Philomena
Eine Mutter sucht ihren Sohn. Mit einem Vorwort von Judi Dench. Das Buch zum Film. Deutsche Erstausgabe
Philomena Lee ist selbst noch fast ein Kind, als sie hochschwanger im Kloster Zuflucht sucht. Doch statt Barmherzigkeit erwartet sie dort ein unerbittliches System: Im Irland der 50er-Jahre verkaufen die Nonnen jedes uneheliche Kind, das in ihrem Konvent...
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Produktinformationen zu „Philomena “
Klappentext zu „Philomena “
Philomena Lee ist selbst noch fast ein Kind, als sie hochschwanger im Kloster Zuflucht sucht. Doch statt Barmherzigkeit erwartet sie dort ein unerbittliches System: Im Irland der 50er-Jahre verkaufen die Nonnen jedes uneheliche Kind, das in ihrem Konvent geboren wird, mit neuer Identität in die USA. Wie viele andere Mütter verliert auch Philomena ihren Sohn, aus Anthony Lee wird mit drei Jahren Michael Hess. Mutter und Sohn können einander nicht vergessen, doch erst 50 Jahre später erfährt Philomena, was aus ihrem Sohn geworden ist.Lese-Probe zu „Philomena “
Philomena von Martin SixsmithEins
Samstag, 5. Juli 1952 Sean Ross Abbey, Roscrea, County Tipperary, Irland
Schwester Annunciata verfluchte das elektrische Licht. Bei jedem Gewitter flackerte es schlimmer als die alten Petroleumlampen. Doch gerade in dieser Nacht brauchten sie so viel Licht wie nur möglich.
Sie wollte ihre Schritte beschleunigen, stolperte aber über den Saum ihres Ordensgewands. Ihr zitterten die Hände, und heißes Wasser schwappte aus der Emailleschüssel auf den steinernen Boden des dunklen Gangs. Für die anderen war alles ganz einfach, sie brauchten nichts weiter zu tun, als zur Heiligen Jungfrau zu beten. Von Schwester Annunciata jedoch erwartete man tatkräftige Hilfe. Sonst würde das Mädchen sterben, denn niemand außer ihr wusste, wie man es retten konnte.
In dem improvisierten Kreißsaal über der Kapelle kniete sich Annunciata neben ihre Patientin und sprach ihr flüsternd Mut zu. Das Mädchen versuchte zu lächeln und antwortete etwas Unverständliches. Als ein Blitz den Raum erhellte, zog Annunciata die Laken höher, damit das Mädchen nicht sah, wie blutig sie waren.
Annunciata war selbst kaum älter als ihre Patientin. Beide kamen sie vom Land, aus dem hintersten Winkel von Limerick. Aber Annunciata war die Geburtshelferin, und die Nonnen warteten darauf, dass sie irgendetwas tat.
... mehr
Von unten hörte sie, dass Mutter Barbara die anderen Mädchen in die Kapelle rief. Sie sollten beten - für den gefallenen Engel, die sterbende Sünderin, die die gleiche Schande auf sich geladen hatte wie all die anderen. Gedämpft, aber unbarmherzig schallten die körperlosen Stimmen herauf. Annunciata drückte ihrer Patientin die Hand und sagte, sie solle nicht darauf achten. Sie hob den weißen Leinenkittel und wischte dem Mädchen mit warmem Wasser das Blut von den Beinen. Man konnte das Baby bereits sehen, aber nur den Rücken, nicht den Kopf. Annunciata hatte schon von Steißgeburten gehört, und sie wusste, noch eine Stunde, dann wären Mutter und Kind tot. Denn gleich würde das Fieber einsetzen.
Schwester Annunciata beugte sich über die Gebärende und wischte ihr über die Stirn.
Das Mädchen wusste gar nicht, wie ihm geschah. Niemand hatte es besucht, obwohl es schon seit zwei Monaten hier war. Vater und Bruder hatten es zu den Nonnen gebracht, und jetzt ließen die Nonnen es einfach sterben.
