, wer sie wirklich war. Glaubte sie wirklich, mit solchen Methoden verdeckte Ermittlungen führen zu können? Aber eine andere Erklärung dafür, dass eine Frau im Staatsdienst einen Wagen fuhr, dessen Motor ein Vermögen kostete, hatte er nicht - es sei denn, dass die Kleine sich schmieren ließ. Auf ihrem Armaturenbrett entdeckte er noch etwas, was nicht dem Standard entsprach. Er machte einen letzten Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen - von Cop zu Cop. »Polizeifunk? Hab ich auch.« Sie beugte sich über den Motor. Der Mann neben ihr war vergessen. Er versuchte es noch einmal. »Da haben Sie bestimmt den Mord auf der Adams Street mitgekriegt.« Was bedeutete Schweigen auf ihrem Planeten - ja oder nein? »Mitten auf der Fahrbahn haben sie die Leiche gefunden, ich hab's im Polizeifunk gehört. Der Cop konnte sich gar nicht wieder einkriegen.« »Adams Street und...?« »Michigan Avenue.« Er hatte das Gefühl, dass sie die Adresse schon kannte, aber es wäre nicht das erste Mal, dass er sich da vertat. Ein Schuss, der gefallen war, als er gerade nicht hingesehen hatte, hatte ihn seinen Job bei der Polizei gekostet. Beiläufig, als ginge es ums Wetter, sagte die Blondine: »Mit dem Tatort stimmt irgendwas nicht.« Es war keine Frage, aber er nickte bestätigend. »Und deshalb sind Sie heute unterwegs, hab ich recht?« Aus alter Gewohnheit reihte er eine Merkwürdigkeit an die andere - diese ungewöhnliche junge Kriminalbeamtin, das Bastardauto mit New Yorker Kennzeichen, das Verbrechen in Chicago. »Ein Serienkiller. Und New York hat die Finger drin.« Wie er sich nach der guten alten Zeit sehnte.
Copyright © der Originalausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Auf dem Höhepunkt der Rushhour sichtete sie ein vertrautes Gesicht, aber es war nicht das, auf das sie gewartet hatte. In den schmalen Lücken zwischen den Reisenden sah sie die füllige Gestalt des Kriminalbeamten. Er war noch auf der anderen Seite des Zwischenstocks, trotzdem meinte Kathy schon von weitem sein Keuchen und Schnaufen zu hören. Sie wartete. Geduckt. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei. Sobald sie in seiner Griffweite war, begann das Spiel - kläglicher Spielersatz für ein obdachloses kleines Mädchen. Sie lief auf die große Treppe zu, schoss an dem Mann vorbei, so dass er sich rasch umdrehen musste. Die Sohlen ihrer Turnschuhe klatschten auf die Stufen, als sie wie ein blondes Geschoss, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hochlief. Und lachte, lachte. Oben angekommen, drehte sie sich um. Die Jagd war vorbei, und so schnell diesmal! Der Verfolger hatte an der untersten Stufe aufgegeben. Er rang nach Atem und legte eine Hand an die Brust, als ob ihm das Herz Probleme machte. Kratz ab, Alter, flüsterte die Kleine. Sie sahen sich in die Augen, er bittend, sie unerbittlich und mit ihrem berühmten siegesbewussten Lächeln: Ätsch, jetzt hab ich dich! Eines Tages - aber nicht an jenem Abend - sollte Louis Markowitz sie fangen und ihr Pflegevater werden. Noch Jahre danach, als sie einander schon sehr nahe waren, griff er sich, wenn Kathy ihn so anlächelte, an die Gesäßtasche, um sicherzugehen, dass seine Brieftasche noch da war.
