Parallele Leben
Eine persönliche Geschichte
Das beeindruckende, unterhaltsame Leben eines polyglotten Intellektuellen zwischen Jerusalem und New York.
In seiner Autobiographie verarbeitet der international anerkannte Filmemacher und Autor Amos Kollek seine persönliche Lebensgeschichte und seinen...
In seiner Autobiographie verarbeitet der international anerkannte Filmemacher und Autor Amos Kollek seine persönliche Lebensgeschichte und seinen...
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Produktinformationen zu „Parallele Leben “
Klappentext zu „Parallele Leben “
Das beeindruckende, unterhaltsame Leben eines polyglotten Intellektuellen zwischen Jerusalem und New York.In seiner Autobiographie verarbeitet der international anerkannte Filmemacher und Autor Amos Kollek seine persönliche Lebensgeschichte und seinen kreativen Werdegang zu einem Stück israelischer Zeitgeschichte.
Die bestimmenden Pole seines Lebens waren seine Eltern: seine starke Mutter Tamar, für die das Leben im Kibbuz stets das Ideal war, und sein charismatischer, lebensfroher Vater Teddy, der als Bürgermeister von Jerusalem zur internationalen Berühmtheit wurde. Amos Kollek setzt immer wieder seinen Werdegang in Beziehung zum Leben seiner Eltern. Er erzählt ungewöhnlich offen von seinen prägenden Erfahrungen als Sohn, Schriftsteller, Ehemann und Künstler.
Lese-Probe zu „Parallele Leben “
Parallele Leben von Amos KollekTeddys Tod
Am Morgen des 2. Januar 2007 hatte ich um neun Uhr einen Termin bei einer jungen Psychotherapeutin in Jerusalem, um - ausgerechnet - über meine Beziehung zu meinem Vater zu sprechen. Um zehn nach neun klingelte mein Handy, und Doktor Lavi, der meine Eltern im Altersheim betreute, sagte mir, mein Vater sei soeben gestorben.
Ich legte auf und erzählte es der Therapeutin. Ihre Reaktion war erstaunlich. Sie sagte: »Also, Ihre Sitzung dauert noch fünfunddreißig Minuten. Würden Sie gerne darüber reden, was Sie jetzt empfinden?« Ich sah sie an, als wäre sie verrückt geworden. Mein Vater war gerade gestorben! Und da sollte mir nichts Besseres einfallen, als mit dieser Therapeutin über meine Gefühle zu reden? Ich dankte ihr und ging zu meinem Auto, um zur Wohnung meiner Eltern zu fahren. Meine Mutter saß in ihrer kleinen Küche beim Frühstück. Sie wusste es noch nicht. Ich ging in das Zimmer meines Vaters und schloss die Tür hinter mir. Er lag auf dem Rücken, den Mund weit offen. Ich saß ungefähr fünf Minuten an seinem Bett, sah ihn nur an und berührte ihn. Ich strich über sein Gesicht. Seine Wange fühlte sich an wie aus Gummi. Ich versuchte, den Moment ganz auf mich wirken zu lassen und die Nähe zu meinem Vater zu spüren, aber ich empfand gar nichts. Dann verließ ich das Zimmer und rief meine Schwester an. Sie lebte damals außerhalb Jerusalems und sagte, sie würde sofort kommen. In der Küche setzte ich mich zu meiner Mutter an den Tisch. Sie sah mich an, während sie aß.
»Mama, ich muss dir etwas sagen«, fing ich an.
Sie nickte. »Ja.«
Ich sagte nur: »Mama, Teddy ist tot.«
... mehr
Ihre Augen weiteten sich ein wenig, während sie mich unverwandt anstarrte. Ich wusste nicht, ob sie verstanden hatte, was ich ihr gerade erzählt hatte.
Sie waren zweiundsiebzig Jahre lang zusammen gewesen.
Eine lange Zeit.
Schließlich fragte sie: »Wirklich?«
Ich antwortete: »Ja. Im Schlaf. Er musste nicht leiden. Bald werden Leute kommen.«
Immer noch sah sie mich nur an. Ich glaube, mehr sagte sie nicht. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
Die kleine Wohnung füllte sich rasch mit Menschen. Meine Schwester kam. Der langjährige Chauffeur und enge Freund meines Vaters Nahum Ben Netanel. Meine Frau Osnat. Freunde der Familie. Offenbar hatte man die Todesnachricht bereits im Radio gemeldet.
Meine Schwester, die ebenfalls Osnat heißt, hatte eine Kamera mitgebracht. Sie ging in das Zimmer meines Vaters und betrachtete ihn eine Weile. Dann fing sie an, ihn aus allen möglichen Perspektiven zu fotografieren. Sein Gesicht, seine Hände, seine Arme, Beine und Füße. Ich glaube, die Aufnahmen sollten ihr dabei helfen, ihn ganz genau im Gedächtnis zu behalten und nichts zu vergessen. Sie liebte und bewunderte unseren Vater mehr als jeder andere.
Das israelische Kabinett beschloss in einer Sondersitzung, meinen Vater mit einem Staatsbegräbnis zu ehren, auf dem Herzlberg, in jenem Teil des Friedhofs, der den »Großen der Nation« vorbehalten ist - eine beispiellose Anerkennung, die einem Bürgermeister eigentlich nicht zustand. Ehud Olmert, der meinen Vater bei den Bürgermeisterwahlen von Jerusalem 1993 geschlagen hatte, war jetzt Ministerpräsident und leitete die Sondersitzung. Ich hatte das Gefühl, die Entscheidung kam vor allem auf sein Betreiben zustande, vielleicht als Ausgleich dafür, dass er Teddys Karriere ein Ende gesetzt hatte.
Ein Staatsbegräbnis erforderte eine Menge Vorbereitungen und folgte einem strengen Protokoll. Am Abend rief man meine Schwester und mich in die Knesset, das israelische Parlament, um uns über den Ablauf zu informieren und zu Rate zu ziehen. Das Begräbnis sollte am folgenden Morgen stattfinden, damit Ministerpräsident Olmert daran teilnehmen konnte, bevor er nach Amerika flog.
So bald.