Annunciata dankte Gott, dass sie nicht diejenige war, die dort lag. Dann riss sie sich zusammen. Sie als Bauerntochter war schließlich nicht zimperlich! Sie packte das Baby, seine Haut fühlte sich warm und lebendig an. Mutter Barbara hatte gesagt, Sünderinnen verdienten keine Schmerzmittel, und die junge Mutter schrie. Sie schrie um ihr Baby. »Lass nicht zu, dass sie ihn hier begraben ... Sie werden ihn im Kloster begraben ...«
Mit ihren kräftigen Händen - und dann mit der Zange aus kaltem Metall - zog und zerrte Annunciata an dem winzigen Körper. Er bewegte sich, wenngleich auch nur widerwillig, als wollte er die warme Geborgenheit nicht aufgeben. Blassrote Flüssigkeit quoll auf das weiße Laken. Annunciata hatte den Kopf des Babys gefunden. Und sie zog weiter, zerrte ein neues Leben auf Gottes Erde.
Schwester Annunciata war dreiundzwanzig. Seit fünf Jahren trug sie diesen Namen, davor war sie Mary Kelly gewesen, eine von den Kellys aus Limerick, eine von sieben.
Eines Abends war der Priester gekommen, hatte mit dem alten Mr Kelly etwas getrunken und ihm sein Bedauern ausgesprochen, weil ihm Söhne versagt geblieben waren. Nach dem dritten Whiskey hatte sich der Priester vorgebeugt und dem alten Kelly zugeraunt: »Also, Tom, ich weiß ja, du liebst deine Mädchen. Das Beste wäre also, wenn du dich darum kümmern würdest, dass sie gut versorgt sind. Eine kannst du Gott doch überlassen, oder nicht, Tom?«
Nun war sie also hier, fünf Jahre später - Schwester Annunciata, Gott überlassen.
Wann immer Annunciata in den nächsten Tagen die Gelegenheit dazu hatte, herzte sie den Kleinen, als wäre er ihr eigenes Kind. Schließlich war sie diejenige, die ihm das Leben geschenkt hatte. Sie hatte ihn gerettet, ihn das Licht der Welt erblicken lassen. Auf ihren Vorschlag hin war er auf den Namen Anthony getauft worden, und sie hatte das Gefühl, dass sie in besonderer Weise miteinander verbunden waren. Sie tröstete ihn, wenn er weinte, und wenn er Hunger hatte, hätte sie nichts lieber getan, als ihn zu stillen.
Der Mutter des Jungen hatten die Nonnen den Namen Marcella gegeben - hier im Kloster durfte keines der Mädchen seinen richtigen Namen behalten. Von der Familie verlassen, suchte Marcella Halt bei Annunciata. Annunciata ihrerseits spendete Marcella Trost und ließ sie spüren, dass sie sie - im Gegensatz zu den Nonnen - nicht verurteilte. Ungeachtet der gebotenen Stille suchten sich die beiden ein ruhiges Plätzchen und tauschten Geheimnisse aus ihren alten Leben aus. »Erzähl mir von dem Mann«, flüsterte Annunciata Marcella ins Ohr. »Erzähl, wie war er?«
Marcella kicherte, und Annunciata rutschte noch näher, sie wollte es unbedingt wissen.
»Nun sag schon, wie war er? Sah er gut aus?«
Marcella lächelte. Mittlerweile erschienen ihr die wenigen Stunden mit John McInerney wie das Licht der Erkenntnis in ihrem zuvor so unwissenden Leben. Seit ihrer Ankunft im Kloster hatte sie diese kostbare Erinnerung bewahrt, davon geträumt und sie immer wieder durchlebt.
»Er war der bestaussehende Mann, der mir je begegnet ist. Groß und dunkelhaarig ... und er hatte einen so sanften, gütigen Blick. Er arbeitet auf dem Postamt in Limerick, hat er gesagt. «
Noch ein wenig Ermunterung von Annunciata, und Marcella erzählte alles über den Abend, an dem das Baby gezeugt wurde - wie unbeschwert und glücklich sie gewesen war, als sie noch Philomena Lee hieß.
