Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche
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Franz Schuhs Aufzeichnungen sind euphorisch-melancholische Grenzgänge, die das Durcheinander der Welt nicht beseitigen, sondern ihm auf einzigartige Weise Glanz verleihen.
Franz Schuhs Aufzeichnungen sind euphorisch-melancholische Grenzgänge, die das Durcheinander der Welt nicht beseitigen, sondern ihm auf einzigartige Weise Glanz verleihen.
SchwereVorwürfe, schmutzige Wäsche von Franz Schuh
LESEPROBE
Das Beisl im Eck. Als ich damals den berühmten französischen Philosophenund Psychoanalytiker Jacques Lacan durch Wien führte (ichzeigte ihm alle wichtigen Freud-Gedenkstätten, einschliesslich des Wohnhausesvon Leupold-Löwenthal und etwas vom Rest, den es darüberhinaus in Wien noch zu sehen gibt), da ereignete sich Seltsames mit demberühmten Mann aus Frankreich. Kurz vor seinem Abflug - Kapitäne exotischerLinien, heimisches Bodenpersonal, Passagiere aus aller Herren Länder eilten anuns vorüber - nahmen wir im Flughafenrestaurant einen heissen Tee. Der Beutel schwabbelteübel in der braunen Brühe. War ein Teebeutel das Motiv der Inspiration?Jedenfalls schnellte der Analytiker plötzlich hoch und rief, wie vom Schicksalgebeutelt oder vom Schlag getroffen: »Le Beisl n'existepas!« Ich war peinlichberührt, wie ich es immer bin, wenn jemand aus sich herausgeht. Ich achtedarauf, dass die Menschen bei sich bleiben und michvor ihrem wahren Wesen, vor ihren Einfällen und Eruptionen beschützen. Aberwenn ein geistiger Mensch, ein Psychiater, sich so weit vergisst,dass er einen Satz unvermutet herausbrüllt, dann istes unmöglich, diesem Satz gegenüber Widerstand zu leisten. Er blieb mir imGedächtnis, und noch im Flughafenschallplattengeschäft erstand ich eineKassette, auf der Peter Alexander sang: »Das kleine Beisl in unserer Strasse«,ein Chanson, das es auch in gesamtdeutscher Sprache gibt: »Die kleine Kneipe inunserer Strasse«. Die Kassette schickte ich gleich vom Flughafenpostamt anJacques Lacan, und ich gebe zu, dassich damit dem grossen Mann, wie man bei uns sagt, »einsauswischen« wollte. Ich stellte mir Lacan, dem wirimmerhin eine neue Grundlegung der Psychoanalyse zu verdanken haben, vor, wieer in seinem Pariser Domizil diese zutiefst deutsch-österreichischen Klänge einesPeter Alexander auf sich einwirken liess. Das konnte ihm, auch wenn ihm dieschreckliche Rhetorik des Unbewussten kein Geheimnismehr bot, nicht gut tun. Diese ungesund triefenden Töne, dieses schmierige Schmalz,mit dem sich Peter der Grosse, wie er hier genannt wird, die Butter aufs Brotverdient, musste sogar einen Lacanentsetzen. Aber ich hatte gleichsam die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Lacans Antwort erfolgte postwendend. An einem dieserstrahlenden Morgen, an denen die Sonne den Flur meines Gemeindebausparadiesisch erhellt, zog ich aus meinem Postkasten eine Pariser Ansichtskarte.Darauf war der Eiffelturm in voller, glänzender Banalität zu erkennen, auchwenn ihn der Absender mit zwei einander überkreuzenden Filzstiftstrichen unsichtbarmachen wollte. Am Textteil der Karte stand in der mir gut bekannten Schrift:»Le Beisl n'existe pas.Jacques Lacan.« Also sollte ich selber darauf kommen,der Mann gab den Schwarzen Peter an mich weiter. Es ist aber unerträglich, wennjemand, den man für überlegen hält, sich weigert, Aufschlusszu geben. Ich gestehe, darunter hat mein gutes Verhältnis zu dem mittlerweileschon Seligen sehr gelitten. Es kam zum Bruch. Nur schwer kann ich heute ohneVerachtung Sätze wie »Je pense oùje ne suis pas, donc je suis oùje ne pense pas« lesen,obwohl es mir, und das ist doch merkwürdig, tatsächlich so geht: »Ich denke da,wo ich nicht bin, also bin ich da, wo ich nicht denke.« Mein Vater war Ringer,das heisst, er ging am Sonntag immer ringen, und zwar ins Gasthaus Maderl. Mein Vater hielt mich an der Hand, stellte sich an dieTheke, trank ein wenig vom Seidel, während Maderl,der Wirt, bereits unruhig wurde; er wusste ja vonvielen Sonntagen her, was kommen musste. Da ich nochklein war, hatte ich nicht den Überblick, aber wenn mein Vater meine Handlosliess, war es wieder soweit. Gleich rang er irgendeinen Gast nieder, derfrech geworden war.
