Operation Eaglehurst / Null-Null-Siebzig Bd.1
Kriminalroman. Originalausgabe
Mit dem Rollator auf Verbrecherjagd: Exagent James (70) will im Seniorenheim den Tod eines Freundes aufklären. Da finden zwei weitere Heimbewohner ein jähes Ende. Zusammen mit Ex-Kollegin Sheila (67) kommt James einem dunklen Geheimnis auf die Spur.
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Produktinformationen zu „Operation Eaglehurst / Null-Null-Siebzig Bd.1 “
Mit dem Rollator auf Verbrecherjagd: Exagent James (70) will im Seniorenheim den Tod eines Freundes aufklären. Da finden zwei weitere Heimbewohner ein jähes Ende. Zusammen mit Ex-Kollegin Sheila (67) kommt James einem dunklen Geheimnis auf die Spur.
Klappentext zu „Operation Eaglehurst / Null-Null-Siebzig Bd.1 “
Mit Rollator und Reizgasdüse auf Verbrecherjagd»Es war nicht seine Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Nach Eaglehurst im Allgemeinen und in das Zimmer Nummer 214 im Besonderen. Das hatte William für ihn entschieden, und jetzt lag es an ihm, die bevorstehende Aufgabe zu lösen.«
Ex-Agent James Gerald (70) zieht vorübergehend in das Seniorenheim Eaglehurst in Hastings, um den Tod seines Freundes und Kollegen William Morat aufzuklären. Kurz nach James' Ankunft kommen zwei weitere Heimbewohner zu Tode. Bald kommt er mit Hilfe seiner früheren Kollegin Sheila Humphrey einem dunklen Geheimnis auf die Spur ...
Lese-Probe zu „Operation Eaglehurst / Null-Null-Siebzig Bd.1 “
Null-Null-Siebzig Operation Eaglehurst von Marlies FerberKapitel 1
James fuhr im Wagen vor. Es knirschte kein Kies, denn Eaglehurst war kein vornehmes Hotel in einem der besseren Orte an der englischen Südküste. Dies war Hastings, eine Stadt, deren glorreiche Zeit vorbei war. Es gab noch gute Wohnlagen, weiter im Hinterland, doch direkt an der einst prachtvollen Küstenstraße waren die Immobilienpreise gesunken, und die großen viktorianischen Hotels standen leer oder dienten anderen Zwecken: Büros waren hier untergebracht, Sprachschulen, billige Wohnungen. Eines der größten Gebäude, schräg gegenüber dem Pier, war früher das »Empire«. James blickte an der imposanten Fassade hoch, als die Tür des Taxis aufgeschoben wurde. Nichts deutete darauf hin, dass dies kein Hotel mehr war. Genau genommen ist es das ja auch noch, dachte James. Was ist ein Hotel anderes als eine Residenz auf Zeit? Für Leute, die, genau wie das Hotel, schon bessere Tage gesehen haben.
... mehr
»Geht es, Mr Gerald?«, fragte der junge Mann und fasste kräftig unter seinen Arm, um ihn in das Gebäude zu führen.
»Danke.« James hatte sich inzwischen an die Fürsorglichkeit seiner Mitmenschen gewöhnt. »Verdammte Treppe«, fügte er leise hinzu.
Sie gingen durch die ehemalige Hotelhalle zur Rezeption. Als sie an einem großen Spiegel vorbeikamen, überprüfte James rasch sein Aussehen. Er war noch immer eine elegante Erscheinung: groß, schlank, gut gekleidet. Das Einzige, was diese Eleganz momentan trübte, war der Taxifahrer an seiner Seite: ein pickeliger Junge in ungebügeltem Hemd, Jeans und Chucks, der ihn so fest untergehakt hatte, dass es aussah, als seien sie siamesische Zwillinge. James seufzte.
»Geht es wirklich, Mr Gerald?«, fragte der Junge mitfühlend.
»Machen Sie sich keine Sorgen, nicht wahr«, erwiderte James.
Der Taxifahrer sah sich in der Halle nach einem Rollstuhl um. »Ah«, rief er erleichtert, »Mr Gerald, warten Sie bitte einen Augenblick hier.« Vorsichtig, als sei James eine Schaufensterpuppe, ließ er ihn los, vergewisserte sich, dass er sicher auf den Beinen stand, und holte den Rollstuhl.
»Mr Gerald, wie schön!« Die weißhaarige Dame am Empfang erhob sich breit lächelnd, als würde sie einen alten Freund begrüßen. Nach ihrem teigigen Händedruck war James' Hand unangenehm feucht.
»Ich bin Josephine White.« Sie zwinkerte ihm zu. »Mir können Sie alles anvertrauen. Ich bin die Seele von Eaglehurst. Das sagen jedenfalls unsere Leutchen hier.«
»Aha«, sagte James und lächelte zurück. Dass dieses Lächeln dünn ausfiel, lag an der Erkenntnis, dass mit »unsere Leutchen hier« ab jetzt auch er gemeint war.
