Schandweib
Roman
Hamburg 1701.
Die Stadt ist entsetzt über einen schrecklichen Fund: Am Schweinemarkt hat man eine kopflose Frauenleiche entdeckt. Schnell scheint die Schuldige ausgemacht: Ilsabe Bunk, eine Frau in Männerkleidern. Der junge Advokat Hinrich...
Die Stadt ist entsetzt über einen schrecklichen Fund: Am Schweinemarkt hat man eine kopflose Frauenleiche entdeckt. Schnell scheint die Schuldige ausgemacht: Ilsabe Bunk, eine Frau in Männerkleidern. Der junge Advokat Hinrich...
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Produktinformationen zu „Schandweib “
Hamburg 1701.
Die Stadt ist entsetzt über einen schrecklichen Fund: Am Schweinemarkt hat man eine kopflose Frauenleiche entdeckt. Schnell scheint die Schuldige ausgemacht: Ilsabe Bunk, eine Frau in Männerkleidern. Der junge Advokat Hinrich Wrangel übernimmt ihre Pflichtverteidigung und gerät damit in einen gefährlichen Strudel aus Interessen und Intrigen.
"Claudia Weiss hat die historischen Gerichtsakten des Falls Ilsabe Bunk zu einem faszinierenden Justiz-Thriller verarbeitet."
Hamburger Morgenpost
Die Stadt ist entsetzt über einen schrecklichen Fund: Am Schweinemarkt hat man eine kopflose Frauenleiche entdeckt. Schnell scheint die Schuldige ausgemacht: Ilsabe Bunk, eine Frau in Männerkleidern. Der junge Advokat Hinrich Wrangel übernimmt ihre Pflichtverteidigung und gerät damit in einen gefährlichen Strudel aus Interessen und Intrigen.
"Claudia Weiss hat die historischen Gerichtsakten des Falls Ilsabe Bunk zu einem faszinierenden Justiz-Thriller verarbeitet."
Hamburger Morgenpost
Klappentext zu „Schandweib “
Hamburg 1701. Die Stadt ist entsetzt über einen schrecklichen Fund: Am Schweinemarkt hat man eine kopflose Frauenleiche entdeckt. Schnell scheint die Schuldige ausgemacht: Ilsabe Bunk, eine Frau in Männerkleidern. Der junge Advokat Hinrich Wrangel übernimmt ihre Pflichtverteidigung undgerät damit in einen gefährlichen Strudel aus Interessen und Intrigen.
"Claudia Weiss hat die historischen Gerichtsakten des Falls Ilsabe Bunk zu einem faszinierenden Justiz-Thriller verarbeitet." Hamburger Morgenpost
Lese-Probe zu „Schandweib “
Schandweib von Claudia WeissProlog
Wer wird dich lieben, meine kleine Anna, wenn ich nicht mehr bei dir bin? Wer wird dich halten?« Die im Kindbett fiebernde Mutter streichelte mit sanftem Druck die Wangen des zitternden Kindes. Langsam zog der erste Vollmond nach Ostern im Jahr des Herrn 1682 am kleinen Fenster der Garnisonswohnung in Verden vorbei. Als sein Licht von der Sterbenden wich, verließ sie auch das Leben. Bis der Morgen graute, hockte das Kind mit leerem Blick und schreiendem Herzen vor seiner toten Mutter und dem kleinen Bruder, der noch nicht einmal das Mondlicht hatte sehen können, so schnell hatte Gott ihn zurückbefohlen. Mit dem ersten Hahnenschrei kamen der Vater und Magda, die drei Jahre ältere Schwester, in die Kammer und traten zu dem starren kleinen Mädchen. »Sie ist von uns gegangen. Ilsabe, warum hast du mich nicht gerufen? Du solltest doch wachen!«, schalt der Vater die Kleine, schob sie zur Seite und sank weinend vor Frau und Sohn auf die Knie. Nie wieder rief jemand das magere Kind bei seinem ersten Namen, den es von der Mutter hatte. Die Erinnerung an die warmherzige, gütige und fröhliche Frau war für den Vater und die ältere Schwester zu schmerzhaft mit ihm verbunden, als dass sie das kleine Kind damit schmücken wollten. Nie wieder wurde das Mädchen so geliebt wie von seiner Mutter, deren Lebensspanne doch nicht gereicht hatte, um es auf sicheren Bahnen ins Leben zu leiten.
... mehr
Ilsabe Bunk wurde mit dem Tod der Mutter schroff und verschlossen. Sie fühlte sich verlassen und einsam und wusste sich in ihrem Schmerz nicht anders zu helfen, als sich tief in sich selbst zurückzuziehen. Ihr Vater, Kavalleriesoldat in Diensten des Herzogs von Lüneburg, litt sehr unter dem Verlust seiner Frau und des Neugeborenen. Vielleicht noch mehr darunter, dass er sich immer einen Sohn gewünscht hatte, der wie er die Soldatenlaufbahn hätte einschlagen sollen. Aber eine neue Frau nahm er nicht. Er sei zu alt, brummte er nur mürrisch, wenn ihm die Leute eine neue Verbindung nahelegten. Es gelang ihm nicht, seinen Töchtern die Mutter zu ersetzen und ihnen die Liebe und Zärtlichkeit zu geben, nach der sie sich sehnten. Auch um die Erziehung der Mädchen kümmerte er sich wenig, sie wuchsen auf im Milieu der Garnison, hatten Kontakt zu anderen Soldatenfamilien und den Bauern der nahen Umgebung. Magda, Ilsabes größere Schwester, war das genaue Gegenteil der Kleinen. Ein aufgeschlossenes, fröhliches Mädchen, das allzeit versuchte, den Menschen zu gefallen. Bei anderen Familien half sie gern in der Küche und beobachtete genau Verhalten und Verrichtungen, die eine gute Hausmutter auszeichneten. Auch im eigenen Heim übernahm sie bald die Pflichten der Mutter. In der Sonntagsschule lernte sie ein wenig biblische Geschichte sowie lesen und schreiben. So versuchte sie dem Vater, wo es ging, zu helfen. Ilsabe bemühte sich um die Aufmerksamkeit und Zuneigung ihres Vaters, indem sie alles imitierte, was mit dem rauen Ton und militärischen Gepränge seiner Kameraden einherging. Diese saßen häufig abends bei ihnen am Tisch, tranken Bier und erzählten von all den geschlagenen Schlachten. Ilsabe klebte an ihren Lippen und lernte ihre wilden Sprüche und Geschichten auswendig. Am nächsten war sie ihrem Vater, wenn er von Feldlagern, Reiterjagden und Duellen erzählte und Ilsabe auf seinem Schoß saß wie ein kleiner Husar und ihm Auszüge aus dem Exerzierreglement aufsagte. Vor der Zucht des Küsters hingegen wusste sich das Mädchen stets zu drücken. Lesen und schreiben lernte es nie. So wie Magda ihm die Frau, so suchte Ilsabe ihrem Vater den Sohn zu ersetzen. Obwohl Magda mit ihrem frohen Gemüt fast jedes Herz gewann, blieb ihr das ihrer kleinen Schwester verschlossen. Ilsabe war ihr fremd wie ein Pilz in einem sonnigen Blumenbeet. Zwar bemühte sie sich redlich, Ilsabe zu versorgen, doch erwärmte sich auch ihr Herz nicht für das unzugängliche, einsame Kind. Ilsabe wuchs zu einem großen, hageren Mädchen heran. Schon lange hatte sie niemand mehr in den Arm genommen, ihr Trost gespendet oder sie einfach nur liebevoll gehalten. Niemand hatte ihr geholfen, den mühseligen Wandel vom Kind zur Frau zu meistern. Ihren linkischen Bewegungen war anzusehen, dass sie sich in Rock und Schürze kaum zu bewegen wusste. Immer waren ihre kräftigen Schritte größer, als der Rocksaum es zuließ, und die Arme schwangen in ausladenden Bewegungen neben dem Körper. Die Jungen trieben üble Scherze mit ihr, aber Ilsabe, die viel auf ihre Ehre gab und Angst verachtete, zögerte nicht, sich mit ihnen zu prügeln. Von einem Faustschlag auf ihr rechtes Auge trug sie eine Narbe davon, die ihre dunklen Brauen verstärkte und ihr zusammen mit den zusammengebissenen Lippen einen abweisenden Ausdruck verlieh. Mit ihrer eher hohen Stimme hörte man sie aus jeglichem Getümmel heraus, und oft schlug sie mit der Faust auf den Tisch, um ihrer Rede Nachdruck zu verleihen. Nie trug sie eine Haube über ihrem blonden Haar, das lediglich nachlässig zu einem Zopf gebunden war.
