Rigor Mortis
Ein neuer Fall für Roy Grace. Thriller
Seit sie in einen Unfall verwickelt war, bei dem ein Student ums Leben kam, ist Carly Chase traumatisiert. Der junge Mann stammte aus einer Mafia-Familie. Die beiden anderen Fahrer sind bereits tot. Wird Carly das nächste Opfer der rachsüchtigen Familie sein? Der Killer ist ihr schon auf den Fersen.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Rigor Mortis “
Seit sie in einen Unfall verwickelt war, bei dem ein Student ums Leben kam, ist Carly Chase traumatisiert. Der junge Mann stammte aus einer Mafia-Familie. Die beiden anderen Fahrer sind bereits tot. Wird Carly das nächste Opfer der rachsüchtigen Familie sein? Der Killer ist ihr schon auf den Fersen.
Klappentext zu „Rigor Mortis “
Ein Fehler -Zwei Tote -Keine Gnade. Der siebte Fall für Detective Superintendent Roy Grace und sein Team spielt in Brighton und New York. Die treuen Fans von Peter James werden den neuen Roy Grace-Thriller lieben - für Neueinsteiger ist es das perfekte Buch, um diesen Autor zu entdecken.Carly Chase ist traumatisiert. Sie war in einen tragischen Unfall verwickelt, bei dem ein Student ums Leben kam. Zwei andere Fahrer begingen Fahrerflucht. Die sind jetzt tot. Für Detective Superintendent Roy Grace könnte sie die Nächste sein. Denn der junge Mann stammte aus einer der besten Mafia-Familien New Yorks. Und die wollen Rache. Das Beste wäre, wenn Carly abtauchen würde. Doch sie hat einen anderen Plan. Dabei ist der Killer ihr bereits auf den Fersen: Er beobachtet, er wartet und dann....
Lese-Probe zu „Rigor Mortis “
Rigor Mortis von Peter James1
Am Morgen des Unfalls verschlief Carly, weil sie vergessen hatte, den Wecker zu stellen. Sie erwachte mit einem schrecklichen Kater, halb zerquetscht unter einem feuchten Hund, während aus dem Zimmer ihres Sohnes das irre Dröhnen von Trommeln und Becken herüberdrang. Außerdem regnete es in Strömen.
Sie blieb einen Augenblick liegen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Sie hatte einen Termin bei der Fußpflegerin, die ein schmerzhaftes Hühnerauge entfernen sollte, und in knapp zwei Stunden würde ein verhasster Mandant in ihrem Büro auftauchen. Sie merkte schon, es war einer jener Tage, die schlimm begannen und nur noch schlimmer werden konnten. Genau wie das Getrommel.
»Tyler!«, brüllte sie. »Hör auf damit, Herrgott nochmal. Bist du fertig?«
Otis sprang vom Bett und bellte wütend sein Spiegelbild an.
Das Schlagzeug verstummte.
Sie taumelte ins Badezimmer und schluckte zwei Paracetamol. Ich bin nicht gerade ein Vorbild für meinen Sohn, dachte sie. Ich bin nicht mal ein Vorbild für meinen Hund.
Wie aufs Stichwort tappte Otis ins Badezimmer, die Leine erwartungsvoll in der Schnauze.
»Was gibt's zum Frühstück, Mum?«, rief Tyler.
Sie starrte ihr Spiegelbild an. Zum Glück war der größte Teil ihres einundvierzigjährigen Gesichts, das an diesem Morgen eher wie zweihunderteinundvierzig aussah, hinter dem zerzausten blonden Haar verborgen, das an verfilztes Stroh erinnerte. »Arsen!« Ihre Kehle war rau von zu vielen Zigaretten. »Mit Zyankali und Rattengift gewürzt. «
Otis kratzte mit der Pfote auf den Fliesen.
»Tut mir leid, kein Spaziergang. Nicht heute Morgen. Später. Okay?«
... mehr
»Das gab's schon gestern!«, rief Tyler.
»Hat aber nicht funktioniert, oder?«
Sie drehte die Dusche auf, wartete, bis das Wasser warm wurde, und stieg hinein.
2
Stuart Ferguson saß in Jeans, Sicherheitsstiefeln und Firmenoverall hoch oben im Führerhaus und wartete auf Grün. Die Scheibenwischer waren eingeschaltet. Der Berufsverkehr quälte sich unter ihm über die Old Shoreham Road in Brighton. Der Motor seines 24-Tonner Sattelschleppers, eines Kühltransporters von Volvo, hüllte seine Beine von unten in warme Luft. Es war Ende April, doch der Winter hielt das Land noch fest im Griff, und heute Morgen war er im Schnee gestartet. Von wegen Klimaerwärmung.
Er gähnte und schaute genervt in den trüben Morgen. Dann nahm er einen großen Schluck Red Bull. Er steckte die Dose in die Halterung, fuhr sich mit den feuchten, fleischigen Händen über den rasierten Kopf und trommelte auf dem Lenkrad den Rhythmus von Bat Out Of Hell, das laut genug aufgedreht war, um die toten Fische hinter ihm zu wecken. Es war die fünfte oder sechste Dose in den letzten Stunden, und er zitterte förmlich vor lauter Koffein. Aber nur das und die Musik konnten ihn jetzt noch wach halten.
Er hatte sich gestern Nachmittag auf den Weg gemacht und war von Aberdeen aus durchgefahren. Siebenhundertfünfzig Kilometer laut Tacho. Er war achtzehn Stunden fast ohne Pause unterwegs, hatte nur einmal in Newport Pagnell etwas gegessen und vor ein paar Stunden ein Nickerchen in einer Haltebucht gemacht. Ohne den Unfall am Autobahnkreuz M1/M6 wäre er pünktlich um acht hier gewesen, also vor einer Stunde.
