Oscar
Was uns ein Kater über das Leben und das Sterben lehrt
Wenn sich Oscar, der Stationskater, zu einem Patienten auf das Bett legt, dann wissen Doktor Dosa und die Schwestern des Pflegeheims für Demenzkranke, dass es so weit ist. Denn Oscar spürt, wann ein Mensch sterben wird. Er bleibt bei ihm bis zum...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Oscar “
Wenn sich Oscar, der Stationskater, zu einem Patienten auf das Bett legt, dann wissen Doktor Dosa und die Schwestern des Pflegeheims für Demenzkranke, dass es so weit ist. Denn Oscar spürt, wann ein Mensch sterben wird. Er bleibt bei ihm bis zum letzten Atemzug und schenkt, was wir Menschen oft vergessen: tröstenden Beistand.
"Beeindruckend und zu Herzen gehend erzählt David Dosa die Geschichte des Katers mit dem siebten Sinn."
UNSER MAGAZIN
"Beeindruckend und zu Herzen gehend erzählt David Dosa die Geschichte des Katers mit dem siebten Sinn."
UNSER MAGAZIN
Klappentext zu „Oscar “
Wenn sich Oscar, der Stationskater, zu einem Patienten auf das Bett legt, dann wissen Doktor Dosa und die Schwestern des Pflegeheims für Demenzkranke, dass es so weit ist. Denn Oscar spürt, wann ein Mensch sterben wird. Er bleibt bei ihm bis zum letzten Atemzug und schenkt, was wir Menschen oft vergessen: tröstenden Beistand.
Lese-Probe zu „Oscar “
Oscar von David DosaAus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt
1
Wenn man seinen Beruf liebt, kann einem an guten Tagen der Arbeitsplatz regelrecht schön vorkommen - egal, wie er in den Augen der übrigen Welt erscheinen mag. Ein Unternehmer in der Ölbranche betrachtet eine öde, staubige Ebene und sieht das Potenzial für ein unerschlossenes Erdöllager. Ein Feuerwehrmann sieht ein brennendes Gebäude und marschiert mit steigendem Adrenalinspiegel hinein, um zu helfen. Ein Fernfahrer liebt die weiten Straßen und die Zeit, in der er mit seinen Gedanken allein ist, die Reise und das Ziel.
Ich bin Geriater und arbeite auf der zweiten Etage des Steere House Nursing and Rehabilitation Center, eines Pflegeheims, das an das Rhode Island Hospital im Zentrum von Providence angeschlossen ist. Manche Leute sagen mir, meine Arbeit erschiene ihnen deprimierend, was mich immer ein wenig verwundert. Wenn ich meine Patienten und ihre Angehörigen betrachte, habe ich einen beachtlichen Einblick in ein gut gelebtes Leben, eine tiefe Bindung und dauerhafte Zuneigung, und das möchte ich für nichts auf der Welt eintauschen. Freilich muss ich mich manchmal um Menschen kümmern, die in einem schlimmen Zustand sind, aber ich bin auch dabei, wenn sie ihre besten Augenblicke haben.
... mehr
Meine Eltern, beide Mediziner, haben mich für verrückt gehalten, als ich mich für die Geriatrie entschied. In meiner Familie wurde man normalerweise Kinderarzt - wie meine Mutter, mein Onkel und mein Großvater. Ich glaube, sie hatten immer das Gefühl, ich hätte das falsche Ende der Lebensspanne als Fachgebiet gewählt. »Sind Kinder denn nicht viel netter?«, meinte meine Mutter oft.
Zugegeben, ich habe durchaus darüber nachgedacht, Kinderarzt zu werden. Ich liebe Kinder und Babys, und ich habe selbst zwei Sprösslinge zu Hause. Der Unterschied besteht aus meiner Sicht in der Geschichte, die man kennenlernt. Kinder sind wie eine leere Leinwand, ein Porträt, das erst gezeichnet werden muss. Wenn wir sie betrachten, während ihr Leben gerade beginnt, denken wir an einen Neuanfang und grenzenlose Möglichkeiten.
Meine älteren Patienten hingegen sind wie vollendete Gemälde, und was für Geschichten sie zu erzählen haben! Wenn ich sie an einem richtig guten Tag betrachte, sehe ich bis zurück in ihre Kindheit. Ich denke an ihre Eltern, die nun schon lange tot sind, an die Orte, an denen sie gewesen sind, und an alles, was sie gesehen haben. Für mich ist das wie ein Blick durchs vordere Ende eines Teleskops, der mich an den Anfang zurückführt.
Deshalb erscheint mir mein Arbeitsplatz, das Steere House, als ein schöner Ort, zumal es sich um ein vergleichsweise angenehmes Pflegeheim handelt. An sonnigen Tagen flutet Licht durch die großen, hohen Fenster, und es spielt immer Musik, so dass man sich fast wie zu Hause vorkommt.
Und dann gibt es dort Oscar. Gern würde ich behaupten, dass ich der Erste war, der seine besonderen Fähigkeiten erkannte - aber leider war ich es nicht. Dankenswerterweise gab es andere, die scharfsinniger waren.
An einem Sommermorgen vor einigen Jahren schien die Station ganz leer zu sein - bis auf ein Augenpaar, das mich vom Tisch des Stationszimmers aus anfunkelte. Wie ein Wächter, der sorgfältig jeden Besucher unter die Lupe nimmt, musterten mich diese Augen, um zu bestimmen, ob ich womöglich eine Gefahr darstellte.
»Hallo, Maya! Na, wie geht's?«
Die hübsche weiße Katze machte keine Anstalten, mich zu begrüßen. Sie widmete sich hingebungsvoll der Tätigkeit, ihre Vorderpfoten zu lecken.
»Wo sind sie denn alle, Maya?«
Es war merkwürdig ruhig auf der Etage. Die mit Parkett ausgelegten Flure waren leer; einziges Lebenszeichen waren ein paar Rollatoren, die scheinbar zufällig vor manchen Zimmern standen. Ohne ihre Benutzer sahen die Gehwagen merkwürdig unhandlich aus, wie etwas, das ein erfindungsreiches Kind mit seinem Metallbaukasten gebastelt und nach dem Spielen stehen gelassen hatte. Am einen Ende des Ostflurs fiel Morgenlicht durch die hohen Fenster und warf ein breites, helles Rechteck auf den Boden.
