Selig sind die Dürstenden / Hanne Wilhelmsen Bd.2
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Selig sinddie Dürstenden von Anne Holt
LESEPROBE
Es war noch so früh, dass nicht einmal der Teufel schon in seineStiefel gestiegen sein konnte. Im Westen hatte der Himmel die intensive Farbeangenommen, mit der nur ein skandinavischer Frühlingshimmel gesegnet seinkann; königsblau vorm Horizont und heller zum Zenit hin, um dann im Osten, wodie Sonne langsam aufstand, in rosa Flausch überzugehen. Die Luft, vomheraufdämmernden Tag noch befreiend unberührt, war von der seltsamenDurchsichtigkeit, die einfach zu schönen Frühlingsmorgen bei fast sechzig Gradnördlicher Breite gehört. Das Thermometer war zwar noch nicht über zehngeklettert, aber alles schien auf einen weiteren warmen Maitag in Oslohinzudeuten.
Hanne Wilhelmsen dachte nicht ans Wetter. Sie stand ganz starrda und fragte sich, was sie machen sollte. Überall war Blut. Auf dem Boden. Anden Wänden. Selbst die grobe Decke zeigte dunkle Flecken wie abstrakte Bilderaus irgendeinem Psychotest. Hanne legte den Kopf schräg und starrte einenFleck unmittelbar über ihr an. Er sah aus wie ein purpurroter Stier mit dreiHörnern und deformiertem Hinterleib. Sie stand so reglos da, nicht nur, weilsie verwirrt war, sondern auch, weil sie Angst hatte, auf dem glitschigenBoden auszurutschen.
»Nicht anfassen«, warnte sie, als ein jüngerer Kollege, dessenHaarfarbe mit der bizarren Umgebung zu verschwimmen schien, die Hand nach einerWand ausstreckte. Ein schmaler Spalt in der baufälligen Decke gestattete einemstaubigen Lichtstrahl, auf die Rückwand zu fallen, wo das Blut so grosszügigverteilt war, dass es weniger an Zeichnungen als an miserabel ausgeführteAnstreicherarbeiten erinnerte.
»Hau ab hier«, befahl sie und unterdrückte angesichts der Fussspuren,die der unerfahrene Polizist fast überall auf dem Boden verteilt hatte, einenresignierten Seufzer. »Und versuch, in deinen eigenen Fussspuren wieder hinauszugehen.«
Nach zwei Minuten folgte sie seinem Beispiel, rückwärts undzögernd. In der Türöffnung blieb sie stehen, nachdem sie den Jungen nach einerTaschenlampe geschickt hatte.
»Ich wollte bloss pissen«, winselte der Mann, der die Polizeigerufen hatte. Brav war er vor dem Schuppen stehengeblieben. Jetzt trat erdermassen hektisch von einem Fuss auf den anderen, dass Hanne Wilhelmsen derVerdacht kam, er habe sein eigentliches Vorhaben noch nicht in die Tat umsetzenkönnen.
»Da ist das Klo.« Er zeigte ziemlich unnötigerweise auf die entsprechendeTür. Der herbe Geruch eines der noch viel zu zahlreichen Osloer Aussenklos stachsogar den ekelhaften süsslichen Blutgeruch aus. Die Tür mit dem Herzen wargleich nebenan.
»Gehen Sie nur aufs Klo«, sagte sie freundlich, aber erhörte nicht.
»Ich wollte pissen, wissen Sie, aber dann habe ich gesehen, dassdie Tür offenstand.«
Er zeigte widerstrebend auf den Holzschuppen und trat einenSchritt zurück, als läge dort drinnen ein schreckliches Ungeheuer auf derLauer, das jederzeit herausschiessen und seinen Arm verschlingen könnte.
»Der ist sonst immer zu. Nicht abgeschlossen, meine ich, aberzu. Die Tür klemmt so sehr, dass sie nicht von selbst ins Schloss fällt. Und wirwollen nicht, dass sich streunende Katzen und Hunde hier einnisten. Deshalbnehmen wir das sehr genau.«
Ein seltsames kleines Lächeln breitete sich auf dem grobenGesicht aus. Auch in dieser Gegend nahm man die Dinge genau, das musste siesich klarmachen, sie hatten Regeln und hielten sich an die Ordnung, obwohl siegerade dabei waren, den Kampf gegen den Verfall zu verlieren.
»Ich wohne schon mein Leben lang hier«, sagte er und schienauch darauf ein bisschen stolz zu sein. »Ich sehe sofort, wenn nicht alles soist, wie es sich gehört.«
Er warf einen raschen Seitenblick auf die adrette junge Dame,die den Polizisten, die er bisher gesehen hatte, so gar nicht ähnelte, undrechnete mit einem Wort des Lobes.
»Sehr gut«, lobte sie. »Und gut, dass Sie uns verständigt haben.«
Als er jetzt herzlich und mit offenem Mund lächelte, fielihr auf, dass er kaum noch Zähne hatte. Das war seltsam, so alt konnte ereigentlich noch nicht sein; er war vielleicht um die Fünfzig.
»Ich war ja völlig ausser mir, das kann ich Ihnen sagen. Das ganzeBlut...«
Er schüttelte heftig den Kopf; sie musste doch begreifen, wieentsetzlich es gewesen war, auf einen dermassen teuflischen Anblick zu stossen.
Das begriff sie sehr gut. Ihr rothaariger Kollege war inzwischenmit der Taschenlampe zurückgekehrt. Hanne Wilhelmsen nahm die Lampe in beideHände und liess den Lichtstrahl systematisch über die Wände wandern. Danach nahmsie sich die Decke vor, so gründlich, wie das von der Tür aus möglich war, undschliesslich liess sie den Strahl im Zickzack über den Boden gleiten. (...)
© Piper Verlag GmbH
Übersetzung: Gabriele Haefs
Anne Holt, 1958 geboren, wuchs in Norwegen und in den USA auf. Als freie Autorin lebt sie heute mit ihrer Familie in Oslo. Ihre vielfach preisgekrönten Kriminalromane werden in alle grossen Sprachen übersetzt und machen sie mit über 7 Millionen verkauften Exemplaren zu einer der erfolgreichsten skandinavischen Autorinnen weltweit. Ihre beiden Serien um Inger Vik und Hanne Wilhelmsen geniessen Kultstatus und wurden erfolgreich verfilmt. Haefs, Gabriele
Gabriele Haefs, geboren 1953 in Wachtendonk, Studium der Volkskunde, Sprachwissenschaft, Keltischen Sprachen und Skandinavistik. Seit 1983 ist sie als Übersetzerin von unter anderem Jostein Gaarder, Anne Holt und Ingvar Ambjörnsen tätig. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem Deutschen und dem Österreichischen Jugendbuchpreis, dem Akademika-Preis der Universität Oslo und dem Willy Brandt-Preis ausgezeichnet. Sie ist Ritterin 1. Klasse des Norwegischen St. Olavsordens.
- Autor: Anne Holt
- 66. Aufl., 222 Seiten, Masse: 12,1 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492236588
- ISBN-13: 9783492236584
- Erscheinungsdatum: 01.11.2002
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