Nutze deine Angst
Wie wir in Gewaltsituationen richtig reagieren
Was kann ich tun, wenn es gefährlich wird?
Ein Experte gibt konkrete Tipps zum Umgang mit gewalttätigen Konflikten
Die wenigsten von uns wissen, wie sie reagieren sollen, wenn es gefährlich wird. Also tun wir lieber nichts und sehen weg. Das hilft...
Ein Experte gibt konkrete Tipps zum Umgang mit gewalttätigen Konflikten
Die wenigsten von uns wissen, wie sie reagieren sollen, wenn es gefährlich wird. Also tun wir lieber nichts und sehen weg. Das hilft...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nutze deine Angst “
Klappentext zu „Nutze deine Angst “
Was kann ich tun, wenn es gefährlich wird? Ein Experte gibt konkrete Tipps zum Umgang mit gewalttätigen Konflikten
Die wenigsten von uns wissen, wie sie reagieren sollen, wenn es gefährlich wird. Also tun wir lieber nichts und sehen weg. Das hilft immer dem Täter, nie dem Opfer. Und im schlimmsten Falle kann es sogar tödlich sein.
Dieses Buch zeigt, wie wir, trotz Angst und Unsicherheit, Konfliktsituationen bewusster erkennen und besser auf sie reagieren können.
- Gefährliche Situationen richtig einschätzen
- Konflikte entschärfen und Gewalt abwenden
- Sich und andere schützen
- Sicherheit gewinnen
Eindringlich, drastisch, mit vielen Beispielen:
Das Buch für Situationen, in die jeder geraten kann
Lese-Probe zu „Nutze deine Angst “
Nutze deine Angst von Ralf Bongartz1 WARUM WIR NICHTS TUN
Es ist 17 Uhr, als Kai M. aus Köln zufrieden das Büro verlässt. Der Chef ist im Urlaub, und er hat endlich in Ruhe ein Projekt planen können, das schon viel zu lange auf seiner Agenda steht. Es ist bereits dunkel und die Luft herbstlich kühl, als Kai M. auf die Straße tritt. Seit Tagen regnet es, und er muss aufpassen, dass er nicht auf den braunen Platanenblättern ausrutscht, die der gestrige Sturm von den Ästen gefegt hat. Bei so einem Wetter freut man sich sogar auf die U-Bahn, denkt Kai M. Kurz darauf steigt er in einen U-Bahn-Waggon Richtung Friesenplatz. Er setzt sich auf einen der wenigen freien Plätze, holt seinen Express aus der Tasche und schlägt ihn auf - bereit, sich für den Rest des Heimwegs von der Außenwelt abzuschotten. Heute jedoch nervt ihn der hysterische Ton der Artikel. Gelangweilt rollt er das Boulevardblatt nach ein paar Minuten zusammen und lässt seinen Blick durch die U-Bahn schweifen.
Der Mann ihm gegenüber passt zur Feierabendstimmung im Waggon. Er sieht gemütlich aus und erinnert ihn irgendwie an Heinz Erhardt. Rundes Gesicht, nerdige Hornbrille, Glatze, beige- braune Klamotten.
»Kann ich da mal reingucken?«, fragt er, als er Kai M.s Blick bemerkt, und zeigt auf die Zeitung in dessen Händen. »Klar, bitte. Können Sie behalten, ich hab sie durch«, sagt Kai M. und reicht ihm die Zeitung.
... mehr
Die Frau rechts neben Heinz Erhardt ist Ende 20, hat lange blonde Haare, ist groß, trägt ein schwarzes enges Business-Outfit, dazu knallrosa hochhackige Schuhe. Eine attraktive Frau, vielleicht aus der Modebranche. Vor ihr stehen zwei schwarze kleine Koffer. Vielleicht kommt sie aus München, aber auf jeden Fall vom Flughafen. An ihren Koffern sind noch die Aufkleber zu sehen. Sie simst mit ihrem Smartphone und sieht aus, als sei sie froh, den Arbeitstag hinter sich zu haben und wieder zu Hause zu sein. Der Mann, der neben Kai M. sitzt, könnte Lehrer sein. Vielleicht an einer Berufsschule, Mathe oder Physik. Mittleres Alter, braune Hose, Winterjacke, obwohl es noch nicht kalt ist, dazu eine helle Ledertasche auf seinen Knien, aus der ein Kabel bis zu den Ohren reicht.