Ich suchte nach Mary Miranda, der für die Tagschicht eingeteilten Schwester. Mary weiß über alles auf der Station Bescheid und kennt nicht nur die Geschichte jedes einzelnen Patienten, sondern auch die des ganzen Heims. Obwohl sie keine offizielle Leitungsposition innehat, gibt es unter den Ärzten und dem gesamten Pflegepersonal keinen Zweifel, wer die Zügel in der Hand hält. Mary ist für alle Patienten eine echte Mutterfigur, und sie tut alles für ihre Schutzbefohlenen. Nichts auf der Station geschieht, ohne dass sie davon weiß. Selbst ihre direkten Vorgesetzten beugen sich nicht selten ihren Wünschen.
So früh am Morgen sind die Türen der Zimmer normalerweise noch geschlossen. So auch die Tür von Zimmer 322, in dem Mary gerade bei der Morgenpflege einer Patientin war. Ich klopfte an, und eine gedämpfte Stimme bat mich zu warten. Um mir die Zeit zu vertreiben, studierte ich die neben Brenda Smith' Zimmer angebrachte Pinnwand mit Familienfotos. Ganz oben klebte ein Zettel, auf dem in Blockschrift der volle Name und das Geburtsdatum der Patientin standen: Gertrude Brenda Smith, 21. Januar 1918. Jeder Buchstabe und jede Zahl waren aus buntem Bastelpapier ausgeschnitten und sorgfältig mit Glasperlen und anderem Schmuck verziert, zweifellos das liebevolle Werk eines Enkelkinds. Darunter hing das Schwarzweißporträt einer schönen jungen Frau Anfang zwanzig. Ihr dunkler Lippenstift akzentuierte das bleiche Gesicht, sie trug ein modisches Sommerkleid im Stil der 1940er Jahre. Am einen Arm hatte sie einen gut aussehenden Mann in Marineuniform, am anderen hing ein Sonnenschirm. Ich stellte mir vor, wie die beiden an einem warmen Sommernachmittag kurz nach dem Krieg im Park spazieren gingen. An den Gesichtern sah man, wie glücklich und verliebt sie waren.
Als Nächstes kam ein mehrere Jahre später aufgenommenes Foto desselben Paars, begleitet von zwei kleinen Kindern. Es war eine verblasste Farbaufnahme. Das Haar des Mannes war schon etwas schütter geworden und hatte erste graue Strähnen. Dieses Bild drückte eine andere Erwartungshaltung aus; die beiden waren kein verliebtes junges Paar mehr, sondern stolze Eltern, die an die Zukunft ihrer Familie dachten.
Das letzte Bild der Sammlung zeigte Mrs. Smith in späteren Jahren, sorgfältig gekleidet, das silbergraue Haar säuberlich unter einem geschmackvoll ausgewählten Hut verborgen. Ihr Mann war offenkundig schon gestorben, doch sie war von mehreren Generationen ihrer Familie umgeben. Im Hintergrund hing ein Spruchband, das verkündete: »Alles Gute zum 80., Grandma!« Inzwischen waren acht Jahre vergangen.
Ich klopfte erneut und trat ins Zimmer, in dem Mary sich um die Patientin kümmerte. Diese war nicht mehr die lebhafte, gut gekleidete Großmutter auf dem Geburtstagsfoto. An deren Stelle befand sich ein kleineres Ebenbild der Frau, die es einmal gegeben hatte. Bis ich mit Patienten in fortgeschrittenen Stadien der Alzheimer-Krankheit zu tun hatte, war mir der Ausdruck »ein Schatten ihrer selbst« wie ein Klischee vorgekommen. Nun sah ich genau das bei Mrs. Smith und vielen anderen Patienten. Hinter dem Schatten war jedoch immer noch die Substanz der Person zu erkennen, selbst wenn diese mich nicht mehr zu sehen schien.
»Brauchen Sie mich?«, fragte Mary, anscheinend ein wenig verärgert über die Störung.
»Ja«, erwiderte ich, »ich muss wissen, wen ich heute besuchen soll.«
»Lassen Sie mich hier fertig werden, dann komme ich zum Stationszimmer.«
Als ich mich zum Gehen wandte, richtete Mary sich aus ihrer gebückten Haltung am Bett auf und wölbte den Rücken, um sich zu entspannen.
»Moment noch, David, ich glaube, ich werde hier noch eine Weile beschäftigt sein. Wie wär's, wenn Sie schon einmal einen Blick auf Sauls Bein werfen. Es ist gerötet und sieht ziemlich schlimm aus. Ich glaube, er hat wieder eine Hautentzündung.«
»In Ordnung. Ich sehe mir die Sache gleich mal an.«
Ich verließ das Zimmer und machte mich auf die Suche nach Saul Strahan, einem Achtzigjährigen, der schon viele Jahre bei uns lebte. Als ich ihn fand, trug er sein übliches Outfit, ein Sweatshirt mit dem Logo der Boston Red Sox samt Baseballmütze, und saß wie üblich in seinem Fernsehsessel. Über den Bildschirm flimmerte eine Morgentalkshow.
»Na, was läuft gerade?«, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
Ich setzte mich neben ihn und warf einen Blick auf den Fernseher. Eine junge Schauspielerin beklagte sich beim Moderator über die Paparazzi, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten.
»Jeder hat so seine Probleme, nicht wahr, Saul?«
Ich betrachtete ihn genauer. Zusätzlich zu seinem fortschreitenden Alzheimer hatte Saul vor vier Jahren einen üblen Schlaganfall erlitten, der ihn seiner Sprache beraubt hatte. Seine Augen jedoch blickten mich voller Leben an, und ich spürte, dass er versuchte, etwas zu sagen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte ihm, ich sei gekommen, um sein Bein zu untersuchen.