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So, wie es aussah, war die Frau in diesem Appartment der Upper West Side von eigener Hand gestorben. Und so, wie das Apartment aussah, musste man sich fragen, ob hier überhaupt mal jemand gewohnt hatte. Alles im Raum war streng rechtwinklig angelegt, mit scharfen Kanten, viel Glas und Stahl, schroffen Kontrasten von schwarzem Leder und kahlen weißen Wänden. Die Wohnung war komplett möbliert und wirkte doch leer. Allerdings war sie wohl erst vor kurzem verlassen worden, zurückgeblieben war nur die Tote, die in Kathy Mallorys Wohnzimmer lag. Der Schuss ins Herz wirkte einleuchtender, wenn man den handgeschriebenen Satz auf dem Zettel gelesen hatte, der als Abschiedsbrief gelten mochte: Die Liebe ist mein Tod. »Hätte sie den Wisch nicht unterschreiben können?«, murrte Dr. Slope. Der Detective nickte. Chefpathologe Edward Slope hatte sich nur ausnahmsweise und in diesem besonderen Fall - plötzlicher Tod in der Wohnung einer Kriminalbeamtin - aus dem Haus bequemt. Wäre da nicht dieses persönliche Interesse gewesen, hätte man seinetwegen die Tote auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln in seine Leichenhalle verfrachten können. Hausbesuche waren in seiner Stellenbeschreibung nicht vorgesehen, dafür gab es die Kollegen vom Bereitschaftsdienst. Heute Abend hatte Dr. Slope sich nicht an diese Regel gehalten und prompt seine Socken vergessen. Aber obwohl er unter seinem Sakko ein Pyjamaoberteil trug, war er immer noch der bestangezogenste Mann im Zimmer. Detective Sergeant Riker dagegen sah aus, als hätte er sich mit Straßenkleidung ins Bett gelegt. Auch sein Gesicht, auf dem man den Abdruck einer zerknüllten Cocktailserviette sah, wirkte reichlich ramponiert. Riker war - betrunken oder nüchtern - ein eher lässiger Typ. Dass seine verhangenen Augen Argwohn signalisierten, war nicht seine Schuld, aber ausgerechnet heute trog der Eindruck nicht. Die Tote war in der Wohnung seiner Kollegin gefunden worden, und jetzt wartete er auf die immer wieder spannende Entscheidung: Mord oder Selbstmord? Weil der Gerichtsmediziner Detective Mallory seit Kindertagen kannte, fragte er mit einem winzigen Anflug von Misstrauen und einem ganz kleinen Schuss Sarkasmus: »Und wo steckt Kathy heute Abend?« Rikers wortloses Schulterzucken besagte, dass er keine Ahnung hatte, was eine stumme Lüge war. Er hatte ihre Kreditkarte checken lassen und wusste, dass Mallory in Pennsylvania und Ohio getankt hatte. Dass seine Kollegin auf der Flucht war, behielt er wohlweislich für sich, denn Dr. Slope hatte sich noch nicht auf eine Todesursache festgelegt. Riker betrachtete die Tote. Mitte fünfzig, schätzte er, also etwa in seinem Alter. Ohne die Einschussstelle in der Brust hätte man denken können, dass Savannah Sirus schlief - total erledigt, des Lebens müde. Der Gerichtsmediziner kniete sich neben die Leiche. »Ich kann mir schon vorstellen, warum Ihnen eine zweite Meinung wichtig war.« Ja, warum wohl? Und diese zweite Meinung brauchte Detective Riker von jemandem aus dem äußerst kleinen Kreis von Menschen, der seiner jungen Kollegin zugetan war, auch wenn sie selbst sich selten um Zuneigung bemühte. Weder er noch Slope durften sie noch Kathy nennen, nachdem sie ihren Abschluss an der Polizeiakademie gemacht hatte. Sie legte großen Wert auf die frostige Distanz, die ihr Nachname schuf. Dem Arzt fiel es allerdings schwer, eine liebe alte Gewohnheit abzulegen, für ihn war und blieb sie Kathy, und so nannte er sie auch in aller Öffentlichkeit. Riker bewunderte seinen Mut. »Auf diese Art bringen Frauen sich normalerweise nicht um«, sagte Slope jetzt. »Frauen stehen auf Gift und schneiden sich die Pulsadern auf, das ist weniger brutal.« »Kommt aber vor«, stellte Riker fest. »Schaut mir so aus, als wäre hier ein Stück Eitelkeit im Spiel gewesen. «Männer steckten sich vorzugsweise die Mündung der Waffe in den Mund, während Damen es tunlichst vermieden, sich mit Kopfschüssen das Gesicht zu verschandeln. Die Brustwunde war demnach eher eine Entlastung für Mallory. »Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Miss Sirus sich aus nächster Nähe erschossen hat«, widersprach Dr. Slope, womit dieser Ansatz entfiel. Schmauchspuren, die auf einen Nahschuss hingedeutet hätten, waren nicht zu sehen, und das hatte bei dem Cop, der zuerst am Tatort eingetroffen war, die Alarmglocken schrillen lassen. Die Wunde ließ eher auf eine kurze Distanz zwischen Opfer und Täter schließen. Um nicht schon wieder das Dezernat für interne Ermittlungen einschalten zu müssen, hatten die Kollegen von der West Side den Fall nach SoHo abgeschoben, wo Mallory arbeitete. Riker hielt einen Selbstmord immer noch für möglich, vielleicht hatte die Frau die Waffe auf Armeslänge von sich gehalten. Vielleicht hatte sie vor Angst sogar die Augen geschlossen, bevor sie schoss.
