Sei dennoch unverzagt
Gespräche mit meinen Grosseltern Christa und Gerhard Wolf
Zwei Generationen, zwei Wirklichkeiten.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sei dennoch unverzagt “
Zwei Generationen, zwei Wirklichkeiten.
Klappentext zu „Sei dennoch unverzagt “
Über zehn Jahre hinweg sprechen Enkelin und Grosseltern über Politik, Liebe, Freundschaft, Literatur, Emanzipation, Sex, Geld, Erfolg, Enttäuschungen und Verrat.Es beginnt im Sommer 1998. Die Enkelin ist 25, wird gerade Journalistin und fängt an, ihre Grosseltern über die Vergangenheit zu befragen. Es geht um die Herkunft und die Familie, um die Zeit des Nationalsozialismus und die DDR - aber auch immer wieder um das, was heute ist. Über die Jahre entwickelt sich so ein Dialog der Generationen: Sie sprechen über das politische Engagement des Schriftstellerpaars, die Kämpfe der Grosseltern, die in ihrer Radikalität und Existenzialität für die Enkelin kaum noch zu begreifen sind, sowie über verlorene Freundschaften und Verrat. Es geht um die mehr als sechzig Jahre andauernde Liebe des Ehepaars Wolf. Und es geht um das Schreiben, das gemeinsame Glück und Unglück im neuen vereinten Land. Die Gespräche reichen bis zum Tod Christa Wolfs 2011 und darüber hinaus. Am Ende treffen sich Enkelin und Grossvater noch einmal allein.
Lese-Probe zu „Sei dennoch unverzagt “
Sei dennoch unverzagt von Jana Simon Vorwort
»Liebe Jana, dies wird vielleicht ein etwas selbstsüchtiges Weihnachtsgeschenk, aber ich denke mir, Du bist (so gut wie) erwachsen, und da wird es langsam Zeit, Dich mit meinem Geschriebenen zu behelligen.« Zu Weihnachten 1988 bekam ich ein Geschenk von meinen Großeltern, die Bücher meiner Großmutter, ihr Werk, elf Bände lagen unter dem Weihnachtsbaum im Berliner Amalienpark. Heiligabend verbrachte die Familie immer bei ihnen, die Tanne reichte bis zur Decke, und mein Großvater kochte für die ganze Familie Reh oder Kaninchen. Auf die ersten Buchseiten hatte meine Großmutter jeweils mit schwarzem Kugelschreiber kleine Texte an mich geschrieben - was sie in jener Zeit bewegt, was sie gedacht und was sie gefühlt hatte. Ich war damals 16 und von dem Geschenk nicht gerade begeistert. Eine Madonna-Platte hätte mir besser gefallen.
Zu Hause wuchtete ich die elf Bände in mein Regal, und dort blieben sie. Ab und an zog ich eines der Bücher heraus, wog es in meiner Hand, und manchmal las ich es auch. Am meisten berührten mich diese kleinen Texte. Ich empfand sie als Angebot meiner Großeltern, mir etwas über sich zu erzählen, auch wenn ich das in jener Zeit noch nicht zu schätzen wusste.
Damals, 1988, lebten wir in der DDR, in Ostberlin. Es war das letzte Weihnachten, bevor dieses Land untergehen sollte, und meine Großmutter hatte gerade eine lebensbedrohliche Bauchfellentzündung überstanden.
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Auf den ersten Seiten von Der geteilte Himmel schrieb sie: »Ich war zwischen dreißig und vierunddreißig Jahre alt, in vielem naiver, als selbst ihr sechzehnjährigen es heute seid ...« Dieser Satz wird sich wie ein Motiv in verschiedenen Variationen durch unsere Gespräche ziehen, die wir viele Jahre später führen.
Ein Jahrzehnt nach jenem Weihnachten, 1998, fing ich an, mich mit meinen Großeltern zu treffen, um mich mit ihnen über ihr Leben zu unterhalten. Die DDR existierte nicht mehr - das Land, mit dem meine Großeltern eng verbunden waren und das ich nur noch bei seinem Zusammenbruch beobachtet hatte.