Es war ein milder Abend gewesen, und die Lichter des Jahrmarkts, die Musik des Ceilidh und der Duft von Zuckerwatte und kandierten Äpfeln hatten ihre Abenteuerlust geweckt. Philomena warf immer wieder verstohlene Blicke zu dem jungen Mann vom Postamt. Er lachte sie an und prostete ihr mit seinem Bierglas zu. Mit einer Mischung aus Zögern und Spannung hatten sie sich angesehen. Und dann ... und dann ...
Zwei
7. Juli 1952 Dublin, Irland
Die Sommerstürme, die Schwester Annunciata in der Nacht von Anthonys Geburt zu schaffen gemacht hatten, wüteten nicht nur in Roscrea. Das Stromnetz der gesamten Republik Irland musste dringend modernisiert werden.
In Glasnevin, einem Vorort von Dublin, sorgte ein Stromausfall dafür, dass es im ganzen Haus stockdunkel war, als Joe Coram am Montagmorgen aufwachte. Eine halbe Stunde später fand Corams Frau Maire ihn im Dunkeln sitzend beim Frühstück vor, das aus ungetoastetem Brot und kaltem Tee bestand. Sie musste lachen. Auch Joe lachte. Er war jung und voller Tatendrang, und er liebte seinen Job, ebenso wie seine Frau, sein Haus und das Leben im Allgemeinen. Er umarmte Maire, und einmal mehr fiel ihm auf, wie hübsch sie war.
»Heute Abend kann es spät werden, Maire, vorausgesetzt, die Straßenbahnen fahren. Ich muss zu diesem vermaledeiten Arbeitskreis Kirchenpolitik« - Corams Frau verdrehte die Augen -, »wo es bekanntermaßen momentan ein wenig zäh läuft.«
Glücklicherweise waren die Straßenbahnen nicht von dem Stromausfall betroffen, und Joe Coram erreichte ungehindert sein Büro. Zehn Minuten später wünschte er, er wäre niemals dort angekommen. Seine Sekretärin hatte sich krankgemeldet, und auf seinem Schreibtisch lag eine Mitteilung, der er entnahm, dass der Minister ihn sprechen wollte, und zwar umgehend.
Frank Aiken, Außenminister der Republik Irland, war schlecht gelaunt, und in Iveagh House hielten schon alle den Atem an. Aiken war ein Sturkopf, der gegen alles und jeden einen Groll hegte - noch immer nahm er es seinen ehemaligen Kameraden übel, dass sie 1921 dem Anglo-Irischen Vertrag zugestimmt hatten.
Joe wusste, worum es bei dem ganzen Wirbel ging - er war Leiter der Abteilung für Pässe und Visa und hatte als solcher Einblick in die Russell-Kavanagh Affäre, von Beginn an, seit die Geschichte sechs Monate zuvor ins Rollen gekommen war. Im Vorzimmer des Ministers setzte der junge Privatsekretär Joe in aller Kürze in Kenntnis: »Diese verfluchte Jane-Russell-Sache fällt uns wieder auf die Füße. Jetzt hat auch noch die internationale Presse Wind davon bekommen. Ich würde Ihnen die Depesche gern zeigen, aber Frank hat sie mit in sein Büro genommen. Also machen Sie sich auf etwas gefasst.«
Frank Aiken hatte sich gerade die fünfte Zigarette an diesem Morgen angesteckt, als Joe an die Tür klopfte und das Büro betrat. Auf dem Schreibtisch stapelten sich wie üblich interne Mitteilungen, Zeitungen und aufgerissene braune Briefumschläge. Aiken war dermaßen wütend, dass er schon beinahe komisch wirkte - für einen kurzen Moment meinte Joe den Rauch zu sehen, der seinem kahlen Schädel entströmte. Ohne den Blick von der Irish Times abzuwenden, hielt ihm der Außenminister die Depesche hin.
»Was hat das zu bedeuten, Coram? Woher haben die das? Was tun wir jetzt dagegen, Mann?«
Joe las. Es handelte sich um einen Bericht, den die Jungs in der Bonner Botschaft über Nacht angefertigt hatten. Ganz oben stand die Übersetzung eines Artikels, der in einer westdeutschen Boulevardzeitung erschienen war, dem Acht Uhr-Blatt.