»Soll ich mir ein altes Gwand anziehen«, hattezum Beispiel einer einmal gesagt, nachdem ihn mein Vater eindringlich gemustert,also auf seine Eignung für den Kampf geprüft hatte. Der Mann hatte danach immernoch sein neues Gewand an, das aber so gut war wie ein altes, wie ein sehraltes, in Fetzen hängendes. »Soll ich mir ein altes Gewand anziehen«, bedeutetnämlich, dass einer sich erst umziehen muss, bevor er einen anderen anrührt und sich an ihm dreckigmacht. So dialektisch formulierte man damals, als ich noch klein war. Ich binim Beisl aufgewachsen. Allmählich, mit den Jahren, wuchs ich dort zur nötigenGrösse heran, um alles zu durchschauen: den abgetretenen, ölig schwarzenFussboden, die dunkelgelben Tische, die verchromten Wasserhähne, den grossen Kastenhinter dem Rücken des Wirtes. In solchen Kästen, stelle ich mir vor, lagenfrüher vom Eismann gebrachte Eisstücke, die die besten Waren des Hauses kühlhielten. Die Weinflaschen hatte der Wirt ins Wasser gestellt, und mit derunnachahmlichen Eleganz einer zur Gewohnheit gewordenen Pflicht schenkte eraus: Er fasste dabei die schweren Flaschen am Hals undschwenkte sie mit einem gemessenen Ruck zu dem wartenden Glas hin. In der Luftlag vor Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche | Franz Schuh allem ein matterBiergeruch, vermischt mit dem Dunst servierter Speisen. Das setzt sich gut inden Kleidern fest. Ich höre noch genau dieses leicht in Kreischen ausartendeGemurmel der Angetrunkenen, das Schnalzen triumphierend ausgespielter Kartenund ein immer wiederkehrendes »Wos-liegt-des-pickt«-Rufen.Seit Lacans Ausspruch habe ich viele Monate in Beislnverbracht, forschend, ob sie nun existieren oder nicht. Ich finde schwer eineAntwort. Oft muss ich an den unglücklichsten Wirtdenken, den ich jemals sah: Er war ein kleiner Mann mit einem grossen Kopf, derihm wie von fremden Mächten aufgesetzt schien. Wenn er an den Tisch trat, umeine Bestellung aufzunehmen, trug er steif seinen Kopf auf den hängendsten Schultern der Welt. Bevor er Wirt wurde, war erComputertechniker gewesen, perfekt in der Hard- und in der Software. Über alldie Jahre sah er aber als Wirt kaum Kundschaft; es war ungerecht, denn erführte beste Speisen, mundende Weine und Schnäpse. Manchmal blieb derBriefträger, der ihm Rechnungen und Mahnungen gebracht hatte, auf ein Stehachterl, und manchmal kamen, in alphabetischerReihenfolge angeführt, die beiden Autoren Gustav Ernst und Karin Fleischanderl. Mir kochte die Frau des Wirts, die Köchin,sogar am Ruhetag auf: Als ich klopfte, öffnete er, liess mich herein und sagtedialektisch: »Is eh Wurscht;es kommt ja auch sonst keiner.« Das bedeutet, er hatteeigentlich immer Ruhetag und konnte daher ruhig an seinem Ruhetag aufmachen.Gustav Ernst stellte einmal fest: »Das ist ja kein Beisl, es ist ein Wohnzimmermit Wirt.« Heute ist es überhaupt nicht mehr, dasBeisl ist zugrunde gegangen; an seiner Stelle hat man ein gut besuchtes China-Restauranterrichtet. Was es noch gibt, ist das andere Extrem: das überbordende Beisl.Knapp nach elf dringen dort die Massen ein.