Im Frühjahr 1690 wurde Ilsabe konfirmiert, und im selben Jahr heiratete ihre Schwester John Dittmer, einen Bauern aus der Umgebung. Er war eine sehr gute Partie für Magda, und sie gab alles, um den Widerstand der Schwiegereltern zu überwinden. Keine Arbeit war der ehrgeizigen Schwester zu schwer, keine Portion zu klein, kein Rat der Schwiegermutter zu viel. Als Magda ihrem Mann nach einem Jahr einen Hoferben gebar, hatte sie ihren Platz als Jungbäuerin fest erobert und auch die Zuneigung der Alten auf ihrer Seite. Im Sommer des folgenden Jahres wurde Ilsabes Vater in den Reichskrieg gegen Frankreich kommandiert, und schon kurze Zeit später fiel er bei Höchstädt. Mit fünfzehn Jahren war das Mädchen zur Waise geworden. Es musste die kleine Garnisonswohnung verlassen und mit ihr auch jenes Leben, das ihm, wenn auch keine Liebe, so doch Sicherheit und ein Zuhause gegeben hatte. Als Schwester der Jungbäuerin hatte Ilsabe das Recht, auf dem Hof ihres Schwagers zu leben, doch musste sie sich dafür in die häusliche Ordnung fügen, die neben den Schwiegereltern von ihrem Schwager und dessen jüngeren Bruder bestimmt wurde. Die Arbeit auf dem Hof ging Ilsabe schwer von der Hand. Die Tätigkeiten im Haus verrichtete sie zu grob, Handarbeit beherrschte sie kaum, mit ihrem kleinen Neffen wusste sie nicht recht umzugehen. Auch vom Kochen verstand sie nichts. Ständig stritt sie sich mit John und stellte so die Ordnung in Frage. Magda versuchte zu vermitteln, doch stand sie letztlich immer auf der Seite ihres Mannes. »Mädchen, du musst erwachsen werden und lernen, dich zu fügen. Was soll sonst aus dir werden? Wie willst du einen Mann finden, wenn du dich gibst wie ein Streithahn und herumläufst wie eine Vogelscheuche? Sollen wir dich durchfüttern bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag?«
Die Ermahnungen der Schwester wären wohl für Ilsabe noch zu ertragen gewesen. Immerhin klangen sie ihr schon seit Kindertagen im Ohr. Unerträglich hingegen wurde Johns jüngerer Bruder. Er stellte ihr nach, wo er konnte. Hatte er auf dem Hof auch sonst als jüngerer Bruder kaum etwas zu melden, so hatte wenigstens dieses dürre Ding ihm zu gehorchen und den Rock für ihn zu heben. Er lauerte ihr auf, wenn sie morgens zum Brunnen ging, um Wasser zu holen. War sie beladen mit den schweren Eimern, packte er im Vorbeigehen ihren Hintern. Befand sie sich beim Melken im Stall, schlich er sich manchmal leise von hinten an sie heran, griff ihre Brüste und ließ sie wie die Zitzen des Kuheuters fest durch seine großen Pranken gleiten. »Ausstreichen musst du sie, Mädel, damit's ordentlich spritzt.« Bevor Ilsabe sich befreien und ihn packen konnte, war er schon wieder weg. Ein-, zweimal stieß sie dabei den Eimer mit der Milch um, erschreckte die Kuh und musste sich von der alten Schwiegermutter maßregeln lassen, dass sie so bockig sei, sich noch nicht einmal helfen zu lassen. Als sie eines kalten Morgens im Februar im Backhaus den Ofen feuerte und tief nach vorn gebeugt die Flammen schürte, kam er von hinten an sie heran, riss ihr den Rock hoch, warf sie auf die Seite und drückte mit seinem schweren, stinkenden Leib ihre Beine auseinander. Ihr Kopf pochte wie wild vom Aufprall gegen den Holzstoß, auf den er sie geworfen hatte. Mit dem Ellenbogen drückte er ihr Kinn nach hinten, die zweite Hand gierte unter ihrem Leibchen nach den Brüsten. »So, du kleines Miststück, heute wirst du mir geben, was mir zusteht!« Da spürte Ilsabe den Schürhaken in ihrer Hand. Sie packte ihn fester und schlug ihn dem kräftigen Mann mit einem heiseren Aufschrei auf den Kopf. Wie ein schwerer Sack brach er in sich zusammen und ließ sein ganzes Gewicht auf das Mädchen fallen. Ilsabe bekam kaum noch Luft, ihre linke Schulter brannte wie Feuer. Trotz des Schmerzes spürte sie eine Art wilder Befriedigung und hätte mit dem Schürhaken am liebsten weiter auf den Mann eingeschlagen. Stattdessen nahm sie alle Kraft zusammen und stemmte ihn von sich, der stöhnend zur Seite rollte. Aus seinem Hinterkopf quoll Blut, lief den Nacken hinunter und versickerte im groben Leinenhemd. Ilsabe befreite sich und rannte wütend schreiend zum Haupt- haus hinüber. Ihr Laibchen war zerrissen, das Hemd färbte sich an der linken Schulter tiefrot. Der Schürhaken hatte ihr selbst einen tiefen Riss zugefügt. »Wie kannst du meinen Bruder halb totschlagen, nur weil er dir, wie ein junger Bock, mal auf den Hintern haut?«, ging John sie wütend an. »Nicht nur faul und bockig bist du, auch streitsüchtig und böse. Dein Hausrecht hast du verwirkt. Unter meinem Dach ist für dich kein Platz mehr.« »Ach Kind«, jammerte Magda unter Tränen, »wie hast du's so weit kommen lassen können? Anstatt mit dem Gesäß zu wackeln, hättest du das Holz schichten und das Feuer schüren sollen. Jetzt haben wir einen verletzten Mann im Haus, kurz bevor der Pflug aufs Feld muss. Aber du willst dich weiter auf unsre Kosten durchfressen, nur weil du zu unwillig und zu hässlich bist, dir einen Mann zu suchen. Und schaut dir doch mal einer hinterher, zerschlägst du ihm gleich den Kopf. Möge Gott dir weiterhelfen, ich kann's nimmer.« Anfang März 1694, die Wunde auf der Schulter war noch kaum verschorft, machte sich Ilsabe Bunk mit einem Bündel auf dem Rücken auf den Weg nach Hamburg, um sich eine Stelle als Hausmädchen zu suchen. Vielleicht hätte sie auf dem Dittmer'schen Hof bleiben können, wenn sie um Verzeihung gebeten und alle Schuld auf sich genommen hätte. Doch wenn sie ihre Ehre vergessen und aus Dankbarkeit das nächste Mal die Beine breit gemacht hätte, wäre der geile Bock immer wieder auf sie losgegangen. Niemals! Für ihre Ehre hatte sie sich schon als Kind geprügelt, wegen ihrer Ehre schmerzte die Schulter bei jedem Schritt, den sie auf der Landstraße ging. Die Ehre war das Einzige, was ihr als Erbe von ihrem Vater blieb. Sie sollte nicht auch zu einer blassen Erinnerung verkommen wie die Liebe ihrer Mutter. Ilsabe entschied sich für Hamburg, weil Bremen ihr zu dicht bei Verden lag. Niemand sollte sie kennen und ihr böse Worte nachsagen. Im Haushalt eines Bäckers fand sie Stellung als Dienstmagd. Sie hatte auf dessen drei Kinder aufzupassen und die Launen seiner Frau zu ertragen, der der Umstand zu Kopfe stieg, nun auch eine Dienstbotin zu haben. Ilsabe schlief in einer einfachen, zugigen Kammer unter dem Dach, hatte morgens als Erstes das Feuer anzufachen und abends als Letztes zu bügeln. An einigen Tagen musste sie in der Backstube mithelfen. Der Bäcker war ein gutmütiger Mann. Er verstand sich meisterlich auf das Backen kleiner süßer Brötchen, die ihm seine Kasse üppig füllten. Doch die Bäckersfrau war vom Geiz gepackt und zugleich darauf versessen, den Sprung in die höchsten Kreise der städtischen Zunft zu schaffen. Entsprechend streng führte sie das Haus. Ausgehen durfte Ilsabe nicht, weil dies gegen die Vorstellungen verstieß, die sich die Bäckersfrau von der Schicklichkeit ihrer Dienstbotin machte. Auch zum Essen durfte sie nicht mit den Gesellen und der Familie des Bäckers an einem Tisch sitzen, und ihre Bezahlung war kärglich. Nach einem Jahr gab Ilsabe den Dienst auf. Die Frau des Bäckers erzählte allen Nachbarn, sie sei ein faules Stück, und man sei froh, sie aus dem Haus zu haben. Nun war nicht mehr daran zu denken, in diesem Teil Hamburgs in einem anderen Haushalt unterzukommen. Mit dem wenigen Ersparten, das ihr geblieben war, wanderte Ilsabe Ostern 1695 nach Bremen. Sie kam als Hausangestellte bei einem Kaufmann unter. Die Arbeit war hier weniger hart als bei dem Bäcker. Zu essen gab es reichlich, ihre Kammer lag neben dem Schornstein, sodass sie nicht frieren musste. Die Frau des Kaufmanns hatte ein gutes Herz und viel Geduld mit Ilsabes kleinen Ungeschicklichkeiten. Doch nach drei Monaten stand eines Abends der Herr des Hauses bei ihr in der Kammertür und erkundigte sich nach ein paar erwärmenden Extradiensten, während seine rechte Hand bereits im Begriff war, die Hose aufzuknöpfen. Nur mit Mühe konnte Ilsabe den Mann aus der Kammer schieben und die Tür verriegeln. Früh am nächsten Morgen verließ sie das Haus des Kaufmanns. Dieser blieb ihr einen halben Monatslohn schuldig. Als Strafe für ihre »Verbocktheit «, wie er sich ausdrückte. Ilsabe wusste, das Dasein als Hausangestellte würde sie früher oder später umbringen. Wie sollte sie in so umfassender Abhängigkeit von den Launen ihrer Herrschaften ehrlich und anständig ihr Brot verdienen? Bisher hatte sie bloß erlebt, dass ein jeder versuchte, sie auszunutzen und für seine persönlichen Bedürfnisse zu missbrauchen, wo es nur ging. Müde und einsam ging sie über den kleinen Markt nahe dem Haus ihres letzten Dienstherrn. Wieder war sie ohne Stellung und fast ohne Geld, ohne eine Familie, die ihr den Lebensunterhalt sicherte, ohne Halt und nur knapp der Ehrlosigkeit entkommen. Sie musste einen Ausweg finden, um nicht in der Spinnerei des Armenhauses oder als Dirne zu enden. Sie brauchte einen Mann, der für sie sorgte. Für Männer war das Leben so viel leichter. Niemand wollte ihnen an die Wäsche, überall gab es Arbeit für sie. Männer durften selbst bestimmen, was sie tun und was sie lassen wollten. Und wenn es darauf ankam, konnten sie ihre Ehre mit Wort und Faust verteidigen. Doch woher sollte sie einen Mann nehmen, der sie nicht gleich selbst nehmen wollte? Einen, der sie respektierte, ihr ein Kamerad war, wie der Vater Kameraden hatte, auf die er zählen konnte, wenn es darauf ankam. Ach, wäre ihr Bruder, der kleine Hinrich, nicht so früh gestorben, er wäre ihr ein Kamerad und würde für sie sorgen. Wie einfach war doch das Leben als Kind gewesen, als sie wie ein kleiner Junge auf den Knien ihres Vaters reiten durfte, als sie sich mit den anderen Kindern in der Garnison raufen konnte, wenn ihr etwas nicht passte. Ilsabes Blick blieb an einer alten dürren Frau hängen, die am Rand des Marktes ein paar Männerkleider verkaufte. Abgetragen und ärmlich sahen sie aus, der Rock hatte schon einen Flicken auf dem Ärmel. Da durchfuhr es Ilsabe. Mit ihren großen Händen strich sie sich die schmalen Hüften entlang den weiten Rock glatt. Die Leute sahen doch nur, was man ihnen zeigte. Als kleines Kind, das noch die kurzen Hosen der Nachbarjungen auftragen durfte, hatten die Höker, die zur Garnison kamen, sie oft für einen Jungen gehalten, tobte sie doch genauso wild und ungestüm wie jene. Erst als die Schwester sie beizeiten in Rock und Schürze zwang, wurde Ilsabe für die Leute zum Mädchen. Hier auf dem Markt wusste sie mit einem Mal, wo sie den Kameraden fand, den sie für ihr Überleben brauchte. Er war in ihr, war all die Jahre lediglich unter der Schürze verborgen geblieben. Sie musste ihm nur die passenden Kleider besorgen, dann käme er wieder hervor. »Sagt, Alte, was wollt Ihr haben für den Fetzen von Rock, der da hängt?« »Nun, sechs Groschen sollte er dir schon wert sein, mein Kind.«
»Sechs Groschen? Ich geb Euch vier und außerdem mein Tuch, wenn Ihr noch eine Hose draufpackt. Es ist für meinen Bruder, wisst Ihr. In die Höhe geschossen ist er, sodass nichts mehr passen will. Und dabei ist die Ernte noch nicht eingebracht und die Kasse leer.« »Wie groß ist er denn, dein Bruder?« »So wie ich etwa, doch bald spuckt er mir bestimmt schon auf den Kopf.« Die Alte wühlte aus ihrem Korb eine dunkle Kniebundhose hervor und hielt sie Ilsabe prüfend an die Taille. »Für fünf Groschen und das Tuch ist beides deins.« Ilsabe überlegte nicht lange. Hastig kramte sie das Geld aus dem kleinen Beutel hervor, der unter ihrer Schürze hing, nahm das Tuch von den Schultern und tauschte beides mit der Alten gegen Rock und Hose. Sie schnürte die Kleider zu einem kleinen Bündel zusammen und eilte zügig durch eine schmale Seitengasse fort. Eine halbe Stunde später kam ein junger Bursche am Stand der Alten vorbei. Sein blondes Haar war zu einem lässigen Zopf gebunden, sein Blick klebte am Boden, die Hände hatte er in den Taschen seiner Jacke vergraben. Sogleich erkannte die Alte Rock und Hose wieder, die sie der jungen Frau verkauft hatte. »He, Junge«, rief sie ihm nach, »du hast aber Glück, dass dir deine Schwester ein paar neue Sachen gekauft hat. Das tut nicht jede.« Verstohlen warf der Bursche ihr einen scheuen Blick zu. »Siehst deiner Schwester aber auch wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Darum hat sie dir wohl so ein großzügiges Geschenk gemacht.« Der junge Mann wandte sich schnell ab und verschwand im Gewühl der Menschen.