Warum man in der Botschaft der Ansicht gewesen war, Frank Aiken müsse dringend informiert werden, war eindeutig, denn die Schlagzeile lautete: 1000 Kinder aus Irland verschwunden.
Die Zeitung hatte die komplette Jane-Russell-Affäre aufgedeckt. In dem Artikel war zu lesen, dass die kinderlose Hollywood- Schauspielerin nach Irland geflogen war, um einen irischen Jungen zu adoptieren. Es wurden Einzelheiten über die Vereinbarung mit Michael und Florrie Kavanagh aus Galway genannt, die zugestimmt hatten, dass Jane Russell ihnen den kleinen Tommy wegnahm, vermutlich gegen eine größere Summe. Und nun kam das Schlimmste: Es folgte eine erschreckend detaillierte Schilderung darüber, wie das irische Konsulat in London dem Kind einen Pass für die Ausreise nach New York ausgestellt hatte, ohne weitere Fragen zu stellen. Das - so hieß es in dem Artikel - sei der Beweis dafür, dass die irische Regierung den Verkauf und Export irischer Kinder billige. »Irland ist zum Jagdrevier für Millionäre aus dem Ausland geworden, die offenbar glauben, man könne Kinder nach Gutdünken kaufen, als seien sie Hunde mit Stammbaum. In den vergangenen Monaten haben Hunderte von Kindern Irland verlassen, ohne dass auf Anfragen seitens offizieller Stellen Auskunft bezüglich der künftigen Aufenthaltsorte der Kinder gewährt wurde.«
Aiken wischte sich die Stirn ab.
»So!«, sagte er. »Was ich jetzt von Ihnen brauche, Coram, ist ein umfassender Bericht - mit allen Details, ganz gleich, wie peinlich die auch sein mögen. Ich will sämtliche Einzelheiten, jeden Hinweis auf Fehlverhalten und jeden Beweis gegen den Erzbischof und diese Kirchenheinis. Ist das klar? Und zwar bis Freitag. Nun machen Sie schon!«
Das abendliche Treffen des Kirchenpolitik-Arbeitskreises war nervenaufreibend. Bis weit nach acht Uhr saß Joe dort fest und führte Protokoll. Die Mitglieder des Kabinetts waren nahezu vollzählig - sogar Eamon de Valera, der Premierminister, war während der hitzigen Debatten die meiste Zeit zugegen gewesen. Als Joe endlich wieder zu Hause in Glasnevin war, hatte Maire längst das Abendessen zubereitet, zugesehen, wie es kalt wurde, und die pappige Masse in den Abfall befördert.
»Da ist dein Abendessen, Joe Coram«, meinte sie lachend und wies auf den Eimer. »Dafür kannst du dich bei de Valera oder sonst wem bedanken, aber jetzt ist nichts mehr zu machen - heute Abend wirst du dich wohl mit einem Schmalzbrot begnügen müssen!«
Joe lächelte und legte seiner Frau einen Arm um die Taille. »Und wenn ich von nichts anderem als trockenem Brot leben müsste, würde ich mich trotzdem fühlen wie ein König, solange du nur bei mir bist, Liebes«, sagte er. »Es tut mir leid, dass du dir all die Mühe umsonst gemacht hast. Aber nachdem Frank und Dev erst einmal mit dem Thema Kirche, Nonnen und Pässe angefangen hatten, waren sie nicht mehr zu bremsen. Ich habe fünfundzwanzig Seiten voller Notizen, die ich bis Mittwoch entziffern muss. Und dann will Frank auch noch einen ausführlichen Bericht über diese Machenschaften, und das bis Ende der Woche. Ich muss dich also vorwarnen: Das war nicht der letzte lange Abend in diesem Monat, liebste Maire, und bestimmt nicht das letzte Essen, das im Müll landet.«
Maire tat, als wolle sie ihm einen Klaps geben, gab ihm jedoch stattdessen einen Kuss.