»Bitte, Mr Gerald, nehmen Sie Platz. Dann können wir in aller Ruhe die Anmeldeformalitäten erledigen.«
»Ich bleibe lieber stehen, danke.«
James sah sich in der Halle um, während Mrs White umständlich mit den Formularen hantierte. Früher musste dies ein gutes Hotel gewesen sein. Davon zeugten der Marmorboden, die stuckverzierte Decke und die große Freitreppe, die in einem eleganten Schwung nach oben führte. Die würde James fürs Erste nicht benutzen können, so viel war sicher. Er sah sich nach einem Aufzug um. Es gab zwei: einen alten, wenig Vertrauen erweckenden mit schmiedeeisern verziertem Aufzugschacht und einen nachträglich eingebauten mit Edelstahltüren, in den bequem ein Krankenbett passte.
»Sie werden im zweiten Stockwerk wohnen«, sagte Mrs White. »Sie haben Glück. Das Apartment ist erst vor Kurzem frei geworden. Es ist eines unserer besten, mit Blick auf das Meer und die Promenade. Sie werden begeistert sein.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte James. Mrs White blickte ihn irritiert an, nicht sicher, ob er das ernst gemeint hatte. Dann schaute sie auf die Uhr. »Oh, ich sehe, Sie haben noch mehr Glück. Nach dem Tee veranstalten wir Bingo. Unsere Leutchen hier lieben es. Wenn Sie möchten, können Sie gleich hier bei mir einen Spielschein kaufen.«
James hatte in seinem ganzen Leben noch nie Bingo gespielt, und ihm war auch jetzt nicht danach zumute, Zahlen einzukreisen, bis jemand Bingo! rief und womöglich einen Gutschein für eine medizinische Fußpflege gewann. Aber sein junger Begleiter fragte interessiert: »Wie viel kostet ein Schein?«
»Einer kostet ein Pfund, drei bekommen Sie für zwei Pfund.« Der Taxifahrer sah James an: »Dann nehmen wir drei Scheine,ja?«
James gab einen resignierten Laut von sich, den die beiden als Zustimmung deuteten. Dann also Bingo.
Der Taxifahrer griff James wieder unter den Arm und führte ihn zu den Aufzügen.
»Sie können ruhig gehen, ich komme schon allein zurecht«, sagte James und wollte ihm sein Geld geben.
»Nein, Mr Gerald«, wehrte der Junge mit penetranter Gutmütigkeit ab, »ich bringe Sie noch in Ihr Apartment.« Er drückte den Knopf, um den altmodischen Aufzug zu holen.
»Sehr gut«, sagte James und forderte den modernen Aufzug an. »Sie besitzen noch die Vertrauensseligkeit und den Optimismus der Jugend. Bewahren Sie sich das. Ich aber werde dieses Museumsmodell keinesfalls benutzen.«
Im zweiten Stock angekommen, betrat James sein neues Zuhause, in dem die Umzugskartons mit seinen persönlichen Dingen schon auf ihn warteten.
»Aber James!«, hatte Sheila kopfschüttelnd zu ihm gesagt, als sie für ihn eine Umzugskiste nach der anderen füllte. »Das ist viel zu viel! Wo wollen Sie das denn lassen, da, wo Sie hingehen?«
»Sheila, Sie tun so, als ginge ich von hier geradewegs ins Jenseits. Ich darf Ihnen aber versichern, dass dies keineswegs meine Absicht ist. Ich ziehe lediglich für eine bestimmte Zeit um. Da ist es doch recht normal, dass ich meine persönlichen Dinge mitnehme, nicht wahr? Schließlich muss alles echt wirken.«
»Ach, James.« Sheila hatte ihn angesehen wie einen kleinen Jungen, der von seinen Plänen erzählt, sich auf den Mond schießen zu lassen. Sheila war seine langjährige Kollegin beim Secret Intelligence Service gewesen, und seit zwei Jahren war sie seine Nachbarin in London-Hampstead. Sie war die Einzige, die er in seine Pläne eingeweiht hatte, aber in diesem Augenblick hatte er es bereut.
Er hatte wirklich nur das Nötigste eingepackt. In den letzten Tagen vor seiner Abreise nach Eaglehurst hatte er es endlich fertiggebracht, seine alten Akten und Notizen in Papierstreifen zu verwandeln. Er war vor fünf Jahren aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, und es schien sinnlos, diese Sachen noch länger aufzubewahren. Sie schön altmodisch im Kamin den Flammen zu überlassen, wäre natürlich stilvoller gewesen. Das Knistern von Feuer war doch etwas anderes als das schäbige Kratzen des Aktenvernichters. Gleichzeitig hatte er sich über seine Sentimentalität gewundert. Alten Zeiten nachzutrauern war eigentlich nie seine Sache gewesen. Er konnte sich noch gut an den Beginn seiner Zeit beim Geheimdienst erinnern, als William Morat und er sich über die Kollegen lustig gemacht hatten, die störrisch an ihren überholten Arbeitsmethoden festhielten und sich nur schwer mit neuen Entwicklungen in der Waffentechnik oder der Informationsvermittlung anfreunden konnten. William und er, damals junge Burschen von Mitte zwanzig, hatten sich geschworen, nie so zu werden wie sie, sondern immer mit der Zeit zu gehen.