Am Weserufer war eine lange Reihe Lastkähne und Ewer vertäut, die täglich die Waren vom Land in die Stadt brachten. Ein paar Männer standen neben ihnen am Kai und priemten. »Sagt, Leute, gibt's hier wohl Arbeit für einen tüchtigen Burschen? « Ein kräftiger Kerl, dem der Bauch über die Hose hing, musterte den jungen Mann mit spöttischem Blick. »Noch kein einziges Haar im Gesicht, aber schon Kähne schleppen willst du?« »Ich kann auch packen und sortieren, wenn's sein muss, außerdem putzen und kochen.« »Nun, einen Jungen fürs Kleine könnten wir schon brauchen. Das Deck schrubben, die Taue aufrollen und mit anpacken, wenn Not am Mann ist. Drei Groschen am Tag zahl ich dir und eine Suppe zum Mittag.« »Für drei Groschen am Tag bin ich dabei, wenn die Suppe auch dick genug ist.« »Dafür, dass du Hemd was auf die Rippen kriegst, werden wir schon sorgen«, grinste der Dicke. »Wie ruft man dich, Kleiner? « »Hinrich heiß ich, Hinrich Bunk.« »Und ich bin Hein, Hein Pieper«, entgegnete der Dicke und streckte ihm seine schwielige Hand entgegen. »Willkommen an Bord, Hinrich.« Seit diesem Handschlag an einem sonnigen Tag im Juli 1695 gab es für die Welt nur noch Hinrich Bunk. Anna war vergraben, zusammen mit der toten Mutterliebe, Ilsabe war gebunden unter strammen Tüchern, und alle Widrigkeiten des weiblichen Daseins waren aus Bunks Leben verscheucht.
Mittwoch, 26. Januar 1701
1
Wie Glocken schwangen die beiden Körper im Wind. Die Köpfe hingen verdreht in den Schlingen, die Augen hatten sich die Krähen schon lange geholt, auch Wangen und Lippen waren zerhackt, und die Zähne grinsten breit aus den Schädeln heraus. Schwere Ketten, um die Brustkörbe geschlungen, quietschten rostig im Takt des Windes. Sie waren an einem der drei Querbalken des Galgens auf dem Richtplatz von St. Georg befestigt und sorgten dafür, dass die Leichen nicht vor ihrer Zeit abfielen oder gefleddert wurden. Aus den Körperteilen der Gerichteten ließ sich gutes Geld machen: Salben, Elixiere, auch Aufgüsse und vielerlei mehr an Zaubermittelchen und Arzneien, die Barbiere und Apotheker sowie der Henker selbst unter der Hand an das abergläubische Volk verkauften. Angewidert wandte sich Hinrich Wrangel von den Gehängten ab und schlug den Kragen seines schweren Umhangs hoch. Den jungen Mann fröstelte nicht nur wegen des scharfen Windes, der an diesem Januarmorgen über den Richtplatz der östlichen Vorstadt Hamburgs wehte. Auch die Größe und Komposition der Anlage jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Keinen Steinwurf vom Galgenhügel entfernt erhob sich ein viereckiger Hügel, der Köppelberg. Gut und gern drei Mann hoch war er und oben auffallend flach, damit der Henker genügend Platz hatte, sein Handwerk - das Köpfen, das Erhängen und das Rädern - auszuüben. Ein Graben umgab ihn, von einer Zugbrücke überspannt, die in einem unter dem Hügel angelegten steinernen Gewölbe mündete. Von dort aus führte eine Treppe direkt hinauf aufs Schafott. Über die Brücke fuhren bei Hinrichtungen der Henker und seine Knechte, der Schinderwagen mit den Verurteilten, der Geistliche und die übrigen beim Strafvollzug anwesenden Personen. Also zukünftig er selbst, als neuer Prokurator und Advocatus am Hamburger Niedergericht. Wohl oder übel würde er einen Teil seiner künftigen Arbeit hier verrichten müssen. Bisher hatte Wrangel noch nie offiziell einer Hinrichtung beigewohnt. Sein Studium der Rechtswissenschaften hatte er erst vor kurzem in Halle bei dem berühmten Rechtsgelehrten Christian Thomasius abgeschlossen. Ursprünglich hatte er auch gar nicht die Universität verlassen, sondern eine Laufbahn als Gelehrter einschlagen wollen. Aber dann war vieles anders gekommen. Nur mit einem klaren Schnitt unter sein bisheriges Leben glaubte Wrangel, die tiefen Verletzungen, die sein Herz und seine Seele in den vergangenen Monaten ertragen mussten, überwinden zu können. Die lebensnahe Arbeit als Jurist bei Gericht würde ihm sicherlich viele neue Eindrücke und Erfahrungen bescheren, wenn auch manchmal so schreckliche wie eine Hinrichtung. Ein Glück, dass sich die Brücke zum Schafott hochziehen ließ, um den Akt der Gerechtigkeit vor dem Unmut oder einfach der Zudringlichkeit der meist über tausendköpfigen Zuschauermenge zu schützen. Platz genug war jedenfalls rund um den Richtplatz, und ein Spektakel grausig eingeforderten Rechts ließ sich der Pöbel nur selten entgehen. Wrangel überholte eilig einen schwerfälligen Karren und mehrere Lastenträger, die sich, tief unter ihre Kiepen gebeugt, schwankend gegen den eisigen Januarwind stemmten. Nach kurzem Marsch ragte vor ihm das Steintor auf, umgeben von einer gewaltigen Menge an Menschen, Karren, Schweinen, Ziegen und Federvieh. Doch die Tore waren verriegelt, die Brücke nicht zu sehen. »Die Brücke ist eingestürzt. Das Steintor ist geschlossen. Los, Leute, zieht weiter zum Deichtor, hier ist heute kein Durchkommen! « Seufzend warf Wrangel seinen ledernen Beutel über die Schulter und wandte sich nach Süden. Die Füße taten ihm weh, die Zehen spürte er vor Kälte kaum noch. Schon vor Sonnenaufgang war er kurz hinter Wandsbek aus einer verkommenen Herberge aufgebrochen, nach einer mit Wanzen und Flöhen geteilten kurzen Nacht. Ein besseres Quartier war zu so später Stunde in einer stürmischen Nacht nicht mehr aufzutreiben gewesen. Nun strahlte der Himmel bereits in kräftigem Blau, neun Uhr musste durch sein. Bevor es zehn Uhr schlug, wollte er am Hamburger Niedergericht vorstellig werden, um sein neues Amt anzutreten. Er zog seinen Hut über die dichten braunen, zu einem lockeren Zopf im Nacken gebundenen Haare und legte einen Schritt zu. Menschen, Tiere und Karren drängten sich auf dem Weg, das Geschrei der Weiber und die Pfiffe der Bauern übertönten die quiekenden Schweine und das Gegacker der Hühner. Plötzlich erblickte Wrangel links der Straße auf einem zugefrorenen Kloakengraben einen jungen Mann in ungefähr seinem Alter. Allerdings war er einen guten Kopf kleiner und auch um einiges schmächtiger als Wrangel. Sein dünnes rotblondes Haar wippte mit jedem Schritt auf und ab. Der Kleidung nach war er ein Geistlicher. Unter seinem Arm klemmte ein Stapel Bücher, mit dem anderen schwang er einen Wanderstab, den er Schritt für Schritt in die Böschung trieb. Ein schlauer Bursche, ging es Wrangel durch den Kopf, wie er ihn auf dem Eis des schmalen Grabens entlangschlittern sah, vorbei an dem trägen Bauernvolk. Mit zwei Sätzen stand er grüßend hinter dem Rotschopf. »Esne literatus.« »Id est. Aber Latein spreche ich nur im Seminar.« Prüfend glitt der Blick des Geistlichen an Wrangel herab, musterte den großen Mann mit dem ebenmäßigen Gesicht, den dunkelblauen Augen und kräftigen Schultern, über denen ein Sack aus weichgegerbtem Ziegenleder hing. Darunter trug Wrangel einen schweren Radmantel aus edlem Tuch sowie eine dunkle Hose, welche die langen, muskulösen Beine betonte und in festen ledernen Schaftstiefeln mündete. Alles in allem die Erscheinung eines stattlichen und wohlhabenden jungen Mannes. »Gestatten, Matthias Claussen, Vikar am Kirchspiel von St. Katharinen bei Pastor Krüger. Und mit wem habe ich die Ehre?«, grüßte der schmächtige Geistliche schließlich mit einer ironischen Verbeugung. »Licentiat Hinrich Wrangel, neuer Prokurator am hiesigen Niedergericht. Ich komme gerade erst hier an, und was muss ich sehen? Eine Stadtbefestigung, die schon an der ersten Brücke nicht mehr hält, was sie verspricht«, entgegnete er feixend. »Ah, Justitias neuer Diener. Es ist mir eine Ehre, Euch vor den Toren Eurer neuen Heimat zu begrüßen. Wenn auch zu Fuß, was doch für einen Herrn wie Euch eine ungewöhnliche Form des Reisens ist.« Wrangel grinste. Er liebte einsame Wanderungen, bei denen er seine Gedanken schweifen lassen konnte. Zugegeben, der Januar war nicht gerade ein idealer Wandermonat, aber allemal besser, als sich in einer stickigen und überfüllten Postkutsche durchschütteln zu lassen. »Das Wandern ist nicht nur des Müllers Lust, Vikar. Auch einen Rechtsgelehrten zieht es manchmal hinaus zu kontemplativen Wanderungen, die Gelegenheit zu inneren Zwiegesprächen geben. Ihr scheint Schusters Rappen ja ebenfalls nicht abgeneigt gegenüberzustehen.« »Da habt Ihr recht, Gelehrter des Rechtes. Doch was die Befestigung der Stadt angeht, so liegt Ihr falsch.