Doch es war sinnlos, den Unfall zu erwähnen, denn es gab ständig Unfälle. Zu viele Leute auf der Straße, zu viele Autos, zu viele Lastwagen, zu viele Idioten, zu viel Ablenkung, zu viel Eile. Im Laufe der Jahre hatte er alles erlebt. Aber er war stolz auf seinen Rekord. Neunzehn Jahre und kein Kratzer - und auch kein Strafzettel.
Als er routinemäßig einen Blick aufs Armaturenbrett warf, um Öldruck und Temperaturanzeige zu prüfen, sprang die Ampel um. Er schaltete in den ersten Gang und gab Gas, als er die Kreuzung zur Boundary Road überquerte und die steile Straße hinunter zum Meer fuhr, das einen knappen Kilometer entfernt lag. Zuerst war er bei Springs gewesen, einer Lachsräucherei einige Kilometer nördlich in den Sussex Downs. Jetzt musste er noch den Rest seiner Ladung beim Tesco-Supermarkt im Holmbush Centre am Stadtrand abliefern. Danach würde er nach Newhaven fahren, seinen Wagen mit gefrorenem Lamm aus Neuseeland beladen, ein paar Stunden am Hafen schlafen und wieder nach Schottland zurückkehren.
Zu Jessie.
Er vermisste sie. Er warf einen Blick auf das Foto, das neben den Bildern seiner Kinder Donell und Logan am Armaturenbrett klebte. Die beiden vermisste er auch. Seine ätzende Exfrau Maddie stritt ständig mit ihm wegen des Besuchsrechts. Aber immerhin half ihm seine süße Jessie, das Leben wieder ins Lot zu bringen.
Sie war im vierten Monat schwanger. Nach drei entsetzlichen Jahren hatte er endlich wieder ein Ziel im Leben statt nur eine Vergangenheit voller Bitterkeit und Schuldzuweisungen.
Normalerweise hätte er sich auf dem Hinweg ein paar Stunden Zeit genommen, um richtig zu schlafen - so wie es die gesetzlichen Vorschriften verlangten. Aber die Warnlampe der Kühlvorrichtung blinkte, und die Temperatur stieg stetig. Er konnte es nicht riskieren, dass seine wertvolle Ladung aus Muscheln, Krabben, Garnelen und Lachs verdarb. Also musste er weiterfahren.
Solange er aufpasste, war alles gut. Er wusste, an welchen Stellen die Lastwagen überprüft wurden, und hörte CB-Funk, um keine Warnung zu verpassen. Deshalb machte er auch den Umweg durch die Stadt, statt die Umgehungsstraße zu nehmen.
Er fluchte.
Vor ihm leuchtete ein rotes Licht, dann senkte sich eine Schranke. Der Bahnübergang Portslade. Die Fahrzeuge bremsten und kamen zum Stehen. Mit zischenden Bremsen hielt auch er an. Links von ihm stemmte sich ein blonder Mann gegen den Regen und schloss die Tür eines Maklerbüros namens Rand und Co. auf.
Stuart fragte sich, wie es wohl wäre, einen solchen Job zu haben. Morgens aufzustehen, ins Büro zu fahren und abends zu seiner Familie heimzukehren, statt endlose Tage und Nächte allein im Lastwagen zu verbringen, in Raststätten zu essen oder vor dem beschissenen Fernseher in der Fahrerkabine einen Burger zu mampfen. Vielleicht wäre er noch verheiratet, wenn er einen solchen Job gehabt hätte. Würde seine Kinder immer noch jeden Abend und jedes Wochenende sehen.
Nur wusste er, dass er mit einem solchen Job nicht glücklich wäre. Er liebte die Freiheit der Straße. Er brauchte sie. Er fragte sich, ob sich der Typ morgens jemals einen Lastwagen angesehen und gedacht hatte: Am liebsten würde ich jetzt den Zündschlüssel umdrehen, statt hier reinzugehen.
Aus der Ferne mochte vieles besser aussehen, aber wenn er eins gelernt hatte, dann, dass überall Scheiße herumlag. Und irgendwann trat man rein.
3
Tony hatte ihr den Spitznamen Santa gegeben, da Suzy an dem verschneiten Dezembernachmittag, an dem sie in dem Haus seiner Eltern in den Hamptons zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, dunkelrote Satinunterwäsche getragen hatte. Für ihn war das wie ein Geschenk zu Weihnachten.
Sie hatte gegrinst, als er das sagte, und frech erwidert, zum Glück sei kein anderes Weihnachtsgeschenk gekommen.
Seit jenem Tag waren sie völlig hin und weg voneinander. So sehr, dass Tony Revere den Plan eines MBA-Studiums in Harvard aufgegeben hatte und stattdessen mit Suzy von New York nach England gezogen war, sehr zum Verdruss seiner dominanten Mutter. Nun studierten beide an der University of Brighton.