Im Jahr 1998 war ich 25 Jahre alt, meine Großeltern waren fast siebzig. Ich hatte das Gefühl, zu wenig von ihnen zu wissen, die Zeit nach dem Mauerfall erschien mir wie eine atemlose Abfolge von Monaten und Tagen, ein Dasein im Rausch. Ich war gereist, hatte studiert und gerade angefangen, als Reporterin beim Berliner Tagesspiegel zu arbeiten. In jener Zeit telefonierte ich oft mit meinen Großeltern, meist mit meiner Großmutter, da mein Großvater eine Abneigung gegen längere Telefongespräche hegt. Wir hielten uns auf dem Laufenden, über das Gegenwärtige. Was meine Großeltern tatsächlich bewegte, was ihr Leben ausmachte, über ihre Kämpfe der Vergangenheit erfuhr ich wenig. Damals dachte ich, wenn ich einmal Kinder hätte, wüsste ich gern mehr über meine Herkunft, über unsere Familie, über die Konflikte. Über zehn Jahre hinweg trafen wir uns immer wieder, unterbrochen von langen Pausen. Als 2008 meine Tochter Nora geboren wurde, brachen die Gespräche ab. Im Juli 2012 redete ich noch einmal mit meinem Großvater allein.
Zu Beginn dachte ich nicht an eine Veröffentlichung, diese Idee entstand erst im Laufe der Jahre. Es war als privates Familienprojekt geplant. Später wurde mir bewusst, dass meine Fragen vermutlich Fragen sind, die viele Enkel an ihre Großeltern haben: Fragen an eine Generation, die den Krieg, die Flucht und zwei Diktaturen erlebt hat, an eine Generation, die es bald nicht mehr geben wird.
Meine Fragen sind nicht objektiv und können es nicht sein. Ich frage als Enkelin, nicht als Journalistin. Ich bereitete die Gespräche auch nicht besonders vor, las zuvor keine Bücher, Artikel oder Interviews, aus denen ich schlau hätte zitieren können. Es sollte privat bleiben. Tatsächlich hatte ich nicht jeden Schritt meiner Großeltern genau verfolgt, hatte nicht jedes ihrer Bücher studiert, und wir waren nicht immer einer Meinung. Manche Themen streiften wir nur oberflächlich, manche gar nicht, andere besprachen wir ausführlicher und mehrmals. Gespräche sind selten vollkommen, aber sie können ein Bild geben, einen Eindruck vermitteln.
Über die Jahre entsteht aus meinen Fragen ein Dialog der Generationen - auch wenn es auffällt, dass meine Großeltern weniger von mir wissen wollen als ich von ihnen. Ein bisschen liegt das in ihrem Verdacht begründet, meine Generation sei unpolitisch und somit nicht sehr interessant. Während sie sich ihr Leben lang politisch einmischten, mitmischten.
Beim Verfassen der Anmerkungen für dieses Buch bemerkte ich, wie viele Bekannte, Freunde oder Kollegen meiner Großeltern unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, entweder im KZ, im Exil oder im Widerstand gewesen waren und wie viele von ihnen danach in der DDR wieder in große Konflikte gerieten. Diese Kämpfe der Vergangenheit, wie sich Schriftstellerkollegen, Freunde, enge Vertraute gegenseitig anfeindeten, aus ideologischen Gründen, sind für mich Nachkommende in ihrer Radikalität und Existentialität kaum noch zu begreifen.
»Du warst unser erstes Enkelkind, ich ging mit Dir in Kleinmachnow spazieren, Du hattest eine Schaukelmanie, hängtest Dich an jede Stange: Laukeln, Laukeln!«, schrieb meine Großmutter 1988 auf die ersten Seiten von Kindheitsmuster über die frühen siebziger Jahre. Im Prinzip nehmen diese kleinen Textstücke unser späteres Projekt vorweg. Es sind Versuche, Erfahrungen für die nächste Generation zu bewahren. Erinnerungsfetzen.