»Mr Gerald!« Der Taxifahrer riss ihn aus seinen Gedanken. »Denken Sie, Sie kommen jetzt allein zurecht?«
»Sicher. Vielen Dank!«
»Gerne.« Der Junge lockerte vorsichtig den Griff, als hätte er Sorge, James würde im nächsten Moment, seiner Stütze beraubt, in sich zusammensacken wie ein leerer Anzug. Doch James blieb stehen und steckte ihm endlich das Geld zu. »Es hat mich gefreut«, sagte er mit einem Anflug von Ironie, die dem Jungen entging. Er ergriff James' Hand und lächelte breit. »Danke, Mr Gerald! Ich wünsche Ihnen alles Gute! Das ist eine anständige Einrichtung hier, heißt es. Sie haben Glück.«
Als James allein war, ging er langsam auf den Sessel zu, der vor dem großen Fenster stand. Noch eine halbe Stunde bis zum Tee. Es lohnte sich nicht mehr, mit dem Auspacken anzufangen. Das würde eine gute Aufgabe für den morgigen Tag sein. Er hatte gelernt, sich die Zeit und seine Energie einzuteilen. Ein leichter Husten zu Beginn des Winters hatte sich bald zu einer schweren Bronchitis entwickelt und ihn zum ersten Mal in seinem Leben zu einem längeren Krankenhausaufenthalt gezwungen. James ließ sich in den Sessel sinken und schaute hinaus. Der Himmel war düster, das Meer eine braungraue Masse, weiße Schaumflocken huschten, vom Wind getrieben, wie kleine Geister am Strand umher. James hatte die See noch nie gemocht. Aber es war nicht seine Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Nach Eaglehurst im Allgemeinen und in das Zimmer Nummer 214 im Besonderen. Das hatte William für ihn entschieden, und jetzt lag es an ihm, die bevorstehende Aufgabe zu lösen.
Kapitel 2
»Durch die zunehmende Vernetzung von Datenbanken und ein flächendeckendes System von Überwachungskameras haben die Behörden alle Werkzeuge in der Hand, die sie brauchen, um unser Leben vollständig zu kontrollieren«, ereiferte sich Thomas Maddison.
»Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht«, sagte Eleonora Hideous und nippte an ihrem Tee.
»Dort, sehen Sie doch«, fuhr Thomas Maddison erregt fort und deutete auf eine Ecke des Saals. »Selbst hier hat der Staat ein Auge auf uns! Man kann niemandem trauen.«
»Aber ich bitte Sie, Thomas«, sagte Edith Hideous vergnügt, während sie ihr mit Erdbeermarmelade bestrichenes Scone mit einem dicken Klecks Sahne versah und James zuzwinkerte. »Denken Sie wirklich, den Staat interessiert es, wer von uns beim Bingo gewinnt? Was meinen Sie, James?«
Sie saßen zu viert am Tisch: die Schwestern Edith und Eleonora Hideous, Thomas Maddison und James. Während die Schwestern und er höflich den weitschweifigen Ausführungen Maddisons über die Gefahren zunehmender staatlicher Kontrolle zuhörten, fragte sich James, warum Maddison wohl hier war. Er wirkte kerngesund und vital. Doch als er sich erhob, um die Teekanne in der Küche wieder auffüllen zu lassen, entdeckte James den kleinen Aufnäher hinten auf seiner Strickjacke: »Eaglehurst, Hastings«.
Eleonora bemerkte seinen Blick. »Thomas ist zuweilen etwas verwirrt«, erklärte sie. »Die Polizei hier kennt ihn schon. Sie bringen ihn immer wieder nach Hause. Aber stellen Sie sich vor, einmal hat er es sogar bis nach Brighton geschafft!«
Edith machte eine unmissverständliche Handbewegung zum Kopf hin. »Es gibt Tage, da redet er nur dummes Zeug«, ergänzte sie flüsternd.
»Ach.«
Eleonora lächelte. »Aber ansonsten ist er zuvorkommend, gebildet, und er hat gute Umgangsformen. Er war an der Universität Glasgow. Irgendetwas Naturwissenschaftliches hat er gelehrt. Was war es noch gleich?«
Thomas Maddison kam mit der Teekanne zurück. »Wem darf ich einschenken? Eleonora, meine Liebe, wie sieht es aus, noch eine Tasse Tee?«
Eleonora machte eine abwehrende Handbewegung. »Danke, ich habe genug. Aber sagen Sie, Thomas, was haben Sie an der Universität gelehrt? Es ist mir entfallen.«
Thomas Maddison schaute sie irritiert an. »Ich habe an der Universität Glasgow gelehrt«, sagte er langsam, so als versuche er sich zu erinnern, was genau es gewesen war.
Edith reichte ihm ihre Tasse. »Bitte nur ein Schlückchen!« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich muss an meine Blase denken. Es wäre zu schade, Bingo zu verpassen, nur weil ich zur Toilette muss.«
James verabscheute Tee. Ein Scotch, das wäre jetzt das Richtige. Mit einem Anflug von Vorfreude dachte er an einen der Umzugskartons, der zur Hälfte mit den Beständen seiner Bar gefüllt war. Das Alter mochte Jahr für Jahr etwas von der Liste streichen, das ihm Freude bereitete. Aber bis jetzt war genug von dem übrig geblieben, was das Leben lebenswert machte. Erinnerungen gehörten dazu. Das Theater, Bücher, das Rauchen. Und ganz entschieden auch Alkohol. Er fand es immer noch großartig, sich von Zeit zu Zeit zu betrinken.