Es ist eine Springflut aus Gästen. Immer neue kommen und besetzen diePlätze der Gesättigten. Aber Platz ist keiner, es ist gesteckt voll. DieKellner bahnen sich ihren Weg mit Ellenbogentechnik, sie praktizieren eine, inGrossbritannien wegen ihrer Brutalität ausdrücklich verbotene Form von Rugby:Gepunktet wird, wenn es gelingt, ein paar Teller und Gläser den eingezwängtenGästen vorzuwerfen. Wer am Tisch nach einer Semmel greift, stösst das Glas deseinen Nachbarn um und fasst in den Zwiebelrostbratendes anderen. Das wichtigste Hilfsmittel ist daher die Serviette; alle sind inder kürzesten Zeit bekleckert. Die Kellner rufen die Bestellungen SchwereVorwürfe, schmutzige Wäsche | Franz Schuh dem Schankburschen in Abkürzungen zu,es herrscht die Stimmung einer Börse: »Ein Bier klein/klein Braun/gross Weiss/ Manner Schnitten.« Wer zu spät kommt,den bestraft die Küche: Kältliches Zeug schwimmt dannauf gelblichem Saft. Dafür wird Bier immer zu schnell gezapft: »Schnellgezapft, ist halb gesoffen«, denkt der fixe Bursche hinter der Schank undmustert zufrieden die dünne Schaumsuppe an der Oberfläche des Krügels. Gästestürzen vorbei, Gäste fallen herein. Der Wein ist echt vom Hauer, aber zufälligbesitzt der Hauer eine kleine chemische Fabrik, die sein Sohn führt. Alles muss schnell gehen, die Gäste haben schliesslich auch keineZeit.
Sie eilen zur Arbeit oder zu dem, was sie für ihr Vergnügen halten. WerZeit hat, der kann hinter den Kellnerrufen, hinter dem Klirren der Teller undBestecke ein sich näherndes Donnergrollen, ein Aufstossen der Scheisser und dannplötzlich die Explosionen einer kollektiven Verdauung heraushören. Lacan hat also recht. Zwischen dengeschilderten Extremen reibt sich das Beisl auf. Aber was macht es, was gehtdadurch schon verloren? Im Wort Beisl steckt das hebräische Wort für Haus, unddie Sehnsucht nach dem Beisl ist die Sehnsucht nach garantierter Häuslichkeit.Im wahren Beisl verschwimmt die Grenze zwischen Gast und Familienmitglied, man siehtes heute noch jenen Gästen an, die sich wie zu Hause gehen lassen wollen. Dermoderne Trinker ist jedoch unbehaust, und hinter dem Wirt sind dieSteuerbehörden her. Die Sehnsucht, wenigstens im Beisl daheim zu sein, stösstauf diese nüchternen Tatsachen, die der grosse Peter Alexander wie im Rauschverklärt: »Wer Hunger hat, der bestellt Würstchen mit Kraut, weil es andereSpeisen nicht gibt, die Rechnung, die steht auf dem Bierdeckel drauf, doch beimWirt hier hat jeder Kredit.« Das klassische Wiener Beisl war eine proletarischeVariante des Clubs, eine Geborgenheit für Leute, die leicht auf der Strassesitzen. Die kleine Kneipe in unserer Strasse? Aber »uns« gehört doch die Strassenicht. Der öffentliche Charakter des Beisls, in dem Leute sich miteinanderverständigen, ist ebenfalls dahin, denn im Stammtischgequatsche ist dasFernsehen massgeblich. Aber überhaupt ist diese Sehnsucht nach dem guten Essenund Trinken, nach der sogenannten Gemütlichkeit unddiesem ewigen Daheimsein, widerwärtig. »Die Postkarten dort an der Wand in derEcke, das Foto vom Fussballverein, das Stimmengewirr, die Musik aus der Jukebox, all das ist ein Stückchen daheim.«Es gibt kein richtiges Leben im Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche | FranzSchuh falschen, sagt Adorno. Das ist zum Glück ein so allgemeiner Satz, dass er keinen Ausweg lässt, nichteinmal den in die Askese. Daher kann man umgekehrt sagen: »Auch das schlechteLeben ist kein gutes«, und sich fragen, warum dann nicht gleich gut leben? Ach,auf der Welt gibt es ja überhaupt kein richtiges Leben. Das Falsche, die Fälschungensind unserer allerrichtigsten Vitalität eingeboren. Dennochist die Suche nach den Orten, wo man am besten lebt, am besten isst und trinkt, heutzutage so schäbig und unwahr wie dasalte Lied: »Die kleine Kneipe in unserer Strasse, da, wo das Leben noch lebenswertist, dort in der Kneipe in unserer Strasse, da fragt dich keiner, was du hastoder bist.« »Arschloch!