Mir blieb keine Zeit, um nachzudenken oder mir über meine Gefühle klarzuwerden. Ich lief auf Autopilot. In den Tagen nach dem Tod meines Vaters, die von hektischer Betriebsamkeit erfüllt waren, beobachtete ich meine Mutter Tamar. Besucher kamen, um ihr zu kondolieren. Sie sagte nichts oder sehr wenig. Ich hatte keine Ahnung, ob sie begriff, was passiert war. Sie weinte nicht. Ihr Gesicht verriet keine Regung. Sie wirkte wie immer, nur ein bisschen stiller.
Die Beerdigung war ein bedeutendes Ereignis. Alles, was Rang und Namen hatte, nahm daran teil.
Ehud Olmert, Shimon Peres, die Parlamentspräsidentin Dalia Itzik und ich hielten Trauerreden. Ich hatte meine kurze Abschiedsrede am Vorabend geschrieben, rasch, aber mit viel Gefühl und Bedachtsamkeit. Ich wusste, dass es bewegende Worte waren, schließlich war ich ein Schriftsteller. Wenn ich nicht einmal eine gute Trauerrede auf meinen Vater zustande brachte, was taugte ich dann in meinem Beruf?
Zu Beginn sagte ich, Teddy Kollek sei kein einfacher Vater gewesen, und ich endete mit den Worten:
»Am Abend, bevor mein Vater starb, saß ich an seinem Bett. Er lag bereits im Koma, aus dem er nicht mehr aufwachte. Ich betrachtete ihn. Ich umklammerte seine Schulter, seine Hand, seinen Arm. Selbst mit fünfundneunzig war er immer noch kräftig. Ich wusste, dass ich für immer von ihm Abschied nahm. Und während ich seine Schulter, seine Hand und seinen Arm berührte, dachte ich: Vielleicht geht ein wenig von seiner Kraft auf mich über. Ich hoffe es zumindest.«
Dann kehrte ich an meinen Platz zurück. Ich spürte, dass die Zuhörer bewegt waren. Viele richteten den Blick auf mich. Ich hatte noch nie zuvor öffentlich in Israel gesprochen.
Nach der Beisetzung, als man den Sarg ins Grab gesenkt und mit Erde bedeckt hatte, trat Verteidigungsminister Ehud Barak zu mir, schüttelte mir die Hand und sagte, meine Trauerrede habe ihn sehr berührt. Das erwähne ich deshalb, weil Ehud Barak der höchstdekorierte Soldat in der Geschichte der israelischen Armee ist. Er führte das Kommando über die Sayeret Matkal, eine Spezialeinheit der Streitkräfte mit Schwerpunkt Terrorabwehr, er war Generalstabschef, Verteidigungsminister und Ministerpräsident gewesen. Er galt als harter, nüchterner und unnahbarer Mensch, aber ich empfand großen Respekt für ihn. Einige Jahre zuvor war ich für einen einzigen Tag von New York nach Israel geflogen, um ihm bei der Ministerpräsidentenwahl meine Stimme zu geben. Helden hatte ich schon immer bewundert, und deshalb bedeutete mir unser kurzes Gespräch am Grab meines Vaters sehr viel.
Meine Nichte Shira und meine Tochter Avigayeel legten den Kranz der Familie am Grab nieder. Sie wirkten beide traurig und würdevoll. Shira, das älteste Kind meiner Schwester, war damals Soldatin und trug ihre Uniform. Meine Mutter, die im Kreis der Familie saß, wirkte vollkommen unbeteiligt, als ginge sie das alles gar nichts an. Ich hatte keine Ahnung, ob sie wusste, dass sie an Teddys Beerdigung teilnahm.
Ihr Zustand veränderte sich auch in den darauffolgenden Monaten nicht. Meine Mutter empfing Beileidsbesucher, sagte sehr wenig und erwähnte nie den Namen meines Vaters. Sie wirkte absolut emotionslos, wie erstarrt - und sehr ruhig. Wenn ein Besucher sagte, wie wundervoll und großartig mein Vater gewesen sei und was für einen Verlust sein Tod für den Staat Israel und für Jerusalem bedeute, starrte sie ihn nur an und sagte kein Wort.
Auch später fragte sie nie nach meinem Vater. Sie erkundigte sich nicht, was mit ihm passiert sei und warum er nicht zu Hause war. Sicher, sie war bei seiner Beerdigung gewesen, warum sollte sie fragen? Aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass sie gar nicht wusste, was dort vor sich gegangen war, oder dass sie es ganz tief in ihrem Unterbewusstsein vergraben hatte. Sie begleitete uns nicht, als wir gemäß der jüdischen Tradition dreißig Tage nach seinem Tod sein Grab besuchten. Es war ein kalter Wintertag, und wir fanden, sie sollte lieber keine Erkältung riskieren. Trotzdem war es seltsam, dass sie überhaupt keine Reaktion zeigte. Sie verhielt sich, als wäre nichts passiert und als hätte sich nichts geändert.
Soweit ich weiß, ist Tamar nie in sein Zimmer gegangen, um ihn zu suchen. (Meine Schwester meint allerdings, unsere Mutter habe in den ersten Jahren nach seinem Tod gelegentlich in seinem Zimmer und im Foyer nach ihm gesucht. Vielleicht hat sie recht. Im Großen und Ganzen fuhr Tamar einfach mit ihrem normalen Alltagsleben fort, wenn auch in etwas gedämpfter - aber nicht deprimierter - Stimmung, als wäre Teddy Kollek nie Teil ihres Lebens gewesen. Seine Fotos, die überall im Wohnzimmer hingen, schienen sie nicht zu interessieren. Das war ziemlich grotesk. Manchmal betrachtete sie andere Bilder an der Wand, Gemälde und alte Karten von Jerusalem, aber ich glaube hauptsächlich deshalb, weil sie groß waren und in Augenhöhe hingen. Insgesamt machte sie einen relativ teilnahmslosen Eindruck. Sie aß ihre Mahlzeiten, nahm ihre Tabletten und ruhte viel. Wenn meine Schwester oder ich sie besuchten, schien sie sich zu freuen, aber manchmal wirkte sie auch vollkommen gleichgültig. Das Thema Teddy kam nur zur Sprache, wenn meine Schwester oder ich eine Bemerkung machten. Dann starrte sie uns mit leerer Miene an. Von Zeit zu Zeit nickte sie. Das war alles.