Beide Beine waren durch Ödeme angeschwollen, weil Saul schon seit zwanzig Jahren mit chronischer Herzinsuffizienz kämpfte. Allerdings sah das rechte Bein röter aus, und als ich es berührte, fühlte es sich deutlich wärmer an als das linke. Offenbar waren Marys Sorgen gerechtfertigt.
»Saul, mein Freund, es tut mir leid, aber es sieht ganz so aus, als müssten Sie wieder Antibiotika nehmen.« Das musste ich auch seiner Tochter mitteilen. Ich nahm mir vor, sie später anzurufen.
Ich kehrte zum Stationszimmer zurück, wo Maya immer noch damit beschäftigt war, sich das Fell zu reinigen. Erschreckt durch mein Auftauchen, sprang sie von der Arbeitsplatte herunter, wobei sie mir einen ihrer »Hier-ist nicht- genug-Platz-für-uns beide«-Blicke zuwarf.
Als ich meine Notiz niedergeschrieben hatte, blieb ich am Tisch sitzen, um auf Marys Rückkehr zu warten. Mary übt ihren Beruf schon sehr lange aus. Als sie in den 1970er Jahren auf die High School ging, hatte sie einen Job als Pflegehelferin. Auf der Krankenpflegeschule entdeckte sie dann, dass sie gern mit alten Menschen umging. Sie ist nicht nur eine der engagiertesten Altenpflegerinnen, die ich kenne, sondern hat in ihrem Beruf eine besondere Intuition. Stets scheint sie zu wissen, wer gerade am meisten Aufmerksamkeit benötigt.
»Hallo, tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Marys angenehme Stimme, der man ihre Herkunft aus Neuengland deutlich anhörte, sorgte dafür, dass ich meine Abhängigkeit nicht zu sehr bedauerte. Falls sie sich vorher tatsächlich geärgert hatte, so war das nun bereits vergeben und vergessen.
»David, haben Sie ein paar Minuten Zeit?«, fuhr sie fort. »Ich möchte Ihnen nämlich etwas in Zimmer 310 zeigen.«
Während wir den Flur entlanggingen, erzählte mir Mary ein wenig von Lilia Davis, die von einer Kollegin betreut wurde. »Sie ist etwa achtzig und seit eineinhalb Jahren hier auf der Station. Vor etwa drei Monaten hat sie plötzlich stark an Gewicht verloren. Eines Morgens blutete sie aus dem Darm. Drüben in der Klinik hat man dann Dickdarmkrebs diagnostiziert, der sich bereits überall ausgebreitet hatte. Angesichts ihrer schweren Demenz haben die Angehörigen sich gegen eine Behandlung entschieden und Lilia zur Hospizbetreuung wieder hierhergeschickt.«
Eine vernünftige Entscheidung, dachte ich bei mir.
Als wir ins Zimmer kamen, lag Mrs. Davis mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Sie atmete nur fl ach. In ihrem linken Arm steckte der Infusionsschlauch einer Morphinpumpe. Auf der anderen Seite des Raums stand ein leeres Behelfsbett mit zurückgeschlagenem Laken. Dort hatte offenbar jemand vor kurzer Zeit geschlafen.
»Die Tochter von Mrs. Davis«, erklärte Mary, bevor ich eine Frage stellen konnte. »Ich habe sie für ein paar Stunden heimgeschickt, damit sie sich duschen und umziehen kann. Ich glaube, vorher war sie sechsunddreißig Stunden lang pausenlos da.«
»Also, was wollten Sie mir zeigen?«, fragte ich.
Mary deutete auf das untere Ende des Betts. »Schauen Sie mal!«
Als ich näher trat, hob sich der Kopf eines schwarzweiß gescheckten Katers vom Laken. Durch die Bewegung bimmelte leise das Glöckchen an seinem Halsband. Er stellte die Ohren auf und musterte mich mit einem fragenden Blick.
Ohne weiter auf ihn zu achten, stellte ich mich neben die Patientin. Der Kater legte den Kopf wieder auf die Vorderpfoten und schnurrte leise, während er sich ans rechte Bein von Mrs. Davis schmiegte. Ich betrachtete ihr Gesicht und stellte fest, dass sie eindeutig schmerzfrei war.
»Sie sieht ganz gut aus«, sagte ich. »Soll ich ihr etwas verschreiben?«
»Es ist nicht die Patientin, David. Der geht es den Umständen entsprechend gut. Es ist der Kater.«
»Der Kater? Sie haben mich hierhergeholt, damit ich mir einen Kater anschaue?«
»Das ist Oscar«, sagte sie, als würde sie mir eine bedeutende Persönlichkeit vorstellen.
»Ja, ich weiß«, sagte ich. Allmählich teilte ich Mayas schlechte Laune. »Er ist wohl auf ein Stündchen zu Besuch gekommen.«
»Tja, genau das ist eben auffällig. Eigentlich kommt Oscar nicht gerne zu Besuch. Wie oft haben Sie ihn schon mal bei irgendeinem Patienten gesehen? Normalerweise versteckt er sich irgendwo.«
Das stimmte; ich hatte Oscar bisher nur ein paar Mal in einem Zimmer gesehen, obwohl er inzwischen schon ein ganzes Jahr auf der Etage lebte.
Manchmal bemerkte ich ihn im Stationszimmer, wo seine Futter- und seine Wasserschüssel standen, oder er schlief in seinem Eck unter einer zerschlissenen alten Decke. Kurz, Oscar hatte nicht gerade den Ruf, ein besonders geselliger Kater zu sein.