»Du Faulpelz!«, sagte er. »Du gottverdammter Faulpelz.«
»Na und, ich habe heute keine Vorlesungen.«
»Aber es ist halb neun.«
»Weiß ich doch. Ich habe dich schon um acht gehört. Dann um Viertel nach. Dann um fünf vor halb. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf. «
Er schaute auf sie hinunter. »Du bist schön genug. Soll ich dir mal was sagen? Wir haben uns seit Mitternacht nicht mehr geliebt.«
»Hast du mich über?«
»Sieht so aus.«
»Dann muss ich wohl mein altes schwarzes Buch herauskramen.«
»Ach, ja?«
Sie hob die Hand und packte ihn sanft, aber energisch unterhalb der Gürtelschnalle. Sie grinste, als er aufkeuchte. »Komm wieder ins Bett.«
»Ich muss zu meinem Tutor, und danach habe ich eine Vorlesung.«
»Worüber?«
»Galbraith'sche Herausforderungen an die heutige Erwerbsbevölkerung. «
»Mensch, du Glückspilz.«
»Und ob. Wenn ich die Wahl habe, mir das anzuhören oder den Morgen mit dir im Bett zu verbringen, brauche ich nicht lange zu überlegen. «
»Gut. Also komm wieder ins Bett.«
»Von wegen. Du weißt, was passiert, wenn ich in diesem Semester keine guten Noten bekomme.«
»Dann musst du heim in die Staaten zu Mami.«
»Du kennst doch meine Mutter.«
»Und ob. Ganz schön furchteinflößend.«
»Du sagst es.«
»Du hast also Angst vor ihr?«
»Vor meiner Mutter haben alle Angst.«
Suzy setzte sich auf und schob ihr langes dunkles Haar nach hinten. »Mehr als vor mir? Ist das der Grund, warum du hergekommen bist? Bin ich nur eine Ausrede, um vor ihr wegzulaufen?«
Er beugte sich hinunter und küsste sie, schmeckte ihren schläfrigen Atem. »Habe ich dir schon mal gesagt, dass du hinreißend bist?«
»Etwa tausendmal. Du bist auch hinreißend. Habe ich dir das schon mal gesagt?«
»Etwa tausendmal. Du bist wie eine Schallplatte, die hängen geblieben ist.« Er hängte sich den superleichten Rucksack über die Schultern.
Sie schaute ihn an. Er war groß und schlank, hatte das kurze dunkle Haar zu unregelmäßigen Stacheln gegelt und trug einen Dreitagebart, den sie gern am Gesicht spürte. Er trug einen gesteppten Anorak über zwei T-Shirts, dazu Jeans und Turnschuhe und roch nach dem Eau de Cologne von Abercrombie and Fitch, das sie so gerne mochte.
Er verströmte eine Selbstsicherheit, die sie bei ihrer ersten Begegnung in der dunklen Pravda-Kellerbar in Greenwich Village so sehr fasziniert hatte. Sie hatte mit ihrer besten Freundin Katie in New York Urlaub gemacht. Die arme Katie war allein nach England zurückgeflogen, während sie bei Tony geblieben war.
»Wann kommst du zurück?«
»Sobald ich kann.«
»Das ist nicht bald genug!«
Er küsste sie noch einmal. »Ich liebe dich. Ich vergöttere dich.«
Sie wedelte mit den Armen. »Mehr.«
»Du bist das unglaublichste, schönste, liebenswerteste Geschöpf auf diesem Planeten.«
»Mehr!«
»In jeder Sekunde, die ich von dir getrennt bin, vermisse ich dich immer und immer und immer mehr.«
Wieder wedelte sie mit den Armen. »Mehr!«
»Jetzt wirst du allmählich gierig.«
»Du machst mich gierig.«
»Und du machst mich geil wie sonst was. Ich muss los, bevor es zu spät ist!«
»Willst du mich wirklich so zurücklassen?«
»Yep.«
Er küsste sie noch einmal, setzte sich eine Baseballkappe auf und schob sein Mountainbike aus der Wohnung hinaus in den kalten, windigen Aprilmorgen. Als er die Haustür hinter sich schloss, atmete er tief die salzige Seeluft ein und schaute auf die Uhr.
Scheiße.
In zwanzig Minuten musste er bei seinem Tutor sein. Wenn er wie ein Irrer in die Pedale trat, könnte es gerade noch klappen.
4
Klick. Piiiiiiep ... tschiiiip ... uhuhuhhrrr ... tschiiiip ... groooommm ... piff, ha, ha, ha, quiek, ha ha ...
»Die Geräusche machen mich wahnsinnig«, sagte Carly.
Tyler beugte sich auf dem Beifahrersitz ihres Audi-Cabriolets über sein iPhone und konzentrierte sich ganz auf sein bescheuertes Spiel namens Angry Birds. Warum nur musste alles, was er machte, mit Lärm verbunden sein?
Das Telefon gab ein Geräusch von sich, als zerbräche Glas.
»Wir sind spät dran«, sagte er, ohne aufzublicken, und spielte weiter. Klong-quiek-ha, ha, ha-grooommm ...
»Tyler, bitte, ich habe Kopfschmerzen.« »Ach ja?« Er grinste. »Dann hättest du dich gestern Abend nicht volllaufen lassen sollen. Wieder mal.« Sie zuckte zusammen, als sie den Ausdruck hörte.
Klong-quiek-ha, ha, ha-grooommm ...
Gleich würde sie sich das verfluchte Telefon schnappen und aus dem Fenster werfen. »Du hättest dich gestern Abend auch volllaufen lassen, um diesen Volltrottel zu ertragen.«
»Geschieht dir ganz recht bei deinen Blinddates.«
»Danke vielmals.«
»Keine Ursache. Ich komme zu spät zur Schule. Das gibt Ärger.« Er schaute angestrengt durch seine ovale Nickelbrille. Klick-klick-pieppiep- piep.