Ich sehe meine Großeltern in Neu-Meteln in ihrem Mecklenburger Sommerhaus, das sie ausgebaut haben. Ich bin vielleicht drei, vier Jahre alt, trage rote Gummistiefel und fürchte mich vor den vielen Schmetterlingen im Hof. Meine Oma schreibt auf einem Podest unter dem Dach, von ihrem Tisch blickt sie auf die Obstbäume im Garten, ein idealer Arbeitsplatz. Mein Opa sitzt ein Stockwerk darunter neben dem Kamin und tippt auf seiner Schreibmaschine. Abends kommen Freunde zu Besuch, wir essen an langen Tafeln. Unbeschwerte, heiße Sommer. Scheinbar. 1983 brannte das Haus in Neu-Meteln ab.
Ich erinnere mich, wie ich ihnen einmal mit zehn ein etwas pathetisches Gedicht schenkte mit dem Titel »Wozu lebt man«, das nur aus Fragen bestand. Meine Großeltern zeigten sich begeistert. Es war das erste Mal, dass ich die bestärkende Kraft des Geschriebenen spürte.
Als Teenager besuchte ich in den achtziger Jahren oft mit Freunden ihre Wohnung in der Berliner Friedrichstraße. Meine Eltern besaßen einen Schlüssel. Meist waren meine Großeltern nicht da, aber sie hatten einen Videorekorder und das berühmte Schubfach in einer Kommode, gefüllt mit Schokolade. Sie waren stets sehr beschäftigt, keine Großeltern, die auf ihre Enkel mit Pudding und Kuchen warteten, obwohl besonders mein Großvater bis heute ein grandioser Gastgeber ist.
Unvergessliche Momente: der Blick meines Großvaters, als er entdeckte, dass eine meiner Freundinnen in Michael-Jackson-Bettwäsche schlief. Die erste gemeinsame Westreise mit meinen Großeltern 1990 nach Brüssel und Amsterdam. Der Sommer 2001, in dem ich bei ihnen im neuen Sommerhaus Woserin mein erstes Buch schrieb über einen Freund, der sich das Leben genommen hatte. Ihre goldene Hochzeit, zu der sie sich von mir eine Eismaschine zur Herstellung von »Eisschnee« wünschten, um ihren Lieblingscocktail Margarita zu vervollkommnen. Die vielen Tabletten auf dem Frühstückstisch meiner Großmutter und das zunehmend besorgte Nachfragen meines Großvaters nach ihrem Befinden. Meine Tochter Nora, ihr erstes Urenkelkind, bei ihnen im Pankower Wohnzimmer, meine Großmutter singt: »Wie das Fähnchen auf dem Turme«. Die diamantene Hochzeit im Sommer 2011, die unanfechtbare Beziehung meiner Großeltern, noch einmal versammelt sich die Familie in Woserin. Jeder erzählt eine Geschichte über sie.
Im Herbst 2011 besuche ich meine Oma im Krankenhaus, als es ihr schon sehr schlecht geht. Es ist ein schöner, warmer Tag. Sie liegt im Bett, zur Unselbständigkeit gezwungen, und hält das Zeit-Magazin mit einem Artikel von mir über Los Angeles in der Hand. In dieser Stadt hat sie in den Jahren 1992 / 93 einmal gelebt, und ich wohnte dort mit meiner Familie 2010 / 2011. Meine Großmutter fragt nach, hat Formulierungen unterstrichen, die ihr gefallen. Wir nehmen uns vor, einmal ausführlicher über die USA, über Los Angeles zu reden, ein letztes Gespräch. Dazu kommt es nicht mehr.