»Wahrscheinlich gewöhnt er sich endlich an uns«, sagte ich. »Gut, ich bin zwar nicht gerade ein Experte für Katzen, aber aus Erfahrung weiß ich, dass die tun, was sie wollen. Wahrscheinlich liegt er einfach hier, weil er jemanden gefunden hat, der ihm seine Ruhe lässt.«
»Ich weiß, es ist merkwürdig, David, aber es geht mir darum, dass Oscar sich normalerweise nie mit irgendwelchen Patienten abgibt. Sonst versteckt er sich meist irgendwo, vor allem im Stationszimmer. In letzter Zeit haben einige von uns allerdings bemerkt, dass er mehr Zeit bei bestimmten Patienten verbringt.«
Ich zuckte die Achseln. »Und was soll daran merkwürdig sein?« Als ich Oscar so an Mrs. Davis geschmiegt daliegen sah, kamen mir die Katzen in den Sinn, die man im alten Ägypten gemeinsam mit ihren Besitzern ins Grab legte. Die Szene wirkte friedlich, ja geradezu tröstlich.
»Um auf den Punkt zu kommen«, sagte Mary zögernd, »Oscar verbringt viel Zeit bei Patienten, die kurz vor dem Tod stehen.«
Mir ging ein Licht auf. »Sie wollen also behaupten, dass Mrs. Davis heute noch sterben wird?« Ich warf erneut einen Blick auf die Patientin und bedauerte sofort, was ich gesagt hatte. Sie atmete eindeutig schwer, und ich fühlte mich schuldig, weil ich so wenig Anstand zur Schau gestellt hatte. Mir wurde klar, dass Mrs. Davis tatsächlich noch am selben Tag sterben konnte, was allerdings mehr mit ihrer Demenz und ihrer rasch fortschreitenden Krebserkrankung zu tun hatte als mit der Anwesenheit eines Katers auf ihrem Bett.
Mary lächelte, doch ich spürte, dass es ihr peinlich war. Es tat mir leid, ihre Bemerkung so abgetan zu haben.
»Tja, wahrscheinlich ist es durchaus möglich, dass eine Katze merkt, wenn jemand sterben wird. Erinnern Sie sich an den Artikel über Krebsspürhunde, der neulich in der Zeitung stand? Außerdem gibt es diese japanischen Fische, die im Voraus auf Erdbeben reagieren. Ganz zu schweigen von Lassie, die auch immer gewusst hat, wenn Timmy in den Brunnen gefallen war.«
Das fand Mary nicht besonders komisch. »Hören Sie, gestern ist Oscar ins Zimmer einer anderen Patientin gegangen, nicht lange bevor sie gestorben ist.«
Mein Gesichtsausdruck sagte offenbar alles, weshalb Mary es aufgab, mich zu überzeugen. Eine kleine Weile betrachteten wir gemeinsam schweigend die Szene, die sich uns bot. Der an das Bein von Mrs. Davis geschmiegte Kater schnurrte leise.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Mary«, sagte ich, um den Bann zu brechen. »Die Vorstellung, dass ein Tier bei mir ist, wenn ich sterbe, fi nde ich sehr schön. Als Kind hatte ich einen Hund, der mich überallhin begleitete.« Ich trat wieder zum Bett und bückte mich, um Oscar zu streicheln. Blitzschnell hieb er mit der Vorderpfote nach meiner Hand. Ich zuckte zurück und suchte nach nicht vorhandenen Blutspuren.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, dass er nicht besonders freundlich ist«, meinte Mary grinsend.
»Nicht besonders freundlich!«, erwiderte ich mit einer dramatischen Geste. »Er hat versucht, mich zu zerfleischen! «
»Ach, so schlimm ist er auch wieder nicht. Wenn er will, kann er sich sogar sehr liebevoll verhalten. Mit so etwas versucht er bloß, seine Patienten zu beschützen.«
»Mary, er ist eine Katze, und Katzen tun nichts, wenn sie keinen Vorteil davon haben. Wahrscheinlich hat er nur nach einem ruhigen Platz und einer warmen Decke gesucht, um sich gemütlich niederzulassen.«
Ich warf wieder einen Blick auf meine Hand, auf der immer noch kein Kratzer zu sehen war.
»Meine Güte, sind Sie empfindlich!«, rief Mary. »Er hat Sie doch kaum berührt.«
»Ehrlich gesagt, mag ich Katzen nicht besonders, Mary. Und allem Anschein nach sieht es so aus, als ob diese Katze da mich ebenfalls nicht besonders mag.«
Mary lachte. »Katzen haben nichts gegen Menschen, sie merken bloß, ob man Angst hat oder nicht. Und wenn man Angst hat, dann reagieren sie entsprechend.«
»Lachen Sie nicht«, sagte ich. »Als Kind habe ich nämlich eine üble Erfahrung mit einer Katze gemacht, und daher bin ich ein wenig traumatisiert.«
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich Mary von dem Kater meiner Großmutter erzählen sollte, doch ihre spöttische Miene überzeugte mich davon, dass es besser war, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
»Manche Katzen sind eben aggressiv«, sagte sie nach kurzer Pause. »Genau wie manche Menschen. Aber wegen einer schlechten Erfahrung kann man doch nicht alle Katzen verwünschen! Außerdem hätten wir keine Katzen hier, wenn auch nur die geringste Gefahr bestünde, dass sie jemanden verletzen. Selbst wenn es sich um einen Arzt handelt! «
»Sehr witzig.« Ich wandte mich wieder Oscar und Mrs. Davis zu. »Wissen Sie, vielleicht mag er Patienten, die sich nicht mehr rühren, weil die ihm keinen Ärger machen.«
»Ich weiß nicht, David. Ich glaube wirklich, an der Sache ist mehr dran.«
»Das heißt also, Mrs. Davis wird heute sterben?«
»Vielleicht. Warten wir ab.«
Als ich später vom Pflegeheim zu meiner Privatpraxis fuhr, kam mir wieder der Kater in den Sinn, der im Haus meiner Großmutter gelebt hatte. Sein Name war Puma, und das passte ganz ausgezeichnet. In meiner Erinnerung war er ein mindestens fünfzehn Kilo schwerer Koloss, doch wie jeder Sportangler bestätigen kann, nimmt mit der Zeit alles größere Dimensionen an. Jahrelang hatte er mich jedes Mal terrorisiert, wenn ich »sein« Haus betrat. Als ich an seine vor Hass lodernden Augen dachte, kam es mir vor, als sei meine Angst vor Katzen keineswegs irrational.