5. Februar 2011
Bis zum heutigen Tag, mehr als vier Jahre nach Teddys Tod, habe ich nicht die leiseste Ahnung, was Tamar mitbekommt, was sie denkt oder fühlt. Zwei Frauen kümmern sich liebevoll um sie. Sie isst regelmäßig. Manchmal versucht sie, mithilfe einer Lupe, die wir ihr gekauft haben, zu lesen, aber nicht sehr lange, weil sie sehr schlecht sieht. Sie besucht auch den Fitnessraum im vierten Stock und trainiert eine halbe Stunde. Diszipliniert bemüht sie sich, alle körperlichen Übungen auszuführen, die man von ihr verlangt. Es ist ein befremdlicher Anblick, wenn sie wie eine Marionette die Mantras herunterbetet, die ihr ihre Pflegerin Shula Harlap beigebracht hat. Während sie sich, auf ihre Gehhilfe gestützt, langsam vorwärtsschleppt, murmelt sie unablässig vor sich hin: »Ich habe starke Beine, ich habe starke Arme. Ich habe starke Beine, ich habe starke Arme ...« Immer und immer wieder. Wie eine hirnlose Puppe. Wie eine Maus im Irrgarten. In solchen Augenblicken hasse ich Shula, obwohl ich weiß, dass alles nur zu Tamars Wohl geschieht. Aber ich hasse sie dafür, dass sie aus meiner Mutter so eine jämmerliche Figur macht.
Tamar, meine Mutter. Das klügste Mädchen der Klasse. Die Frau, die auch unter größtem Druck ruhig und besonnen blieb. Kürzlich fragte ich sie beiläufig, welche Stadt ihr lieber sei, Jerusalem oder Wien? Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Wien.« Auf meine Frage, warum, antwortete sie: »Weil es dort viel schöner ist.« Ich bin sicher, es ist eine ehrliche Antwort, weil sie spontan und aus dem Bauch heraus kam.
Manchmal bezweifle ich ernsthaft, ob Jerusalem ihr überhaupt jemals etwas bedeutet hat. Sie war achtundzwanzig Jahre lang die Frau des Bürgermeisters gewesen, aber das hatte nicht sie so entschieden. Lebte sie gern in dieser Stadt oder war das nur eine Pflicht, die sie klaglos auf sich genommen hatte? Ich neige dazu, Letzteres zu glauben.
Ohne jeden Zweifel liebte sie Ein Gev. In diesen Kibbuz war sie als junge Frau von nur zwanzig Jahren aus eigenem Entschluss gekommen, um die Siedlung aufzubauen und dort zu leben. Wenn die Rede auf Ein Gev kam, reagierte sie immer positiv und wirkt munterer. Nach Jerusalem ging sie nur, weil es die zwei großen Karriereschritte meines Vaters - zuerst als Direktor des Ministerpräsidentenamts und dann als Bürgermeister von Jerusalem - erforderten. Beides hatte sie sich nicht selbst ausgesucht.
Manchmal frage ich mich, warum sie nichts an diesem Leben geändert hat, wenn es ihr nicht gefiel.
Immerhin brachte sie 1947 in Ein Gev einen Sohn zur Welt, nämlich mich. Sie hätte darauf bestehen können, dort zu bleiben. Die Laufbahn meines Vaters im öffentlichen Dienst begann erst später. Aber Tamar war keine Frau, die eine junge Familie mit einem kleinen Kind auseinandergerissen hätte. Und mein Vater langweilte sich in Ein Gev.
Meine Mutter ist ein rätselhafter Mensch. Ich weiß nicht, was sie antreibt. Das wusste ich nie, ebenso wenig wie meine Schwester. Und das liegt daran, dass sie andere Prioritäten hat als die meisten Menschen. Sie wollte nie reich sein. Sie wollte nicht zur Universität gehen und studieren. Das Einzige, von dem ich weiß, dass sie es wirklich wollte, war die Auswanderung nach Palästina und der Aufbau des Kibbuz Ein Gev. Aber es ist jetzt zweiundsechzig Jahre her, dass sie Ein Gev verlassen hat, und danach war sie nur noch zu Kurzbesuchen dort.
Im Laufe der Jahre habe ich sie oft gefragt, warum sie das ungeliebte Leben als Ehefrau eines bedeutenden Mannes einfach so hingenommen hat. Die Cocktails, die endlosen Empfänge, auf denen sie nur eine Nebenfigur war, nur ein Anhängsel ihres Mannes. Sie gab mir immer dieselbe Antwort: Sie habe sich dieses Leben nicht ausgesucht, spüre jedoch, dass das, was mein Vater tue, wichtig für Israel sei, und deshalb müsse sie ihn unterstützen.
Irgendwann während der Schiv‘a, der siebentägigen Trauerzeit nach dem Tod meines Vaters, kam mir so richtig zu Bewusstsein, dass ich ein Elternteil verloren hatte. Ich hatte meinen Vater noch so vieles fragen wollen, aber irgendwie hatte sich nie die Gelegenheit ergeben. Es war nie leicht gewesen, mit ihm über persönliche Dinge zu sprechen, und vielleicht hatte mich seine Art zu sehr eingeschüchtert. Ich hatte immer das Gefühl, er hindere mich daran, meinen inneren Frieden zu finden und mein Potential voll auszuschöpfen. Er warf einen übermächtigen Schatten. Ich glaubte ständig mit ihm konkurrieren zu müssen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Das machte uns zu Gegnern. Dabei war er einer der beiden Menschen, die alles für mich taten und die ich mehr liebte als sonst jemanden auf der Welt.
Und jetzt war er tot.
Also blieb nur noch meine Mutter. Auch sie war nicht gerade jemand, dem man so einfach sein Herz ausschütten konnte. Trotzdem spürte ich tief im Innern, dass sie mich kannte. Sie vertraute mir fast nie ihre Gefühle, ihre Geheimnisse und ihre intimsten Gedanken an, doch sie wusste, wie es in mir aussah. Sie muss es gewusst haben. Aber ich schob es auf die lange Bank, mit ihr zu reden. Ich ging nach New York und machte Filme, während meine Eltern immer älter wurden. Als hätten diese Filme das Gespräch mit meinen Eltern ersetzen können. Vielleicht war dies auch meine Art, mit ihnen zu reden, ihnen über die Leinwand mitzuteilen, wer ich bin und was ich fühle.