« sagte der Hausmeister, demich, weil er ein kämpferischer Anhänger Lacans ist,diesen Text über das Beisl vorgelegt hatte. »Für so etwas leg' ich doch meinen Besennicht weg«, und er lief hinaus aus meiner Wohnung, in den Hof hinunter, wo ermit zärtlichen Strichen die von den Bäumen gefallenen, herbstlich-goldenenBlätter auf seine Schaufel kehrte. Er sprach nicht mehr mit mir, nie wieder,und ich musste aus dem im Haus kursierenden Tratschrekonstruieren, was sich hinter »Arschloch« verbarg. Nein, keine Eifersucht aufmeine persönliche Nähe zu Lacan - der Hausmeisterhätte so eine Nähe für sich ja leicht herstellen können, denn er kannte Gerald Fürstfeld sehr gut, der der erste Österreicher war, derjemals in die Nähe von Lacan kam.
Fürstfeld hatte einige Schriften desgrossen Franzosen nicht nur übersetzt, sondern er führte auch eine Ordination,in der er Patienten ganz im Lacanschen Sinne, alsowortgetreu, heilte. Ich sah Fürstfeld, wenn er ausParis gekommen war, manchmal in einem Wiener Beisl, das für die Intelligenzseiner Besucher notorisch war. Fürstfeld betrank sichdort auf eine so rohe und physisch peinliche Art, wie ihm das in Paris, einerStadt mit Stil, niemals möglich gewesen wäre. »Ich brauche Wien für meinen Primitivismus«, soll er gesagt haben. Das Trinken erlaubtees ihm, so denke ich, die Knoten aus Sprache und Seele, die er beruflich zuknüpfen (und zu entflechten, wenn nicht zu zerschlagen) hatte, mit Flüssigkeitzu überschwemmen, damit sie endlich auf den Grund, also untergingen. Als jungerMann hatte Fürstfeld mit dem Hausmeister in derHausmeisterwohnung bis zum Morgengrauen schwerwiegende Fragen erörtert. Siehatten einander in einem Beisl kennengelernt. DieBeisln waren damals, und vielleicht sind sie's heute noch, die wirklichenUniversitäten der Stadt Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche | Franz Schuh -hätte es im Beisl nicht weniger Scharlatane gegeben als in der Alma MaterRudolfina, dann hätte man die beiden Institutionen glatt miteinanderverwechseln können. In den Beisln sassen die Leute, denen was Neues einfiel unddie nach Paris oder London gingen, manche, um niemals wiederzukehren. Diemeisten sind auch in Paris und London (oder gar in New York), wie man sagt,»gar nichts geworden«. Aus Wien (oft auch aus Graz) hatten sie mit sich selbst dieKunst des Sich-selbst-im-Wege-Stehens exportiert,aber weil sie die so gut beherrschten, fanden sie wenigstens den Weg zurücknicht. Ich habe immer die Rückkehrer verachtet, weil ich sie zuerst um ihrenAufbruchsgeist beneiden und dann erkennen musste, dass mein Neidaufwand umsonst war. Der Hausmeister hattesein Studium im Beisl absolviert, Fürstfeld hatte ihnin der Hausmeisterwohnung spät nachts promoviert, und der frisch Promoviertehatte zuvor und danach nichts anderes als einen Hausmeisterposten im Sinn. Erfüllte seinen Beruf von ganzem Herzen aus, nicht zuletzt, weil er ihm die Möglichkeitgab, sich für Studien in die Hausmeisterwohnung zurückzuziehen. So wurde ergescheiter und gescheiter, ohne dass er es jemalsbeweisen musste, jedenfalls nicht nach den dafür inder Gesellschaft zuständigen Regeln: keine öffentlichen Streitereien und keinegut abgestimmten Lobgesänge, keine Intrigen, nichts von dem, was man so leichtverachten kann, auch weil es ins Auge sticht, wie verächtlich es ist. So bliebder Hausmeister konkurrenzlos. »Ich publiziere nicht«, sagte er, »wie Sokrates.« Es gelang ihm, das Resignativeseiner Arroganz nicht zu bemerken. Aber gescheit war er, und ich rekonstruierteaus dem Tratsch im Haus, was er mit »Arschloch« eigentlich sagen wollte; esging also gar nicht um Lacan, sondern um dendeutschen Schlager. Im Flur hatte der Hausmeister diejenigen, die es in seinenAugen verdienten, darüber belehrt, dass die Menschen imganzen Land vor allem von der deutschen Unterhaltungsmusik nichts begriffen.»Nehmen Sie nur«, soll er gesagt haben, » Die kleine Kneipe in unserer Strasse .« Zu einem Schlager wie diesem bekenne sich hierzulandekeiner, und wenn, dann nur aus der dummen Begründung: »Das ist so doof, dass es fast schon wieder gut ist.