Plötzlich wurden die Tische abgeräumt, nur die noch nicht geleerten Teetassen blieben stehen. Offensichtlich wusste jeder im Raum, was dies bedeutete, denn Papier raschelte, man kramte Bingo-Scheine und Bleistifte hervor.
»Was gibt es zu gewinnen?«, scherzte James. »Eine Reise nach Las Vegas?«
»Sie werden schon sehen«, meinte Eleonora, und Edith fügte trocken hinzu: »Erwarten Sie nicht zu viel!«
Dann ging alles ganz schnell. Die selbst ernannte Seele von Eaglehurst, Mrs White, verlas die Nummern, und es blieb kaum Zeit, aufzuschauen. Alle sahen konzentriert ihre Zahlenreihen durch, denn sie hatten samt und sonders das Angebot »Drei Scheine für zwei Pfund« wahrgenommen, einige Glücksspiel-begeisterte hatten sogar sechs Scheine vor sich ausgebreitet. James erinnerte sich an frühere Besuche in den Spielcasinos der Welt. Und nun, mit siebzig, Bingo im Altenheim! Er stöhnte leise.
»Kein Glück?«, fragte Eleonora mitfühlend. »Warten Sie nur, das kommt vielleicht noch!«
»Chemie«, sagte Thomas Maddison plötzlich und prostete James lächelnd zu. Armer Kerl, dachte James, während er zusah, wie Maddison hastig trank und gleich wieder nach dem Bleistift griff.
»Sie waren Chemieprofessor?«, fragte James höflich nach. »Welch interessanter Beruf!«
Doch Thomas Maddison antwortete nicht, sondern sprang erregt auf und warf dabei fast seinen Stuhl um.
»Bingo!!«, rief er so durchdringend, dass alle am Tisch zusammenfuhren. Kaum war sein Ruf verhallt, zuckte er, verzog den Mund zu einer Grimasse, warf den Kopf zur Seite, griff sich an die Brust und sank vornüber auf den Tisch. Eine Tasse zerschellte laut klirrend auf dem Fliesenboden. Einige Leute schrien auf. Edith und Eleonora wichen zurück. Maddisons Kopf lag auf der Seite, seine hellblauen Augen waren starr und leblos.
Mrs White ließ ihr Mikrofon fallen und eilte herbei; aus der Küche kamen eine korpulente Frau mit Kochschürze sowie eine junge Frau hinzu, deren Namensschild sie als Pflegerin auswies.
Mrs White beugte sich zu Thomas Maddison herab. »Mr Maddison, Mr Maddison, ist Ihnen nicht wohl?« Dann fuhr sie die beiden Frauen an: »Nun stehen Sie nicht so dumm herum! Helfen Sie doch!«
Sie begreift es nicht, dachte James.
Edith räusperte sich. »Mrs White, ich glaube nicht, dass er noch lebt«, sagte sie leise.
Mrs White schaute sie bestürzt an. »Was sagen Sie da? Tot?«
Eleonora schluchzte und griff mit zitternden Händen nach einer Serviette auf dem Tisch, um die aufsteigenden Tränen abzutupfen.
»Sieht aus wie Herzversagen, nicht wahr?«, meinte James.
Die übrigen im Raum Versammelten waren inzwischen, soweit sie mobil waren, mit einer Mischung aus Betroffenheit und Sensationsgier näher getreten. Mrs White wuchs die Situation sichtlich über den Kopf. Die Köchin eilte in die Küche und kam mit Handfeger und Schaufel zurück, um die Scherben der Teetasse aufzufegen.
»Lassen Sie das, Mrs Simmons«, herrschte Mrs White sie an.
»Soll ich den Notarzt rufen?«, fragte die Pflegerin. Mrs White nickte, dann überlegte sie es sich anders. »Nein, Miss Hunt, das mache ich selbst. Bleiben Sie hier!«
Arme Miss Hunt, dachte James. Die junge Frau, die kaum älter als zwanzig sein mochte, stand wie festgewachsen da, mit großen Augen und blassem Gesicht.
»Setzen Sie sich doch, Miss Hunt«, sagte Edith und deutete auf den Stuhl, auf dem bis eben noch Thomas Maddison gesessen hatte. »Nicht dass Sie uns ohnmächtig werden.«
»Danke«, murmelte Miss Hunt, zog es aber vor, sich auf einen Stuhl am Nachbartisch zu setzen.
»Und wenn er nun doch noch lebt?«, mischte sich eine resolute Dame vom Nachbartisch ein. »Was, wenn er nur bewusstlos ist? Wenn er Hilfe braucht?«
»Ja«, pflichtete ihr ein älterer Herr bei, »wir müssen etwas
tun, man kann ihn doch nicht einfach so liegen lassen!« »Glauben Sie mir, Mr Peabody, er ist tot!«, sagte Edith. »Wie wollen Sie da sicher sein?«, ereiferte sich Mr Peabody.
»Den Tod kann nur ein Arzt feststellen.«
James beugte sich nach vorn und legte Maddison zwei Finger an den Hals. »Kein Puls«, stellte er nüchtern fest.