Verblassende Gefühle
Falls es jemanden interessiert, ich bin vierundsechzig Jahre alt. Seit einer Weile stelle ich fest, dass meine Empfindungen in Bezug auf die meisten Menschen und »Ideen« immer schwächer werden. Ich rege mich längst nicht mehr so sehr darüber auf, was mir oder um mich herum passiert, weder im positiven noch im negativen Sinn. Das geht wohl allen Menschen in einem gewissen Alter so, und es ist bestimmt auch ein Zeichen der Zeit.
Das betrifft jedoch nicht meine Empfindungen gegenüber meiner Frau. Ich frage mich, wie unser Leben sein wird, wenn unsere Töchter - der Kitt, der uns zusammenhält - das Nest verlassen. Werden wir dann noch zusammenbleiben? Manchmal macht mir das richtig Angst. Mich erschreckt die Vorstellung, mit siebzig allein dazustehen und mich in einer Welt ohne meine Eltern und ohne die paar Freunde und Bekannten aus meiner Kindheit und Jugend behaupten zu müssen. Zum Beispiel unser Zahnarzt Dr. Freund, der mir mit einem breiten Lächeln Zahnfüllungen verpasste und schon vor Jahrzehnten gestorben ist. Oder Yanek, der fromme Junge, der mir und meinem Freund und Nachbarn Hanoch durch den Hof nachjagte. Oder »Kohen der Dieb«, der seinen Laden gegenüber dem Rehavia-Gymnasium hatte und uns zwölf Jahre lang überteuerte Schulbücher verkaufte. Oder Yaakov Yona (»Yonchik«), der die Bibelstunde hielt und uns Schüler mit seiner strengen Miene und seinen beißenden Schimpftiraden, die jeden trafen, der das wöchentliche Bibelkapitel nicht auswendig konnte, einschüchterte. Ich schloss Yonchik ins Herz, weil er so eine einmalige Erscheinung in der Schule war, mit seinem schwarzen Anzug, dem weißen Haar, der Hakennase und der barschen Stimme.
Sie alle sind inzwischen gestorben.
Meine Mutter
Und dann gibt es noch meine Mutter Tamar. Der Mensch, der mir seit vierundsechzig Jahren am nächsten steht und den ich am besten kenne. Meine Mutter brachte es fertig, bei vornehmen Empfängen mit Geistesgrößen wie W. H. Auden und Simone de Beauvoir, aber auch mit anderen Leuten, die sie nicht kannte, und sogar mit ausländischen Staatsoberhäuptern über das Wetter zu reden. Es war unglaublich langweilig, sich mit ihr zu unterhalten oder bei einem offiziellen Dinner neben ihr zu sitzen. Sie ist und bleibt ein großes Rätsel. Die Vorstellung, dass sie sterben könnte, macht mir große Angst, ungeachtet ihres hohen Alters und ihres gebrechlichen Zustands. Habe ich gesagt, sie sei langweilig? Das nehme ich zurück. Sie ist nur langweilig, wenn man sie nicht gut kennt. Aber wer kennt sie schon?
Ich besuche sie nicht oft, obwohl sie nur fünf Minuten mit dem Auto von mir entfernt in einem Altersheim in Kiryat Yovel in Jerusalem wohnt. Es ist mir unerträglich, sie in ihrem jetzigen Zustand zu sehen. Sie kann nicht ohne Hilfe essen, sie kann nicht sprechen und ihre Gedanken nicht mitteilen. Wir können nicht mehr miteinander kommunizieren. Oft frage ich mich, ob sie mich überhaupt erkennt oder je an mich denkt. Ich vermute, dafür ist sie schon viel zu schwach. Und dennoch, obwohl sie nichts sagt und nichts tut, kann ich mir eine Welt ohne sie nicht vorstellen. Ich bin dankbar dafür, dass sie sich so ans Leben klammert. Sie wird bis zum letzten Atemzug kämpfen, egal, wie ihre Chancen stehen. Mag ihr Geist noch so getrübt und schwach sein, tief im Innern weiß sie, dass ihre Familie sie immer noch braucht, davon bin ich überzeugt. Sie ist zu pflichtbewusst, um zu sterben.
Aber wer ist sie eigentlich?
Manchmal stelle ich mir vor, wie das Leben meiner Eltern verlaufen wäre, wenn es keinen Hitler und keinen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte und sie in Wien geblieben wären, statt nach Palästina auszuwandern. Mein Vater wäre wohl Geschäftsmann geworden. Das lag in der Familie, außerdem war er vom Typ her kein Akademiker oder Intellektueller, und er besaß weder künstlerische Ambitionen noch die Neigung, Anwalt oder Arzt zu werden. Was wäre da noch übriggeblieben? Na ja, er hätte Bürgermeister von Wien werden oder im Kulturressort der Stadtverwaltung arbeiten können. Er wäre erfolgreich gewesen, hätte sich aber wahrscheinlich nicht in gleicher Weise hervorgetan wie in Israel. Ich denke, er hätte auf jeden Fall Tamar zur Frau gewählt, sofern sich ihre Wege gekreuzt hätten. Er hätte dasselbe für sie empfunden wie bei ihrer ersten Begegnung im jüdischen Jugendbund »Blau- Weiß«. Ihre herausragenden Qualitäten hätten ihm ins Auge gestochen. Ihre außerordentliche Klugheit. Ihr gutes Herz und ihre Hilfsbereitschaft. Ihre Bereitschaft, die zweite Geige zu spielen. Was meine Mutter gemacht hätte, kann ich mir viel leichter vorstellen. Sie wäre wahrscheinlich zur Universität gegangen und hätte Mathematik, Wirtschaft oder Medizin studiert. Sie wäre Ärztin, Krankenschwester oder Sozialarbeiterin geworden. Es gefiel ihr, anderen zu helfen. Vielleicht wäre sie für ein paar Jahre nach Afrika oder Asien gegangen, um sich um die Armen und Bedürftigen zu kümmern. Ich glaube nicht, dass sie Teddy geheiratet hätte. In seiner bürgerlichen Version hätte er ihr nicht gefallen. Er hätte mit seinem blendenden Aussehen und seinem Charme nicht bei ihr punkten können. Bestimmt hätte sie einen Intellektuellen geheiratet, einen Historiker oder Philosophen. Vielleicht wäre sie Kommunistin geworden, wenigstens einige Jahrzehnte lang. Sie hat immer an die Gleichheit aller Menschen geglaubt.