«Im Flur sprach sich der Hausmeister, so hat man es mir erzählt, für »dieBreitenwirkung« aus, gegen jede abwegige »Tüftelei«, und er fügte ihr, derTüftelei, um sie einzugrenzen, hinzu, »die kaum einer versteht«. Er schrie, sohabe ich Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche | Franz Schuh es erfahren, denSeinen ins Gesicht: »Auch die weniger anspruchsvollen Geschmacksempfindungen«,schrie er, »die oft schon mit Rührseligkeiten zufriedenzustellensind, wollen berücksichtigt sein!« Daraufhin hätte erein glänzendes Plädoyer für den »Ohrwurm« gehalten. Keine Geringeren als dieGrössten der Musik hätten stets bestätigt, dass die»einfach-eingängigen Melodien mit Breitenwirkung«, die Ohrwürmer eben, dieweitaus grösseren Herausforderungen wären als irgendein ausgetüfteltesMusikstück. Und dann soll der Hausmeister so eindrucksvolle Sätze gesprochen haben,dass mein Informant sie nicht vergessen konnte: »Wernie sein Brot mit Tränen ass«, soll der Hausmeister im Flur gesagt haben, »werniemals einsam auf seinem Hotelbett sass, der wird vielleicht auch niebegreifen, dass Melodien wie Die kleine Kneipe , GriechischerWein , Du kannst nicht immer 17 sein tatsächlich etwas Tröstendes, ja geradezuHumanes haben.« Ja, so ist es: Der Mensch, einen guten deutschen Schlager imOhr (im schlimmsten Fall schon auf den Lippen), sucht, um sich zu trösten, dasHumane. Auf dem Weg dorthin liegt zum Glück das Beisl. Die Dame mit dem Tablett.Ein Schauspieler des Burgtheaters hält eine Lesung in der Provinz. »Wir sind sofroh, und es ist so selten, dass wir einen Mann vonIhrer Bedeutung hier haben.« Der Schauspieler muss sich das anhören, und sein Antlitz spiegelt virtuosironischen Widerwillen. Die Leute im Saal lachen ihren Stellvertreter, denEinleiter und Vorsteller, nicht unfreundlich aus; sie sind nur ganz auf derSeite des Schauspielers und begrüssen auch dessen ironischen Widerwillen. Der Schauspielerkonzentriert sich. Seine Konzentration ist zugleich das Signal für dasPublikum, ruhig zu werden. Zu lesen ist ein sehr schwieriger Text, einekitschige Erzählung eines gar nicht erfolgreichen Autors, der aber glücklich indieser schönen Gegend wohnt. »Es wird immer ein merkwürdiges Erlebnis sein«,würde ein Snob mit Recht sagen, »wenn sich das Virtuosentum, die perfekte Kunst,das Burgtheater eines missglückten Versuches annimmt.« Der Schauspieler stimmt sich auf das Drama des Textesein, das Publikum ist schon hingerissen, aber da geht plötzlich die Tür des Saalsauf, und eine Dame der Veranstaltungsleitung bringt auf einem Tablett einegrosse Flasche Mineralwasser mit zwei Gläsern. Einige Sitzreihen sindgeschlossen, über ein paar Leute muss sie sogar drübersteigen. Der Schauspieler ist aus seiner KonzentrationSchwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche | Franz Schuh herausgerissen, und ermustert, noch ganz in das Drama des Textes versunken, die Dame mit dem Tablett.Sie hat ihn inzwischen erreicht und tut auf seinem Tisch herum, schiebt dasMikrophon weg, auch das Manuskript, und stellt Flasche und Gläser ab. Manspürt, wie sie sich im Brennpunkt der Aufmerksamkeit fühlt. »Es gibt absolutkeine Chance«, würde der Snob sagen, »ohne Peinlichkeit und bei atemloserStille eines Publikums einem Schauspieler Mineralwasser auf die Bühne zuservieren.« Dem Schauspieler sitzt der Schrecken imNacken; er wollte gerade das Beste aus dem Text herausholen und hatte sich zudiesem Zweck in den Text hineinversetzt. Das Publikum war mitgegangen - undjetzt diese Dame mit dem Tablett! Sie war wohl dazu erzogen, eher jedePeinlichkeit auf sich zu nehmen, als auch nur im geringstenvon ihrer Pflicht abzulassen. Schon kehrt sie dem Schauspieler den Rücken,macht sich peinlich berührt auf ihren Weg durch die Sitzreihen, während es ihmtatsächlich gelingt, die Situation zu retten. Er hätte gekränkt reagierenkönnen, es wäre nur verständlich gewesen, denn man stört die Meditation einesMenschen nicht. In der Meditation versammelt der Mensch seine besten Kräfte.