Am Ende meines Besuches sagt sie, die Familie wünsche, dass sie sich bemühe weiterzuleben, sie wisse aber nicht, ob sie noch könne. Darauf kann ich nichts erwidern. Natürlich möchte ich, dass sie versucht weiterzuleben, aber ich möchte auch nicht, dass sie sich weiter quälen muss in einer Existenz, die ihr nicht mehr entspricht. Meine Oma lächelt mich an. Gern hätte ich sie gefragt, was ihr durch den Kopf geht, denkt sie an den Tod? Und wenn ja, was? Hat sie Angst? Ich traue mich nicht, diese letzten Fragen zu stellen. Ich mag ihr nicht zu nahetreten. Das Thema Tod spielt in all unseren Gesprächen kaum eine Rolle.
Am 1.Dezember 2011 stirbt meine Großmutter. Kurz darauf stehe ich vor meinem Regal, dort im obersten Fach liegen die Werke meiner Großeltern. Seit 1988 sind einige Bände hinzugekommen. Ich sehe mir die Bücher an und lese noch einmal die kleinen Texte von meiner Oma darin, um mich auf die Trauerrede vorzubereiten. Zu ihrer Beerdigung hat mein Großvater eines der Lieblingsgedichte meiner Großmutter von Paul Fleming ausgesucht: »Sei dennoch unverzagt«. Dieses Buch trägt diesen Titel. Ich finde, er passt zu meinen Großeltern, und er trägt auch als Gedanke für ihre Enkel - trotz Schwierigkeiten und Widerständen weiterzumachen, nicht aufzugeben.
Zu Weihnachten 1988 schrieb mir meine Großmutter bedauernd in ihren Essayband Die Dimension des Autors: »So gebe ich mich widerwillig mit dem Gedanken zufrieden, wie vieles zu seiner Zeit Wichtige in jedem Leben auf Nimmerwiedersehen verlorengeht ...« Etwas davon bleibt nun erhalten.
Berlin-Pankow, 22.August 1998
Das erste Mal treffen wir uns in der Wohnung meiner Großeltern im Nordosten Berlins. Es ist früher Nachmittag, die Sonne scheint, die hohen Bäume des Amalienparks tauchen die Zimmer in schummriges Licht, werfen Schatten auf die Pflanzen, die Gemälde an der Wand und die Bücherregale, die bis zur Decke reichen. Wir sitzen im Wintergarten, es gibt Kuchen, Kaffee und Tee. Alle paar Minuten hören wir das laute Dröhnen der Flugzeuge im Landeanflug auf Tegel. Meine Großmutter hat auf einem Korbstuhl Platz genommen, sie trägt eine Seidenbluse, ihre schwarzen Haare reichen bis zum Kinn, neben ihr wartet mein Großvater; die Brille auf seine Nasenspitze gerückt, betrachtet er mich über die Gläser hinweg. Meine Großeltern sind fast siebzig, ich bin 25. Gerade habe ich begonnen, als Journalistin zu arbeiten. Das Aufnahmegerät liegt vor mir, eines, das mit Kassetten funktioniert. Meine Großeltern schauen mich erwartungsvoll an, sie wissen nicht genau, was ich vorhabe. Ich hatte angekündigt, dass ich mit ihnen über ihr Leben sprechen will.
JS Ich weiß gar nicht viel über euch, über eure Vergangenheit.
CW Dann lies einfach Kindheitsmuster!
Copyright © Ullstein Verlag
Auf den ersten Seiten von Der geteilte Himmel schrieb sie: »Ich war zwischen dreißig und vierunddreißig Jahre alt, in vielem naiver, als selbst ihr sechzehnjährigen es heute seid ...« Dieser Satz wird sich wie ein Motiv in verschiedenen Variationen durch unsere Gespräche ziehen, die wir viele Jahre später führen.