Marx wäre eines ihrer Idole gewesen. Einstein auch. Ebenso Hannah Szenes, die in Ungarn geborene, nach Palästina ausgewanderte Widerstandskämpferin und Dichterin, die im Zweiten Weltkrieg mit dem Fallschirm über dem besetzten Ungarn absprang und von den Nazis hingerichtet wurde. Und natürlich Anne Frank. Vielleicht hätte sie eigene literarische Versuche unternommen, aber das bezweifle ich. So klug sie war, war sie doch kein kreativer Mensch. Sie hätte Lehrerin oder Schuldirektorin werden können. Ihre Eltern wären stolz auf sie gewesen. Weil sie, einerlei, was sie getan oder wohin das Schicksal sie geführt, immer nur Gutes getan hätte.
Was ich gerade über meine Mutter geschrieben habe, passt ebenso gut zu meiner Tochter Avigayeel. Nur dass Avigayeel ungemein kreativ ist. Sie schauspielert, schreibt, zeichnet. Wie Tamar ist auch sie eine hervorragende Schülerin. Das Gleiche gilt für ihre Schwester Noaa.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Mai
Ihre Augen weiteten sich ein wenig, während sie mich unverwandt anstarrte. Ich wusste nicht, ob sie verstanden hatte, was ich ihr gerade erzählt hatte.
Sie waren zweiundsiebzig Jahre lang zusammen gewesen.
Eine lange Zeit.
Schließlich fragte sie: »Wirklich?«
Ich antwortete: »Ja. Im Schlaf. Er musste nicht leiden. Bald werden Leute kommen.«
Immer noch sah sie mich nur an. Ich glaube, mehr sagte sie nicht. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
Die kleine Wohnung füllte sich rasch mit Menschen. Meine Schwester kam. Der langjährige Chauffeur und enge Freund meines Vaters Nahum Ben Netanel. Meine Frau Osnat. Freunde der Familie. Offenbar hatte man die Todesnachricht bereits im Radio gemeldet.
Meine Schwester, die ebenfalls Osnat heißt, hatte eine Kamera mitgebracht. Sie ging in das Zimmer meines Vaters und betrachtete ihn eine Weile. Dann fing sie an, ihn aus allen möglichen Perspektiven zu fotografieren. Sein Gesicht, seine Hände, seine Arme, Beine und Füße. Ich glaube, die Aufnahmen sollten ihr dabei helfen, ihn ganz genau im Gedächtnis zu behalten und nichts zu vergessen. Sie liebte und bewunderte unseren Vater mehr als jeder andere.
Das israelische Kabinett beschloss in einer Sondersitzung, meinen Vater mit einem Staatsbegräbnis zu ehren, auf dem Herzlberg, in jenem Teil des Friedhofs, der den »Großen der Nation« vorbehalten ist - eine beispiellose Anerkennung, die einem Bürgermeister eigentlich nicht zustand. Ehud Olmert, der meinen Vater bei den Bürgermeisterwahlen von Jerusalem 1993 geschlagen hatte, war jetzt Ministerpräsident und leitete die Sondersitzung. Ich hatte das Gefühl, die Entscheidung kam vor allem auf sein Betreiben zustande, vielleicht als Ausgleich dafür, dass er Teddys Karriere ein Ende gesetzt hatte.
Ein Staatsbegräbnis erforderte eine Menge Vorbereitungen und folgte einem strengen Protokoll. Am Abend rief man meine Schwester und mich in die Knesset, das israelische Parlament, um uns über den Ablauf zu informieren und zu Rate zu ziehen. Das Begräbnis sollte am folgenden Morgen stattfinden, damit Ministerpräsident Olmert daran teilnehmen konnte, bevor er nach Amerika flog.
So bald.
Mir blieb keine Zeit, um nachzudenken oder mir über meine Gefühle klarzuwerden. Ich lief auf Autopilot. In den Tagen nach dem Tod meines Vaters, die von hektischer Betriebsamkeit erfüllt waren, beobachtete ich meine Mutter Tamar. Besucher kamen, um ihr zu kondolieren. Sie sagte nichts oder sehr wenig. Ich hatte keine Ahnung, ob sie begriff, was passiert war. Sie weinte nicht. Ihr Gesicht verriet keine Regung. Sie wirkte wie immer, nur ein bisschen stiller.
Die Beerdigung war ein bedeutendes Ereignis. Alles, was Rang und Namen hatte, nahm daran teil.
Ehud Olmert, Shimon Peres, die Parlamentspräsidentin Dalia Itzik und ich hielten Trauerreden. Ich hatte meine kurze Abschiedsrede am Vorabend geschrieben, rasch, aber mit viel Gefühl und Bedachtsamkeit. Ich wusste, dass es bewegende Worte waren, schließlich war ich ein Schriftsteller. Wenn ich nicht einmal eine gute Trauerrede auf meinen Vater zustande brachte, was taugte ich dann in meinem Beruf?
Zu Beginn sagte ich, Teddy Kollek sei kein einfacher Vater gewesen, und ich endete mit den Worten:
»Am Abend, bevor mein Vater starb, saß ich an seinem Bett. Er lag bereits im Koma, aus dem er nicht mehr aufwachte. Ich betrachtete ihn. Ich umklammerte seine Schulter, seine Hand, seinen Arm. Selbst mit fünfundneunzig war er immer noch kräftig. Ich wusste, dass ich für immer von ihm Abschied nahm. Und während ich seine Schulter, seine Hand und seinen Arm berührte, dachte ich: Vielleicht geht ein wenig von seiner Kraft auf mich über. Ich hoffe es zumindest.«
Dann kehrte ich an meinen Platz zurück. Ich spürte, dass die Zuhörer bewegt waren. Viele richteten den Blick auf mich. Ich hatte noch nie zuvor öffentlich in Israel gesprochen.
Nach der Beisetzung, als man den Sarg ins Grab gesenkt und mit Erde bedeckt hatte, trat Verteidigungsminister Ehud Barak zu mir, schüttelte mir die Hand und sagte, meine Trauerrede habe ihn sehr berührt. Das erwähne ich deshalb, weil Ehud Barak der höchstdekorierte Soldat in der Geschichte der israelischen Armee ist. Er führte das Kommando über die Sayeret Matkal, eine Spezialeinheit der Streitkräfte mit Schwerpunkt Terrorabwehr, er war Generalstabschef, Verteidigungsminister und Ministerpräsident gewesen. Er galt als harter, nüchterner und unnahbarer Mensch, aber ich empfand großen Respekt für ihn. Einige Jahre zuvor war ich für einen einzigen Tag von New York nach Israel geflogen, um ihm bei der Ministerpräsidentenwahl meine Stimme zu geben. Helden hatte ich schon immer bewundert, und deshalb bedeutete mir unser kurzes Gespräch am Grab meines Vaters sehr viel.