« Das weiche, nahezu knabenhafte Gesicht des Vikars verzog sich zu einem Lächeln, das Wrangel auf Anhieb sympathisch war. »Zwar ist der Geiz des Rates schuld, dass die morschen Balken der Brücke am Steintor nicht vor dem Frost erneuert wurden und jetzt geborsten sind, doch kaum einer ist so dumm, sich an diesen Wallanlagen die Zähne ausbeißen zu wollen. Gut zehn Meter hoch sind diese Wälle, und der Wassergraben dort ist an die siebzig Meter breit.« Claussen deutete mit einem gewissen Stolz auf den Graben rechts von ihnen, der sie von der Stadt trennte. »Vor dem Wahnsinn des Dreißigjährigen Krieges haben uns diese Anlagen bereits bewahrt. Der Letzte, der versuchte sie zu stürmen, war Christian IV. von Dänemark. Gott hab ihn selig. Seine dreizehntausend Mann Fußvolk und zweitausend Mann Kavallerie bissen sich an den Bastionen die Zähne aus. Zwar fordert auch Friedrich IV. die Erbhuldigung von Hamburg und würde die Stadt gern dem Dänenreich einverleiben, aber er weiß, dass sein Großvater hier schon Prügel einstecken musste. Und bevor uns die verärgerten Bauern auch welche angedeihen lassen, weil wir hier an ihnen vorbeischlittern, lasst uns zum Deichtor eilen und hoffen, vor der Meute durchzukommen.« So schnell es Eis und Schnee erlaubten, schoben sich die beiden hintereinander über den kleinen Graben. Nur wenige Schritte jenseits ihres ungewöhnlichen Trampelpfades fiel der Hang gut zehn Meter steil hinab in den großen Wassergraben, der nahezu die gesamte Festungsanlage umgab. Auch er war gefroren. Doch einen Sturz aus dieser Höhe wollte man auf keinen Fall riskieren. Wrangel bemühte sich, jedem seiner Schritte die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. »Abgesehen von den Wällen würde ein Angreifer auch den Widerstand der deutschen Fürsten zu spüren bekommen«, fuhr Claussen fort, sichtlich erfreut, einen gebildeten Zuhörer zu haben. »Vergesst eine Belagerung. Wenn Hamburg einen Feind zu fürchten hat, dann muss der schon aus seiner Mitte kommen und aus Geiz und Gier geschaffen sein.« Zu ihrer Rechten ragte neben den beiden Wanderern eine gewaltige Bastion auf. »Das ist die Bartholdus-Bastion«, erklärte der Vikar. »Zweiundzwanzig dieser Art hat die Stadt insgesamt, jede mit fünf Kanonen bestückt. Die Positionen der vorgeschobenen Bastionen sind so aufeinander abgestimmt, dass Angreifer auch seitlich unter Beschuss genommen werden können.« Drei Kanonen sah Wrangel über die ihnen zugewandte Seite ragen. Ein Angreifer, der es bis hierher schaffte, saß spätestens jetzt in der Falle. Mit Respekt musterte er die perfekt durchdachte und solide gebaute Anlage. Der Marsch und die Freude, schon vor den Toren der Stadt einen freundlichen und zugänglichen Menschen höherer Bildung kennengelernt zu haben, hatten ihn die Kälte vergessen lassen. Der Weg machte einen Knick um die Bastion, und der kleine Graben endete jäh in einer glücklicherweise ebenfalls gefrorenen Jauchekuhle. Behände erklommen die beiden Männer die Böschung und schoben sich am Rand des Weges an den Leuten vorbei. Zu ihrer Linken tauchten prächtige Villen entlang eines Geesthanges auf, gerahmt von elegant gestalteten Gärten. Die Lusthäuser der wohlhabenden Hamburger. »Seht Ihr das?«, dröhnte der Vikar. »Hier veranstalten unsere Patrizier im Sommer sogar Feuerwerke und verschlafen dann am nächsten Tag die Predigt, wenn nicht die Ankunft eines Schiffes mit wertvoller Ladung sie gleich ganz ihre christlichen Pflichten vergessen lässt. Unser Rat mit seinen vierundzwanzig Senatoren rekrutiert sich aus dem Kreis dieser führenden Familien. Ihnen gegenüber stehen die Bürger der Stadt. Sie sind in der Bürgerschaft organisiert. Beide, Rat wie Bürgerschaft, wollen das Sagen haben und streiten darum wie die Kampfhähne. Vor knapp zwei Jahren, 1699 war es, da musste sich der Rat in einem Rezess erneut der Bürgerschaft unterwerfen, wie schon einmal in den achtziger Jahren, als Cord Jastram und Hieronymus Schnittger - der eine Färber und Reeder, der andere ein Kaufmann - die Stadt mit ihrer Popularpartei im Würgegriff hielten. Eine schlimme Zeit war das.« Wrangel schaute über die schneebedeckten Wiesen hinüber auf die herrschaftlichen Häuser am Geesthang. Viele von ihnen waren neumodisch hell verputzt und wiesen allerlei dekorative Schnörkeleien auf. Nicht das kaufmännische Kalkül hatte hier die Architektur bestimmt, sondern der Wunsch nach Glanz und Pracht. Das strahlende Sonnenlicht spiegelte sich in den großzügig verglasten Fenstern und warf helle Blitze über die in winterlicher Starre ruhenden Gärten. »Heutzutage wird die Angelegenheit auch noch dadurch verkompliziert, dass die Bürgerschaft selbst in zwei Lager gespalten ist«, setzte der Vikar seine Ausführungen über die Hamburger Politik unbeirrt fort. »Die einen wollen nur jenen Bürgern mit Grundbesitz in der Stadt auch die Mitsprache bei den öffentlichen Angelegenheiten gewähren. Die anderen hingegen wollen alle Bürger auf den Konventen mit entscheiden lassen. Unter den Letzteren gibt es noch eine kleine Gruppe, die sogar den Einwohnern, die in der Stadt leben, aber kein Bürgerrecht haben, die gleichen Rechte einräumen wollen. Stellt Euch vor: also jedem dahergelaufenen kleinen Krämer und Handwerker! Seit Jahren gärt es hier. Es reichen schon die kleinste Verletzung von Privilegien, ein falsches Wort bei einem öffentlichen Auftritt, eine geringfügige Missachtung der austarierten Rangordnung oder auch bloße Gerüchte, dann steigern sich die Leidenschaften in der Stadt bis zu Gewalttätigkeiten, und wir werden leicht zu einem gefundenen Fressen für die Dänen.« Wrangel verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Kein Wunder, dass sich das Hamburger Patriziat außerhalb der Stadtmauern prächtige Refugien baute, wollte es sich von solchem zänkischen Alltag erholen. Der forsche Schritt der beiden Männer wurde von einem alten Weib gebremst, das nur mühsam auf dem gefrorenen Weg vorankam. In der einen Hand hielt die Alte einen Stock, mit der anderen umklammerte sie hilfesuchend den Arm eines jungen Mädchens, das neben ihr ging. Vikar Claussen machte einen schnellen Ausfallschritt und zog an den beiden vorbei. Wrangel versuchte es ihm gleichzutun, kam aber auf einer gefrorenen Pfütze ins Rutschen und konnte nur in letzter Sekunde verhindern, über den Stock des alten Weibes zu fallen. Claussen, der merkte, dass sein Begleiter zurückblieb, drehte sich gerade in dem Moment um, als Wrangel wild mit den Armen fuchtelnd versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. »Cautio, advocatus! Damit Euch nichts passiere.« Er wartete, bis Wrangel zu ihm aufgeschlossen hatte, und fuhr dann mit seinen Erläuterungen fort. »Unter Jastram und Schnittger war das damals auch so. Irgendwann wussten die beiden gegen den inneren Feind nicht mehr weiter und beschlossen doch tatsächlich, die Hilfe des dänischen Königs anzunehmen. Ausgerechnet ihm wollten sie die Hamburger Tore öffnen! Zum Glück gab es damals noch genügend klare Köpfe in der Bürgerschaft, sodass das Schlimmste verhindert und ein dänischer Angriff in letzter Minute zurückgeschlagen werden konnte. Jastram und Schnittger bezahlten für ihre Torheit mit dem Leben. Wegen Verrats an die dänische Krone wurden sie hingerichtet. Ihre Köpfe schmücken bis heute das Millerntor und das Steintor, um die Dänen daran zu erinnern, was sie hier erwartet.« Bei den Worten des Vikars fielen Wrangel wieder die Erhängten vom Richtplatz ein. Ihm selbst erschienen aufgespießte Schädel vor Stadttoren ja barbarisch, aber er wusste sehr gut, dass solche Sitten den Aberglauben vieler einfacher Menschen nährten und darum immer wieder vollzogen wurden. Die noch tiefstehende Sonne blendete Wrangel, und nur mühsam konnte er die Umrisse der majestätisch über ihnen aufragenden Stadtmauern erkennen. Claussen hielt sich zum Schutz vor der Sonne eine Hand über die Augen und seufzte. »Aber die Hamburger scheinen nicht aus ihrer Geschichte zu lernen. Nun hat schon wieder die Bürgerschaft das Sagen, ohne jedoch den wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen der Stadt dabei gerecht zu werden. Dafür dürfen jetzt neue Senatoren nur noch mit der Billigung der Menge in den Rat, der Pöbel will regieren, und die Elite unserer Stadt leckt ihm die Hand, um ihre eigenen Schäflein ins Trockene zu bringen.« Der junge Vikar lächelte säuerlich. »Glaubt mir, auf den Konventen, die hinter verschlossenen Türen im Ratssaal stattfinden und manchmal bis in den frühen Morgen dauern, gibt es des Öfteren blutige Köpfe, zerrissene Perücken und ausgeschlagene Zähne. Ihr werdet Eure neue Arbeit auf einem Pulverfass antreten. Möge der Herr verhüten, dass es Euch um die Ohren fliegt.« »Es wird schon werden«, wiegelte Wrangel ab, langsam ermüdet von all den Erläuterungen und dem immer zügigeren Zickzackmarsch zwischen Karren und Kleinvieh. »Die Gesetze sind schließlich festgeschrieben und für alle gleich ...«
