Stunde der Heuchler
Wie Manager und Politiker uns zum Narren halten. Eine Polemik
Edzard Reuter malt das erschreckende Bild einer Gesellschaft, deren Verantwortliche nur noch auf Machtanhäufung und Bereicherung aus sind. Anstatt ihrer Vorbildfunktion gerecht zu werden, begehen sie in der aktuellen Wirtschaftskrise Steuerflucht, kassieren...
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Produktinformationen zu „Stunde der Heuchler “
Klappentext zu „Stunde der Heuchler “
Edzard Reuter malt das erschreckende Bild einer Gesellschaft, deren Verantwortliche nur noch auf Machtanhäufung und Bereicherung aus sind. Anstatt ihrer Vorbildfunktion gerecht zu werden, begehen sie in der aktuellen Wirtschaftskrise Steuerflucht, kassieren Bonuszahlungen bei Rekordverlusten, manipulieren Arbeitslosenzahlen und geben falsche Wahlversprechen. Reuter prangert das unehrliche und selbstsüchtige Verhalten unserer Führungskräfte an.Der frühere Daimler-Chef plädiert für eine Rückkehr zu alten Wertvorstellungen wie Anstand und Augenmass. Ein längst fälliges Buch über die soziale Verantwortung unserer Eliten, aber auch über die Zukunft Deutschlands.
Lese-Probe zu „Stunde der Heuchler “
Stunde der Heuchler von Edzard Reuter»Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm«
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Bleiben wir gleich einmal bei jenem Drama, das sich schon 2007 ankündigte und dann im Spätsommer 2008 wie ein Vulkanausbruch über die ganze Welt hereingebrochen ist: die internationale Finanzkrise und die weltweiten wirtschaftlichen Probleme, die sie auslöste. Unzählige kluge Publikationen haben sich inzwischen damit befasst. Nahezu ausnahmslos wurde dabei die Habgier der meisten Beteiligten als eine der wesentlichen Ursachen ausgemacht. Das Maß an Heuchelei, das deren ungehemmte Ausbreitung erst ermöglichte, ist freilich nur den wenigsten aufgefallen. Unübersehbar ist sie zumindest erst geworden, seit einige Spekulanten mit offensichtlich nahezu krimineller Energie als Folge einer möglichen Staatspleite Griechenlands auf einen Zusammenbruch des für uns Europäer so lebenswichtigen Währungssystems des Euro hingearbeitet und schließlich auch noch die zaghaftesten Politikerinnen zu Entscheidungen gezwungen haben, die sie lieber vermieden hätten.
Nicht viel mehr als zehn Jahre ist es her. Im BoardRoom der damaligen Chase Manhattan Bank (heute J. P. Morgan Chase) an der 5th Avenue saßen allerhand großmächtige internationale Würdenträger aus der Welt der Wirtschaft und Politik um einen riesigen Sitzungstisch zusammen. Gianni Agnelli war dabei, Ratan Tata aus Indien, Rahmi Koc aus der Türkei. Neben sonstigen ebenso weisen wie mächtigen Unternehmenschefs aus allen Teilen der Welt zählte zudem eine kleine Zahl politischer Veteranen aus Großbritannien und Frankreich dazu - nicht zu vergessen der mit tiefer Bassstimme seine Bedeutsamkeit zelebrierende Henry Kissinger. Aufgabe und Anliegen des illustren Kreises war es, das Spitzenmanagement der Bank über die weltweite Entwicklung zu beraten.
Wie üblich hatte die Besprechung mit einem Bericht über die Situation in den USA begonnen. Man war rundum optimistisch gestimmt, die Börsen brummten vor Zuversicht, die Ertragslage der Bank wie der gesamten Wirtschaft war hervorragend, Neugründungen junger Unternehmen schossen wie Pilze aus dem Boden (und sollten sich unversehens zur »Dotcom-Blase« ballen). Ein einziger schwacher Schatten nur verdüsterte das strahlende Bild ein wenig: Die mit vielen Schaubildern unterlegte Präsentation des Chefökonomen machte deutlich, dass die anscheinend so günstige Entwicklung unverändert an den ärmeren Ländern der Erde vorüberging - vor allem aber, dass sie von einer explosionsartigen Zunahme des Geld- und Kreditvolumens begleitet wurde, das frei, sozusagen als Selbstzweck, auf den internationalen Finanzmärkten umherfloss.