»Hast du schon einen Blick in die Evening Mail geworfen?«, fragte sie. Den Artikel über Jane Russell und die Anschuldigungen der deutschen Presse hatte sie bereitgelegt. »Solche Leute kennt man ja sonst nur aus dem Kino, und man denkt, die haben es sicher leichter im Leben, oder? Und dann sieht man, dass auch die ihre Sorgen haben.«
Joe nahm die Zeitung vom Küchentisch.
»Ich weiß schon Bescheid. Frank hat sofort jemanden zum Kiosk in der Merrion Street schicken lassen, um eine Ausgabe zu besorgen. Jane Russell ist übrigens nicht die Einzige. Sie haben Babys Pässe ausgestellt, als gäbe es kein Morgen mehr. Ab nach Amerika, obwohl keiner weiß, was dort aus ihnen wird.«
Maire sah ihren Mann an und wusste, dass er das Gleiche dachte wie sie: Seit drei Jahren waren sie nun schon verheiratet, und die Familie wurde allmählich ungeduldig.
»Vergiss Jane Russell«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf den Nacken. »Wir warten auch auf ein Baby, Joe Coram. Also beende dein Festmahl, und sieh zu, was wir da tun können.«
Von unten hörte sie, dass Mutter Barbara die anderen Mädchen in die Kapelle rief. Sie sollten beten - für den gefallenen Engel, die sterbende Sünderin, die die gleiche Schande auf sich geladen hatte wie all die anderen. Gedämpft, aber unbarmherzig schallten die körperlosen Stimmen herauf. Annunciata drückte ihrer Patientin die Hand und sagte, sie solle nicht darauf achten. Sie hob den weißen Leinenkittel und wischte dem Mädchen mit warmem Wasser das Blut von den Beinen. Man konnte das Baby bereits sehen, aber nur den Rücken, nicht den Kopf. Annunciata hatte schon von Steißgeburten gehört, und sie wusste, noch eine Stunde, dann wären Mutter und Kind tot. Denn gleich würde das Fieber einsetzen.
Schwester Annunciata beugte sich über die Gebärende und wischte ihr über die Stirn.
Das Mädchen wusste gar nicht, wie ihm geschah. Niemand hatte es besucht, obwohl es schon seit zwei Monaten hier war. Vater und Bruder hatten es zu den Nonnen gebracht, und jetzt ließen die Nonnen es einfach sterben.
Annunciata dankte Gott, dass sie nicht diejenige war, die dort lag. Dann riss sie sich zusammen. Sie als Bauerntochter war schließlich nicht zimperlich! Sie packte das Baby, seine Haut fühlte sich warm und lebendig an. Mutter Barbara hatte gesagt, Sünderinnen verdienten keine Schmerzmittel, und die junge Mutter schrie. Sie schrie um ihr Baby. »Lass nicht zu, dass sie ihn hier begraben ... Sie werden ihn im Kloster begraben ...«
Mit ihren kräftigen Händen - und dann mit der Zange aus kaltem Metall - zog und zerrte Annunciata an dem winzigen Körper. Er bewegte sich, wenngleich auch nur widerwillig, als wollte er die warme Geborgenheit nicht aufgeben. Blassrote Flüssigkeit quoll auf das weiße Laken. Annunciata hatte den Kopf des Babys gefunden. Und sie zog weiter, zerrte ein neues Leben auf Gottes Erde.
Schwester Annunciata war dreiundzwanzig. Seit fünf Jahren trug sie diesen Namen, davor war sie Mary Kelly gewesen, eine von den Kellys aus Limerick, eine von sieben.
Eines Abends war der Priester gekommen, hatte mit dem alten Mr Kelly etwas getrunken und ihm sein Bedauern ausgesprochen, weil ihm Söhne versagt geblieben waren. Nach dem dritten Whiskey hatte sich der Priester vorgebeugt und dem alten Kelly zugeraunt: »Also, Tom, ich weiß ja, du liebst deine Mädchen. Das Beste wäre also, wenn du dich darum kümmern würdest, dass sie gut versorgt sind. Eine kannst du Gott doch überlassen, oder nicht, Tom?«
Nun war sie also hier, fünf Jahre später - Schwester Annunciata, Gott überlassen.