Ein Jahrzehnt nach jenem Weihnachten, 1998, fing ich an, mich mit meinen Großeltern zu treffen, um mich mit ihnen über ihr Leben zu unterhalten. Die DDR existierte nicht mehr - das Land, mit dem meine Großeltern eng verbunden waren und das ich nur noch bei seinem Zusammenbruch beobachtet hatte.
Im Jahr 1998 war ich 25 Jahre alt, meine Großeltern waren fast siebzig. Ich hatte das Gefühl, zu wenig von ihnen zu wissen, die Zeit nach dem Mauerfall erschien mir wie eine atemlose Abfolge von Monaten und Tagen, ein Dasein im Rausch. Ich war gereist, hatte studiert und gerade angefangen, als Reporterin beim Berliner Tagesspiegel zu arbeiten. In jener Zeit telefonierte ich oft mit meinen Großeltern, meist mit meiner Großmutter, da mein Großvater eine Abneigung gegen längere Telefongespräche hegt. Wir hielten uns auf dem Laufenden, über das Gegenwärtige. Was meine Großeltern tatsächlich bewegte, was ihr Leben ausmachte, über ihre Kämpfe der Vergangenheit erfuhr ich wenig. Damals dachte ich, wenn ich einmal Kinder hätte, wüsste ich gern mehr über meine Herkunft, über unsere Familie, über die Konflikte. Über zehn Jahre hinweg trafen wir uns immer wieder, unterbrochen von langen Pausen. Als 2008 meine Tochter Nora geboren wurde, brachen die Gespräche ab. Im Juli 2012 redete ich noch einmal mit meinem Großvater allein.
Zu Beginn dachte ich nicht an eine Veröffentlichung, diese Idee entstand erst im Laufe der Jahre. Es war als privates Familienprojekt geplant. Später wurde mir bewusst, dass meine Fragen vermutlich Fragen sind, die viele Enkel an ihre Großeltern haben: Fragen an eine Generation, die den Krieg, die Flucht und zwei Diktaturen erlebt hat, an eine Generation, die es bald nicht mehr geben wird.
Meine Fragen sind nicht objektiv und können es nicht sein. Ich frage als Enkelin, nicht als Journalistin. Ich bereitete die Gespräche auch nicht besonders vor, las zuvor keine Bücher, Artikel oder Interviews, aus denen ich schlau hätte zitieren können. Es sollte privat bleiben. Tatsächlich hatte ich nicht jeden Schritt meiner Großeltern genau verfolgt, hatte nicht jedes ihrer Bücher studiert, und wir waren nicht immer einer Meinung. Manche Themen streiften wir nur oberflächlich, manche gar nicht, andere besprachen wir ausführlicher und mehrmals. Gespräche sind selten vollkommen, aber sie können ein Bild geben, einen Eindruck vermitteln.
Über die Jahre entsteht aus meinen Fragen ein Dialog der Generationen - auch wenn es auffällt, dass meine Großeltern weniger von mir wissen wollen als ich von ihnen. Ein bisschen liegt das in ihrem Verdacht begründet, meine Generation sei unpolitisch und somit nicht sehr interessant. Während sie sich ihr Leben lang politisch einmischten, mitmischten.
Beim Verfassen der Anmerkungen für dieses Buch bemerkte ich, wie viele Bekannte, Freunde oder Kollegen meiner Großeltern unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, entweder im KZ, im Exil oder im Widerstand gewesen waren und wie viele von ihnen danach in der DDR wieder in große Konflikte gerieten. Diese Kämpfe der Vergangenheit, wie sich Schriftstellerkollegen, Freunde, enge Vertraute gegenseitig anfeindeten, aus ideologischen Gründen, sind für mich Nachkommende in ihrer Radikalität und Existentialität kaum noch zu begreifen.
»Du warst unser erstes Enkelkind, ich ging mit Dir in Kleinmachnow spazieren, Du hattest eine Schaukelmanie, hängtest Dich an jede Stange: Laukeln, Laukeln!«, schrieb meine Großmutter 1988 auf die ersten Seiten von Kindheitsmuster über die frühen siebziger Jahre. Im Prinzip nehmen diese kleinen Textstücke unser späteres Projekt vorweg. Es sind Versuche, Erfahrungen für die nächste Generation zu bewahren. Erinnerungsfetzen.