»Trotzdem sollten wir ihn aus seiner unglücklichen Lage befreien«, schlug Eleonora zögernd vor. Sie wendete sich an James. »Können Sie mit anfassen?«
James schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich fürchte, meine gesundheitliche Verfassung lässt derartige Anstrengungen noch nicht zu.«
Miss Hunt hatte sich inzwischen von ihrem Schwächeanfall erholt und erhob sich. »Ich helfe Ihnen!« Auch Mr Peabody und Mrs Simmons fassten mit an, und gemeinsam schafften sie es, den leblosen Körper von Thomas Maddison seitlich vom Tisch zu rollen. Die Tischdecke und die Teetassen wurden mitgerissen. Unter das Klirren des Porzellans mischte sich Sirenengeheul. Bevor die Sanitäter und der Notarzt auftauchten, machte James mit seinem Handy unauffällig ein Foto von dem Toten, wobei er vorgab, seine Mails abzurufen.
...
© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
»Geht es, Mr Gerald?«, fragte der junge Mann und fasste kräftig unter seinen Arm, um ihn in das Gebäude zu führen.
»Danke.« James hatte sich inzwischen an die Fürsorglichkeit seiner Mitmenschen gewöhnt. »Verdammte Treppe«, fügte er leise hinzu.
Sie gingen durch die ehemalige Hotelhalle zur Rezeption. Als sie an einem großen Spiegel vorbeikamen, überprüfte James rasch sein Aussehen. Er war noch immer eine elegante Erscheinung: groß, schlank, gut gekleidet. Das Einzige, was diese Eleganz momentan trübte, war der Taxifahrer an seiner Seite: ein pickeliger Junge in ungebügeltem Hemd, Jeans und Chucks, der ihn so fest untergehakt hatte, dass es aussah, als seien sie siamesische Zwillinge. James seufzte.
»Geht es wirklich, Mr Gerald?«, fragte der Junge mitfühlend.
»Machen Sie sich keine Sorgen, nicht wahr«, erwiderte James.
Der Taxifahrer sah sich in der Halle nach einem Rollstuhl um. »Ah«, rief er erleichtert, »Mr Gerald, warten Sie bitte einen Augenblick hier.« Vorsichtig, als sei James eine Schaufensterpuppe, ließ er ihn los, vergewisserte sich, dass er sicher auf den Beinen stand, und holte den Rollstuhl.
»Mr Gerald, wie schön!« Die weißhaarige Dame am Empfang erhob sich breit lächelnd, als würde sie einen alten Freund begrüßen. Nach ihrem teigigen Händedruck war James' Hand unangenehm feucht.
»Ich bin Josephine White.« Sie zwinkerte ihm zu. »Mir können Sie alles anvertrauen. Ich bin die Seele von Eaglehurst. Das sagen jedenfalls unsere Leutchen hier.«
»Aha«, sagte James und lächelte zurück. Dass dieses Lächeln dünn ausfiel, lag an der Erkenntnis, dass mit »unsere Leutchen hier« ab jetzt auch er gemeint war.
»Bitte, Mr Gerald, nehmen Sie Platz. Dann können wir in aller Ruhe die Anmeldeformalitäten erledigen.«
»Ich bleibe lieber stehen, danke.«
James sah sich in der Halle um, während Mrs White umständlich mit den Formularen hantierte. Früher musste dies ein gutes Hotel gewesen sein. Davon zeugten der Marmorboden, die stuckverzierte Decke und die große Freitreppe, die in einem eleganten Schwung nach oben führte. Die würde James fürs Erste nicht benutzen können, so viel war sicher. Er sah sich nach einem Aufzug um. Es gab zwei: einen alten, wenig Vertrauen erweckenden mit schmiedeeisern verziertem Aufzugschacht und einen nachträglich eingebauten mit Edelstahltüren, in den bequem ein Krankenbett passte.
»Sie werden im zweiten Stockwerk wohnen«, sagte Mrs White. »Sie haben Glück. Das Apartment ist erst vor Kurzem frei geworden. Es ist eines unserer besten, mit Blick auf das Meer und die Promenade. Sie werden begeistert sein.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte James. Mrs White blickte ihn irritiert an, nicht sicher, ob er das ernst gemeint hatte. Dann schaute sie auf die Uhr. »Oh, ich sehe, Sie haben noch mehr Glück. Nach dem Tee veranstalten wir Bingo. Unsere Leutchen hier lieben es. Wenn Sie möchten, können Sie gleich hier bei mir einen Spielschein kaufen.«
James hatte in seinem ganzen Leben noch nie Bingo gespielt, und ihm war auch jetzt nicht danach zumute, Zahlen einzukreisen, bis jemand Bingo! rief und womöglich einen Gutschein für eine medizinische Fußpflege gewann. Aber sein junger Begleiter fragte interessiert: »Wie viel kostet ein Schein?«
»Einer kostet ein Pfund, drei bekommen Sie für zwei Pfund.« Der Taxifahrer sah James an: »Dann nehmen wir drei Scheine,ja?«
James gab einen resignierten Laut von sich, den die beiden als Zustimmung deuteten. Dann also Bingo.