Mitten in diesen Gedanken läutete mein Mobiltelefon. Es war Mary.
»Mrs. Davis ist gestorben«, sagte sie. »Wenige Minuten nachdem Sie abgefahren sind.« Es war erst eine Stunde her, dass ich im Zimmer der Patientin gestanden und ihre Atemzüge beobachtet hatte. Obwohl ich so etwas schon seit vielen Jahren kannte, empfand ich noch immer ein Gefühl der Demut, wenn ich den Tod eines Menschen aus der Nähe erlebte.
»Hören Sie, Mary«, sagte ich. »Machen Sie bitte nicht zu viel aus dieser Sache mit dem Kater. Mrs. Davis wäre ohnehin bald gestorben. Ihre Diagnose war äußerst schlecht.«
»Das stimmt schon, aber es ändert nichts daran, dass Oscar sich regelmäßig so verhält. Selbst manche von den Angehörigen sprechen schon darüber.« Sie schwieg einen Augenblick. »David«, sagte sie dann, »ich glaube wirklich, der Kater weiß Bescheid.«
Copyright © 2010 Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Meine Eltern, beide Mediziner, haben mich für verrückt gehalten, als ich mich für die Geriatrie entschied. In meiner Familie wurde man normalerweise Kinderarzt - wie meine Mutter, mein Onkel und mein Großvater. Ich glaube, sie hatten immer das Gefühl, ich hätte das falsche Ende der Lebensspanne als Fachgebiet gewählt. »Sind Kinder denn nicht viel netter?«, meinte meine Mutter oft.
Zugegeben, ich habe durchaus darüber nachgedacht, Kinderarzt zu werden. Ich liebe Kinder und Babys, und ich habe selbst zwei Sprösslinge zu Hause. Der Unterschied besteht aus meiner Sicht in der Geschichte, die man kennenlernt. Kinder sind wie eine leere Leinwand, ein Porträt, das erst gezeichnet werden muss. Wenn wir sie betrachten, während ihr Leben gerade beginnt, denken wir an einen Neuanfang und grenzenlose Möglichkeiten.
Meine älteren Patienten hingegen sind wie vollendete Gemälde, und was für Geschichten sie zu erzählen haben! Wenn ich sie an einem richtig guten Tag betrachte, sehe ich bis zurück in ihre Kindheit. Ich denke an ihre Eltern, die nun schon lange tot sind, an die Orte, an denen sie gewesen sind, und an alles, was sie gesehen haben. Für mich ist das wie ein Blick durchs vordere Ende eines Teleskops, der mich an den Anfang zurückführt.
Deshalb erscheint mir mein Arbeitsplatz, das Steere House, als ein schöner Ort, zumal es sich um ein vergleichsweise angenehmes Pflegeheim handelt. An sonnigen Tagen flutet Licht durch die großen, hohen Fenster, und es spielt immer Musik, so dass man sich fast wie zu Hause vorkommt.
Und dann gibt es dort Oscar. Gern würde ich behaupten, dass ich der Erste war, der seine besonderen Fähigkeiten erkannte - aber leider war ich es nicht. Dankenswerterweise gab es andere, die scharfsinniger waren.
An einem Sommermorgen vor einigen Jahren schien die Station ganz leer zu sein - bis auf ein Augenpaar, das mich vom Tisch des Stationszimmers aus anfunkelte. Wie ein Wächter, der sorgfältig jeden Besucher unter die Lupe nimmt, musterten mich diese Augen, um zu bestimmen, ob ich womöglich eine Gefahr darstellte.
»Hallo, Maya! Na, wie geht's?«
Die hübsche weiße Katze machte keine Anstalten, mich zu begrüßen. Sie widmete sich hingebungsvoll der Tätigkeit, ihre Vorderpfoten zu lecken.
»Wo sind sie denn alle, Maya?«
Es war merkwürdig ruhig auf der Etage. Die mit Parkett ausgelegten Flure waren leer; einziges Lebenszeichen waren ein paar Rollatoren, die scheinbar zufällig vor manchen Zimmern standen. Ohne ihre Benutzer sahen die Gehwagen merkwürdig unhandlich aus, wie etwas, das ein erfindungsreiches Kind mit seinem Metallbaukasten gebastelt und nach dem Spielen stehen gelassen hatte. Am einen Ende des Ostflurs fiel Morgenlicht durch die hohen Fenster und warf ein breites, helles Rechteck auf den Boden.
Ich suchte nach Mary Miranda, der für die Tagschicht eingeteilten Schwester. Mary weiß über alles auf der Station Bescheid und kennt nicht nur die Geschichte jedes einzelnen Patienten, sondern auch die des ganzen Heims. Obwohl sie keine offizielle Leitungsposition innehat, gibt es unter den Ärzten und dem gesamten Pflegepersonal keinen Zweifel, wer die Zügel in der Hand hält. Mary ist für alle Patienten eine echte Mutterfigur, und sie tut alles für ihre Schutzbefohlenen. Nichts auf der Station geschieht, ohne dass sie davon weiß. Selbst ihre direkten Vorgesetzten beugen sich nicht selten ihren Wünschen.
So früh am Morgen sind die Türen der Zimmer normalerweise noch geschlossen. So auch die Tür von Zimmer 322, in dem Mary gerade bei der Morgenpflege einer Patientin war. Ich klopfte an, und eine gedämpfte Stimme bat mich zu warten. Um mir die Zeit zu vertreiben, studierte ich die neben Brenda Smith' Zimmer angebrachte Pinnwand mit Familienfotos. Ganz oben klebte ein Zettel, auf dem in Blockschrift der volle Name und das Geburtsdatum der Patientin standen: Gertrude Brenda Smith, 21. Januar 1918. Jeder Buchstabe und jede Zahl waren aus buntem Bastelpapier ausgeschnitten und sorgfältig mit Glasperlen und anderem Schmuck verziert, zweifellos das liebevolle Werk eines Enkelkinds. Darunter hing das Schwarzweißporträt einer schönen jungen Frau Anfang zwanzig. Ihr dunkler Lippenstift akzentuierte das bleiche Gesicht, sie trug ein modisches Sommerkleid im Stil der 1940er Jahre. Am einen Arm hatte sie einen gut aussehenden Mann in Marineuniform, am anderen hing ein Sonnenschirm. Ich stellte mir vor, wie die beiden an einem warmen Sommernachmittag kurz nach dem Krieg im Park spazieren gingen. An den Gesichtern sah man, wie glücklich und verliebt sie waren.