Wenn nicht doch Mallory abgedrückt hatte. Dr. Slope rollte die Tote herum und holte ein Thermometer aus seiner schwarzen Tasche. Riker, ein Cop der alten Schule, wandte den Blick ab, als der Arzt den Rock der Toten hob und das Höschen herunterstreifte. Er zog es vor, die Ergebnisse der Körpertemperaturmessung auf der Couch sitzend zu erwarten. Neben den Polaroidfotos, die Riker von der Toten gemacht hatte, lag auf dem Couchtisch eine billige Handtasche, die nur dem Opfer gehört haben konnte, denn Mallory hatte einen exklusiveren Geschmack. Selbst ihre Jeans waren maßgeschneidert, und auf dem Revier kursierte das Gerücht, die Nieten seien aus Gold. Widersprüchlich, wie sie war, ermutigte sie Gerüchte über illegale Einnahmen ihrerseits nach Kräften. Das war ihre besondere Art von Humor: Ihr wollt mir an den Kragen? Nur los, versucht's doch! Regen prasselte auf einen Wagen herunter, der fern der Heimat über die Autobahn jagte - einen kleinen Wagen, alles andere als ein Meilenfresser und trotzdem in halsbrecherischem Tempo unterwegs. Der einsame Cop amwestlichen Rand des verregneten Ohio blinzelte ein paar Mal müde, aber seine Sicht wurde dadurch nicht klarer. Sein Dienstwagen hatte einen starken Motor, den er auf der nassen Straße bis zum Limit ausgereizt hatte - und dieser VW-Käfer hängte ihn ab! Das war unmöglich. Seine Tante hatte ein ähnliches Modell, angeblich mit einer Spitzengeschwindigkeit von Meilen, was seiner Ansicht nach maßlos übertrieben war. Das Cabrio hatte die typische Farbkombination - silberfarbene Karosserie und dunkles Verdeck -, aber das Nummernschild war nicht zu erkennen, was die Identifikation zusätzlich erschwerte. Es war eine kurze Jagd, kein eigentliches Rennen. Der andere Wagen beschleunigte nicht; kein Schlingern, kein Schwanken verriet, dass der Fahrer sich wegen des roten Blinklichts und der jaulenden Sirene Sorgen gemacht hätte. Der Radar des Cops zeigte als Reisegeschwindigkeit des VW konstante einhundertachtzig Meilen an. Blödsinn, Mann, du spinnst! Der Trooper - so die Dienstbezeichnung der Cops, die bei Polizeidienststellen eines Bundesstaates arbeiten - hieb mit der Faust aufs Armaturenbrett. Auf diese verdammten Geräte war doch nie Verlass. Ob auf regennasser oder trockener Straße - so ein Tempo war für das kleine VW-Cabrio nicht machbar, egal, wer am Steuer saß. Was er allerdings ohnehin nie erfahren würde. Auf der leichten Steigung vor ihm meinte er unter den Rädern des VW grelle Blitze zu erkennen. Der silberfarbene Wagen hatte abgehoben und schwebte nahezu über der Fahrbahn. Der Beetle war schon außer Sicht, als der Trooper sich ein gutes Stück vor der Staatsgrenze von Ohio geschlagen gab. Einen Bericht darüber, dass sein Streifenwagen sich von einem VW hatte demütigen lassen, würde er nicht schreiben. Ebenso gut hätte er die Ankunft eines Raumschiffes voller Außerirdischer melden können. Und so rollte das kleine Cabrio durch den Nachbarstaat Indiana und über eine weitere Grenze nach Illinois, ohne auch nur einen einzigen Strafzettel zu kassieren. Ziel der Fahrt war die Kreuzung Adam Street und Michigan Avenue in Chicago - das Auge des Hurrikans. Riker hörte hinter sich die Latexhandschuhe schnalzen. Die Untersuchung war beendet. »Was vermerke ich also als Todeszeit, Doktor?«, fragte der Detective so beiläufig, als hinge nicht ungeheuer viel von der Antwort ab. »Ihr unerschütterlicher Glaube an Rektalthermometer ist geradezu rührend«, sagte Dr. Slope. »Zu hoffen, dass ein freundlicher Nachbar den Schuss gehört und gleichzeitig auf seine Armbanduhr gesehen hat, wäre wohl zu viel verlangt?