Der Taxifahrer griff James wieder unter den Arm und führte ihn zu den Aufzügen.
»Sie können ruhig gehen, ich komme schon allein zurecht«, sagte James und wollte ihm sein Geld geben.
»Nein, Mr Gerald«, wehrte der Junge mit penetranter Gutmütigkeit ab, »ich bringe Sie noch in Ihr Apartment.« Er drückte den Knopf, um den altmodischen Aufzug zu holen.
»Sehr gut«, sagte James und forderte den modernen Aufzug an. »Sie besitzen noch die Vertrauensseligkeit und den Optimismus der Jugend. Bewahren Sie sich das. Ich aber werde dieses Museumsmodell keinesfalls benutzen.«
Im zweiten Stock angekommen, betrat James sein neues Zuhause, in dem die Umzugskartons mit seinen persönlichen Dingen schon auf ihn warteten.
»Aber James!«, hatte Sheila kopfschüttelnd zu ihm gesagt, als sie für ihn eine Umzugskiste nach der anderen füllte. »Das ist viel zu viel! Wo wollen Sie das denn lassen, da, wo Sie hingehen?«
»Sheila, Sie tun so, als ginge ich von hier geradewegs ins Jenseits. Ich darf Ihnen aber versichern, dass dies keineswegs meine Absicht ist. Ich ziehe lediglich für eine bestimmte Zeit um. Da ist es doch recht normal, dass ich meine persönlichen Dinge mitnehme, nicht wahr? Schließlich muss alles echt wirken.«
»Ach, James.« Sheila hatte ihn angesehen wie einen kleinen Jungen, der von seinen Plänen erzählt, sich auf den Mond schießen zu lassen. Sheila war seine langjährige Kollegin beim Secret Intelligence Service gewesen, und seit zwei Jahren war sie seine Nachbarin in London-Hampstead. Sie war die Einzige, die er in seine Pläne eingeweiht hatte, aber in diesem Augenblick hatte er es bereut.
Er hatte wirklich nur das Nötigste eingepackt. In den letzten Tagen vor seiner Abreise nach Eaglehurst hatte er es endlich fertiggebracht, seine alten Akten und Notizen in Papierstreifen zu verwandeln. Er war vor fünf Jahren aus dem aktiven Dienst ausgeschieden, und es schien sinnlos, diese Sachen noch länger aufzubewahren. Sie schön altmodisch im Kamin den Flammen zu überlassen, wäre natürlich stilvoller gewesen. Das Knistern von Feuer war doch etwas anderes als das schäbige Kratzen des Aktenvernichters. Gleichzeitig hatte er sich über seine Sentimentalität gewundert. Alten Zeiten nachzutrauern war eigentlich nie seine Sache gewesen. Er konnte sich noch gut an den Beginn seiner Zeit beim Geheimdienst erinnern, als William Morat und er sich über die Kollegen lustig gemacht hatten, die störrisch an ihren überholten Arbeitsmethoden festhielten und sich nur schwer mit neuen Entwicklungen in der Waffentechnik oder der Informationsvermittlung anfreunden konnten. William und er, damals junge Burschen von Mitte zwanzig, hatten sich geschworen, nie so zu werden wie sie, sondern immer mit der Zeit zu gehen.
»Mr Gerald!« Der Taxifahrer riss ihn aus seinen Gedanken. »Denken Sie, Sie kommen jetzt allein zurecht?«
»Sicher. Vielen Dank!«
»Gerne.« Der Junge lockerte vorsichtig den Griff, als hätte er Sorge, James würde im nächsten Moment, seiner Stütze beraubt, in sich zusammensacken wie ein leerer Anzug. Doch James blieb stehen und steckte ihm endlich das Geld zu. »Es hat mich gefreut«, sagte er mit einem Anflug von Ironie, die dem Jungen entging. Er ergriff James' Hand und lächelte breit. »Danke, Mr Gerald! Ich wünsche Ihnen alles Gute! Das ist eine anständige Einrichtung hier, heißt es. Sie haben Glück.«
Als James allein war, ging er langsam auf den Sessel zu, der vor dem großen Fenster stand. Noch eine halbe Stunde bis zum Tee. Es lohnte sich nicht mehr, mit dem Auspacken anzufangen. Das würde eine gute Aufgabe für den morgigen Tag sein. Er hatte gelernt, sich die Zeit und seine Energie einzuteilen. Ein leichter Husten zu Beginn des Winters hatte sich bald zu einer schweren Bronchitis entwickelt und ihn zum ersten Mal in seinem Leben zu einem längeren Krankenhausaufenthalt gezwungen. James ließ sich in den Sessel sinken und schaute hinaus. Der Himmel war düster, das Meer eine braungraue Masse, weiße Schaumflocken huschten, vom Wind getrieben, wie kleine Geister am Strand umher. James hatte die See noch nie gemocht. Aber es war nicht seine Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Nach Eaglehurst im Allgemeinen und in das Zimmer Nummer 214 im Besonderen. Das hatte William für ihn entschieden, und jetzt lag es an ihm, die bevorstehende Aufgabe zu lösen.
Kapitel 2
»Durch die zunehmende Vernetzung von Datenbanken und ein flächendeckendes System von Überwachungskameras haben die Behörden alle Werkzeuge in der Hand, die sie brauchen, um unser Leben vollständig zu kontrollieren«, ereiferte sich Thomas Maddison.
»Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht«, sagte Eleonora Hideous und nippte an ihrem Tee.
»Dort, sehen Sie doch«, fuhr Thomas Maddison erregt fort und deutete auf eine Ecke des Saals. »Selbst hier hat der Staat ein Auge auf uns! Man kann niemandem trauen.«
»Aber ich bitte Sie, Thomas«, sagte Edith Hideous vergnügt, während sie ihr mit Erdbeermarmelade bestrichenes Scone mit einem dicken Klecks Sahne versah und James zuzwinkerte. »Denken Sie wirklich, den Staat interessiert es, wer von uns beim Bingo gewinnt? Was meinen Sie, James?«
Sie saßen zu viert am Tisch: die Schwestern Edith und Eleonora Hideous, Thomas Maddison und James. Während die Schwestern und er höflich den weitschweifigen Ausführungen Maddisons über die Gefahren zunehmender staatlicher Kontrolle zuhörten, fragte sich James, warum Maddison wohl hier war. Er wirkte kerngesund und vital. Doch als er sich erhob, um die Teekanne in der Küche wieder auffüllen zu lassen, entdeckte James den kleinen Aufnäher hinten auf seiner Strickjacke: »Eaglehurst, Hastings«.
Eleonora bemerkte seinen Blick. »Thomas ist zuweilen etwas verwirrt«, erklärte sie. »Die Polizei hier kennt ihn schon. Sie bringen ihn immer wieder nach Hause. Aber stellen Sie sich vor, einmal hat er es sogar bis nach Brighton geschafft!«
Edith machte eine unmissverständliche Handbewegung zum Kopf hin. »Es gibt Tage, da redet er nur dummes Zeug«, ergänzte sie flüsternd.
»Ach.«
Eleonora lächelte. »Aber ansonsten ist er zuvorkommend, gebildet, und er hat gute Umgangsformen. Er war an der Universität Glasgow. Irgendetwas Naturwissenschaftliches hat er gelehrt. Was war es noch gleich?«
Thomas Maddison kam mit der Teekanne zurück. »Wem darf ich einschenken? Eleonora, meine Liebe, wie sieht es aus, noch eine Tasse Tee?«
Eleonora machte eine abwehrende Handbewegung. »Danke, ich habe genug. Aber sagen Sie, Thomas, was haben Sie an der Universität gelehrt? Es ist mir entfallen.«
Thomas Maddison schaute sie irritiert an. »Ich habe an der Universität Glasgow gelehrt«, sagte er langsam, so als versuche er sich zu erinnern, was genau es gewesen war.
Edith reichte ihm ihre Tasse. »Bitte nur ein Schlückchen!« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich muss an meine Blase denken. Es wäre zu schade, Bingo zu verpassen, nur weil ich zur Toilette muss.«
James verabscheute Tee. Ein Scotch, das wäre jetzt das Richtige. Mit einem Anflug von Vorfreude dachte er an einen der Umzugskartons, der zur Hälfte mit den Beständen seiner Bar gefüllt war. Das Alter mochte Jahr für Jahr etwas von der Liste streichen, das ihm Freude bereitete. Aber bis jetzt war genug von dem übrig geblieben, was das Leben lebenswert machte. Erinnerungen gehörten dazu. Das Theater, Bücher, das Rauchen. Und ganz entschieden auch Alkohol. Er fand es immer noch großartig, sich von Zeit zu Zeit zu betrinken.
Plötzlich wurden die Tische abgeräumt, nur die noch nicht geleerten Teetassen blieben stehen. Offensichtlich wusste jeder im Raum, was dies bedeutete, denn Papier raschelte, man kramte Bingo-Scheine und Bleistifte hervor.
»Was gibt es zu gewinnen?«, scherzte James. »Eine Reise nach Las Vegas?«
»Sie werden schon sehen«, meinte Eleonora, und Edith fügte trocken hinzu: »Erwarten Sie nicht zu viel!«
Dann ging alles ganz schnell. Die selbst ernannte Seele von Eaglehurst, Mrs White, verlas die Nummern, und es blieb kaum Zeit, aufzuschauen. Alle sahen konzentriert ihre Zahlenreihen durch, denn sie hatten samt und sonders das Angebot »Drei Scheine für zwei Pfund« wahrgenommen, einige Glücksspiel-begeisterte hatten sogar sechs Scheine vor sich ausgebreitet. James erinnerte sich an frühere Besuche in den Spielcasinos der Welt. Und nun, mit siebzig, Bingo im Altenheim! Er stöhnte leise.
»Kein Glück?«, fragte Eleonora mitfühlend. »Warten Sie nur, das kommt vielleicht noch!«
»Chemie«, sagte Thomas Maddison plötzlich und prostete James lächelnd zu. Armer Kerl, dachte James, während er zusah, wie Maddison hastig trank und gleich wieder nach dem Bleistift griff.
»Sie waren Chemieprofessor?«, fragte James höflich nach. »Welch interessanter Beruf!«
Doch Thomas Maddison antwortete nicht, sondern sprang erregt auf und warf dabei fast seinen Stuhl um.