Als Nächstes kam ein mehrere Jahre später aufgenommenes Foto desselben Paars, begleitet von zwei kleinen Kindern. Es war eine verblasste Farbaufnahme. Das Haar des Mannes war schon etwas schütter geworden und hatte erste graue Strähnen. Dieses Bild drückte eine andere Erwartungshaltung aus; die beiden waren kein verliebtes junges Paar mehr, sondern stolze Eltern, die an die Zukunft ihrer Familie dachten.
Das letzte Bild der Sammlung zeigte Mrs. Smith in späteren Jahren, sorgfältig gekleidet, das silbergraue Haar säuberlich unter einem geschmackvoll ausgewählten Hut verborgen. Ihr Mann war offenkundig schon gestorben, doch sie war von mehreren Generationen ihrer Familie umgeben. Im Hintergrund hing ein Spruchband, das verkündete: »Alles Gute zum 80., Grandma!« Inzwischen waren acht Jahre vergangen.
Ich klopfte erneut und trat ins Zimmer, in dem Mary sich um die Patientin kümmerte. Diese war nicht mehr die lebhafte, gut gekleidete Großmutter auf dem Geburtstagsfoto. An deren Stelle befand sich ein kleineres Ebenbild der Frau, die es einmal gegeben hatte. Bis ich mit Patienten in fortgeschrittenen Stadien der Alzheimer-Krankheit zu tun hatte, war mir der Ausdruck »ein Schatten ihrer selbst« wie ein Klischee vorgekommen. Nun sah ich genau das bei Mrs. Smith und vielen anderen Patienten. Hinter dem Schatten war jedoch immer noch die Substanz der Person zu erkennen, selbst wenn diese mich nicht mehr zu sehen schien.
»Brauchen Sie mich?«, fragte Mary, anscheinend ein wenig verärgert über die Störung.
»Ja«, erwiderte ich, »ich muss wissen, wen ich heute besuchen soll.«
»Lassen Sie mich hier fertig werden, dann komme ich zum Stationszimmer.«
Als ich mich zum Gehen wandte, richtete Mary sich aus ihrer gebückten Haltung am Bett auf und wölbte den Rücken, um sich zu entspannen.
»Moment noch, David, ich glaube, ich werde hier noch eine Weile beschäftigt sein. Wie wär's, wenn Sie schon einmal einen Blick auf Sauls Bein werfen. Es ist gerötet und sieht ziemlich schlimm aus. Ich glaube, er hat wieder eine Hautentzündung.«
»In Ordnung. Ich sehe mir die Sache gleich mal an.«
Ich verließ das Zimmer und machte mich auf die Suche nach Saul Strahan, einem Achtzigjährigen, der schon viele Jahre bei uns lebte. Als ich ihn fand, trug er sein übliches Outfit, ein Sweatshirt mit dem Logo der Boston Red Sox samt Baseballmütze, und saß wie üblich in seinem Fernsehsessel. Über den Bildschirm flimmerte eine Morgentalkshow.
»Na, was läuft gerade?«, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten.
Ich setzte mich neben ihn und warf einen Blick auf den Fernseher. Eine junge Schauspielerin beklagte sich beim Moderator über die Paparazzi, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten.
»Jeder hat so seine Probleme, nicht wahr, Saul?«
Ich betrachtete ihn genauer. Zusätzlich zu seinem fortschreitenden Alzheimer hatte Saul vor vier Jahren einen üblen Schlaganfall erlitten, der ihn seiner Sprache beraubt hatte. Seine Augen jedoch blickten mich voller Leben an, und ich spürte, dass er versuchte, etwas zu sagen. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte ihm, ich sei gekommen, um sein Bein zu untersuchen.
Beide Beine waren durch Ödeme angeschwollen, weil Saul schon seit zwanzig Jahren mit chronischer Herzinsuffizienz kämpfte. Allerdings sah das rechte Bein röter aus, und als ich es berührte, fühlte es sich deutlich wärmer an als das linke. Offenbar waren Marys Sorgen gerechtfertigt.
»Saul, mein Freund, es tut mir leid, aber es sieht ganz so aus, als müssten Sie wieder Antibiotika nehmen.« Das musste ich auch seiner Tochter mitteilen. Ich nahm mir vor, sie später anzurufen.
Ich kehrte zum Stationszimmer zurück, wo Maya immer noch damit beschäftigt war, sich das Fell zu reinigen. Erschreckt durch mein Auftauchen, sprang sie von der Arbeitsplatte herunter, wobei sie mir einen ihrer »Hier-ist nicht- genug-Platz-für-uns beide«-Blicke zuwarf.
Als ich meine Notiz niedergeschrieben hatte, blieb ich am Tisch sitzen, um auf Marys Rückkehr zu warten. Mary übt ihren Beruf schon sehr lange aus. Als sie in den 1970er Jahren auf die High School ging, hatte sie einen Job als Pflegehelferin. Auf der Krankenpflegeschule entdeckte sie dann, dass sie gern mit alten Menschen umging. Sie ist nicht nur eine der engagiertesten Altenpflegerinnen, die ich kenne, sondern hat in ihrem Beruf eine besondere Intuition. Stets scheint sie zu wissen, wer gerade am meisten Aufmerksamkeit benötigt.
»Hallo, tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Marys angenehme Stimme, der man ihre Herkunft aus Neuengland deutlich anhörte, sorgte dafür, dass ich meine Abhängigkeit nicht zu sehr bedauerte. Falls sie sich vorher tatsächlich geärgert hatte, so war das nun bereits vergeben und vergessen.