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Ilsabe Bunk wurde mit dem Tod der Mutter schroff und verschlossen. Sie fühlte sich verlassen und einsam und wusste sich in ihrem Schmerz nicht anders zu helfen, als sich tief in sich selbst zurückzuziehen. Ihr Vater, Kavalleriesoldat in Diensten des Herzogs von Lüneburg, litt sehr unter dem Verlust seiner Frau und des Neugeborenen. Vielleicht noch mehr darunter, dass er sich immer einen Sohn gewünscht hatte, der wie er die Soldatenlaufbahn hätte einschlagen sollen. Aber eine neue Frau nahm er nicht. Er sei zu alt, brummte er nur mürrisch, wenn ihm die Leute eine neue Verbindung nahelegten. Es gelang ihm nicht, seinen Töchtern die Mutter zu ersetzen und ihnen die Liebe und Zärtlichkeit zu geben, nach der sie sich sehnten. Auch um die Erziehung der Mädchen kümmerte er sich wenig, sie wuchsen auf im Milieu der Garnison, hatten Kontakt zu anderen Soldatenfamilien und den Bauern der nahen Umgebung. Magda, Ilsabes größere Schwester, war das genaue Gegenteil der Kleinen. Ein aufgeschlossenes, fröhliches Mädchen, das allzeit versuchte, den Menschen zu gefallen. Bei anderen Familien half sie gern in der Küche und beobachtete genau Verhalten und Verrichtungen, die eine gute Hausmutter auszeichneten. Auch im eigenen Heim übernahm sie bald die Pflichten der Mutter. In der Sonntagsschule lernte sie ein wenig biblische Geschichte sowie lesen und schreiben. So versuchte sie dem Vater, wo es ging, zu helfen. Ilsabe bemühte sich um die Aufmerksamkeit und Zuneigung ihres Vaters, indem sie alles imitierte, was mit dem rauen Ton und militärischen Gepränge seiner Kameraden einherging. Diese saßen häufig abends bei ihnen am Tisch, tranken Bier und erzählten von all den geschlagenen Schlachten. Ilsabe klebte an ihren Lippen und lernte ihre wilden Sprüche und Geschichten auswendig. Am nächsten war sie ihrem Vater, wenn er von Feldlagern, Reiterjagden und Duellen erzählte und Ilsabe auf seinem Schoß saß wie ein kleiner Husar und ihm Auszüge aus dem Exerzierreglement aufsagte. Vor der Zucht des Küsters hingegen wusste sich das Mädchen stets zu drücken. Lesen und schreiben lernte es nie. So wie Magda ihm die Frau, so suchte Ilsabe ihrem Vater den Sohn zu ersetzen. Obwohl Magda mit ihrem frohen Gemüt fast jedes Herz gewann, blieb ihr das ihrer kleinen Schwester verschlossen. Ilsabe war ihr fremd wie ein Pilz in einem sonnigen Blumenbeet. Zwar bemühte sie sich redlich, Ilsabe zu versorgen, doch erwärmte sich auch ihr Herz nicht für das unzugängliche, einsame Kind. Ilsabe wuchs zu einem großen, hageren Mädchen heran. Schon lange hatte sie niemand mehr in den Arm genommen, ihr Trost gespendet oder sie einfach nur liebevoll gehalten. Niemand hatte ihr geholfen, den mühseligen Wandel vom Kind zur Frau zu meistern. Ihren linkischen Bewegungen war anzusehen, dass sie sich in Rock und Schürze kaum zu bewegen wusste. Immer waren ihre kräftigen Schritte größer, als der Rocksaum es zuließ, und die Arme schwangen in ausladenden Bewegungen neben dem Körper. Die Jungen trieben üble Scherze mit ihr, aber Ilsabe, die viel auf ihre Ehre gab und Angst verachtete, zögerte nicht, sich mit ihnen zu prügeln. Von einem Faustschlag auf ihr rechtes Auge trug sie eine Narbe davon, die ihre dunklen Brauen verstärkte und ihr zusammen mit den zusammengebissenen Lippen einen abweisenden Ausdruck verlieh. Mit ihrer eher hohen Stimme hörte man sie aus jeglichem Getümmel heraus, und oft schlug sie mit der Faust auf den Tisch, um ihrer Rede Nachdruck zu verleihen. Nie trug sie eine Haube über ihrem blonden Haar, das lediglich nachlässig zu einem Zopf gebunden war.
Im Frühjahr 1690 wurde Ilsabe konfirmiert, und im selben Jahr heiratete ihre Schwester John Dittmer, einen Bauern aus der Umgebung. Er war eine sehr gute Partie für Magda, und sie gab alles, um den Widerstand der Schwiegereltern zu überwinden. Keine Arbeit war der ehrgeizigen Schwester zu schwer, keine Portion zu klein, kein Rat der Schwiegermutter zu viel. Als Magda ihrem Mann nach einem Jahr einen Hoferben gebar, hatte sie ihren Platz als Jungbäuerin fest erobert und auch die Zuneigung der Alten auf ihrer Seite. Im Sommer des folgenden Jahres wurde Ilsabes Vater in den Reichskrieg gegen Frankreich kommandiert, und schon kurze Zeit später fiel er bei Höchstädt. Mit fünfzehn Jahren war das Mädchen zur Waise geworden. Es musste die kleine Garnisonswohnung verlassen und mit ihr auch jenes Leben, das ihm, wenn auch keine Liebe, so doch Sicherheit und ein Zuhause gegeben hatte. Als Schwester der Jungbäuerin hatte Ilsabe das Recht, auf dem Hof ihres Schwagers zu leben, doch musste sie sich dafür in die häusliche Ordnung fügen, die neben den Schwiegereltern von ihrem Schwager und dessen jüngeren Bruder bestimmt wurde. Die Arbeit auf dem Hof ging Ilsabe schwer von der Hand. Die Tätigkeiten im Haus verrichtete sie zu grob, Handarbeit beherrschte sie kaum, mit ihrem kleinen Neffen wusste sie nicht recht umzugehen. Auch vom Kochen verstand sie nichts. Ständig stritt sie sich mit John und stellte so die Ordnung in Frage. Magda versuchte zu vermitteln, doch stand sie letztlich immer auf der Seite ihres Mannes. »Mädchen, du musst erwachsen werden und lernen, dich zu fügen. Was soll sonst aus dir werden? Wie willst du einen Mann finden, wenn du dich gibst wie ein Streithahn und herumläufst wie eine Vogelscheuche? Sollen wir dich durchfüttern bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag?«
Die Ermahnungen der Schwester wären wohl für Ilsabe noch zu ertragen gewesen. Immerhin klangen sie ihr schon seit Kindertagen im Ohr. Unerträglich hingegen wurde Johns jüngerer Bruder. Er stellte ihr nach, wo er konnte. Hatte er auf dem Hof auch sonst als jüngerer Bruder kaum etwas zu melden, so hatte wenigstens dieses dürre Ding ihm zu gehorchen und den Rock für ihn zu heben. Er lauerte ihr auf, wenn sie morgens zum Brunnen ging, um Wasser zu holen. War sie beladen mit den schweren Eimern, packte er im Vorbeigehen ihren Hintern. Befand sie sich beim Melken im Stall, schlich er sich manchmal leise von hinten an sie heran, griff ihre Brüste und ließ sie wie die Zitzen des Kuheuters fest durch seine großen Pranken gleiten. »Ausstreichen musst du sie, Mädel, damit's ordentlich spritzt.« Bevor Ilsabe sich befreien und ihn packen konnte, war er schon wieder weg. Ein-, zweimal stieß sie dabei den Eimer mit der Milch um, erschreckte die Kuh und musste sich von der alten Schwiegermutter maßregeln lassen, dass sie so bockig sei, sich noch nicht einmal helfen zu lassen. Als sie eines kalten Morgens im Februar im Backhaus den Ofen feuerte und tief nach vorn gebeugt die Flammen schürte, kam er von hinten an sie heran, riss ihr den Rock hoch, warf sie auf die Seite und drückte mit seinem schweren, stinkenden Leib ihre Beine auseinander. Ihr Kopf pochte wie wild vom Aufprall gegen den Holzstoß, auf den er sie geworfen hatte. Mit dem Ellenbogen drückte er ihr Kinn nach hinten, die zweite Hand gierte unter ihrem Leibchen nach den Brüsten. »So, du kleines Miststück, heute wirst du mir geben, was mir zusteht!« Da spürte Ilsabe den Schürhaken in ihrer Hand. Sie packte ihn fester und schlug ihn dem kräftigen Mann mit einem heiseren Aufschrei auf den Kopf. Wie ein schwerer Sack brach er in sich zusammen und ließ sein ganzes Gewicht auf das Mädchen fallen. Ilsabe bekam kaum noch Luft, ihre linke Schulter brannte wie Feuer. Trotz des Schmerzes spürte sie eine Art wilder Befriedigung und hätte mit dem Schürhaken am liebsten weiter auf den Mann eingeschlagen. Stattdessen nahm sie alle Kraft zusammen und stemmte ihn von sich, der stöhnend zur Seite rollte. Aus seinem Hinterkopf quoll Blut, lief den Nacken hinunter und versickerte im groben Leinenhemd. Ilsabe befreite sich und rannte wütend schreiend zum Haupt- haus hinüber. Ihr Laibchen war zerrissen, das Hemd färbte sich an der linken Schulter tiefrot. Der Schürhaken hatte ihr selbst einen tiefen Riss zugefügt. »Wie kannst du meinen Bruder halb totschlagen, nur weil er dir, wie ein junger Bock, mal auf den Hintern haut?