Abgesehen von dem einen oder anderen klugen Einwurf, der sich auf irgendeine Einzelheit richtete, bestätigte die anschließende Diskussion die allgemein mehr als zuversichtliche Stimmung. Das sowjetische System war endgültig zusammengebrochen, der sogenannte Kalte Krieg erfolgreich beendet, zum Wohle aller hatte die kapitalistische Marktwirtschaft ihren unaufhaltsamen Siegeszug angetreten. Der Einzige, der sich den schüchternen Einwand erlaubte, dass es doch vielleicht
gerade deswegen umso dringlicher sein könnte, sich im Kreise der entscheidend wichtigen Länder um ein weltweites Regelsystem zu bemühen, das die Ausuferungen einer ungezügelten Marktwirtschaft in sozialpolitisch verträgliche Kanäle leiten würde, war ich.
Höflich hörten die Anwesenden zu, niemand widersprach. Doch rund um den Tisch brachte das Mienenspiel zum Ausdruck, dass es nicht mehr an der Zeit war, solchen traditionellen europäischen, womöglich gar sozialdemokratisch gefärbten Kleinmut besonders ernst zu nehmen. Erkennbar sprach ja hier jemand, dessen Zeit vorüber war, der die neue Welt ganz offenbar nicht mehr so recht verstand. Am Schluss der Sitzung kam der Chairman der Bank zu mir, legte tröstend seine Hand auf meine Schulter und meinte leise, ich hätte ja »mit meiner Meinung völlig recht, doch nach Lage der Dinge gebe es nun einmal keine andere Möglichkeit für die Bank, als mit den Wölfen zu heulen und sich den geltenden Spielregeln zu fügen«.
Nicht allzu lange sollte es danach noch dauern, bis die Welt der Finanzen 2008 an den Rand einer tödlichen Katastrophe geriet, vor der sie wahrlich nur in allerletzter Minute bewahrt werden konnte. Seitdem habe ich mich oft genug gefragt, wie ernsthaft dieser Herzinfarkt des internationalen Finanzsystems und dessen Folgen für die gesamte Wirtschaft die eigentlichen Verursacher wirklich betroffen gemacht haben. Die Griechenland-Krise und deren Begleitumstände haben jedenfalls nicht dazu beigetragen, mich ernsthaft zu beruhigen. Ganz besonders wenig ändert daran ein im Sommer vergangenen Jahres erschienener Pressebericht über eine in Zürich stattgefundene öffentliche Veranstaltung. Josef Ackermann, der Vorsitzende der Deutschen Bank, heißt es da, habe gesagt, »die Frage müsse sein, ob das ständige Schneller - Weiter - Höher die Gesellschaft vor anbringe«. Um als wörtliches Zitat fortzufahren: »Ich lehne mich manchmal auch zurück und frage mich, ist das eigentlich richtig?« Und der Bericht schließt mit der fast schon demütig klingenden Aussage des Redners, »so seien nun einmal die Spielregeln«. Einseitig könne man sie nicht ändern, und »man dürfe daher diejenigen nicht verurteilen, die sich danach verhalten«. Ausdruck einer nur allzu menschlichen Neigung, unangenehme Wahrheiten zu verdrängen? Schulterzuckende Resignation? Sorglose Leichtfertigkeit? Ehrliche, sogar besorgte Meinung? Oder schiere Heuchelei? Vielleicht etwas von alle dem? Lassen Sie uns sehen.