« Riker grinste verlegen. Die Nachbarn waren es gewohnt, dass hin und wieder Schüsse aus Mallorys Wohnung drangen, und stellten sich als gute New Yorker inzwischen taub. »Schön, dann schreiben Sie vorläufig nur das heutige Datum hin. Die Bestimmung der Leichenstarre ist immer Glückssache, und es gibt zu viele Variablen, um mich allein auf die Körpertemperatur verlassen zu können. Ein offenes Fenster in einer kalten Nacht, getrocknete Schweißflecken auf der Bluse... Wer weiß, die Frau hätte, als sie starb, ja sogar hohes Fieber haben können.« Er ging um die Couch herum und baute sich vor dem Detective auf. »Und was haben Sie gefunden?« Riker kippte den Inhalt von Savannah Sirus' Tasche auf den gläsernen Couchtisch. Zwei Satz Hausschlüssel. Den silbernen Anhänger am Schlüssel für die Wohnungstür kannte er. »Die Lady war demnach Mallorys Logierbesuch.« Ein Flugticket Chicago-New York. »Dafür brauchen wir wohl kaum die Spurensicherung zu bemühen«, tastete er sich vor, immerhin hatte der Pathologe sich noch nicht auf Selbstmord festgelegt. Dr. Slope nickte seinen Leuten zu, die im Hausflur warteten. Sie rollten eine fahrbare Trage herein und machten sich daran, die Tote in einen Leichensack zu hieven. Als sie mit Savannah Sirus abgezogen waren, ließ sich der Arzt neben Riker auf die Couch fallen. »Was meinen Sie, ob Ihre Kollegin weiß, was hier heute Abend passiert ist?« Riker scheute eine direkte Lüge. Er deutete mit der Linken auf Essensreste, ein leeres Weinglas und eine Untertasse voller Zigarettenkippen. »Und was meinen Sie?« Der Pathologe wusste nur zu gut, wie pingelig Mallory war, er wusste, dass in ihrer Wohnung alles am richtigen Platz liegen musste, dass sie zu den Menschen gehörte, die in anderer Leute Häuser jeden Bilderrahmen gerade rücken müssen. Die Unordnung konnte also erst entstanden sein, nachdem sie die Wohnung verlassen hatte. Dr. Slope sah zu dem offenen Fenster. »Wäre es möglich, dass unser Opfer zunächst aus dem Fenster springen wollte, es sich dann aber anders überlegt und sich erschossen hat?« »Nein.« Aber er konnte die Überlegung nachvollziehen. Dies war das einzige offene Fenster in einer kalten Frühlingsnacht, auch das Fliegengitter war hochgeschoben. »Die Frau muss Mallory gut gekannt haben, sie war schon eine Weile hier.« Er griff nach dem Flugticket. »Ist vor drei Wochen gekommen. « Dass es ein Hin- und Rückflugticket war, sagte er nicht. Mallorys Hausgast hatte nicht vorgehabt, in New York City zu sterben - jedenfalls nicht am Tag ihrer Ankunft. »Savannah Sirus verstand nicht viel von Schusswaffen und Munition. Ich sehe das so: Sie hat sich gedacht, dass die Kugel durch ihren Körper durchgehen und eine Wand verdrecken könnte. Das hätte Mallory nicht gefallen.« Der Arzt nickte. »Also hat die Lady das Fenster aufgemacht«, fuhr Riker fort, »und das Fliegengitter hochgeschoben. Da hat sie gestanden, als sie sich erschossen hat. Und es sieht so aus, als ob sie es von langer Hand geplant hat.« Er deutete auf die Waffe, die am Boden lag. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass dieses Spielzeug Mallory gehört?« »Nein, wohl nicht«, sagte Dr. Slope. Was da auf dem Teppich lag, war eine leichte Zweiundzwanziger, eine Damenwaffe. Kathy Mallory war keine Dame, ihr Arbeitsgerät war eine Smith & Wesson mit stärkerem Rückstoß und mehr Möglichkeiten, einen Gegner auszubremsen, zu verstümmeln und zu töten. Dabei wusste Riker natürlich, dass die Waffe doch Mallory gehörte. Sie hatte eine umfangreiche Sammlung von Schusswaffen aller Art - alle ohne Waffenschein -, und eine Zweiundzwanziger war vielseitig verwendbar, aber wenn das Slope erfuhr, würde er womöglich zögern, auf Selbstmord zu befinden. Der Detective rutschte tief in die schwarzen Lederpolster und grübelte. Wohin war seine Partnerin unterwegs? Und warum war sie seit einiger Zeit nicht mehr zum Dienst erschienen? Was hast du in dieser Zeit getrieben, Mallory? Entschlossen rappelte er sich wieder hoch und gähnte, als sei er so einer Gewalttat gegenüber inzwischen völlig abgestumpft. Und in gewisser Weise stimmte das sogar: Als echten Sohn New Yorks konnte ihn in dieser Hinsicht nichts schocken. »Ich seh mich mal in den anderen Räumen um.