«, ging John sie wütend an. »Nicht nur faul und bockig bist du, auch streitsüchtig und böse. Dein Hausrecht hast du verwirkt. Unter meinem Dach ist für dich kein Platz mehr.« »Ach Kind«, jammerte Magda unter Tränen, »wie hast du's so weit kommen lassen können? Anstatt mit dem Gesäß zu wackeln, hättest du das Holz schichten und das Feuer schüren sollen. Jetzt haben wir einen verletzten Mann im Haus, kurz bevor der Pflug aufs Feld muss. Aber du willst dich weiter auf unsre Kosten durchfressen, nur weil du zu unwillig und zu hässlich bist, dir einen Mann zu suchen. Und schaut dir doch mal einer hinterher, zerschlägst du ihm gleich den Kopf. Möge Gott dir weiterhelfen, ich kann's nimmer.« Anfang März 1694, die Wunde auf der Schulter war noch kaum verschorft, machte sich Ilsabe Bunk mit einem Bündel auf dem Rücken auf den Weg nach Hamburg, um sich eine Stelle als Hausmädchen zu suchen. Vielleicht hätte sie auf dem Dittmer'schen Hof bleiben können, wenn sie um Verzeihung gebeten und alle Schuld auf sich genommen hätte. Doch wenn sie ihre Ehre vergessen und aus Dankbarkeit das nächste Mal die Beine breit gemacht hätte, wäre der geile Bock immer wieder auf sie losgegangen. Niemals! Für ihre Ehre hatte sie sich schon als Kind geprügelt, wegen ihrer Ehre schmerzte die Schulter bei jedem Schritt, den sie auf der Landstraße ging. Die Ehre war das Einzige, was ihr als Erbe von ihrem Vater blieb. Sie sollte nicht auch zu einer blassen Erinnerung verkommen wie die Liebe ihrer Mutter. Ilsabe entschied sich für Hamburg, weil Bremen ihr zu dicht bei Verden lag. Niemand sollte sie kennen und ihr böse Worte nachsagen. Im Haushalt eines Bäckers fand sie Stellung als Dienstmagd. Sie hatte auf dessen drei Kinder aufzupassen und die Launen seiner Frau zu ertragen, der der Umstand zu Kopfe stieg, nun auch eine Dienstbotin zu haben. Ilsabe schlief in einer einfachen, zugigen Kammer unter dem Dach, hatte morgens als Erstes das Feuer anzufachen und abends als Letztes zu bügeln. An einigen Tagen musste sie in der Backstube mithelfen. Der Bäcker war ein gutmütiger Mann. Er verstand sich meisterlich auf das Backen kleiner süßer Brötchen, die ihm seine Kasse üppig füllten. Doch die Bäckersfrau war vom Geiz gepackt und zugleich darauf versessen, den Sprung in die höchsten Kreise der städtischen Zunft zu schaffen. Entsprechend streng führte sie das Haus. Ausgehen durfte Ilsabe nicht, weil dies gegen die Vorstellungen verstieß, die sich die Bäckersfrau von der Schicklichkeit ihrer Dienstbotin machte. Auch zum Essen durfte sie nicht mit den Gesellen und der Familie des Bäckers an einem Tisch sitzen, und ihre Bezahlung war kärglich. Nach einem Jahr gab Ilsabe den Dienst auf. Die Frau des Bäckers erzählte allen Nachbarn, sie sei ein faules Stück, und man sei froh, sie aus dem Haus zu haben. Nun war nicht mehr daran zu denken, in diesem Teil Hamburgs in einem anderen Haushalt unterzukommen. Mit dem wenigen Ersparten, das ihr geblieben war, wanderte Ilsabe Ostern 1695 nach Bremen. Sie kam als Hausangestellte bei einem Kaufmann unter. Die Arbeit war hier weniger hart als bei dem Bäcker. Zu essen gab es reichlich, ihre Kammer lag neben dem Schornstein, sodass sie nicht frieren musste. Die Frau des Kaufmanns hatte ein gutes Herz und viel Geduld mit Ilsabes kleinen Ungeschicklichkeiten. Doch nach drei Monaten stand eines Abends der Herr des Hauses bei ihr in der Kammertür und erkundigte sich nach ein paar erwärmenden Extradiensten, während seine rechte Hand bereits im Begriff war, die Hose aufzuknöpfen. Nur mit Mühe konnte Ilsabe den Mann aus der Kammer schieben und die Tür verriegeln. Früh am nächsten Morgen verließ sie das Haus des Kaufmanns. Dieser blieb ihr einen halben Monatslohn schuldig. Als Strafe für ihre »Verbocktheit «, wie er sich ausdrückte. Ilsabe wusste, das Dasein als Hausangestellte würde sie früher oder später umbringen. Wie sollte sie in so umfassender Abhängigkeit von den Launen ihrer Herrschaften ehrlich und anständig ihr Brot verdienen? Bisher hatte sie bloß erlebt, dass ein jeder versuchte, sie auszunutzen und für seine persönlichen Bedürfnisse zu missbrauchen, wo es nur ging. Müde und einsam ging sie über den kleinen Markt nahe dem Haus ihres letzten Dienstherrn. Wieder war sie ohne Stellung und fast ohne Geld, ohne eine Familie, die ihr den Lebensunterhalt sicherte, ohne Halt und nur knapp der Ehrlosigkeit entkommen. Sie musste einen Ausweg finden, um nicht in der Spinnerei des Armenhauses oder als Dirne zu enden. Sie brauchte einen Mann, der für sie sorgte. Für Männer war das Leben so viel leichter. Niemand wollte ihnen an die Wäsche, überall gab es Arbeit für sie. Männer durften selbst bestimmen, was sie tun und was sie lassen wollten. Und wenn es darauf ankam, konnten sie ihre Ehre mit Wort und Faust verteidigen. Doch woher sollte sie einen Mann nehmen, der sie nicht gleich selbst nehmen wollte? Einen, der sie respektierte, ihr ein Kamerad war, wie der Vater Kameraden hatte, auf die er zählen konnte, wenn es darauf ankam. Ach, wäre ihr Bruder, der kleine Hinrich, nicht so früh gestorben, er wäre ihr ein Kamerad und würde für sie sorgen. Wie einfach war doch das Leben als Kind gewesen, als sie wie ein kleiner Junge auf den Knien ihres Vaters reiten durfte, als sie sich mit den anderen Kindern in der Garnison raufen konnte, wenn ihr etwas nicht passte. Ilsabes Blick blieb an einer alten dürren Frau hängen, die am Rand des Marktes ein paar Männerkleider verkaufte. Abgetragen und ärmlich sahen sie aus, der Rock hatte schon einen Flicken auf dem Ärmel. Da durchfuhr es Ilsabe. Mit ihren großen Händen strich sie sich die schmalen Hüften entlang den weiten Rock glatt. Die Leute sahen doch nur, was man ihnen zeigte. Als kleines Kind, das noch die kurzen Hosen der Nachbarjungen auftragen durfte, hatten die Höker, die zur Garnison kamen, sie oft für einen Jungen gehalten, tobte sie doch genauso wild und ungestüm wie jene. Erst als die Schwester sie beizeiten in Rock und Schürze zwang, wurde Ilsabe für die Leute zum Mädchen. Hier auf dem Markt wusste sie mit einem Mal, wo sie den Kameraden fand, den sie für ihr Überleben brauchte. Er war in ihr, war all die Jahre lediglich unter der Schürze verborgen geblieben. Sie musste ihm nur die passenden Kleider besorgen, dann käme er wieder hervor. »Sagt, Alte, was wollt Ihr haben für den Fetzen von Rock, der da hängt?« »Nun, sechs Groschen sollte er dir schon wert sein, mein Kind.«
»Sechs Groschen? Ich geb Euch vier und außerdem mein Tuch, wenn Ihr noch eine Hose draufpackt. Es ist für meinen Bruder, wisst Ihr. In die Höhe geschossen ist er, sodass nichts mehr passen will. Und dabei ist die Ernte noch nicht eingebracht und die Kasse leer.« »Wie groß ist er denn, dein Bruder?« »So wie ich etwa, doch bald spuckt er mir bestimmt schon auf den Kopf.« Die Alte wühlte aus ihrem Korb eine dunkle Kniebundhose hervor und hielt sie Ilsabe prüfend an die Taille. »Für fünf Groschen und das Tuch ist beides deins.« Ilsabe überlegte nicht lange. Hastig kramte sie das Geld aus dem kleinen Beutel hervor, der unter ihrer Schürze hing, nahm das Tuch von den Schultern und tauschte beides mit der Alten gegen Rock und Hose. Sie schnürte die Kleider zu einem kleinen Bündel zusammen und eilte zügig durch eine schmale Seitengasse fort. Eine halbe Stunde später kam ein junger Bursche am Stand der Alten vorbei. Sein blondes Haar war zu einem lässigen Zopf gebunden, sein Blick klebte am Boden, die Hände hatte er in den Taschen seiner Jacke vergraben. Sogleich erkannte die Alte Rock und Hose wieder, die sie der jungen Frau verkauft hatte. »He, Junge«, rief sie ihm nach, »du hast aber Glück, dass dir deine Schwester ein paar neue Sachen gekauft hat. Das tut nicht jede.« Verstohlen warf der Bursche ihr einen scheuen Blick zu. »Siehst deiner Schwester aber auch wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Darum hat sie dir wohl so ein großzügiges Geschenk gemacht.« Der junge Mann wandte sich schnell ab und verschwand im Gewühl der Menschen.