In der nächsten Sitzgruppe sitzt ein Rentnerehepaar, das eine Zufriedenheit und Verbundenheit ausstrahlt, die Kai M. als tröstlich empfindet. Zwischen ihnen auf der Rückenlehne schimmern große Graffiti-Lettern. Kai M. fragt sich, warum manche Leute die U-Bahnen unbedingt als ihre persönliche Galerie benutzen müssen. In der Sitzgruppe auf der anderen Seite des Ganges sprechen ein paar Jugendliche aufgeregt die wichtigen Begebenheiten des Tages durch. Ganz vorne, schräg gegenüber den Rentnern hat sich ein 15-jähriger Junge hingefläzt. Er ist der typische Spiel-Freak, leicht unterkühltes und ausdrucksloses Gesicht, blasse Haut, Lockenkopf und keinerlei Antennen für seine Umgebung. Er fingert mit einer irren Geschwindigkeit über das Touchscreen seines iPhone und ist vollkommen versunken.
Auch sonst ist der Waggon ziemlich voll. Fast alle Sitzplätze sind besetzt, außer am vorderen Ausstieg, wo der Junge mit dem iPhone sitzt. Einige Fahrgäste stehen in den Gängen. Die Klappfenster sind offen, und die Zugluft trägt einen Geruch von Flugrost in den Waggon.
Plötzlich wird es laut. Im Rücken von Kai M., am mittleren Eingang, sind neue Fahrgäste zugestiegen, die offensichtlich noch nicht Feierabend haben. Eine Stimme dröhnt durch die U-Bahn: »HAT HIER IRGENDEINER FEUER? Sie? Sie? Sie? Hat hier irgendeiner ein FEUERZEUG!?«
Die entspannte Atmosphäre ist mit einem Schlag verflogen. Urplötzlich liegt Spannung in der Luft. Kai M. denkt: »Bestimmt ein paar besoffene FC-Fans, die zum Abendspiel fahren. Nicht nur die Mannschaft ist zweitklassig, auch ihre Fans.« Die Parade rückt weiter in den Mittelgang und bleibt direkt in Kai M.s Abteil stehen. Einer der Männer beugt sein Gesicht unangenehm nah zu Kai M. herunter: »SIE? HABEN SIE FEUER?« Seine Stimme ist laut, der Ton herablassend. Kai M. schüttelt nur den Kopf. Der junge Mann wendet sich ab. Er ist vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, bullig, rundes Gesicht, wache Augen - ein Kämpfertyp. Er bewegt sich geschmeidig wie eine Katze, trägt schwarze Jogginghosen mit Streifen, schwarze Turnschuhe, einen Lederblouson und darunter eine Kapuzenjacke. Mit seinen fingerlosen Handschuhen sieht er aus wie ein Boxer beim Sandsacktraining. Sein Kumpel, der einen halben Kopf kleiner und auch wesentlich schmaler ist, hat sich in der Zwischenzeit nach vorne durchgeschlängelt und lehnt am vorderen Ausgang, wo der Junge mit dem iPhone sitzt. Er schaut sich die Inszenierung seines Kumpels an und grinst amüsiert.
Kai M. bemerkt zwei weitere Jungs, die hinter dem Kämpfer auftauchen. Anscheinend handelt es sich nicht um Fußballfans, sondern um eine Gang. Die meisten Fahrgäste sagen später, dass die Jugendlichen vermutlich türkischer oder arabischer Abstammung sind. Für Kai M. sind sie einfach »Deutsch-Plus«, wie sein Kollege immer sagt. Deutsch mit Migrationshintergrund. Viel entscheidender ist: Anscheinend können sie sich nicht benehmen.