Meine Nichte Shira und meine Tochter Avigayeel legten den Kranz der Familie am Grab nieder. Sie wirkten beide traurig und würdevoll. Shira, das älteste Kind meiner Schwester, war damals Soldatin und trug ihre Uniform. Meine Mutter, die im Kreis der Familie saß, wirkte vollkommen unbeteiligt, als ginge sie das alles gar nichts an. Ich hatte keine Ahnung, ob sie wusste, dass sie an Teddys Beerdigung teilnahm.
Ihr Zustand veränderte sich auch in den darauffolgenden Monaten nicht. Meine Mutter empfing Beileidsbesucher, sagte sehr wenig und erwähnte nie den Namen meines Vaters. Sie wirkte absolut emotionslos, wie erstarrt - und sehr ruhig. Wenn ein Besucher sagte, wie wundervoll und großartig mein Vater gewesen sei und was für einen Verlust sein Tod für den Staat Israel und für Jerusalem bedeute, starrte sie ihn nur an und sagte kein Wort.
Auch später fragte sie nie nach meinem Vater. Sie erkundigte sich nicht, was mit ihm passiert sei und warum er nicht zu Hause war. Sicher, sie war bei seiner Beerdigung gewesen, warum sollte sie fragen? Aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass sie gar nicht wusste, was dort vor sich gegangen war, oder dass sie es ganz tief in ihrem Unterbewusstsein vergraben hatte. Sie begleitete uns nicht, als wir gemäß der jüdischen Tradition dreißig Tage nach seinem Tod sein Grab besuchten. Es war ein kalter Wintertag, und wir fanden, sie sollte lieber keine Erkältung riskieren. Trotzdem war es seltsam, dass sie überhaupt keine Reaktion zeigte. Sie verhielt sich, als wäre nichts passiert und als hätte sich nichts geändert.
Soweit ich weiß, ist Tamar nie in sein Zimmer gegangen, um ihn zu suchen. (Meine Schwester meint allerdings, unsere Mutter habe in den ersten Jahren nach seinem Tod gelegentlich in seinem Zimmer und im Foyer nach ihm gesucht. Vielleicht hat sie recht. Im Großen und Ganzen fuhr Tamar einfach mit ihrem normalen Alltagsleben fort, wenn auch in etwas gedämpfter - aber nicht deprimierter - Stimmung, als wäre Teddy Kollek nie Teil ihres Lebens gewesen. Seine Fotos, die überall im Wohnzimmer hingen, schienen sie nicht zu interessieren. Das war ziemlich grotesk. Manchmal betrachtete sie andere Bilder an der Wand, Gemälde und alte Karten von Jerusalem, aber ich glaube hauptsächlich deshalb, weil sie groß waren und in Augenhöhe hingen. Insgesamt machte sie einen relativ teilnahmslosen Eindruck. Sie aß ihre Mahlzeiten, nahm ihre Tabletten und ruhte viel. Wenn meine Schwester oder ich sie besuchten, schien sie sich zu freuen, aber manchmal wirkte sie auch vollkommen gleichgültig. Das Thema Teddy kam nur zur Sprache, wenn meine Schwester oder ich eine Bemerkung machten. Dann starrte sie uns mit leerer Miene an. Von Zeit zu Zeit nickte sie. Das war alles.
5. Februar 2011
Bis zum heutigen Tag, mehr als vier Jahre nach Teddys Tod, habe ich nicht die leiseste Ahnung, was Tamar mitbekommt, was sie denkt oder fühlt. Zwei Frauen kümmern sich liebevoll um sie. Sie isst regelmäßig. Manchmal versucht sie, mithilfe einer Lupe, die wir ihr gekauft haben, zu lesen, aber nicht sehr lange, weil sie sehr schlecht sieht. Sie besucht auch den Fitnessraum im vierten Stock und trainiert eine halbe Stunde. Diszipliniert bemüht sie sich, alle körperlichen Übungen auszuführen, die man von ihr verlangt. Es ist ein befremdlicher Anblick, wenn sie wie eine Marionette die Mantras herunterbetet, die ihr ihre Pflegerin Shula Harlap beigebracht hat. Während sie sich, auf ihre Gehhilfe gestützt, langsam vorwärtsschleppt, murmelt sie unablässig vor sich hin: »Ich habe starke Beine, ich habe starke Arme. Ich habe starke Beine, ich habe starke Arme ...« Immer und immer wieder. Wie eine hirnlose Puppe. Wie eine Maus im Irrgarten. In solchen Augenblicken hasse ich Shula, obwohl ich weiß, dass alles nur zu Tamars Wohl geschieht. Aber ich hasse sie dafür, dass sie aus meiner Mutter so eine jämmerliche Figur macht.
Tamar, meine Mutter. Das klügste Mädchen der Klasse. Die Frau, die auch unter größtem Druck ruhig und besonnen blieb. Kürzlich fragte ich sie beiläufig, welche Stadt ihr lieber sei, Jerusalem oder Wien? Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Wien.« Auf meine Frage, warum, antwortete sie: »Weil es dort viel schöner ist.« Ich bin sicher, es ist eine ehrliche Antwort, weil sie spontan und aus dem Bauch heraus kam.
Manchmal bezweifle ich ernsthaft, ob Jerusalem ihr überhaupt jemals etwas bedeutet hat. Sie war achtundzwanzig Jahre lang die Frau des Bürgermeisters gewesen, aber das hatte nicht sie so entschieden. Lebte sie gern in dieser Stadt oder war das nur eine Pflicht, die sie klaglos auf sich genommen hatte? Ich neige dazu, Letzteres zu glauben.
Ohne jeden Zweifel liebte sie Ein Gev. In diesen Kibbuz war sie als junge Frau von nur zwanzig Jahren aus eigenem Entschluss gekommen, um die Siedlung aufzubauen und dort zu leben. Wenn die Rede auf Ein Gev kam, reagierte sie immer positiv und wirkt munterer. Nach Jerusalem ging sie nur, weil es die zwei großen Karriereschritte meines Vaters - zuerst als Direktor des Ministerpräsidentenamts und dann als Bürgermeister von Jerusalem - erforderten. Beides hatte sie sich nicht selbst ausgesucht.