»Ich rufe an und erkläre es.« »Du rufst immer an und erklärst es. Du bist verantwortungslos. Vielleicht sollte ich in eine Pflegefamilie gehen.« »Das wünsche ich mir schon seit Jahren.« Sie schaute durch die Windschutzscheibe auf die rote Ampel und den steten Verkehrsstrom, der sich vor ihnen über die Kreuzung quälte. Dann sah sie wieder auf die Uhr. 8.46 Uhr. Mit etwas Glück konnte sie Tyler an der Schule absetzen und rechtzeitig bei der Fußpflegerin sein. Toll, was für ein Morgen! Zuerst ein Hühnerauge entfernen, dann ihr Mandant, Mr. Häufchen Elend. Kein Wunder, dass seine Frau ihn verlassen hatte. Carly hätte sich vermutlich die Kugel gegeben, wenn sie mit ihm verheiratet gewesen wäre. Aber egal, sie hatte nicht über ihn zu richten. Sie musste Mrs Häufchen Elend davon abhalten, mit den Hoden ihres Mannes wie auch mit allem anderen davonzumarschieren, das ihm - Korrektur, ihnen - gehörte und auf das sie scharf war.
»Sie tut wirklich weh, immer noch, Mum.«
»Was denn? Ach so, deine Zahnspange.«
Tyler berührte seinen Mund. »Sie ist zu eng.«
»Ich mache einen Termin beim Kieferorthopäden.«
Tyler nickte und konzentrierte sich wieder auf sein Spiel.
Die Ampel sprang um. Sie nahm den rechten Fuß von der Bremse und gab Gas. Als die Nachrichten kamen, stellte sie das Radio lauter.
»Ich bin an diesem Wochenende bei den alten Herrschaften, nicht wahr?«
»Ich wünschte, du würdest deine Großeltern nicht so nennen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Muss ich hin?«
»Ja, du musst.«
»Wieso?«
»Geh mal schön hin, damit du hinterher auch was erbst.«
Er runzelte die Stirn.
»Vergiss es. Du wirst mir fehlen.«
»Du bist eine lausige Lügnerin. Du könntest es schon mit etwas mehr Gefühl sagen.« Er fuhr nachdenklich mit dem Finger über den Bildschirm des Handys.
Klong ... quiiiieeek ... möööööp ... ha, ha, ha ...
An der nächsten Ampel bog sie nach rechts in die New Church Road und nahm einem Lastwagen die Vorfahrt, der wütend hupte.
»Willst du uns umbringen?«
»Nicht uns, nur dich.«
»Es gibt Behörden, die Kinder vor Eltern wie dich schützen.«
Sie streckte den linken Arm aus und fuhr ihm durch das zerzauste braune Haar.
Er zog den Kopf weg. »Hey, nicht durcheinandermachen!«
Sie warf ihm einen liebevollen Blick zu. Er wurde viel zu schnell groß und sah so gut aus in Hemd und Krawatte, dem roten Blazer und der grauen Hose. Noch keine dreizehn, und schon waren die Mädchen hinter ihm her. Er wurde seinem Vater mit jedem Tag ähnlicher, entwickelte die gleiche raue Attraktivität. Manchmal erinnerte sein Gesichtsausdruck sie viel zu sehr an Kes, dann kamen ihr auch nach fünf Jahren noch die Tränen.
Um kurz nach neun hielt sie vor dem roten Tor der St. Christopher's School. Tyler löst den Sicherheitsgurt und griff nach seinem Rucksack.
»Hast du Friend Mapper eingeschaltet?«
Er schaute sie mitleidig an. »Ja, natürlich. Aber ich bin kein Baby mehr.«
Friend Mapper war eine GPS-App auf dem iPhone, mit der sie jederzeit feststellen konnte, wo er sich befand. »Solange ich für dein iPhone bezahle, bleibt es drin. So war es abgemacht.«
»Du bist eine überbesorgte Mutter. Das könnte mich emotional ganz schön schädigen.«
»Das Risiko muss ich eingehen.«
Er stieg aus dem Auto und hielt zögernd die Tür fest. »Du solltest wieder ein eigenes Leben führen.«
»Das hatte ich, bevor du geboren wurdest.«
Er lächelte und knallte die Tür zu.
Sie schaute ihm kurz nach, als er über den verlassenen Schulhof ging. Alle anderen Schüler waren bereits im Gebäude. Wann immer sie ihn aus den Augen ließ, hatte sie Angst um ihn. Nur wenn sie auf ihr iPhone schaute und den pulsierenden dunkelroten Punkt sah, der ihr seinen Aufenthaltsort verriet, war sie beruhigt. Tyler hatte recht, sie war überbesorgt, aber das ließ sich nun mal nicht ändern. Sie liebte ihn verzweifelt und wusste, dass er sie trotz seiner nervigen Angewohnheiten und seiner Widerborstigkeit ebenfalls liebte.
Carly wendete den Wagen und fuhr in Richtung Portland Road. Sie fuhr schneller als erlaubt, weil sie den Termin einhalten wollte. Das Hühnerauge war sehr schmerzhaft, und sie wollte die Behandlung nicht verpassen. Außerdem musste sie danach rechtzeitig ins Büro, um mit Mrs Häufchen Elend zu sprechen. Mit etwas Glück blieben ihr dann noch wenige Minuten, um wichtige Unterlagen für eine bevorstehende Anhörung durchzugehen.
Ihr Handy meldete eine SMS. Als sie die Einmündung zur Hauptstraße erreichte, warf sie einen Blick darauf.
War toll gestern Abend - möchte dich wiedersehen XXX.