»David, haben Sie ein paar Minuten Zeit?«, fuhr sie fort. »Ich möchte Ihnen nämlich etwas in Zimmer 310 zeigen.«
Während wir den Flur entlanggingen, erzählte mir Mary ein wenig von Lilia Davis, die von einer Kollegin betreut wurde. »Sie ist etwa achtzig und seit eineinhalb Jahren hier auf der Station. Vor etwa drei Monaten hat sie plötzlich stark an Gewicht verloren. Eines Morgens blutete sie aus dem Darm. Drüben in der Klinik hat man dann Dickdarmkrebs diagnostiziert, der sich bereits überall ausgebreitet hatte. Angesichts ihrer schweren Demenz haben die Angehörigen sich gegen eine Behandlung entschieden und Lilia zur Hospizbetreuung wieder hierhergeschickt.«
Eine vernünftige Entscheidung, dachte ich bei mir.
Als wir ins Zimmer kamen, lag Mrs. Davis mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Sie atmete nur fl ach. In ihrem linken Arm steckte der Infusionsschlauch einer Morphinpumpe. Auf der anderen Seite des Raums stand ein leeres Behelfsbett mit zurückgeschlagenem Laken. Dort hatte offenbar jemand vor kurzer Zeit geschlafen.
»Die Tochter von Mrs. Davis«, erklärte Mary, bevor ich eine Frage stellen konnte. »Ich habe sie für ein paar Stunden heimgeschickt, damit sie sich duschen und umziehen kann. Ich glaube, vorher war sie sechsunddreißig Stunden lang pausenlos da.«
»Also, was wollten Sie mir zeigen?«, fragte ich.
Mary deutete auf das untere Ende des Betts. »Schauen Sie mal!«
Als ich näher trat, hob sich der Kopf eines schwarzweiß gescheckten Katers vom Laken. Durch die Bewegung bimmelte leise das Glöckchen an seinem Halsband. Er stellte die Ohren auf und musterte mich mit einem fragenden Blick.
Ohne weiter auf ihn zu achten, stellte ich mich neben die Patientin. Der Kater legte den Kopf wieder auf die Vorderpfoten und schnurrte leise, während er sich ans rechte Bein von Mrs. Davis schmiegte. Ich betrachtete ihr Gesicht und stellte fest, dass sie eindeutig schmerzfrei war.
»Sie sieht ganz gut aus«, sagte ich. »Soll ich ihr etwas verschreiben?«
»Es ist nicht die Patientin, David. Der geht es den Umständen entsprechend gut. Es ist der Kater.«
»Der Kater? Sie haben mich hierhergeholt, damit ich mir einen Kater anschaue?«
»Das ist Oscar«, sagte sie, als würde sie mir eine bedeutende Persönlichkeit vorstellen.
»Ja, ich weiß«, sagte ich. Allmählich teilte ich Mayas schlechte Laune. »Er ist wohl auf ein Stündchen zu Besuch gekommen.«
»Tja, genau das ist eben auffällig. Eigentlich kommt Oscar nicht gerne zu Besuch. Wie oft haben Sie ihn schon mal bei irgendeinem Patienten gesehen? Normalerweise versteckt er sich irgendwo.«
Das stimmte; ich hatte Oscar bisher nur ein paar Mal in einem Zimmer gesehen, obwohl er inzwischen schon ein ganzes Jahr auf der Etage lebte.
Manchmal bemerkte ich ihn im Stationszimmer, wo seine Futter- und seine Wasserschüssel standen, oder er schlief in seinem Eck unter einer zerschlissenen alten Decke. Kurz, Oscar hatte nicht gerade den Ruf, ein besonders geselliger Kater zu sein.
»Wahrscheinlich gewöhnt er sich endlich an uns«, sagte ich. »Gut, ich bin zwar nicht gerade ein Experte für Katzen, aber aus Erfahrung weiß ich, dass die tun, was sie wollen. Wahrscheinlich liegt er einfach hier, weil er jemanden gefunden hat, der ihm seine Ruhe lässt.«
»Ich weiß, es ist merkwürdig, David, aber es geht mir darum, dass Oscar sich normalerweise nie mit irgendwelchen Patienten abgibt. Sonst versteckt er sich meist irgendwo, vor allem im Stationszimmer. In letzter Zeit haben einige von uns allerdings bemerkt, dass er mehr Zeit bei bestimmten Patienten verbringt.«
Ich zuckte die Achseln. »Und was soll daran merkwürdig sein?« Als ich Oscar so an Mrs. Davis geschmiegt daliegen sah, kamen mir die Katzen in den Sinn, die man im alten Ägypten gemeinsam mit ihren Besitzern ins Grab legte. Die Szene wirkte friedlich, ja geradezu tröstlich.
»Um auf den Punkt zu kommen«, sagte Mary zögernd, »Oscar verbringt viel Zeit bei Patienten, die kurz vor dem Tod stehen.«
Mir ging ein Licht auf. »Sie wollen also behaupten, dass Mrs. Davis heute noch sterben wird?« Ich warf erneut einen Blick auf die Patientin und bedauerte sofort, was ich gesagt hatte. Sie atmete eindeutig schwer, und ich fühlte mich schuldig, weil ich so wenig Anstand zur Schau gestellt hatte. Mir wurde klar, dass Mrs. Davis tatsächlich noch am selben Tag sterben konnte, was allerdings mehr mit ihrer Demenz und ihrer rasch fortschreitenden Krebserkrankung zu tun hatte als mit der Anwesenheit eines Katers auf ihrem Bett.
Mary lächelte, doch ich spürte, dass es ihr peinlich war. Es tat mir leid, ihre Bemerkung so abgetan zu haben.