Das Zusammentreffen in der Chase Manhattan Bank hatte zu Beginn der damals so euphorisch begrüßten Ära der New Economy stattgefunden. Für eine kurze Zeitspanne sollte sie die Welt glauben machen, dass man mit der Finanzierung neugegründeter Unternehmen und dem baldigen Verkauf der auf diese Weise erworbenen Aktien klaglos und Jahr um Jahr eine außergewöhnlich gute Verzinsung des eingesetzten Kapitals erzielen könne. Die internationale Bankenwelt schien endlich den Stein der Weisen entdeckt zu haben. Warum um Gottes willen mühsam der Vergabe von Krediten hinterher- und dabei auch noch Gefahr laufen, dass die Schuldner sich vergaloppieren, wo doch jetzt das ohnehin im Überfluss vorhandene Bargeld viel, viel schneller und frei von unnötigen eigenen Risiken vermehrt werden konnte? Der Begriff des Investmentbanking, nicht lange zuvor noch auf spezialisierte Banken beschränkt, die mit Staaten und Unternehmen bei der Beschaffung der von diesen benötigten Mittel auf den internationalen Kapitalmärkten zusammenarbeiteten, bekam auf einmal einen ganz neuen, einen fast geheimnisumwitterten Klang. Er verhieß, mit geschickten, ja teilweise schon trickreichen Kombinationen Finanzierungswege zu finden, die für die Banken selbst risikofreie Gewinne in bisher unvorstellbarer Größenordnung ermöglichten - vom explodierenden Anschwellen der eigenen Taschen bei den einschlägigen Zauberern ganz zu schweigen.
Zwei oder drei Jahre später waren alle Blütenträume von der schnellen Bereicherung kläglich zerstoben und mit ihnen die Börsenkurse tief in den Keller gestürzt. Nicht gerade klein war die Zahl derjenigen, die wohl gewusst hatten, dass das Abenteuer nicht gutgehen konnte. Doch ob bei den Banken selbst, ob unter erfahrenen Unternehmern, ob an den Universitäten, ob in den Medien oder bei den politisch für ihr Land Verantwortlichen: Nur sehr vereinzelt hatte sich jemand getraut, den Mund aufzumachen. Alle anderen jubilierten. Die Erkenntnisse und Lehren jenes neu verstandenen Investmentbanking bedeuteten ein Heilsversprechen auf ewige Mehrung des Wohlstands. Niemand wagte, es zu hinterfragen. Schließlich war es ja doch in den USA, der Siegernation über den untergegangenen Sowjetkommunismus, zum Ideal erhoben worden. Kleinlaute Nörgelei war da nicht gefragt, Heuchelei zum Gebot der Stunde geworden. So haben denn auch nur die wenigsten aus der Erfahrung der kurz darauf geplatzten Blase gelernt: Der Tanz der sich als »modern« verstehenden Investmentbanker und ihrer Eleven aus den ökonomischen Elitehochschulen um das Goldene Kalb sollte schon bald danach erneut einsetzen - um dieses Mal die Welt an den Rand des Abgrunds zu führen.
Inzwischen füllen gelehrte Untersuchungen über die Gründe, die zu dieser Entwicklung geführt haben, ganze Bibliotheken. Ich will nicht einmal versuchen, dem eine neue Weisheit hinzufügen. Bemerkenswert bleibt es immerhin, warum es so lange gedauert hat, bis wir schließlich zu Zeugen einer die ganze Welt ergreifenden Krise werden mussten. Grenzüberschreitende, ja weltumspannende Wirtschafts- und Finanzbeziehungen gibt es seit Jahrhunderten. Die kulturellen Einbindungen der Beteiligten und deren Einfluss auf ihre Denk- und Handlungsweise waren zu keiner Zeit ein unergründliches Geheimnis. Böse Erfahrungen mit Banken, die unter einem Dach sowohl das normale Kreditgeschäft als auch - sogar auf eigene Rechnung, also ohne Kundenauftrag - den Handel mit Wertpapieren betrieben, hatte es bereits während der großen Wirtschaftskrise um die Wende der zwanziger zu den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gegeben. Auf Initiative des damals frisch gewählten Präsidenten Franklin D. Roosevelt hatten sie in den USA sogar zur Folge, dass 1933 im Rahmen des heiß umstrittenen Glass-Seagall Act die Trennung zwischen beiderlei Banktätigkeiten gesetzlich vorgeschrieben wurde.