In der Bahn macht sich Unmut breit. Einige Fahrgäste tuscheln empört. Kai M. fühlt sich ebenfalls provoziert, hält sich aber zurück, weil er nicht weiß, was hier gespielt wird. Ist das eine spätpubertäre Mutprobe oder machen die nur einen auf »dicke Hose«?
Währenddessen hält der Kämpfer eine Zigarette quer in die Luft und steht breitbeinig im Gang. Er ruft seinem schlaksigen Kumpel am Vordereingang zu: »SUPER, ALTER! KEINER, ALTER? WARUM HAST DU KEINS MITGENOMMEN, ALTER? HAB ISCH DOCH GEWUSST, DASS HIER NUR NISCHTRAUCHERNASEN RUMHÄNGEN, ALTER!«
Kai spürt, wie sich Verunsicherung im Waggon breitmacht. Etwas Flirrendes liegt in der Luft, und alle scheinen plötzlich hellwach. Der Geräuschpegel fällt deutlich ab, die Gespräche werden fast flüsternd fortgesetzt oder völlig eingestellt. Auch das Giggeln der Jugendlichen im Abteil vor Kai M. ist deutlich leiser geworden. Sie scheinen zu spüren, dass sie als Erste in das Beuteschema der Gang passen. Auch der großen Blonden gegenüber von Kai M. ist die gute Laune abhandengekommen. Sie schaut ausweichend in die dunkle Fensterscheibe und zieht ihre Köfferchen näher zu sich heran. Die meisten Fahrgäste meiden den Blickkontakt mit den vier Unruhestiftern, andere sehen nach einem kurzen Blick sofort wieder weg. Heinz Erhardt liest Kai M.s Zeitung noch konzentrierter als zuvor und rümpft die Nase.
Nur der Junge mit dem iPhone am Ende des Waggons scheint sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und hebt nur kurz den Kopf, bevor er sich wieder auf sein Handy konzentriert und weiterspielt.
Der Schlaksige am vorderen Eingang zeigt auf ihn und ruft dem Kämpfer zu: »Der hier, Alter! Isch glaub, der hat Feuer!«
Der Kämpfer blickt zu dem Jungen und geht dann wie ein Eisbrecher durch den Mittelgang nach vorne. Er scheint der Anführer zu sein, denn die beiden in seinem Schlepptau verhalten sich passiver. Einer hat seine hellgrüne Kapuze ganz über den Kopf gezogen, während der Vierte und Kleinste die Hände in den Hosentaschen vergräbt und offensiv in Richtung der Fahrgäste schaut, wie um den anderen den Rücken freizuhalten. Die Leute, die ihnen im Weg stehen, schieben sie einfach zur Seite. Einige Fahrgäste bewegen sich in Richtung des hinteren Ausgangs. Warum sagt niemand was, wenn er angerempelt wird?, fragt sich Kai M. entrüstet.
An dem Abteil angekommen, wo der Junge unverdrossen mit seinem Handy spielt, bleibt die Gang stehen.
»Hey, können wir mitspielen, Alter? Ist hier doch sicher noch ein Platz frei, Alter.«
Und schon sitzt das Alphatier neben dem Jungen und rückt ihm auf die Pelle, während der Junge mit einer raschen Bewegung sein iPhone in seiner Jeans verschwinden lässt. Offenbar sind ihm die neuen Mitspieler nicht ganz geheuer. Sie setzen sich so nah an den Jungen heran, wie man das normalerweise nur bei guten Freunden tut; Kai M. kommt der Gedanke, dass die Jungs sich vielleicht kennen. Der kleine, aber dominante Eisbrecher und der längere Schlaks bleiben vor dem Abteil stehen und schirmen so das Geschehen gegen fremde Blicke ab. Was zum Teufel führen die im Schilde?, fragt sich Kai M. Wollen die sein Handy? Hier sind doch überall Zeugen!
Was Kai M. und die anderen Fahrgäste nicht wissen: Die Gang hat bereits die zweite Phase strategischer Gewalt eingeläutet. Die erste Phase bestand darin, durch gezielte Provokationen abzuchecken, ob es im Waggon Gegenwind geben würde, wenn sie »weitergehen«. Da das Gros der Fahrgäste abgesehen von ein paar Nörgeleien lammfromm geblieben ist, gehen sie nun zur nächsten Stufe über.