Träum weiter, Schätzchen. Sie schauderte, wenn sie nur an ihn dachte. Dave aus Preston in Lancashire. Preston-Dave, hatte sie ihn bei sich genannt. Immerhin hatte sie ein ehrliches Foto von sich in der Singlebörse hochgeladen - jedenfalls halbwegs ehrlich! Sie suchte ja auch keinen Mr Universum. Nur einen netten Mann, der nicht fünfzig Kilo schwerer und zehn Jahre älter als auf seinem Foto war und den ganzen Abend nur davon redete, wie wunderbar er sei und wie toll die Frauen ihn im Bett fänden. War das zu viel verlangt?
Der Gipfel war aber gewesen, dass der knauserige Kerl sie in ein unpassend teures Restaurant eingeladen und am Ende vorgeschlagen hatte, die Rechnung zu teilen.
Sie hielt den Fuß auf der Bremse, beugte sich vor, nahm das Handy aus der Halterung und löschte entschlossen die SMS. Zufrieden steckte sie es wieder zurück.
Dann bog sie vor einem weißen Lieferwagen nach links ab und gab Gas.
Der Fahrer des Lieferwagens hupte und betätigte wütend die Lichthupe. Dann hängte er sich an ihre Stoßstange. Sie streckte zwei Finger in die Höhe.
In den kommenden Tagen und Wochen würde sie noch bitter bereuen, dass sie die SMS gelesen und gelöscht hatte. Hätte sie nicht jene kostbaren Sekunden an der Einmündung gewartet und an ihrem Handy herumgefummelt, sondern wäre eine halbe Minute früher nach links abgebogen, wäre alles ganz anders gelaufen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Das gab's schon gestern!«, rief Tyler.
»Hat aber nicht funktioniert, oder?«
Sie drehte die Dusche auf, wartete, bis das Wasser warm wurde, und stieg hinein.
2
Stuart Ferguson saß in Jeans, Sicherheitsstiefeln und Firmenoverall hoch oben im Führerhaus und wartete auf Grün. Die Scheibenwischer waren eingeschaltet. Der Berufsverkehr quälte sich unter ihm über die Old Shoreham Road in Brighton. Der Motor seines 24-Tonner Sattelschleppers, eines Kühltransporters von Volvo, hüllte seine Beine von unten in warme Luft. Es war Ende April, doch der Winter hielt das Land noch fest im Griff, und heute Morgen war er im Schnee gestartet. Von wegen Klimaerwärmung.
Er gähnte und schaute genervt in den trüben Morgen. Dann nahm er einen großen Schluck Red Bull. Er steckte die Dose in die Halterung, fuhr sich mit den feuchten, fleischigen Händen über den rasierten Kopf und trommelte auf dem Lenkrad den Rhythmus von Bat Out Of Hell, das laut genug aufgedreht war, um die toten Fische hinter ihm zu wecken. Es war die fünfte oder sechste Dose in den letzten Stunden, und er zitterte förmlich vor lauter Koffein. Aber nur das und die Musik konnten ihn jetzt noch wach halten.
Er hatte sich gestern Nachmittag auf den Weg gemacht und war von Aberdeen aus durchgefahren. Siebenhundertfünfzig Kilometer laut Tacho. Er war achtzehn Stunden fast ohne Pause unterwegs, hatte nur einmal in Newport Pagnell etwas gegessen und vor ein paar Stunden ein Nickerchen in einer Haltebucht gemacht. Ohne den Unfall am Autobahnkreuz M1/M6 wäre er pünktlich um acht hier gewesen, also vor einer Stunde.
Doch es war sinnlos, den Unfall zu erwähnen, denn es gab ständig Unfälle. Zu viele Leute auf der Straße, zu viele Autos, zu viele Lastwagen, zu viele Idioten, zu viel Ablenkung, zu viel Eile. Im Laufe der Jahre hatte er alles erlebt. Aber er war stolz auf seinen Rekord. Neunzehn Jahre und kein Kratzer - und auch kein Strafzettel.
Als er routinemäßig einen Blick aufs Armaturenbrett warf, um Öldruck und Temperaturanzeige zu prüfen, sprang die Ampel um. Er schaltete in den ersten Gang und gab Gas, als er die Kreuzung zur Boundary Road überquerte und die steile Straße hinunter zum Meer fuhr, das einen knappen Kilometer entfernt lag. Zuerst war er bei Springs gewesen, einer Lachsräucherei einige Kilometer nördlich in den Sussex Downs. Jetzt musste er noch den Rest seiner Ladung beim Tesco-Supermarkt im Holmbush Centre am Stadtrand abliefern. Danach würde er nach Newhaven fahren, seinen Wagen mit gefrorenem Lamm aus Neuseeland beladen, ein paar Stunden am Hafen schlafen und wieder nach Schottland zurückkehren.
Zu Jessie.
Er vermisste sie. Er warf einen Blick auf das Foto, das neben den Bildern seiner Kinder Donell und Logan am Armaturenbrett klebte. Die beiden vermisste er auch. Seine ätzende Exfrau Maddie stritt ständig mit ihm wegen des Besuchsrechts. Aber immerhin half ihm seine süße Jessie, das Leben wieder ins Lot zu bringen.
Sie war im vierten Monat schwanger. Nach drei entsetzlichen Jahren hatte er endlich wieder ein Ziel im Leben statt nur eine Vergangenheit voller Bitterkeit und Schuldzuweisungen.
Normalerweise hätte er sich auf dem Hinweg ein paar Stunden Zeit genommen, um richtig zu schlafen - so wie es die gesetzlichen Vorschriften verlangten. Aber die Warnlampe der Kühlvorrichtung blinkte, und die Temperatur stieg stetig. Er konnte es nicht riskieren, dass seine wertvolle Ladung aus Muscheln, Krabben, Garnelen und Lachs verdarb. Also musste er weiterfahren.