»Bingo!!«, rief er so durchdringend, dass alle am Tisch zusammenfuhren. Kaum war sein Ruf verhallt, zuckte er, verzog den Mund zu einer Grimasse, warf den Kopf zur Seite, griff sich an die Brust und sank vornüber auf den Tisch. Eine Tasse zerschellte laut klirrend auf dem Fliesenboden. Einige Leute schrien auf. Edith und Eleonora wichen zurück. Maddisons Kopf lag auf der Seite, seine hellblauen Augen waren starr und leblos.
Mrs White ließ ihr Mikrofon fallen und eilte herbei; aus der Küche kamen eine korpulente Frau mit Kochschürze sowie eine junge Frau hinzu, deren Namensschild sie als Pflegerin auswies.
Mrs White beugte sich zu Thomas Maddison herab. »Mr Maddison, Mr Maddison, ist Ihnen nicht wohl?« Dann fuhr sie die beiden Frauen an: »Nun stehen Sie nicht so dumm herum! Helfen Sie doch!«
Sie begreift es nicht, dachte James.
Edith räusperte sich. »Mrs White, ich glaube nicht, dass er noch lebt«, sagte sie leise.
Mrs White schaute sie bestürzt an. »Was sagen Sie da? Tot?«
Eleonora schluchzte und griff mit zitternden Händen nach einer Serviette auf dem Tisch, um die aufsteigenden Tränen abzutupfen.
»Sieht aus wie Herzversagen, nicht wahr?«, meinte James.
Die übrigen im Raum Versammelten waren inzwischen, soweit sie mobil waren, mit einer Mischung aus Betroffenheit und Sensationsgier näher getreten. Mrs White wuchs die Situation sichtlich über den Kopf. Die Köchin eilte in die Küche und kam mit Handfeger und Schaufel zurück, um die Scherben der Teetasse aufzufegen.
»Lassen Sie das, Mrs Simmons«, herrschte Mrs White sie an.
»Soll ich den Notarzt rufen?«, fragte die Pflegerin. Mrs White nickte, dann überlegte sie es sich anders. »Nein, Miss Hunt, das mache ich selbst. Bleiben Sie hier!«
Arme Miss Hunt, dachte James. Die junge Frau, die kaum älter als zwanzig sein mochte, stand wie festgewachsen da, mit großen Augen und blassem Gesicht.
»Setzen Sie sich doch, Miss Hunt«, sagte Edith und deutete auf den Stuhl, auf dem bis eben noch Thomas Maddison gesessen hatte. »Nicht dass Sie uns ohnmächtig werden.«
»Danke«, murmelte Miss Hunt, zog es aber vor, sich auf einen Stuhl am Nachbartisch zu setzen.
»Und wenn er nun doch noch lebt?«, mischte sich eine resolute Dame vom Nachbartisch ein. »Was, wenn er nur bewusstlos ist? Wenn er Hilfe braucht?«
»Ja«, pflichtete ihr ein älterer Herr bei, »wir müssen etwas
tun, man kann ihn doch nicht einfach so liegen lassen!« »Glauben Sie mir, Mr Peabody, er ist tot!«, sagte Edith. »Wie wollen Sie da sicher sein?«, ereiferte sich Mr Peabody.
»Den Tod kann nur ein Arzt feststellen.«
James beugte sich nach vorn und legte Maddison zwei Finger an den Hals. »Kein Puls«, stellte er nüchtern fest.
»Trotzdem sollten wir ihn aus seiner unglücklichen Lage befreien«, schlug Eleonora zögernd vor. Sie wendete sich an James. »Können Sie mit anfassen?«
James schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich fürchte, meine gesundheitliche Verfassung lässt derartige Anstrengungen noch nicht zu.«
Miss Hunt hatte sich inzwischen von ihrem Schwächeanfall erholt und erhob sich. »Ich helfe Ihnen!« Auch Mr Peabody und Mrs Simmons fassten mit an, und gemeinsam schafften sie es, den leblosen Körper von Thomas Maddison seitlich vom Tisch zu rollen. Die Tischdecke und die Teetassen wurden mitgerissen. Unter das Klirren des Porzellans mischte sich Sirenengeheul. Bevor die Sanitäter und der Notarzt auftauchten, machte James mit seinem Handy unauffällig ein Foto von dem Toten, wobei er vorgab, seine Mails abzurufen.
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© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Marlies Ferber
Marlies Ferber, geboren 1966, studierte Sinologie in Deutschland, China und den Niederlanden und arbeitete als Verlagslektorin, bevor sie sich ganz dem Schreiben und Übersetzen widmete. Sie ist freie Dozentin für kreatives Schreiben der Bundesakademie Wolfenbüttel und lebt mit ihrer Familie in Hagen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marlies Ferber
- 2012, 3. Aufl., 272 Seiten, Masse: 12 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423213450
- ISBN-13: 9783423213455
- Erscheinungsdatum: 20.01.2012
Rezension zu „Operation Eaglehurst / Null-Null-Siebzig Bd.1 “
Selbst Agatha Christie hätte ihre helle Freude gehabt.
Südhessen Woche 20120509
Pressezitat
Selbst Agatha Christie hätte ihre helle Freude gehabt. Südhessen Woche 20120509
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