Es muss also etwas grundlegend Neues geschehen sein, das die neue Welle von Geldgier auslöste. Heuchelei hat als Zaubermittel entscheidend dazu beigetragen. Erst sie machte es möglich, unter dem Deckmantel eines über lange Zeiten als Inbegriff des Seriösen geltenden Bankberufs ein Ausmaß an Habsucht zu verbergen, das nicht wenigen zu sagenhaftem Reichtum verhelfen sollte.
Bleiben wir gleich einmal bei jenem Drama, das sich schon 2007 ankündigte und dann im Spätsommer 2008 wie ein Vulkanausbruch über die ganze Welt hereingebrochen ist: die internationale Finanzkrise und die weltweiten wirtschaftlichen Probleme, die sie auslöste. Unzählige kluge Publikationen haben sich inzwischen damit befasst. Nahezu ausnahmslos wurde dabei die Habgier der meisten Beteiligten als eine der wesentlichen Ursachen ausgemacht. Das Maß an Heuchelei, das deren ungehemmte Ausbreitung erst ermöglichte, ist freilich nur den wenigsten aufgefallen. Unübersehbar ist sie zumindest erst geworden, seit einige Spekulanten mit offensichtlich nahezu krimineller Energie als Folge einer möglichen Staatspleite Griechenlands auf einen Zusammenbruch des für uns Europäer so lebenswichtigen Währungssystems des Euro hingearbeitet und schließlich auch noch die zaghaftesten Politikerinnen zu Entscheidungen gezwungen haben, die sie lieber vermieden hätten.
Nicht viel mehr als zehn Jahre ist es her. Im BoardRoom der damaligen Chase Manhattan Bank (heute J. P. Morgan Chase) an der 5th Avenue saßen allerhand großmächtige internationale Würdenträger aus der Welt der Wirtschaft und Politik um einen riesigen Sitzungstisch zusammen. Gianni Agnelli war dabei, Ratan Tata aus Indien, Rahmi Koc aus der Türkei. Neben sonstigen ebenso weisen wie mächtigen Unternehmenschefs aus allen Teilen der Welt zählte zudem eine kleine Zahl politischer Veteranen aus Großbritannien und Frankreich dazu - nicht zu vergessen der mit tiefer Bassstimme seine Bedeutsamkeit zelebrierende Henry Kissinger. Aufgabe und Anliegen des illustren Kreises war es, das Spitzenmanagement der Bank über die weltweite Entwicklung zu beraten.
Wie üblich hatte die Besprechung mit einem Bericht über die Situation in den USA begonnen. Man war rundum optimistisch gestimmt, die Börsen brummten vor Zuversicht, die Ertragslage der Bank wie der gesamten Wirtschaft war hervorragend, Neugründungen junger Unternehmen schossen wie Pilze aus dem Boden (und sollten sich unversehens zur »Dotcom-Blase« ballen). Ein einziger schwacher Schatten nur verdüsterte das strahlende Bild ein wenig: Die mit vielen Schaubildern unterlegte Präsentation des Chefökonomen machte deutlich, dass die anscheinend so günstige Entwicklung unverändert an den ärmeren Ländern der Erde vorüberging - vor allem aber, dass sie von einer explosionsartigen Zunahme des Geld- und Kreditvolumens begleitet wurde, das frei, sozusagen als Selbstzweck, auf den internationalen Finanzmärkten umherfloss.
Abgesehen von dem einen oder anderen klugen Einwurf, der sich auf irgendeine Einzelheit richtete, bestätigte die anschließende Diskussion die allgemein mehr als zuversichtliche Stimmung. Das sowjetische System war endgültig zusammengebrochen, der sogenannte Kalte Krieg erfolgreich beendet, zum Wohle aller hatte die kapitalistische Marktwirtschaft ihren unaufhaltsamen Siegeszug angetreten. Der Einzige, der sich den schüchternen Einwand erlaubte, dass es doch vielleicht
gerade deswegen umso dringlicher sein könnte, sich im Kreise der entscheidend wichtigen Länder um ein weltweites Regelsystem zu bemühen, das die Ausuferungen einer ungezügelten Marktwirtschaft in sozialpolitisch verträgliche Kanäle leiten würde, war ich.