Der Burgschauspieler hätte hysterisch schrill sagen können, wie komme ichin diesem Drecksnest dazu, von einer Serviererin in meiner Kunst gestört zuwerden. Es hätte aber auch sein können, dass ihm dieKraft, sich umzustellen, verlorengegangen wäre: Eskostet nämlich sehr viel Kraft, aus einer Konzentration unverrichteter Dinge auszusteigen,das ist ein schrecklich schmerzhafter Leerlauf. Aber der Schauspieler hat sicheinfach vom Text weg in die Wirklichkeit zurückgerufen. Dort hat er mit seinerAlltagsstimme gesagt: »Na, hoffentlich bringt mir jetzt nicht auch noch einereine Jause.« Das Publikum lacht, und zwar, wie esrichtig heisst, »erlöst«. Das ist auch die Leistung des sogenanntenHumors, der einen dazu befähigt, die Blockierungen aufzuheben, um dem Wechselvon der einen zur anderen Situation ohne Lächerlichkeit entsprechen zu können.Der Schauspieler rückt das Mineralwasser weg, richtet das Mikrophon, blicktkonzentriert ins Manuskript, stellt einfach den früheren Zustand wieder her.Dann spricht er mit dem gesamten Glanz seiner dunklen Stimme von einem Mann,der an einem Flussufer steht, und von einer Frau, diespäter hinzukommt, und davon, was aus den beiden werden wird.
© Zsolnay Verlag
- Autor: Franz Schuh
- 2006, 411 Seiten, Masse: 13,7 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552053700
- ISBN-13: 9783552053700
- Erscheinungsdatum: 04.03.2006
Begründung der Jury zum Preis der Leipziger Buchmesse 2006
"Franz Schuh ist ein trefflicher und gewitzter Beobachter. ... Franz Schuh hat nämlich ein glänzendes Buch veröffentlicht. In ihm geben sich dialektische Intelligenz und ernüchterte Poesie, Witz und Sprachverstand ein Stelldichein. Das Ergebnis: reines Lesevergnügen auf einem Niveau, für das sich niemand zu genieren braucht. Stets fordert es uns, ohne - die Höflichkeit des Autors - uns je zu überfordern."
Ulrich Weinzierl, Die Welt, 11.03.06
"Seine versprengten Texte füllen Bände, strotzen vor skeptischer Intelligenz und Understatement, sind trotz allem branchenüblichen Sprachnebel der Kulturkritik von einer hintersinnigen Klarheit. ... Franz Schuh ein Prosaschriftsteller, ein Literat, eine Schreibkraft? Hier ist er ein Dichter, so unerbittlich wie der beste Ernst Jandl."
Franz Haas, Neue Zürcher Zeitung, 22.03.06
"...ein beeindruckendes Textkonvolut..."
Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.03.06
"Franz Schuhs (laut Vorwortschrift) Grenzgänge verbinden das Existenzielle und das Beiläufige auf eine genüssliche und nachdenkenswerte Art zu einem Hauptwerk."
Klaus Zeyringer, Der Standard, 04.03.06
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