Wann immer Annunciata in den nächsten Tagen die Gelegenheit dazu hatte, herzte sie den Kleinen, als wäre er ihr eigenes Kind. Schließlich war sie diejenige, die ihm das Leben geschenkt hatte. Sie hatte ihn gerettet, ihn das Licht der Welt erblicken lassen. Auf ihren Vorschlag hin war er auf den Namen Anthony getauft worden, und sie hatte das Gefühl, dass sie in besonderer Weise miteinander verbunden waren. Sie tröstete ihn, wenn er weinte, und wenn er Hunger hatte, hätte sie nichts lieber getan, als ihn zu stillen.
Der Mutter des Jungen hatten die Nonnen den Namen Marcella gegeben - hier im Kloster durfte keines der Mädchen seinen richtigen Namen behalten. Von der Familie verlassen, suchte Marcella Halt bei Annunciata. Annunciata ihrerseits spendete Marcella Trost und ließ sie spüren, dass sie sie - im Gegensatz zu den Nonnen - nicht verurteilte. Ungeachtet der gebotenen Stille suchten sich die beiden ein ruhiges Plätzchen und tauschten Geheimnisse aus ihren alten Leben aus. »Erzähl mir von dem Mann«, flüsterte Annunciata Marcella ins Ohr. »Erzähl, wie war er?«
Marcella kicherte, und Annunciata rutschte noch näher, sie wollte es unbedingt wissen.
»Nun sag schon, wie war er? Sah er gut aus?«
Marcella lächelte. Mittlerweile erschienen ihr die wenigen Stunden mit John McInerney wie das Licht der Erkenntnis in ihrem zuvor so unwissenden Leben. Seit ihrer Ankunft im Kloster hatte sie diese kostbare Erinnerung bewahrt, davon geträumt und sie immer wieder durchlebt.
»Er war der bestaussehende Mann, der mir je begegnet ist. Groß und dunkelhaarig ... und er hatte einen so sanften, gütigen Blick. Er arbeitet auf dem Postamt in Limerick, hat er gesagt. «
Noch ein wenig Ermunterung von Annunciata, und Marcella erzählte alles über den Abend, an dem das Baby gezeugt wurde - wie unbeschwert und glücklich sie gewesen war, als sie noch Philomena Lee hieß.
Es war ein milder Abend gewesen, und die Lichter des Jahrmarkts, die Musik des Ceilidh und der Duft von Zuckerwatte und kandierten Äpfeln hatten ihre Abenteuerlust geweckt. Philomena warf immer wieder verstohlene Blicke zu dem jungen Mann vom Postamt. Er lachte sie an und prostete ihr mit seinem Bierglas zu. Mit einer Mischung aus Zögern und Spannung hatten sie sich angesehen. Und dann ... und dann ...
Zwei
7. Juli 1952 Dublin, Irland
Die Sommerstürme, die Schwester Annunciata in der Nacht von Anthonys Geburt zu schaffen gemacht hatten, wüteten nicht nur in Roscrea. Das Stromnetz der gesamten Republik Irland musste dringend modernisiert werden.
In Glasnevin, einem Vorort von Dublin, sorgte ein Stromausfall dafür, dass es im ganzen Haus stockdunkel war, als Joe Coram am Montagmorgen aufwachte. Eine halbe Stunde später fand Corams Frau Maire ihn im Dunkeln sitzend beim Frühstück vor, das aus ungetoastetem Brot und kaltem Tee bestand. Sie musste lachen. Auch Joe lachte. Er war jung und voller Tatendrang, und er liebte seinen Job, ebenso wie seine Frau, sein Haus und das Leben im Allgemeinen. Er umarmte Maire, und einmal mehr fiel ihm auf, wie hübsch sie war.