Höflich hörten die Anwesenden zu, niemand widersprach. Doch rund um den Tisch brachte das Mienenspiel zum Ausdruck, dass es nicht mehr an der Zeit war, solchen traditionellen europäischen, womöglich gar sozialdemokratisch gefärbten Kleinmut besonders ernst zu nehmen. Erkennbar sprach ja hier jemand, dessen Zeit vorüber war, der die neue Welt ganz offenbar nicht mehr so recht verstand. Am Schluss der Sitzung kam der Chairman der Bank zu mir, legte tröstend seine Hand auf meine Schulter und meinte leise, ich hätte ja »mit meiner Meinung völlig recht, doch nach Lage der Dinge gebe es nun einmal keine andere Möglichkeit für die Bank, als mit den Wölfen zu heulen und sich den geltenden Spielregeln zu fügen«.
Nicht allzu lange sollte es danach noch dauern, bis die Welt der Finanzen 2008 an den Rand einer tödlichen Katastrophe geriet, vor der sie wahrlich nur in allerletzter Minute bewahrt werden konnte. Seitdem habe ich mich oft genug gefragt, wie ernsthaft dieser Herzinfarkt des internationalen Finanzsystems und dessen Folgen für die gesamte Wirtschaft die eigentlichen Verursacher wirklich betroffen gemacht haben. Die Griechenland-Krise und deren Begleitumstände haben jedenfalls nicht dazu beigetragen, mich ernsthaft zu beruhigen. Ganz besonders wenig ändert daran ein im Sommer vergangenen Jahres erschienener Pressebericht über eine in Zürich stattgefundene öffentliche Veranstaltung. Josef Ackermann, der Vorsitzende der Deutschen Bank, heißt es da, habe gesagt, »die Frage müsse sein, ob das ständige Schneller - Weiter - Höher die Gesellschaft vor anbringe«. Um als wörtliches Zitat fortzufahren: »Ich lehne mich manchmal auch zurück und frage mich, ist das eigentlich richtig?« Und der Bericht schließt mit der fast schon demütig klingenden Aussage des Redners, »so seien nun einmal die Spielregeln«. Einseitig könne man sie nicht ändern, und »man dürfe daher diejenigen nicht verurteilen, die sich danach verhalten«. Ausdruck einer nur allzu menschlichen Neigung, unangenehme Wahrheiten zu verdrängen? Schulterzuckende Resignation? Sorglose Leichtfertigkeit? Ehrliche, sogar besorgte Meinung? Oder schiere Heuchelei? Vielleicht etwas von alle dem? Lassen Sie uns sehen.
Das Zusammentreffen in der Chase Manhattan Bank hatte zu Beginn der damals so euphorisch begrüßten Ära der New Economy stattgefunden. Für eine kurze Zeitspanne sollte sie die Welt glauben machen, dass man mit der Finanzierung neugegründeter Unternehmen und dem baldigen Verkauf der auf diese Weise erworbenen Aktien klaglos und Jahr um Jahr eine außergewöhnlich gute Verzinsung des eingesetzten Kapitals erzielen könne. Die internationale Bankenwelt schien endlich den Stein der Weisen entdeckt zu haben. Warum um Gottes willen mühsam der Vergabe von Krediten hinterher- und dabei auch noch Gefahr laufen, dass die Schuldner sich vergaloppieren, wo doch jetzt das ohnehin im Überfluss vorhandene Bargeld viel, viel schneller und frei von unnötigen eigenen Risiken vermehrt werden konnte? Der Begriff des Investmentbanking, nicht lange zuvor noch auf spezialisierte Banken beschränkt, die mit Staaten und Unternehmen bei der Beschaffung der von diesen benötigten Mittel auf den internationalen Kapitalmärkten zusammenarbeiteten, bekam auf einmal einen ganz neuen, einen fast geheimnisumwitterten Klang. Er verhieß, mit geschickten, ja teilweise schon trickreichen Kombinationen Finanzierungswege zu finden, die für die Banken selbst risikofreie Gewinne in bisher unvorstellbarer Größenordnung ermöglichten - vom explodierenden Anschwellen der eigenen Taschen bei den einschlägigen Zauberern ganz zu schweigen.