Solange er aufpasste, war alles gut. Er wusste, an welchen Stellen die Lastwagen überprüft wurden, und hörte CB-Funk, um keine Warnung zu verpassen. Deshalb machte er auch den Umweg durch die Stadt, statt die Umgehungsstraße zu nehmen.
Er fluchte.
Vor ihm leuchtete ein rotes Licht, dann senkte sich eine Schranke. Der Bahnübergang Portslade. Die Fahrzeuge bremsten und kamen zum Stehen. Mit zischenden Bremsen hielt auch er an. Links von ihm stemmte sich ein blonder Mann gegen den Regen und schloss die Tür eines Maklerbüros namens Rand und Co. auf.
Stuart fragte sich, wie es wohl wäre, einen solchen Job zu haben. Morgens aufzustehen, ins Büro zu fahren und abends zu seiner Familie heimzukehren, statt endlose Tage und Nächte allein im Lastwagen zu verbringen, in Raststätten zu essen oder vor dem beschissenen Fernseher in der Fahrerkabine einen Burger zu mampfen. Vielleicht wäre er noch verheiratet, wenn er einen solchen Job gehabt hätte. Würde seine Kinder immer noch jeden Abend und jedes Wochenende sehen.
Nur wusste er, dass er mit einem solchen Job nicht glücklich wäre. Er liebte die Freiheit der Straße. Er brauchte sie. Er fragte sich, ob sich der Typ morgens jemals einen Lastwagen angesehen und gedacht hatte: Am liebsten würde ich jetzt den Zündschlüssel umdrehen, statt hier reinzugehen.
Aus der Ferne mochte vieles besser aussehen, aber wenn er eins gelernt hatte, dann, dass überall Scheiße herumlag. Und irgendwann trat man rein.
3
Tony hatte ihr den Spitznamen Santa gegeben, da Suzy an dem verschneiten Dezembernachmittag, an dem sie in dem Haus seiner Eltern in den Hamptons zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, dunkelrote Satinunterwäsche getragen hatte. Für ihn war das wie ein Geschenk zu Weihnachten.
Sie hatte gegrinst, als er das sagte, und frech erwidert, zum Glück sei kein anderes Weihnachtsgeschenk gekommen.
Seit jenem Tag waren sie völlig hin und weg voneinander. So sehr, dass Tony Revere den Plan eines MBA-Studiums in Harvard aufgegeben hatte und stattdessen mit Suzy von New York nach England gezogen war, sehr zum Verdruss seiner dominanten Mutter. Nun studierten beide an der University of Brighton.
»Du Faulpelz!«, sagte er. »Du gottverdammter Faulpelz.«
»Na und, ich habe heute keine Vorlesungen.«
»Aber es ist halb neun.«
»Weiß ich doch. Ich habe dich schon um acht gehört. Dann um Viertel nach. Dann um fünf vor halb. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf. «
Er schaute auf sie hinunter. »Du bist schön genug. Soll ich dir mal was sagen? Wir haben uns seit Mitternacht nicht mehr geliebt.«
»Hast du mich über?«
»Sieht so aus.«
»Dann muss ich wohl mein altes schwarzes Buch herauskramen.«
»Ach, ja?«
Sie hob die Hand und packte ihn sanft, aber energisch unterhalb der Gürtelschnalle. Sie grinste, als er aufkeuchte. »Komm wieder ins Bett.«
»Ich muss zu meinem Tutor, und danach habe ich eine Vorlesung.«
»Worüber?«
»Galbraith'sche Herausforderungen an die heutige Erwerbsbevölkerung. «
»Mensch, du Glückspilz.«
»Und ob. Wenn ich die Wahl habe, mir das anzuhören oder den Morgen mit dir im Bett zu verbringen, brauche ich nicht lange zu überlegen. «
»Gut. Also komm wieder ins Bett.«
»Von wegen. Du weißt, was passiert, wenn ich in diesem Semester keine guten Noten bekomme.«
»Dann musst du heim in die Staaten zu Mami.«
»Du kennst doch meine Mutter.«
»Und ob. Ganz schön furchteinflößend.«
»Du sagst es.«
»Du hast also Angst vor ihr?«
»Vor meiner Mutter haben alle Angst.«
Suzy setzte sich auf und schob ihr langes dunkles Haar nach hinten. »Mehr als vor mir? Ist das der Grund, warum du hergekommen bist? Bin ich nur eine Ausrede, um vor ihr wegzulaufen?«
Er beugte sich hinunter und küsste sie, schmeckte ihren schläfrigen Atem. »Habe ich dir schon mal gesagt, dass du hinreißend bist?«
»Etwa tausendmal. Du bist auch hinreißend. Habe ich dir das schon mal gesagt?«
»Etwa tausendmal. Du bist wie eine Schallplatte, die hängen geblieben ist.« Er hängte sich den superleichten Rucksack über die Schultern.
Sie schaute ihn an. Er war groß und schlank, hatte das kurze dunkle Haar zu unregelmäßigen Stacheln gegelt und trug einen Dreitagebart, den sie gern am Gesicht spürte. Er trug einen gesteppten Anorak über zwei T-Shirts, dazu Jeans und Turnschuhe und roch nach dem Eau de Cologne von Abercrombie and Fitch, das sie so gerne mochte.
Er verströmte eine Selbstsicherheit, die sie bei ihrer ersten Begegnung in der dunklen Pravda-Kellerbar in Greenwich Village so sehr fasziniert hatte. Sie hatte mit ihrer besten Freundin Katie in New York Urlaub gemacht. Die arme Katie war allein nach England zurückgeflogen, während sie bei Tony geblieben war.