Ich sehe meine Großeltern in Neu-Meteln in ihrem Mecklenburger Sommerhaus, das sie ausgebaut haben. Ich bin vielleicht drei, vier Jahre alt, trage rote Gummistiefel und fürchte mich vor den vielen Schmetterlingen im Hof. Meine Oma schreibt auf einem Podest unter dem Dach, von ihrem Tisch blickt sie auf die Obstbäume im Garten, ein idealer Arbeitsplatz. Mein Opa sitzt ein Stockwerk darunter neben dem Kamin und tippt auf seiner Schreibmaschine. Abends kommen Freunde zu Besuch, wir essen an langen Tafeln. Unbeschwerte, heiße Sommer. Scheinbar. 1983 brannte das Haus in Neu-Meteln ab.
Ich erinnere mich, wie ich ihnen einmal mit zehn ein etwas pathetisches Gedicht schenkte mit dem Titel »Wozu lebt man«, das nur aus Fragen bestand. Meine Großeltern zeigten sich begeistert. Es war das erste Mal, dass ich die bestärkende Kraft des Geschriebenen spürte.
Als Teenager besuchte ich in den achtziger Jahren oft mit Freunden ihre Wohnung in der Berliner Friedrichstraße. Meine Eltern besaßen einen Schlüssel. Meist waren meine Großeltern nicht da, aber sie hatten einen Videorekorder und das berühmte Schubfach in einer Kommode, gefüllt mit Schokolade. Sie waren stets sehr beschäftigt, keine Großeltern, die auf ihre Enkel mit Pudding und Kuchen warteten, obwohl besonders mein Großvater bis heute ein grandioser Gastgeber ist.
Unvergessliche Momente: der Blick meines Großvaters, als er entdeckte, dass eine meiner Freundinnen in Michael-Jackson-Bettwäsche schlief. Die erste gemeinsame Westreise mit meinen Großeltern 1990 nach Brüssel und Amsterdam. Der Sommer 2001, in dem ich bei ihnen im neuen Sommerhaus Woserin mein erstes Buch schrieb über einen Freund, der sich das Leben genommen hatte. Ihre goldene Hochzeit, zu der sie sich von mir eine Eismaschine zur Herstellung von »Eisschnee« wünschten, um ihren Lieblingscocktail Margarita zu vervollkommnen. Die vielen Tabletten auf dem Frühstückstisch meiner Großmutter und das zunehmend besorgte Nachfragen meines Großvaters nach ihrem Befinden. Meine Tochter Nora, ihr erstes Urenkelkind, bei ihnen im Pankower Wohnzimmer, meine Großmutter singt: »Wie das Fähnchen auf dem Turme«. Die diamantene Hochzeit im Sommer 2011, die unanfechtbare Beziehung meiner Großeltern, noch einmal versammelt sich die Familie in Woserin. Jeder erzählt eine Geschichte über sie.
Im Herbst 2011 besuche ich meine Oma im Krankenhaus, als es ihr schon sehr schlecht geht. Es ist ein schöner, warmer Tag. Sie liegt im Bett, zur Unselbständigkeit gezwungen, und hält das Zeit-Magazin mit einem Artikel von mir über Los Angeles in der Hand. In dieser Stadt hat sie in den Jahren 1992 / 93 einmal gelebt, und ich wohnte dort mit meiner Familie 2010 / 2011. Meine Großmutter fragt nach, hat Formulierungen unterstrichen, die ihr gefallen. Wir nehmen uns vor, einmal ausführlicher über die USA, über Los Angeles zu reden, ein letztes Gespräch. Dazu kommt es nicht mehr.