Zwei oder drei Jahre später waren alle Blütenträume von der schnellen Bereicherung kläglich zerstoben und mit ihnen die Börsenkurse tief in den Keller gestürzt. Nicht gerade klein war die Zahl derjenigen, die wohl gewusst hatten, dass das Abenteuer nicht gutgehen konnte. Doch ob bei den Banken selbst, ob unter erfahrenen Unternehmern, ob an den Universitäten, ob in den Medien oder bei den politisch für ihr Land Verantwortlichen: Nur sehr vereinzelt hatte sich jemand getraut, den Mund aufzumachen. Alle anderen jubilierten. Die Erkenntnisse und Lehren jenes neu verstandenen Investmentbanking bedeuteten ein Heilsversprechen auf ewige Mehrung des Wohlstands. Niemand wagte, es zu hinterfragen. Schließlich war es ja doch in den USA, der Siegernation über den untergegangenen Sowjetkommunismus, zum Ideal erhoben worden. Kleinlaute Nörgelei war da nicht gefragt, Heuchelei zum Gebot der Stunde geworden. So haben denn auch nur die wenigsten aus der Erfahrung der kurz darauf geplatzten Blase gelernt: Der Tanz der sich als »modern« verstehenden Investmentbanker und ihrer Eleven aus den ökonomischen Elitehochschulen um das Goldene Kalb sollte schon bald danach erneut einsetzen - um dieses Mal die Welt an den Rand des Abgrunds zu führen.
Inzwischen füllen gelehrte Untersuchungen über die Gründe, die zu dieser Entwicklung geführt haben, ganze Bibliotheken. Ich will nicht einmal versuchen, dem eine neue Weisheit hinzufügen. Bemerkenswert bleibt es immerhin, warum es so lange gedauert hat, bis wir schließlich zu Zeugen einer die ganze Welt ergreifenden Krise werden mussten. Grenzüberschreitende, ja weltumspannende Wirtschafts- und Finanzbeziehungen gibt es seit Jahrhunderten. Die kulturellen Einbindungen der Beteiligten und deren Einfluss auf ihre Denk- und Handlungsweise waren zu keiner Zeit ein unergründliches Geheimnis. Böse Erfahrungen mit Banken, die unter einem Dach sowohl das normale Kreditgeschäft als auch - sogar auf eigene Rechnung, also ohne Kundenauftrag - den Handel mit Wertpapieren betrieben, hatte es bereits während der großen Wirtschaftskrise um die Wende der zwanziger zu den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gegeben. Auf Initiative des damals frisch gewählten Präsidenten Franklin D. Roosevelt hatten sie in den USA sogar zur Folge, dass 1933 im Rahmen des heiß umstrittenen Glass-Seagall Act die Trennung zwischen beiderlei Banktätigkeiten gesetzlich vorgeschrieben wurde.
Es muss also etwas grundlegend Neues geschehen sein, das die neue Welle von Geldgier auslöste. Heuchelei hat als Zaubermittel entscheidend dazu beigetragen. Erst sie machte es möglich, unter dem Deckmantel eines über lange Zeiten als Inbegriff des Seriösen geltenden Bankberufs ein Ausmaß an Habsucht zu verbergen, das nicht wenigen zu sagenhaftem Reichtum verhelfen sollte.
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Autoren-Porträt von Edzard Reuter
Reuter, EdzardEdzard Reuter, 1928 in Berlin geboren, gehörte jahrzehntelang zu den führenden Unternehmerpersönlichkeiten Deutschlands. 1987 bis 1995 war der studierte Jurist Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG. Er ist SPD-Mitglied und als kritischer Kommentator des Wallstreet-Kapitalismus bekannt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Edzard Reuter
- 2010, 4. Aufl., 224 Seiten, Masse: 13,4 x 21,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ECON
- ISBN-10: 3430200903
- ISBN-13: 9783430200905
- Erscheinungsdatum: 29.09.2010
Rezension zu „Stunde der Heuchler “
»In unerhört scharfem Ton drischt der Autor auf die Verantwortlichen ein und fordert ein Umdenken in der Gesellschaft.« Rheinischer Merkur, 04.11.10
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