»Heute Abend kann es spät werden, Maire, vorausgesetzt, die Straßenbahnen fahren. Ich muss zu diesem vermaledeiten Arbeitskreis Kirchenpolitik« - Corams Frau verdrehte die Augen -, »wo es bekanntermaßen momentan ein wenig zäh läuft.«
Glücklicherweise waren die Straßenbahnen nicht von dem Stromausfall betroffen, und Joe Coram erreichte ungehindert sein Büro. Zehn Minuten später wünschte er, er wäre niemals dort angekommen. Seine Sekretärin hatte sich krankgemeldet, und auf seinem Schreibtisch lag eine Mitteilung, der er entnahm, dass der Minister ihn sprechen wollte, und zwar umgehend.
Frank Aiken, Außenminister der Republik Irland, war schlecht gelaunt, und in Iveagh House hielten schon alle den Atem an. Aiken war ein Sturkopf, der gegen alles und jeden einen Groll hegte - noch immer nahm er es seinen ehemaligen Kameraden übel, dass sie 1921 dem Anglo-Irischen Vertrag zugestimmt hatten.
Joe wusste, worum es bei dem ganzen Wirbel ging - er war Leiter der Abteilung für Pässe und Visa und hatte als solcher Einblick in die Russell-Kavanagh Affäre, von Beginn an, seit die Geschichte sechs Monate zuvor ins Rollen gekommen war. Im Vorzimmer des Ministers setzte der junge Privatsekretär Joe in aller Kürze in Kenntnis: »Diese verfluchte Jane-Russell-Sache fällt uns wieder auf die Füße. Jetzt hat auch noch die internationale Presse Wind davon bekommen. Ich würde Ihnen die Depesche gern zeigen, aber Frank hat sie mit in sein Büro genommen. Also machen Sie sich auf etwas gefasst.«
Frank Aiken hatte sich gerade die fünfte Zigarette an diesem Morgen angesteckt, als Joe an die Tür klopfte und das Büro betrat. Auf dem Schreibtisch stapelten sich wie üblich interne Mitteilungen, Zeitungen und aufgerissene braune Briefumschläge. Aiken war dermaßen wütend, dass er schon beinahe komisch wirkte - für einen kurzen Moment meinte Joe den Rauch zu sehen, der seinem kahlen Schädel entströmte. Ohne den Blick von der Irish Times abzuwenden, hielt ihm der Außenminister die Depesche hin.
»Was hat das zu bedeuten, Coram? Woher haben die das? Was tun wir jetzt dagegen, Mann?«
Joe las. Es handelte sich um einen Bericht, den die Jungs in der Bonner Botschaft über Nacht angefertigt hatten. Ganz oben stand die Übersetzung eines Artikels, der in einer westdeutschen Boulevardzeitung erschienen war, dem Acht Uhr-Blatt.
Warum man in der Botschaft der Ansicht gewesen war, Frank Aiken müsse dringend informiert werden, war eindeutig, denn die Schlagzeile lautete: 1000 Kinder aus Irland verschwunden.
Die Zeitung hatte die komplette Jane-Russell-Affäre aufgedeckt. In dem Artikel war zu lesen, dass die kinderlose Hollywood- Schauspielerin nach Irland geflogen war, um einen irischen Jungen zu adoptieren. Es wurden Einzelheiten über die Vereinbarung mit Michael und Florrie Kavanagh aus Galway genannt, die zugestimmt hatten, dass Jane Russell ihnen den kleinen Tommy wegnahm, vermutlich gegen eine größere Summe. Und nun kam das Schlimmste: Es folgte eine erschreckend detaillierte Schilderung darüber, wie das irische Konsulat in London dem Kind einen Pass für die Ausreise nach New York ausgestellt hatte, ohne weitere Fragen zu stellen. Das - so hieß es in dem Artikel - sei der Beweis dafür, dass die irische Regierung den Verkauf und Export irischer Kinder billige. »Irland ist zum Jagdrevier für Millionäre aus dem Ausland geworden, die offenbar glauben, man könne Kinder nach Gutdünken kaufen, als seien sie Hunde mit Stammbaum. In den vergangenen Monaten haben Hunderte von Kindern Irland verlassen, ohne dass auf Anfragen seitens offizieller Stellen Auskunft bezüglich der künftigen Aufenthaltsorte der Kinder gewährt wurde.«
Aiken wischte sich die Stirn ab.