Am Weserufer war eine lange Reihe Lastkähne und Ewer vertäut, die täglich die Waren vom Land in die Stadt brachten. Ein paar Männer standen neben ihnen am Kai und priemten. »Sagt, Leute, gibt's hier wohl Arbeit für einen tüchtigen Burschen? « Ein kräftiger Kerl, dem der Bauch über die Hose hing, musterte den jungen Mann mit spöttischem Blick. »Noch kein einziges Haar im Gesicht, aber schon Kähne schleppen willst du?« »Ich kann auch packen und sortieren, wenn's sein muss, außerdem putzen und kochen.« »Nun, einen Jungen fürs Kleine könnten wir schon brauchen. Das Deck schrubben, die Taue aufrollen und mit anpacken, wenn Not am Mann ist. Drei Groschen am Tag zahl ich dir und eine Suppe zum Mittag.« »Für drei Groschen am Tag bin ich dabei, wenn die Suppe auch dick genug ist.« »Dafür, dass du Hemd was auf die Rippen kriegst, werden wir schon sorgen«, grinste der Dicke. »Wie ruft man dich, Kleiner? « »Hinrich heiß ich, Hinrich Bunk.« »Und ich bin Hein, Hein Pieper«, entgegnete der Dicke und streckte ihm seine schwielige Hand entgegen. »Willkommen an Bord, Hinrich.« Seit diesem Handschlag an einem sonnigen Tag im Juli 1695 gab es für die Welt nur noch Hinrich Bunk. Anna war vergraben, zusammen mit der toten Mutterliebe, Ilsabe war gebunden unter strammen Tüchern, und alle Widrigkeiten des weiblichen Daseins waren aus Bunks Leben verscheucht.
Mittwoch, 26. Januar 1701
1
Wie Glocken schwangen die beiden Körper im Wind. Die Köpfe hingen verdreht in den Schlingen, die Augen hatten sich die Krähen schon lange geholt, auch Wangen und Lippen waren zerhackt, und die Zähne grinsten breit aus den Schädeln heraus. Schwere Ketten, um die Brustkörbe geschlungen, quietschten rostig im Takt des Windes. Sie waren an einem der drei Querbalken des Galgens auf dem Richtplatz von St. Georg befestigt und sorgten dafür, dass die Leichen nicht vor ihrer Zeit abfielen oder gefleddert wurden. Aus den Körperteilen der Gerichteten ließ sich gutes Geld machen: Salben, Elixiere, auch Aufgüsse und vielerlei mehr an Zaubermittelchen und Arzneien, die Barbiere und Apotheker sowie der Henker selbst unter der Hand an das abergläubische Volk verkauften. Angewidert wandte sich Hinrich Wrangel von den Gehängten ab und schlug den Kragen seines schweren Umhangs hoch. Den jungen Mann fröstelte nicht nur wegen des scharfen Windes, der an diesem Januarmorgen über den Richtplatz der östlichen Vorstadt Hamburgs wehte. Auch die Größe und Komposition der Anlage jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Keinen Steinwurf vom Galgenhügel entfernt erhob sich ein viereckiger Hügel, der Köppelberg. Gut und gern drei Mann hoch war er und oben auffallend flach, damit der Henker genügend Platz hatte, sein Handwerk - das Köpfen, das Erhängen und das Rädern - auszuüben. Ein Graben umgab ihn, von einer Zugbrücke überspannt, die in einem unter dem Hügel angelegten steinernen Gewölbe mündete. Von dort aus führte eine Treppe direkt hinauf aufs Schafott. Über die Brücke fuhren bei Hinrichtungen der Henker und seine Knechte, der Schinderwagen mit den Verurteilten, der Geistliche und die übrigen beim Strafvollzug anwesenden Personen. Also zukünftig er selbst, als neuer Prokurator und Advocatus am Hamburger Niedergericht. Wohl oder übel würde er einen Teil seiner künftigen Arbeit hier verrichten müssen. Bisher hatte Wrangel noch nie offiziell einer Hinrichtung beigewohnt. Sein Studium der Rechtswissenschaften hatte er erst vor kurzem in Halle bei dem berühmten Rechtsgelehrten Christian Thomasius abgeschlossen. Ursprünglich hatte er auch gar nicht die Universität verlassen, sondern eine Laufbahn als Gelehrter einschlagen wollen. Aber dann war vieles anders gekommen. Nur mit einem klaren Schnitt unter sein bisheriges Leben glaubte Wrangel, die tiefen Verletzungen, die sein Herz und seine Seele in den vergangenen Monaten ertragen mussten, überwinden zu können. Die lebensnahe Arbeit als Jurist bei Gericht würde ihm sicherlich viele neue Eindrücke und Erfahrungen bescheren, wenn auch manchmal so schreckliche wie eine Hinrichtung. Ein Glück, dass sich die Brücke zum Schafott hochziehen ließ, um den Akt der Gerechtigkeit vor dem Unmut oder einfach der Zudringlichkeit der meist über tausendköpfigen Zuschauermenge zu schützen. Platz genug war jedenfalls rund um den Richtplatz, und ein Spektakel grausig eingeforderten Rechts ließ sich der Pöbel nur selten entgehen. Wrangel überholte eilig einen schwerfälligen Karren und mehrere Lastenträger, die sich, tief unter ihre Kiepen gebeugt, schwankend gegen den eisigen Januarwind stemmten. Nach kurzem Marsch ragte vor ihm das Steintor auf, umgeben von einer gewaltigen Menge an Menschen, Karren, Schweinen, Ziegen und Federvieh. Doch die Tore waren verriegelt, die Brücke nicht zu sehen. »Die Brücke ist eingestürzt. Das Steintor ist geschlossen. Los, Leute, zieht weiter zum Deichtor, hier ist heute kein Durchkommen! « Seufzend warf Wrangel seinen ledernen Beutel über die Schulter und wandte sich nach Süden. Die Füße taten ihm weh, die Zehen spürte er vor Kälte kaum noch. Schon vor Sonnenaufgang war er kurz hinter Wandsbek aus einer verkommenen Herberge aufgebrochen, nach einer mit Wanzen und Flöhen geteilten kurzen Nacht. Ein besseres Quartier war zu so später Stunde in einer stürmischen Nacht nicht mehr aufzutreiben gewesen. Nun strahlte der Himmel bereits in kräftigem Blau, neun Uhr musste durch sein. Bevor es zehn Uhr schlug, wollte er am Hamburger Niedergericht vorstellig werden, um sein neues Amt anzutreten. Er zog seinen Hut über die dichten braunen, zu einem lockeren Zopf im Nacken gebundenen Haare und legte einen Schritt zu. Menschen, Tiere und Karren drängten sich auf dem Weg, das Geschrei der Weiber und die Pfiffe der Bauern übertönten die quiekenden Schweine und das Gegacker der Hühner. Plötzlich erblickte Wrangel links der Straße auf einem zugefrorenen Kloakengraben einen jungen Mann in ungefähr seinem Alter. Allerdings war er einen guten Kopf kleiner und auch um einiges schmächtiger als Wrangel. Sein dünnes rotblondes Haar wippte mit jedem Schritt auf und ab. Der Kleidung nach war er ein Geistlicher. Unter seinem Arm klemmte ein Stapel Bücher, mit dem anderen schwang er einen Wanderstab, den er Schritt für Schritt in die Böschung trieb. Ein schlauer Bursche, ging es Wrangel durch den Kopf, wie er ihn auf dem Eis des schmalen Grabens entlangschlittern sah, vorbei an dem trägen Bauernvolk. Mit zwei Sätzen stand er grüßend hinter dem Rotschopf. »Esne literatus.« »Id est. Aber Latein spreche ich nur im Seminar.« Prüfend glitt der Blick des Geistlichen an Wrangel herab, musterte den großen Mann mit dem ebenmäßigen Gesicht, den dunkelblauen Augen und kräftigen Schultern, über denen ein Sack aus weichgegerbtem Ziegenleder hing. Darunter trug Wrangel einen schweren Radmantel aus edlem Tuch sowie eine dunkle Hose, welche die langen, muskulösen Beine betonte und in festen ledernen Schaftstiefeln mündete. Alles in allem die Erscheinung eines stattlichen und wohlhabenden jungen Mannes. »Gestatten, Matthias Claussen, Vikar am Kirchspiel von St. Katharinen bei Pastor Krüger. Und mit wem habe ich die Ehre?«, grüßte der schmächtige Geistliche schließlich mit einer ironischen Verbeugung. »Licentiat Hinrich Wrangel, neuer Prokurator am hiesigen Niedergericht. Ich komme gerade erst hier an, und was muss ich sehen? Eine Stadtbefestigung, die schon an der ersten Brücke nicht mehr hält, was sie verspricht«, entgegnete er feixend. »Ah, Justitias neuer Diener. Es ist mir eine Ehre, Euch vor den Toren Eurer neuen Heimat zu begrüßen. Wenn auch zu Fuß, was doch für einen Herrn wie Euch eine ungewöhnliche Form des Reisens ist.« Wrangel grinste. Er liebte einsame Wanderungen, bei denen er seine Gedanken schweifen lassen konnte. Zugegeben, der Januar war nicht gerade ein idealer Wandermonat, aber allemal besser, als sich in einer stickigen und überfüllten Postkutsche durchschütteln zu lassen. »Das Wandern ist nicht nur des Müllers Lust, Vikar. Auch einen Rechtsgelehrten zieht es manchmal hinaus zu kontemplativen Wanderungen, die Gelegenheit zu inneren Zwiegesprächen geben. Ihr scheint Schusters Rappen ja ebenfalls nicht abgeneigt gegenüberzustehen.« »Da habt Ihr recht, Gelehrter des Rechtes. Doch was die Befestigung der Stadt angeht, so liegt Ihr falsch.« Das weiche, nahezu knabenhafte Gesicht des Vikars verzog sich zu einem Lächeln, das Wrangel auf Anhieb sympathisch war. »Zwar ist der Geiz des Rates schuld, dass die morschen Balken der Brücke am Steintor nicht vor dem Frost erneuert wurden und jetzt geborsten sind, doch kaum einer ist so dumm, sich an diesen Wallanlagen die Zähne ausbeißen zu wollen. Gut zehn Meter hoch sind diese Wälle, und der Wassergraben dort ist an die siebzig Meter breit.