Manchmal frage ich mich, warum sie nichts an diesem Leben geändert hat, wenn es ihr nicht gefiel.
Immerhin brachte sie 1947 in Ein Gev einen Sohn zur Welt, nämlich mich. Sie hätte darauf bestehen können, dort zu bleiben. Die Laufbahn meines Vaters im öffentlichen Dienst begann erst später. Aber Tamar war keine Frau, die eine junge Familie mit einem kleinen Kind auseinandergerissen hätte. Und mein Vater langweilte sich in Ein Gev.
Meine Mutter ist ein rätselhafter Mensch. Ich weiß nicht, was sie antreibt. Das wusste ich nie, ebenso wenig wie meine Schwester. Und das liegt daran, dass sie andere Prioritäten hat als die meisten Menschen. Sie wollte nie reich sein. Sie wollte nicht zur Universität gehen und studieren. Das Einzige, von dem ich weiß, dass sie es wirklich wollte, war die Auswanderung nach Palästina und der Aufbau des Kibbuz Ein Gev. Aber es ist jetzt zweiundsechzig Jahre her, dass sie Ein Gev verlassen hat, und danach war sie nur noch zu Kurzbesuchen dort.
Im Laufe der Jahre habe ich sie oft gefragt, warum sie das ungeliebte Leben als Ehefrau eines bedeutenden Mannes einfach so hingenommen hat. Die Cocktails, die endlosen Empfänge, auf denen sie nur eine Nebenfigur war, nur ein Anhängsel ihres Mannes. Sie gab mir immer dieselbe Antwort: Sie habe sich dieses Leben nicht ausgesucht, spüre jedoch, dass das, was mein Vater tue, wichtig für Israel sei, und deshalb müsse sie ihn unterstützen.
Irgendwann während der Schiv‘a, der siebentägigen Trauerzeit nach dem Tod meines Vaters, kam mir so richtig zu Bewusstsein, dass ich ein Elternteil verloren hatte. Ich hatte meinen Vater noch so vieles fragen wollen, aber irgendwie hatte sich nie die Gelegenheit ergeben. Es war nie leicht gewesen, mit ihm über persönliche Dinge zu sprechen, und vielleicht hatte mich seine Art zu sehr eingeschüchtert. Ich hatte immer das Gefühl, er hindere mich daran, meinen inneren Frieden zu finden und mein Potential voll auszuschöpfen. Er warf einen übermächtigen Schatten. Ich glaubte ständig mit ihm konkurrieren zu müssen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Das machte uns zu Gegnern. Dabei war er einer der beiden Menschen, die alles für mich taten und die ich mehr liebte als sonst jemanden auf der Welt.
Und jetzt war er tot.
Also blieb nur noch meine Mutter. Auch sie war nicht gerade jemand, dem man so einfach sein Herz ausschütten konnte. Trotzdem spürte ich tief im Innern, dass sie mich kannte. Sie vertraute mir fast nie ihre Gefühle, ihre Geheimnisse und ihre intimsten Gedanken an, doch sie wusste, wie es in mir aussah. Sie muss es gewusst haben. Aber ich schob es auf die lange Bank, mit ihr zu reden. Ich ging nach New York und machte Filme, während meine Eltern immer älter wurden. Als hätten diese Filme das Gespräch mit meinen Eltern ersetzen können. Vielleicht war dies auch meine Art, mit ihnen zu reden, ihnen über die Leinwand mitzuteilen, wer ich bin und was ich fühle.
Verblassende Gefühle
Falls es jemanden interessiert, ich bin vierundsechzig Jahre alt. Seit einer Weile stelle ich fest, dass meine Empfindungen in Bezug auf die meisten Menschen und »Ideen« immer schwächer werden. Ich rege mich längst nicht mehr so sehr darüber auf, was mir oder um mich herum passiert, weder im positiven noch im negativen Sinn. Das geht wohl allen Menschen in einem gewissen Alter so, und es ist bestimmt auch ein Zeichen der Zeit.
Das betrifft jedoch nicht meine Empfindungen gegenüber meiner Frau. Ich frage mich, wie unser Leben sein wird, wenn unsere Töchter - der Kitt, der uns zusammenhält - das Nest verlassen. Werden wir dann noch zusammenbleiben? Manchmal macht mir das richtig Angst. Mich erschreckt die Vorstellung, mit siebzig allein dazustehen und mich in einer Welt ohne meine Eltern und ohne die paar Freunde und Bekannten aus meiner Kindheit und Jugend behaupten zu müssen. Zum Beispiel unser Zahnarzt Dr. Freund, der mir mit einem breiten Lächeln Zahnfüllungen verpasste und schon vor Jahrzehnten gestorben ist. Oder Yanek, der fromme Junge, der mir und meinem Freund und Nachbarn Hanoch durch den Hof nachjagte. Oder »Kohen der Dieb«, der seinen Laden gegenüber dem Rehavia-Gymnasium hatte und uns zwölf Jahre lang überteuerte Schulbücher verkaufte. Oder Yaakov Yona (»Yonchik«), der die Bibelstunde hielt und uns Schüler mit seiner strengen Miene und seinen beißenden Schimpftiraden, die jeden trafen, der das wöchentliche Bibelkapitel nicht auswendig konnte, einschüchterte. Ich schloss Yonchik ins Herz, weil er so eine einmalige Erscheinung in der Schule war, mit seinem schwarzen Anzug, dem weißen Haar, der Hakennase und der barschen Stimme.
Sie alle sind inzwischen gestorben.
Meine Mutter
Und dann gibt es noch meine Mutter Tamar. Der Mensch, der mir seit vierundsechzig Jahren am nächsten steht und den ich am besten kenne. Meine Mutter brachte es fertig, bei vornehmen Empfängen mit Geistesgrößen wie W. H. Auden und Simone de Beauvoir, aber auch mit anderen Leuten, die sie nicht kannte, und sogar mit ausländischen Staatsoberhäuptern über das Wetter zu reden. Es war unglaublich langweilig, sich mit ihr zu unterhalten oder bei einem offiziellen Dinner neben ihr zu sitzen. Sie ist und bleibt ein großes Rätsel. Die Vorstellung, dass sie sterben könnte, macht mir große Angst, ungeachtet ihres hohen Alters und ihres gebrechlichen Zustands. Habe ich gesagt, sie sei langweilig? Das nehme ich zurück. Sie ist nur langweilig, wenn man sie nicht gut kennt. Aber wer kennt sie schon?