« Als er am Gästezimmer vorbeikam, registrierte er zerknitterte Bettwäsche und eine schlampig hingeworfene Decke. Ein paar Schritte weiter, in Mallorys Zimmer, war das Bett glatt und faltenlos, als habe nie jemand darin geschlafen. Tatsächlich gab es eine Theorie, die besagte, dass Mallory nie schlief. Mallory, die Maschine - so hieß sie in Kollegenkreisen. Dr. Slope war Riker dicht auf den Fersen, als der ein weiteres peinlich aufgeräumtes Zimmer betrat. In Mallorys Arbeitszimmer wagte es keine Staubflocke, sich häuslich niederzulassen. Manche Leute hielten sich Hunde, Mallory hielt sich Computer. In Reih und Glied saßen sie da, die Zyklopenaugen zur Tür gerichtet, und warteten auf die Rückkehr ihrer Herrin. Selbst die technischen Handbücher lagen genau auf Kante im Bücherregal. Die hintere Wand war mit Kork verkleidet, und Riker registrierte verblüfft etwas, was auf den ersten Blick aussah wie ein gestreiftes Tapetenmuster. Als er sich umdrehte, sah er tiefe Bestürzung im Blick des Pathologen. Von der Decke bis zur Fußbodenleiste war die Korkwand mit Papierbogen bepflastert, auf denen dicht an dicht Spalten mit Zahlen standen. Zwischen den einzelnen Ziffern gab es Abstände, die darauf schließen ließen, dass es sich um Telefonnummern mit Vorwahl handelte. Er hatte eine Lesebrille in der Brusttasche, kniff aber lieber die Augen zusammen, um die Zahlen besser erkennen zu können. Jetzt sah er, dass sechs Ziffern jeweils beliebig angeordnet waren, eine Folge von vier Ziffern aber in jeder Zeile konstant blieb. Das also war die Antwort auf die Frage, was sie in letzter Zeit so getrieben hatte - oder Teil der Antwort. Hin und wieder hatte sie offenbar auch an die Wand geballert und Ungeziefer in die Ewigkeit befördert, wenn sie keine Fliegenklatsche zur Hand hatte, und womöglich - wenn er an die Leiche im Wohnzimmer dachte - noch Schlimmeres angestellt. Zuzutrauen war es ihr. Immerhin hatte sie in klaren Momenten die Löcher im Putz geflickt. Dr. Slope bestaunte die Tausenden von Zahlen auf der Korkwand. Die meisten waren rot durchgestrichen, und zwar schnurgerade und mit größter Präzision. Er ging einen Schritt näher heran und linste durch seine Bifokalbrille. »So akkurat wie auf einer technischen Zeichnung. Nicht zu glauben!« Die sorgfältig durchgestrichenen Zahlen konnten nur Telefonnummern sein, die für Mallory wertlos geworden waren. Riker packte den Arzt am Arm und zog ihn zu sich herum. »Sie haben das schon mal gesehen.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, ja fast ein Vorwurf. »Sie wissen, was das bedeutet. Los, raus mit der Sprache.«