»Wann kommst du zurück?«
»Sobald ich kann.«
»Das ist nicht bald genug!«
Er küsste sie noch einmal. »Ich liebe dich. Ich vergöttere dich.«
Sie wedelte mit den Armen. »Mehr.«
»Du bist das unglaublichste, schönste, liebenswerteste Geschöpf auf diesem Planeten.«
»Mehr!«
»In jeder Sekunde, die ich von dir getrennt bin, vermisse ich dich immer und immer und immer mehr.«
Wieder wedelte sie mit den Armen. »Mehr!«
»Jetzt wirst du allmählich gierig.«
»Du machst mich gierig.«
»Und du machst mich geil wie sonst was. Ich muss los, bevor es zu spät ist!«
»Willst du mich wirklich so zurücklassen?«
»Yep.«
Er küsste sie noch einmal, setzte sich eine Baseballkappe auf und schob sein Mountainbike aus der Wohnung hinaus in den kalten, windigen Aprilmorgen. Als er die Haustür hinter sich schloss, atmete er tief die salzige Seeluft ein und schaute auf die Uhr.
Scheiße.
In zwanzig Minuten musste er bei seinem Tutor sein. Wenn er wie ein Irrer in die Pedale trat, könnte es gerade noch klappen.
4
Klick. Piiiiiiep ... tschiiiip ... uhuhuhhrrr ... tschiiiip ... groooommm ... piff, ha, ha, ha, quiek, ha ha ...
»Die Geräusche machen mich wahnsinnig«, sagte Carly.
Tyler beugte sich auf dem Beifahrersitz ihres Audi-Cabriolets über sein iPhone und konzentrierte sich ganz auf sein bescheuertes Spiel namens Angry Birds. Warum nur musste alles, was er machte, mit Lärm verbunden sein?
Das Telefon gab ein Geräusch von sich, als zerbräche Glas.
»Wir sind spät dran«, sagte er, ohne aufzublicken, und spielte weiter. Klong-quiek-ha, ha, ha-grooommm ...
»Tyler, bitte, ich habe Kopfschmerzen.« »Ach ja?« Er grinste. »Dann hättest du dich gestern Abend nicht volllaufen lassen sollen. Wieder mal.« Sie zuckte zusammen, als sie den Ausdruck hörte.
Klong-quiek-ha, ha, ha-grooommm ...
Gleich würde sie sich das verfluchte Telefon schnappen und aus dem Fenster werfen. »Du hättest dich gestern Abend auch volllaufen lassen, um diesen Volltrottel zu ertragen.«
»Geschieht dir ganz recht bei deinen Blinddates.«
»Danke vielmals.«
»Keine Ursache. Ich komme zu spät zur Schule. Das gibt Ärger.« Er schaute angestrengt durch seine ovale Nickelbrille. Klick-klick-pieppiep- piep.
»Ich rufe an und erkläre es.« »Du rufst immer an und erklärst es. Du bist verantwortungslos. Vielleicht sollte ich in eine Pflegefamilie gehen.« »Das wünsche ich mir schon seit Jahren.« Sie schaute durch die Windschutzscheibe auf die rote Ampel und den steten Verkehrsstrom, der sich vor ihnen über die Kreuzung quälte. Dann sah sie wieder auf die Uhr. 8.46 Uhr. Mit etwas Glück konnte sie Tyler an der Schule absetzen und rechtzeitig bei der Fußpflegerin sein. Toll, was für ein Morgen! Zuerst ein Hühnerauge entfernen, dann ihr Mandant, Mr. Häufchen Elend. Kein Wunder, dass seine Frau ihn verlassen hatte. Carly hätte sich vermutlich die Kugel gegeben, wenn sie mit ihm verheiratet gewesen wäre. Aber egal, sie hatte nicht über ihn zu richten. Sie musste Mrs Häufchen Elend davon abhalten, mit den Hoden ihres Mannes wie auch mit allem anderen davonzumarschieren, das ihm - Korrektur, ihnen - gehörte und auf das sie scharf war.
»Sie tut wirklich weh, immer noch, Mum.«
»Was denn? Ach so, deine Zahnspange.«
Tyler berührte seinen Mund. »Sie ist zu eng.«
»Ich mache einen Termin beim Kieferorthopäden.«
Tyler nickte und konzentrierte sich wieder auf sein Spiel.
Die Ampel sprang um. Sie nahm den rechten Fuß von der Bremse und gab Gas. Als die Nachrichten kamen, stellte sie das Radio lauter.
»Ich bin an diesem Wochenende bei den alten Herrschaften, nicht wahr?«
»Ich wünschte, du würdest deine Großeltern nicht so nennen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Muss ich hin?«
»Ja, du musst.«
»Wieso?«
»Geh mal schön hin, damit du hinterher auch was erbst.«
Er runzelte die Stirn.
»Vergiss es. Du wirst mir fehlen.«
»Du bist eine lausige Lügnerin. Du könntest es schon mit etwas mehr Gefühl sagen.« Er fuhr nachdenklich mit dem Finger über den Bildschirm des Handys.
Klong ... quiiiieeek ... möööööp ... ha, ha, ha ...
An der nächsten Ampel bog sie nach rechts in die New Church Road und nahm einem Lastwagen die Vorfahrt, der wütend hupte.
»Willst du uns umbringen?«
»Nicht uns, nur dich.«
»Es gibt Behörden, die Kinder vor Eltern wie dich schützen.«
Sie streckte den linken Arm aus und fuhr ihm durch das zerzauste braune Haar.