Ich besuche sie nicht oft, obwohl sie nur fünf Minuten mit dem Auto von mir entfernt in einem Altersheim in Kiryat Yovel in Jerusalem wohnt. Es ist mir unerträglich, sie in ihrem jetzigen Zustand zu sehen. Sie kann nicht ohne Hilfe essen, sie kann nicht sprechen und ihre Gedanken nicht mitteilen. Wir können nicht mehr miteinander kommunizieren. Oft frage ich mich, ob sie mich überhaupt erkennt oder je an mich denkt. Ich vermute, dafür ist sie schon viel zu schwach. Und dennoch, obwohl sie nichts sagt und nichts tut, kann ich mir eine Welt ohne sie nicht vorstellen. Ich bin dankbar dafür, dass sie sich so ans Leben klammert. Sie wird bis zum letzten Atemzug kämpfen, egal, wie ihre Chancen stehen. Mag ihr Geist noch so getrübt und schwach sein, tief im Innern weiß sie, dass ihre Familie sie immer noch braucht, davon bin ich überzeugt. Sie ist zu pflichtbewusst, um zu sterben.
Aber wer ist sie eigentlich?
Manchmal stelle ich mir vor, wie das Leben meiner Eltern verlaufen wäre, wenn es keinen Hitler und keinen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte und sie in Wien geblieben wären, statt nach Palästina auszuwandern. Mein Vater wäre wohl Geschäftsmann geworden. Das lag in der Familie, außerdem war er vom Typ her kein Akademiker oder Intellektueller, und er besaß weder künstlerische Ambitionen noch die Neigung, Anwalt oder Arzt zu werden. Was wäre da noch übriggeblieben? Na ja, er hätte Bürgermeister von Wien werden oder im Kulturressort der Stadtverwaltung arbeiten können. Er wäre erfolgreich gewesen, hätte sich aber wahrscheinlich nicht in gleicher Weise hervorgetan wie in Israel. Ich denke, er hätte auf jeden Fall Tamar zur Frau gewählt, sofern sich ihre Wege gekreuzt hätten. Er hätte dasselbe für sie empfunden wie bei ihrer ersten Begegnung im jüdischen Jugendbund »Blau- Weiß«. Ihre herausragenden Qualitäten hätten ihm ins Auge gestochen. Ihre außerordentliche Klugheit. Ihr gutes Herz und ihre Hilfsbereitschaft. Ihre Bereitschaft, die zweite Geige zu spielen. Was meine Mutter gemacht hätte, kann ich mir viel leichter vorstellen. Sie wäre wahrscheinlich zur Universität gegangen und hätte Mathematik, Wirtschaft oder Medizin studiert. Sie wäre Ärztin, Krankenschwester oder Sozialarbeiterin geworden. Es gefiel ihr, anderen zu helfen. Vielleicht wäre sie für ein paar Jahre nach Afrika oder Asien gegangen, um sich um die Armen und Bedürftigen zu kümmern. Ich glaube nicht, dass sie Teddy geheiratet hätte. In seiner bürgerlichen Version hätte er ihr nicht gefallen. Er hätte mit seinem blendenden Aussehen und seinem Charme nicht bei ihr punkten können. Bestimmt hätte sie einen Intellektuellen geheiratet, einen Historiker oder Philosophen. Vielleicht wäre sie Kommunistin geworden, wenigstens einige Jahrzehnte lang. Sie hat immer an die Gleichheit aller Menschen geglaubt.
Marx wäre eines ihrer Idole gewesen. Einstein auch. Ebenso Hannah Szenes, die in Ungarn geborene, nach Palästina ausgewanderte Widerstandskämpferin und Dichterin, die im Zweiten Weltkrieg mit dem Fallschirm über dem besetzten Ungarn absprang und von den Nazis hingerichtet wurde. Und natürlich Anne Frank. Vielleicht hätte sie eigene literarische Versuche unternommen, aber das bezweifle ich. So klug sie war, war sie doch kein kreativer Mensch. Sie hätte Lehrerin oder Schuldirektorin werden können. Ihre Eltern wären stolz auf sie gewesen. Weil sie, einerlei, was sie getan oder wohin das Schicksal sie geführt, immer nur Gutes getan hätte.
Was ich gerade über meine Mutter geschrieben habe, passt ebenso gut zu meiner Tochter Avigayeel. Nur dass Avigayeel ungemein kreativ ist. Sie schauspielert, schreibt, zeichnet. Wie Tamar ist auch sie eine hervorragende Schülerin. Das Gleiche gilt für ihre Schwester Noaa.
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Autoren-Porträt von Amos Kollek
Bevor Amos Kollek, geboren 1947, zum Film kam, war er schon ein arrivierter Schriftsteller, dessen erster Roman 'Don't ask me if I love' gleich ein Bestseller wurde. Kollek, der einer der bekanntesten und angesehensten Independent-Filmemacher ist, wurde vor allem durch seine in New York - seiner zweiten Heimat - angesiedelten Filme (u.¿a. 'Sue - Eine Frau in New York', 'Bridget', 'Fast Food, Fast Women') bekannt. Besonders in Europa wird er von der Kritik und dem Publikum mit Preisen und Anerkennung ausgezeichnet. Er arbeitete u.¿a. mit Hanna Schygulla, Alec Baldwin, Debbie Harry und mit Faye Dunaway. Zuletzt erschienen im Fischer Taschenbuchverlag sein Roman 'Es geschah in Gaza' und 'Ein Leben für Jerusalem' (zus. mit Teddy Kollek). Seuss, RitaRita Seuss lebt in Berlin und hat u.a. Roberto Saviano und Andrea Camilleri übersetzt. Prummer-Lehmair, ChristaChrista Prummer-Lehmair lebt in München und übersetzt Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Amos Kollek
- 2014, 1. Auflage, 352 Seiten, Masse: 14,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Rita Seuss, Christa Prummer-Lehmair
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100411099
- ISBN-13: 9783100411099
- Erscheinungsdatum: 16.04.2014
Pressezitat
ein sehr persönliches Dokument und zugleich ein grossartiges Stück Zeitgeschichte Rainer Mayerhofer Wiener Zeitung 20140818
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