Der Arzt nickte. Er war nicht gekränkt. »Ja, aber es ist lange her. Auf alten Telefonrechnungen von Markowitz. Das war in Mallorys ersten Monaten bei ihnen, wenn ich mich recht erinnere, da muss sie elf gewesen sein.« Stimmt genau. Louis Markowitz, ein großartiger Polizist und leider tot, und seine Frau Helen hatten die Kleine an Kindes statt angenommen, aber Kathy hatte ihnen nie etwas über ihre Herkunft gesagt, ihnen nicht einmal ihr wahres Alter verraten. Zuerst hatte sie steif und fest behauptet, sie sei zwölf, und Lou hatte ihr ein Jahr abgehandelt, aber sie hätte ebenso gut zehn oder neun sein können. Der Arzt stand mitten im Zimmer und putzte sich mit einem Taschentuch die Brille. »Lou hat mir damals Telefonrechnungen gezeigt, da waren reihenweise Ferngespräche, die hatte alle Kathy geführt.« Er trat wieder näher an die Wand heran. »Als Kind litt sie an Alpträumen. Lou machte die Anrufe dafür verantwortlich. Manchmal kam er mitten in der Nacht herunter und ertappte sie am Telefon. Hunderte von Malen hat sie in diesen ersten Monaten in der Gegend herumtelefoniert. In allen Ferngesprächen blieben sich vier Zahlen gleich, die anderen waren mehr oder weniger beliebig. Lou gegenüber hat sie nichts darüber rausgelassen, aber er hatte eine ziemlich überzeugende Theorie. Es gab da einen Menschen, den sie erreichen wollte, jemanden aus ihrem früheren Leben, aber die Telefonnummer hatte sie nur unvollständig im Gedächtnis.« »Also hat Lou die Nummern auch angewählt.« »Ja, alle. Und dabei ergab sich ein eigenartiges Muster. Weil die Anrufe alle so spät in der Nacht kamen, waren sie sogar den Männern im Gedächtnis geblieben. Wenn ein Mann sich meldete, legte Mallory gleich wieder auf. Bei einer Frau sagte sie: ›Hier Kathy. Ich habe mich verirrt.«
»Muss ein scheußlicher Schock für die Frauen gewesen sein.« »Ja, es traf einen Nerv, sie wurden ganz panisch.« Der Arzt sah zu einem der Hochhausfenster in der dunklen Stadt auf. »Sie flehten Kathy an, ihnen zu sagen, wer und wo sie war, aber sie legte danach immer wortlos auf. Sie bekam wohl nie die erhoffte Reaktion. Sie erreichte nie eine Frau, die sie kannte.« »Eine Frau.« Riker kramte einen Zettel aus der Tasche, den ihm der erste Cop am Tatort gegeben hatte. Darauf standen ein paar Stichworte zur Identität des Opfers, unter anderem auch die Telefonnummer von Savannah Sirus. Eine Vier-Ziffern- Gruppe deckte sich mit der an der Korkwand. »Schätze, Mallory hat endlich die richtige Verbindung bekommen.« Achthundert Meilen weiter westlich hatte man ebenfalls eine Leiche gefunden. Die Fenster der Geschäfte und Büros waren schon seit Stunden dunkel, als eine regenschwere Bö einen Schirm erfasste, der schlitternd und kreiselnd über die breiten Stufen des Chicago Art Institute schurrte. Einzige Zeugen waren zwei Großkatzen, stehende Bronzelöwen, die den hoffnungslosen Kampf des Regendachs gegen die fast waagerecht über die Straße fegenden Wasserschwaden ignorierten. Ihre grüne Patina changierte im grellen Weiß der Blitze und des roten Blinklichts der Polizeifahrzeuge. Pkws und Vans sammelten sich an der Baustelle auf der gegenüberliegenden Seite der Michigan Avenue. Zwei Beamte vom Morddezernat, nass bis auf die Knochen, steckten resigniert die Hände in die Jackentaschen und sahen hilflos zu, wie die Regenfluten ihre kostbaren Spuren davonschwemmten. Die Körperflüssigkeiten, die Haare und Fasern - alles verschwand in der Gosse. Die sauber gewaschene Leiche konnte ihnen nichts sagen außer der Todesursache: extreme Gewalteinwirkung. So einen Tatort hatte es in der Geschichte von Chicago, Illinois, noch nie gegeben, keinen, der so schockierend, keinen, der so traurig gewesen wäre. Der gläubige Beamte bekreuzigte sich. Der andere machte die Augen zu. Der Tote zu ihren Füßen war auf die Adams Street ausgerichtet, besser bekannt als Route, eine Straße mit vielen Namen. Eine Straße der Fluchten hatte Steinbeck sie genannt. Der Gewitterregen hatte sich gelegt, aber für normale Kundschaft war es zu spät am Tag. Hinter der massiven Tür der Werkstatt saß eine muntere Zockerclique beisammen, es ging um hohe Summen, das Bier floss in Strömen, die Würfel klickten, und die Geldbündel klatschten auf den Betonboden. Eine denkwürdige Nacht. In den Zigarrenschwaden wurde um Vermögen gespielt, als die Frau im silberfarbenen VW vor der Tankstelle hielt. Sie schlug erst leise, dann mit beiden Fäusten gegen die schwere Stahltür und trat ein paar Mal dagegen, womit sie unliebsame Aufmerksamkeit erregte. Ruhe da draußen!, dachte der Tankwart. Er trat unter die hellen Lichter seiner Zapfsäule - und die Kartenspieler waren vergessen. »Nicht schlecht!