Am Ende meines Besuches sagt sie, die Familie wünsche, dass sie sich bemühe weiterzuleben, sie wisse aber nicht, ob sie noch könne. Darauf kann ich nichts erwidern. Natürlich möchte ich, dass sie versucht weiterzuleben, aber ich möchte auch nicht, dass sie sich weiter quälen muss in einer Existenz, die ihr nicht mehr entspricht. Meine Oma lächelt mich an. Gern hätte ich sie gefragt, was ihr durch den Kopf geht, denkt sie an den Tod? Und wenn ja, was? Hat sie Angst? Ich traue mich nicht, diese letzten Fragen zu stellen. Ich mag ihr nicht zu nahetreten. Das Thema Tod spielt in all unseren Gesprächen kaum eine Rolle.
Am 1.Dezember 2011 stirbt meine Großmutter. Kurz darauf stehe ich vor meinem Regal, dort im obersten Fach liegen die Werke meiner Großeltern. Seit 1988 sind einige Bände hinzugekommen. Ich sehe mir die Bücher an und lese noch einmal die kleinen Texte von meiner Oma darin, um mich auf die Trauerrede vorzubereiten. Zu ihrer Beerdigung hat mein Großvater eines der Lieblingsgedichte meiner Großmutter von Paul Fleming ausgesucht: »Sei dennoch unverzagt«. Dieses Buch trägt diesen Titel. Ich finde, er passt zu meinen Großeltern, und er trägt auch als Gedanke für ihre Enkel - trotz Schwierigkeiten und Widerständen weiterzumachen, nicht aufzugeben.
Zu Weihnachten 1988 schrieb mir meine Großmutter bedauernd in ihren Essayband Die Dimension des Autors: »So gebe ich mich widerwillig mit dem Gedanken zufrieden, wie vieles zu seiner Zeit Wichtige in jedem Leben auf Nimmerwiedersehen verlorengeht ...« Etwas davon bleibt nun erhalten.
Berlin-Pankow, 22.August 1998
Das erste Mal treffen wir uns in der Wohnung meiner Großeltern im Nordosten Berlins. Es ist früher Nachmittag, die Sonne scheint, die hohen Bäume des Amalienparks tauchen die Zimmer in schummriges Licht, werfen Schatten auf die Pflanzen, die Gemälde an der Wand und die Bücherregale, die bis zur Decke reichen. Wir sitzen im Wintergarten, es gibt Kuchen, Kaffee und Tee. Alle paar Minuten hören wir das laute Dröhnen der Flugzeuge im Landeanflug auf Tegel. Meine Großmutter hat auf einem Korbstuhl Platz genommen, sie trägt eine Seidenbluse, ihre schwarzen Haare reichen bis zum Kinn, neben ihr wartet mein Großvater; die Brille auf seine Nasenspitze gerückt, betrachtet er mich über die Gläser hinweg. Meine Großeltern sind fast siebzig, ich bin 25. Gerade habe ich begonnen, als Journalistin zu arbeiten. Das Aufnahmegerät liegt vor mir, eines, das mit Kassetten funktioniert. Meine Großeltern schauen mich erwartungsvoll an, sie wissen nicht genau, was ich vorhabe. Ich hatte angekündigt, dass ich mit ihnen über ihr Leben sprechen will.
JS Ich weiß gar nicht viel über euch, über eure Vergangenheit.
CW Dann lies einfach Kindheitsmuster!
Copyright © Ullstein Verlag
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Autoren-Porträt von Jana Simon
Jana Simon, geb. 1972, studierte Politologie und Publizistik in Berlin und London. Seit 1998 ist sie als Reporterin beim Tagesspiegel in Berlin tätig. Ausserdem schreibt sie Beiträge u.a. für Geo und Die Zeit. 2001 erhielt sie für ihre Reportagen den Axel-Springer- und den Theodor-Wolff-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jana Simon
- 2013, 288 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550080409
- ISBN-13: 9783550080401
- Erscheinungsdatum: 01.10.2013
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