»Tja, wahrscheinlich ist es durchaus möglich, dass eine Katze merkt, wenn jemand sterben wird. Erinnern Sie sich an den Artikel über Krebsspürhunde, der neulich in der Zeitung stand? Außerdem gibt es diese japanischen Fische, die im Voraus auf Erdbeben reagieren. Ganz zu schweigen von Lassie, die auch immer gewusst hat, wenn Timmy in den Brunnen gefallen war.«
Das fand Mary nicht besonders komisch. »Hören Sie, gestern ist Oscar ins Zimmer einer anderen Patientin gegangen, nicht lange bevor sie gestorben ist.«
Mein Gesichtsausdruck sagte offenbar alles, weshalb Mary es aufgab, mich zu überzeugen. Eine kleine Weile betrachteten wir gemeinsam schweigend die Szene, die sich uns bot. Der an das Bein von Mrs. Davis geschmiegte Kater schnurrte leise.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Mary«, sagte ich, um den Bann zu brechen. »Die Vorstellung, dass ein Tier bei mir ist, wenn ich sterbe, fi nde ich sehr schön. Als Kind hatte ich einen Hund, der mich überallhin begleitete.« Ich trat wieder zum Bett und bückte mich, um Oscar zu streicheln. Blitzschnell hieb er mit der Vorderpfote nach meiner Hand. Ich zuckte zurück und suchte nach nicht vorhandenen Blutspuren.
»Ich habe Ihnen ja gesagt, dass er nicht besonders freundlich ist«, meinte Mary grinsend.
»Nicht besonders freundlich!«, erwiderte ich mit einer dramatischen Geste. »Er hat versucht, mich zu zerfleischen! «
»Ach, so schlimm ist er auch wieder nicht. Wenn er will, kann er sich sogar sehr liebevoll verhalten. Mit so etwas versucht er bloß, seine Patienten zu beschützen.«
»Mary, er ist eine Katze, und Katzen tun nichts, wenn sie keinen Vorteil davon haben. Wahrscheinlich hat er nur nach einem ruhigen Platz und einer warmen Decke gesucht, um sich gemütlich niederzulassen.«
Ich warf wieder einen Blick auf meine Hand, auf der immer noch kein Kratzer zu sehen war.
»Meine Güte, sind Sie empfindlich!«, rief Mary. »Er hat Sie doch kaum berührt.«
»Ehrlich gesagt, mag ich Katzen nicht besonders, Mary. Und allem Anschein nach sieht es so aus, als ob diese Katze da mich ebenfalls nicht besonders mag.«
Mary lachte. »Katzen haben nichts gegen Menschen, sie merken bloß, ob man Angst hat oder nicht. Und wenn man Angst hat, dann reagieren sie entsprechend.«
»Lachen Sie nicht«, sagte ich. »Als Kind habe ich nämlich eine üble Erfahrung mit einer Katze gemacht, und daher bin ich ein wenig traumatisiert.«
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich Mary von dem Kater meiner Großmutter erzählen sollte, doch ihre spöttische Miene überzeugte mich davon, dass es besser war, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
»Manche Katzen sind eben aggressiv«, sagte sie nach kurzer Pause. »Genau wie manche Menschen. Aber wegen einer schlechten Erfahrung kann man doch nicht alle Katzen verwünschen! Außerdem hätten wir keine Katzen hier, wenn auch nur die geringste Gefahr bestünde, dass sie jemanden verletzen. Selbst wenn es sich um einen Arzt handelt! «
»Sehr witzig.« Ich wandte mich wieder Oscar und Mrs. Davis zu. »Wissen Sie, vielleicht mag er Patienten, die sich nicht mehr rühren, weil die ihm keinen Ärger machen.«
»Ich weiß nicht, David. Ich glaube wirklich, an der Sache ist mehr dran.«
»Das heißt also, Mrs. Davis wird heute sterben?«
»Vielleicht. Warten wir ab.«
Als ich später vom Pflegeheim zu meiner Privatpraxis fuhr, kam mir wieder der Kater in den Sinn, der im Haus meiner Großmutter gelebt hatte. Sein Name war Puma, und das passte ganz ausgezeichnet. In meiner Erinnerung war er ein mindestens fünfzehn Kilo schwerer Koloss, doch wie jeder Sportangler bestätigen kann, nimmt mit der Zeit alles größere Dimensionen an. Jahrelang hatte er mich jedes Mal terrorisiert, wenn ich »sein« Haus betrat. Als ich an seine vor Hass lodernden Augen dachte, kam es mir vor, als sei meine Angst vor Katzen keineswegs irrational.
Mitten in diesen Gedanken läutete mein Mobiltelefon. Es war Mary.
»Mrs. Davis ist gestorben«, sagte sie. »Wenige Minuten nachdem Sie abgefahren sind.« Es war erst eine Stunde her, dass ich im Zimmer der Patientin gestanden und ihre Atemzüge beobachtet hatte. Obwohl ich so etwas schon seit vielen Jahren kannte, empfand ich noch immer ein Gefühl der Demut, wenn ich den Tod eines Menschen aus der Nähe erlebte.
»Hören Sie, Mary«, sagte ich. »Machen Sie bitte nicht zu viel aus dieser Sache mit dem Kater. Mrs. Davis wäre ohnehin bald gestorben. Ihre Diagnose war äußerst schlecht.«
»Das stimmt schon, aber es ändert nichts daran, dass Oscar sich regelmäßig so verhält. Selbst manche von den Angehörigen sprechen schon darüber.« Sie schwieg einen Augenblick. »David«, sagte sie dann, »ich glaube wirklich, der Kater weiß Bescheid.«
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Autoren-Porträt von David Dosa
Dosa, DavidDavid Dosa ist Juniorprofessor an der Warren Alpert Medical School der Brown University in Providence, Rhode Island, und praktiziert als Geriater. Neben etlichen Fachpublikationen hat er im Juli 2007 im New England Journal of Medicine einen Artikel über den Kater Oscar veröffentlicht, der in den internationalen Medien grosse Beachtung fand. Dr. Dosa lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Providence, Rhode Island.
Bibliographische Angaben
- Autor: David Dosa
- 2012, 6. Aufl., 254 Seiten, Masse: 12,4 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Bernhard Kleinschmidt
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426781786
- ISBN-13: 9783426781784
- Erscheinungsdatum: 18.09.2012
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