« Hingerissen besah er sich den Motor. »Wie haben Sie das gemacht, Mädchen?« Breit grinsend sah er zu ihr hoch. »Ein Porschemotor in einem VW-Käfer?« Der neue Beetle hatte Frontantrieb, da gehörte der Motor unter die Haube, nicht in den Kofferraum. Aber genau da war er. Er musste drei Schritte zurücktreten, um zu begreifen, wie sie es gemacht hatte. Die Konturen erschienen leicht gestreckt, ansonsten aber war alles perfekt. Sie hatte einen VW-Käfer auf den Rahmen des Twin Turbo Porsche montiert. Aber würde nicht das gewölbte Cabriodach das Tempo vermindern? Und wie würde diese Camouflage das Kurvenverhalten des Porsche beeinflussen? »Wenn Sie eine Kurve zu schnell nehmen, überschlagen Sie sich, ist Ihnen das klar?« Gute Ratschläge und Benzin - mehr hatte er nicht zu bieten. Die Blondine zog es vor, ihr Ding alleine zu machen. Mit eisigem Blick und klarer Körpersprache hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass er seine ölverschmierten Pfoten von ihrem makellosen Motor lassen sollte. »Wenn Sie Zeit haben, mach ich Ihnen einen Überrollbügel dran«, erbot er sich. Die Blondine schüttelte nur stumm den Kopf, holte das nächste Werkzeug aus einem Lammfellbeutel und machte sich an der Aufhängung für einen Kabelstrang zu schaffen, vermutlich hatte da was geklappert, was sie störte. Jetzt klapperte nichts mehr. Sie zog die Schrauben so fest, dass es knirschte. »Überlegen Sie sich's. Muss ja nicht hier sein, aber lassen Sie ihn anbringen.« Ihm ging es nicht ums Geld, sondern um das Leben der Frau. Sie mochte so alt sein wie seine Tochter. »Mit einem Überrollbügel haben Sie eine reelle Chance, Ihren hübschen Kopf zu behalten, wenn der Wagen Schlagseite kriegt.« Sie war wirklich verdammt hübsch mit ihrer milchweißen Haut, den Katzenaugen und den langen roten Fingernägeln. Fast übernatürlich hübsch. In echt sah aus der Nähe kein Mensch so gut aus. Wahrscheinlich ist sie gar nicht von dieser Welt, dachte er, sondern kommt von irgendwo hinter dem Mond. Noch nie hatte er so grüne Augen gesehen. Hätte man ihn gebeten, die Farbe zu beschreiben, wäre er ins Grübeln gekommen. Elektrisch aufgeladen, hätte er gesagt. Durchdringend grün und hell wie eine Lampe am Armaturenbrett. Im Übrigen kam es ihm so vor, als ob sie unter der Denimjacke eine Waffe trug. Sein Blick war zu lange an der Wölbung hängen geblieben, unter der sich vielleicht ein Schulterholster verbarg. Die eiskalten Augen hatten ihn im Visier wie die Katze die Maus. Die Warnung war unübersehbar. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Sie war entweder eine Frau, die über Leichen ging, oder sie funktionierte auf derselben Wellenlänge wie er. »Polizei?« Langsam - nur keine vorschnellen Bewegungen! - holte er eine Brieftasche aus dem schmierigen Overall und zeigte ihr das Dokument, das ihn als Chicagoer Cop im Ruhestand auswies. Ihr Gesicht verriet nichts - nicht ihre nächste Bewegung, nicht, was sie dachte. Null. Jede Sekunde konnte die Situation kippen. Falls er mit seiner Vermutung falsch lag, musste er sich auf das Schlimmste gefasst machen. Mit über sechzig werden die Reflexe langsamer. Aber dann wandte sie sich wortlos wieder ihrem Motor zu, und das begriff er als Vertrauensbeweis. Er begann wieder zu atmen. »Fünfunddreißig Jahre hab ich den Job gemacht.