»So!«, sagte er. »Was ich jetzt von Ihnen brauche, Coram, ist ein umfassender Bericht - mit allen Details, ganz gleich, wie peinlich die auch sein mögen. Ich will sämtliche Einzelheiten, jeden Hinweis auf Fehlverhalten und jeden Beweis gegen den Erzbischof und diese Kirchenheinis. Ist das klar? Und zwar bis Freitag. Nun machen Sie schon!«
Das abendliche Treffen des Kirchenpolitik-Arbeitskreises war nervenaufreibend. Bis weit nach acht Uhr saß Joe dort fest und führte Protokoll. Die Mitglieder des Kabinetts waren nahezu vollzählig - sogar Eamon de Valera, der Premierminister, war während der hitzigen Debatten die meiste Zeit zugegen gewesen. Als Joe endlich wieder zu Hause in Glasnevin war, hatte Maire längst das Abendessen zubereitet, zugesehen, wie es kalt wurde, und die pappige Masse in den Abfall befördert.
»Da ist dein Abendessen, Joe Coram«, meinte sie lachend und wies auf den Eimer. »Dafür kannst du dich bei de Valera oder sonst wem bedanken, aber jetzt ist nichts mehr zu machen - heute Abend wirst du dich wohl mit einem Schmalzbrot begnügen müssen!«
Joe lächelte und legte seiner Frau einen Arm um die Taille. »Und wenn ich von nichts anderem als trockenem Brot leben müsste, würde ich mich trotzdem fühlen wie ein König, solange du nur bei mir bist, Liebes«, sagte er. »Es tut mir leid, dass du dir all die Mühe umsonst gemacht hast. Aber nachdem Frank und Dev erst einmal mit dem Thema Kirche, Nonnen und Pässe angefangen hatten, waren sie nicht mehr zu bremsen. Ich habe fünfundzwanzig Seiten voller Notizen, die ich bis Mittwoch entziffern muss. Und dann will Frank auch noch einen ausführlichen Bericht über diese Machenschaften, und das bis Ende der Woche. Ich muss dich also vorwarnen: Das war nicht der letzte lange Abend in diesem Monat, liebste Maire, und bestimmt nicht das letzte Essen, das im Müll landet.«
Maire tat, als wolle sie ihm einen Klaps geben, gab ihm jedoch stattdessen einen Kuss.
»Hast du schon einen Blick in die Evening Mail geworfen?«, fragte sie. Den Artikel über Jane Russell und die Anschuldigungen der deutschen Presse hatte sie bereitgelegt. »Solche Leute kennt man ja sonst nur aus dem Kino, und man denkt, die haben es sicher leichter im Leben, oder? Und dann sieht man, dass auch die ihre Sorgen haben.«
Joe nahm die Zeitung vom Küchentisch.
»Ich weiß schon Bescheid. Frank hat sofort jemanden zum Kiosk in der Merrion Street schicken lassen, um eine Ausgabe zu besorgen. Jane Russell ist übrigens nicht die Einzige. Sie haben Babys Pässe ausgestellt, als gäbe es kein Morgen mehr. Ab nach Amerika, obwohl keiner weiß, was dort aus ihnen wird.«
Maire sah ihren Mann an und wusste, dass er das Gleiche dachte wie sie: Seit drei Jahren waren sie nun schon verheiratet, und die Familie wurde allmählich ungeduldig.
»Vergiss Jane Russell«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf den Nacken. »Wir warten auch auf ein Baby, Joe Coram. Also beende dein Festmahl, und sieh zu, was wir da tun können.«
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Autoren-Porträt von Martin Sixsmith
Martin Sixsmith, geboren in Cheshire, England, studierte in Oxford, Harvard und an der Sorbonne. Von 1980 bis 1997 war er Auslandskorrespondent für die BBC, später arbeitete er für die britische Regierung. Heute ist Martin Sixsmith freier Journalist, Moderator sowie Autor mehrerer Sachbücher und Romane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martin Sixsmith
- 2014, 4. Aufl., 464 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Heike Holtsch, Michael Windgassen
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548375588
- ISBN-13: 9783548375588
- Erscheinungsdatum: 06.02.2014
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