« Claussen deutete mit einem gewissen Stolz auf den Graben rechts von ihnen, der sie von der Stadt trennte. »Vor dem Wahnsinn des Dreißigjährigen Krieges haben uns diese Anlagen bereits bewahrt. Der Letzte, der versuchte sie zu stürmen, war Christian IV. von Dänemark. Gott hab ihn selig. Seine dreizehntausend Mann Fußvolk und zweitausend Mann Kavallerie bissen sich an den Bastionen die Zähne aus. Zwar fordert auch Friedrich IV. die Erbhuldigung von Hamburg und würde die Stadt gern dem Dänenreich einverleiben, aber er weiß, dass sein Großvater hier schon Prügel einstecken musste. Und bevor uns die verärgerten Bauern auch welche angedeihen lassen, weil wir hier an ihnen vorbeischlittern, lasst uns zum Deichtor eilen und hoffen, vor der Meute durchzukommen.« So schnell es Eis und Schnee erlaubten, schoben sich die beiden hintereinander über den kleinen Graben. Nur wenige Schritte jenseits ihres ungewöhnlichen Trampelpfades fiel der Hang gut zehn Meter steil hinab in den großen Wassergraben, der nahezu die gesamte Festungsanlage umgab. Auch er war gefroren. Doch einen Sturz aus dieser Höhe wollte man auf keinen Fall riskieren. Wrangel bemühte sich, jedem seiner Schritte die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. »Abgesehen von den Wällen würde ein Angreifer auch den Widerstand der deutschen Fürsten zu spüren bekommen«, fuhr Claussen fort, sichtlich erfreut, einen gebildeten Zuhörer zu haben. »Vergesst eine Belagerung. Wenn Hamburg einen Feind zu fürchten hat, dann muss der schon aus seiner Mitte kommen und aus Geiz und Gier geschaffen sein.« Zu ihrer Rechten ragte neben den beiden Wanderern eine gewaltige Bastion auf. »Das ist die Bartholdus-Bastion«, erklärte der Vikar. »Zweiundzwanzig dieser Art hat die Stadt insgesamt, jede mit fünf Kanonen bestückt. Die Positionen der vorgeschobenen Bastionen sind so aufeinander abgestimmt, dass Angreifer auch seitlich unter Beschuss genommen werden können.« Drei Kanonen sah Wrangel über die ihnen zugewandte Seite ragen. Ein Angreifer, der es bis hierher schaffte, saß spätestens jetzt in der Falle. Mit Respekt musterte er die perfekt durchdachte und solide gebaute Anlage. Der Marsch und die Freude, schon vor den Toren der Stadt einen freundlichen und zugänglichen Menschen höherer Bildung kennengelernt zu haben, hatten ihn die Kälte vergessen lassen. Der Weg machte einen Knick um die Bastion, und der kleine Graben endete jäh in einer glücklicherweise ebenfalls gefrorenen Jauchekuhle. Behände erklommen die beiden Männer die Böschung und schoben sich am Rand des Weges an den Leuten vorbei. Zu ihrer Linken tauchten prächtige Villen entlang eines Geesthanges auf, gerahmt von elegant gestalteten Gärten. Die Lusthäuser der wohlhabenden Hamburger. »Seht Ihr das?«, dröhnte der Vikar. »Hier veranstalten unsere Patrizier im Sommer sogar Feuerwerke und verschlafen dann am nächsten Tag die Predigt, wenn nicht die Ankunft eines Schiffes mit wertvoller Ladung sie gleich ganz ihre christlichen Pflichten vergessen lässt. Unser Rat mit seinen vierundzwanzig Senatoren rekrutiert sich aus dem Kreis dieser führenden Familien. Ihnen gegenüber stehen die Bürger der Stadt. Sie sind in der Bürgerschaft organisiert. Beide, Rat wie Bürgerschaft, wollen das Sagen haben und streiten darum wie die Kampfhähne. Vor knapp zwei Jahren, 1699 war es, da musste sich der Rat in einem Rezess erneut der Bürgerschaft unterwerfen, wie schon einmal in den achtziger Jahren, als Cord Jastram und Hieronymus Schnittger - der eine Färber und Reeder, der andere ein Kaufmann - die Stadt mit ihrer Popularpartei im Würgegriff hielten. Eine schlimme Zeit war das.« Wrangel schaute über die schneebedeckten Wiesen hinüber auf die herrschaftlichen Häuser am Geesthang. Viele von ihnen waren neumodisch hell verputzt und wiesen allerlei dekorative Schnörkeleien auf. Nicht das kaufmännische Kalkül hatte hier die Architektur bestimmt, sondern der Wunsch nach Glanz und Pracht. Das strahlende Sonnenlicht spiegelte sich in den großzügig verglasten Fenstern und warf helle Blitze über die in winterlicher Starre ruhenden Gärten. »Heutzutage wird die Angelegenheit auch noch dadurch verkompliziert, dass die Bürgerschaft selbst in zwei Lager gespalten ist«, setzte der Vikar seine Ausführungen über die Hamburger Politik unbeirrt fort. »Die einen wollen nur jenen Bürgern mit Grundbesitz in der Stadt auch die Mitsprache bei den öffentlichen Angelegenheiten gewähren. Die anderen hingegen wollen alle Bürger auf den Konventen mit entscheiden lassen. Unter den Letzteren gibt es noch eine kleine Gruppe, die sogar den Einwohnern, die in der Stadt leben, aber kein Bürgerrecht haben, die gleichen Rechte einräumen wollen. Stellt Euch vor: also jedem dahergelaufenen kleinen Krämer und Handwerker! Seit Jahren gärt es hier. Es reichen schon die kleinste Verletzung von Privilegien, ein falsches Wort bei einem öffentlichen Auftritt, eine geringfügige Missachtung der austarierten Rangordnung oder auch bloße Gerüchte, dann steigern sich die Leidenschaften in der Stadt bis zu Gewalttätigkeiten, und wir werden leicht zu einem gefundenen Fressen für die Dänen.« Wrangel verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Kein Wunder, dass sich das Hamburger Patriziat außerhalb der Stadtmauern prächtige Refugien baute, wollte es sich von solchem zänkischen Alltag erholen. Der forsche Schritt der beiden Männer wurde von einem alten Weib gebremst, das nur mühsam auf dem gefrorenen Weg vorankam. In der einen Hand hielt die Alte einen Stock, mit der anderen umklammerte sie hilfesuchend den Arm eines jungen Mädchens, das neben ihr ging. Vikar Claussen machte einen schnellen Ausfallschritt und zog an den beiden vorbei. Wrangel versuchte es ihm gleichzutun, kam aber auf einer gefrorenen Pfütze ins Rutschen und konnte nur in letzter Sekunde verhindern, über den Stock des alten Weibes zu fallen. Claussen, der merkte, dass sein Begleiter zurückblieb, drehte sich gerade in dem Moment um, als Wrangel wild mit den Armen fuchtelnd versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. »Cautio, advocatus! Damit Euch nichts passiere.« Er wartete, bis Wrangel zu ihm aufgeschlossen hatte, und fuhr dann mit seinen Erläuterungen fort. »Unter Jastram und Schnittger war das damals auch so. Irgendwann wussten die beiden gegen den inneren Feind nicht mehr weiter und beschlossen doch tatsächlich, die Hilfe des dänischen Königs anzunehmen. Ausgerechnet ihm wollten sie die Hamburger Tore öffnen! Zum Glück gab es damals noch genügend klare Köpfe in der Bürgerschaft, sodass das Schlimmste verhindert und ein dänischer Angriff in letzter Minute zurückgeschlagen werden konnte. Jastram und Schnittger bezahlten für ihre Torheit mit dem Leben. Wegen Verrats an die dänische Krone wurden sie hingerichtet. Ihre Köpfe schmücken bis heute das Millerntor und das Steintor, um die Dänen daran zu erinnern, was sie hier erwartet.« Bei den Worten des Vikars fielen Wrangel wieder die Erhängten vom Richtplatz ein. Ihm selbst erschienen aufgespießte Schädel vor Stadttoren ja barbarisch, aber er wusste sehr gut, dass solche Sitten den Aberglauben vieler einfacher Menschen nährten und darum immer wieder vollzogen wurden. Die noch tiefstehende Sonne blendete Wrangel, und nur mühsam konnte er die Umrisse der majestätisch über ihnen aufragenden Stadtmauern erkennen. Claussen hielt sich zum Schutz vor der Sonne eine Hand über die Augen und seufzte. »Aber die Hamburger scheinen nicht aus ihrer Geschichte zu lernen. Nun hat schon wieder die Bürgerschaft das Sagen, ohne jedoch den wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen der Stadt dabei gerecht zu werden. Dafür dürfen jetzt neue Senatoren nur noch mit der Billigung der Menge in den Rat, der Pöbel will regieren, und die Elite unserer Stadt leckt ihm die Hand, um ihre eigenen Schäflein ins Trockene zu bringen.« Der junge Vikar lächelte säuerlich. »Glaubt mir, auf den Konventen, die hinter verschlossenen Türen im Ratssaal stattfinden und manchmal bis in den frühen Morgen dauern, gibt es des Öfteren blutige Köpfe, zerrissene Perücken und ausgeschlagene Zähne. Ihr werdet Eure neue Arbeit auf einem Pulverfass antreten. Möge der Herr verhüten, dass es Euch um die Ohren fliegt.« »Es wird schon werden«, wiegelte Wrangel ab, langsam ermüdet von all den Erläuterungen und dem immer zügigeren Zickzackmarsch zwischen Karren und Kleinvieh. »Die Gesetze sind schließlich festgeschrieben und für alle gleich ...«
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Autoren-Porträt von Claudia Weiss
Claudia Weiss, Jahrgang 1967, ist promovierte Historikerin und Privatdozentin. Sie hat in Hamburg und Moskau Geschichte, Slawistik und Geographie studiert und im Anschluss zwölf Jahre als Osteuropa-Historikerin in Deutschland, Frankreich und Russland geforscht und gelehrt, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Neben wissenschaftlichen Fachpublikationen schrieb sie für »GEO Epoche« und veröffentlichte im März 2011 »Das Reich der Zaren«, einen Sachbildband. "Rattenfängerin" ist nach »Das Geheimnis des Scharlatans« und "Schandweib" ihr dritter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Claudia Weiss
- 2014, 1. Auflage, 512 Seiten, Masse: 12,5 x 17,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426512807
- ISBN-13: 9783426512807
- Erscheinungsdatum: 28.01.2014
Rezension zu „Schandweib “
"Tolles Buch, unbedingt lesen." Fachbuchkritik (Blog 20140428
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