« Er sah zu dem umgebauten Wagen hin. »Und hab gedacht, dass es auf der Welt nichts gibt, was ich noch nicht gesehen hab. Niemand würde sie für eine halten, die Volkswagen fährt. Nicht Ihr Stil. Das ist eine Kiste für Leute in meinem Alter, ausgebrannte Rock-and-Roll-Typen, die nie aus den sechziger Jahren rausgefunden haben. Mann, wenn das mein Wagen gewesen wär...« Der Porsche unter dem silberfarbenen Blech erklärte vieles - in vielerlei Hinsicht. Ein echtes VW-Cabrio war ein lustiges kleines Fahrzeug ohne Ecken und Kanten, eine Karikatur von Auto, das für ein Lächeln sorgte, wohin es auch kam. Nachdenklich musterte er die Blondine. Keine kosmetische Maßnahme - wie dieses Chassis, unter dem sich ein Killermotor verbarg - konnte überzeugend darüber hinwegtäuschen, wer sie wirklich war. Glaubte sie wirklich, mit solchen Methoden verdeckte Ermittlungen führen zu können? Aber eine andere Erklärung dafür, dass eine Frau im Staatsdienst einen Wagen fuhr, dessen Motor ein Vermögen kostete, hatte er nicht - es sei denn, dass die Kleine sich schmieren ließ. Auf ihrem Armaturenbrett entdeckte er noch etwas, was nicht dem Standard entsprach. Er machte einen letzten Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen - von Cop zu Cop. »Polizeifunk? Hab ich auch.« Sie beugte sich über den Motor. Der Mann neben ihr war vergessen. Er versuchte es noch einmal. »Da haben Sie bestimmt den Mord auf der Adams Street mitgekriegt.« Was bedeutete Schweigen auf ihrem Planeten - ja oder nein? »Mitten auf der Fahrbahn haben sie die Leiche gefunden, ich hab's im Polizeifunk gehört. Der Cop konnte sich gar nicht wieder einkriegen.« »Adams Street und...?« »Michigan Avenue.« Er hatte das Gefühl, dass sie die Adresse schon kannte, aber es wäre nicht das erste Mal, dass er sich da vertat. Ein Schuss, der gefallen war, als er gerade nicht hingesehen hatte, hatte ihn seinen Job bei der Polizei gekostet. Beiläufig, als ginge es ums Wetter, sagte die Blondine: »Mit dem Tatort stimmt irgendwas nicht.« Es war keine Frage, aber er nickte bestätigend. »Und deshalb sind Sie heute unterwegs, hab ich recht?« Aus alter Gewohnheit reihte er eine Merkwürdigkeit an die andere - diese ungewöhnliche junge Kriminalbeamtin, das Bastardauto mit New Yorker Kennzeichen, das Verbrechen in Chicago. »Ein Serienkiller. Und New York hat die Finger drin.« Wie er sich nach der guten alten Zeit sehnte.
Copyright © der Originalausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Carol O'Connell
O'Connell, CarolCarol O'Connell, geboren 1947, lebt in New York. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller und schuf mit Kathleen Mallory eine der originellsten und bestechendsten Detektivfiguren in der Kriminalliteratur. Nach ihrem Kunststudium stellte Carol O'Connell jahrelang surrealistische Gemälde in Cafés aus und finanzierte ihren Unterhalt mit Gelegenheitsjobs, bevor sie sich 1995 mit ihrem Debütroman "Ein Ort zum Sterben" in die Spitzenriege der Krimiautorinnen schrieb.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carol O'Connell
- 2011, 475 Seiten, Masse: 12 x 18,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Orth-Guttmann, Renate
- Übersetzer: Renate Orth-Guttmann
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442742447
- ISBN-13: 9783442742448
- Erscheinungsdatum: 09.05.2011
Rezension zu „Such mich! “
"Mallory packt uns und lässt uns nicht mehr los."
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