Er zog den Kopf weg. »Hey, nicht durcheinandermachen!«
Sie warf ihm einen liebevollen Blick zu. Er wurde viel zu schnell groß und sah so gut aus in Hemd und Krawatte, dem roten Blazer und der grauen Hose. Noch keine dreizehn, und schon waren die Mädchen hinter ihm her. Er wurde seinem Vater mit jedem Tag ähnlicher, entwickelte die gleiche raue Attraktivität. Manchmal erinnerte sein Gesichtsausdruck sie viel zu sehr an Kes, dann kamen ihr auch nach fünf Jahren noch die Tränen.
Um kurz nach neun hielt sie vor dem roten Tor der St. Christopher's School. Tyler löst den Sicherheitsgurt und griff nach seinem Rucksack.
»Hast du Friend Mapper eingeschaltet?«
Er schaute sie mitleidig an. »Ja, natürlich. Aber ich bin kein Baby mehr.«
Friend Mapper war eine GPS-App auf dem iPhone, mit der sie jederzeit feststellen konnte, wo er sich befand. »Solange ich für dein iPhone bezahle, bleibt es drin. So war es abgemacht.«
»Du bist eine überbesorgte Mutter. Das könnte mich emotional ganz schön schädigen.«
»Das Risiko muss ich eingehen.«
Er stieg aus dem Auto und hielt zögernd die Tür fest. »Du solltest wieder ein eigenes Leben führen.«
»Das hatte ich, bevor du geboren wurdest.«
Er lächelte und knallte die Tür zu.
Sie schaute ihm kurz nach, als er über den verlassenen Schulhof ging. Alle anderen Schüler waren bereits im Gebäude. Wann immer sie ihn aus den Augen ließ, hatte sie Angst um ihn. Nur wenn sie auf ihr iPhone schaute und den pulsierenden dunkelroten Punkt sah, der ihr seinen Aufenthaltsort verriet, war sie beruhigt. Tyler hatte recht, sie war überbesorgt, aber das ließ sich nun mal nicht ändern. Sie liebte ihn verzweifelt und wusste, dass er sie trotz seiner nervigen Angewohnheiten und seiner Widerborstigkeit ebenfalls liebte.
Carly wendete den Wagen und fuhr in Richtung Portland Road. Sie fuhr schneller als erlaubt, weil sie den Termin einhalten wollte. Das Hühnerauge war sehr schmerzhaft, und sie wollte die Behandlung nicht verpassen. Außerdem musste sie danach rechtzeitig ins Büro, um mit Mrs Häufchen Elend zu sprechen. Mit etwas Glück blieben ihr dann noch wenige Minuten, um wichtige Unterlagen für eine bevorstehende Anhörung durchzugehen.
Ihr Handy meldete eine SMS. Als sie die Einmündung zur Hauptstraße erreichte, warf sie einen Blick darauf.
War toll gestern Abend - möchte dich wiedersehen XXX.
Träum weiter, Schätzchen. Sie schauderte, wenn sie nur an ihn dachte. Dave aus Preston in Lancashire. Preston-Dave, hatte sie ihn bei sich genannt. Immerhin hatte sie ein ehrliches Foto von sich in der Singlebörse hochgeladen - jedenfalls halbwegs ehrlich! Sie suchte ja auch keinen Mr Universum. Nur einen netten Mann, der nicht fünfzig Kilo schwerer und zehn Jahre älter als auf seinem Foto war und den ganzen Abend nur davon redete, wie wunderbar er sei und wie toll die Frauen ihn im Bett fänden. War das zu viel verlangt?
Der Gipfel war aber gewesen, dass der knauserige Kerl sie in ein unpassend teures Restaurant eingeladen und am Ende vorgeschlagen hatte, die Rechnung zu teilen.
Sie hielt den Fuß auf der Bremse, beugte sich vor, nahm das Handy aus der Halterung und löschte entschlossen die SMS. Zufrieden steckte sie es wieder zurück.
Dann bog sie vor einem weißen Lieferwagen nach links ab und gab Gas.
Der Fahrer des Lieferwagens hupte und betätigte wütend die Lichthupe. Dann hängte er sich an ihre Stoßstange. Sie streckte zwei Finger in die Höhe.
In den kommenden Tagen und Wochen würde sie noch bitter bereuen, dass sie die SMS gelesen und gelöscht hatte. Hätte sie nicht jene kostbaren Sekunden an der Einmündung gewartet und an ihrem Handy herumgefummelt, sondern wäre eine halbe Minute früher nach links abgebogen, wäre alles ganz anders gelaufen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Peter James
Peter James, geb. 1948, ist Schriftsteller und Filmproduzent. Er hat lange Jahre in den USA gelebt und war dort als Drehbuchautor und Filmproduzent tätig. Seit seiner Rückkehr nach England widmet er sich vorrangig dem Schreiben. Seine Thriller-Serie mit Detective Superintendent Roy Grace ist mittlerweile in 33 Sprachen übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter James
- 2013, 352 Seiten, Masse: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Goga-Klinkenberg, Susanne
- Übersetzer: Susanne Goga-Klinkenberg
- Verlag: FISCHER Scherz
- ISBN-10: 3651000362
- ISBN-13: 9783651000360
- Erscheinungsdatum: 26.09.2013
Rezension zu „Rigor Mortis “
Ein furios spannender Thriller, der mit einem halboffenen Ende keine Wünsche offen lässt - oh ja, doch: bitte bald eine Fortsetzung schreiben. Mario Reinthaler Bücherschau.at 20140214
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