Das Alphatier und sein Gehilfe im grünen Kapuzenpulli knuffen den Jungen und verstrubbeln ihm die Haare. Durch solche kleinen Provokationen bindet die Gruppe seine Aufmerksamkeit. Der Junge ist sichtlich verunsichert. Genau das wollen die Jugendlichen: Kontrolle über seine Emotionen. Wer über die Emotionalität einer Situation bestimmt, hat die Führung und bestimmt, wie es weitergeht.
Viele Fahrgäste schauen nervös bis ängstlich. Einige stehen auf und entfernen sich von der Szene. Inzwischen ist fast jedem klar, dass hier etwas schiefläuft. Aber niemand schreitet ein. Die Gang und ihr Opfer sind vielleicht vier Meter von Kai M. entfernt. Wie die anderen Fahrgäste hat auch er sein Blickverhalten der Situation angepasst und vermeidet direkten Blickkontakt mit den Tätern. Dafür stellt er seine Ohren scharf.
»Ey Alter, lass uns mitspielen, Alter ... Handy in Hosentasche is nisch gesund, Alter, da strahlen deine Eier, Alter, kapiert? Also, zeig den Scheiß ma, Alter!«
Plötzlich hat Kai M. den Impuls einzugreifen, um dem Jungen zu helfen. Doch dann zweifelt er: Wenn niemand etwas tut, kann die Sache nicht so gefährlich sein. Und vielleicht kennen sich die Jungs ja wirklich? Sonst würde der Junge doch einfach weggehen und Hilfe suchen!
Dem Jungen gelingt es jetzt kaum noch, direkten Blickkontakt zu anderen Fahrgästen herzustellen. Die Körper der »Abschirmer « verdecken das Geschehen im Abteil. Er ist isoliert.
Kai M. schaut sich um und versucht Blickkontakt zu anderen Fahrgästen aufzunehmen und zu beurteilen, wie sie die Situation einschätzen. Die Jugendlichen tuscheln jetzt nur noch miteinander, die alten Herrschaften schauen angestrengt in den schwarzen U-Bahn-Tunnel. Der Blick von Kai M. trifft den von Heinz Erhardt, der nur seine Mundwinkel nach hinten zieht und wissend den Kopf schüttelt, als wolle er sagen: Die können es halt nicht lassen. Er wirkt immer noch ganz cool.
Kai M. versucht aus dem Augenwinkel die Mimik des Jungen zu entschlüsseln, wann immer eine Lücke zwischen den Angreifern den Blick auf ihn freigibt. Der Junge steht eindeutig unter Strom. Die Angreifer provozieren ihn weiter, tätscheln ihn am Kopf, zupfen an seiner Umhängetasche. Der Junge wehrt sich verhalten, aber nicht sehr effektiv: »Ey, was soll das? Lass los! Hört auf mit dem Mist.« Seine Stimme klingt ängstlich.
Der Mittelgang ist jetzt wie leergefegt. Die Leute sind zum hinteren Ausgang verschwunden. Kai M. ist zu angespannt und zu betroffen, um einfach wegzugehen. Trotzdem fühlt er sich nicht direkt verantwortlich, es sind ja schließlich eine Menge Leute in der Bahn, und die Leute vor ihm sind viel näher dran. Wieder hört er die Stimme des Jungen: »Was wollt ihr, Mann? Lasst mich in Ruhe ...«
Der leicht klagende Ton in der Stimme des Jungen signalisiert, dass er die Übermacht der Angreifer akzeptiert hat. Auch er wendet inzwischen eine Strategie an: Er macht sich klein, verschränkt die Arme und quetscht sich in die äußerste Ecke der Sitzgruppe. Zu verdenken ist es ihm nicht. »Sich kleinmachen« ist eine Deeskalationsform, die dem Angreifer den Wind aus den Segeln nimmt. In der Regel ist ein Konflikt in dem Moment vorbei, wenn der andere klein beigibt. Es sei denn, die Täter setzen Gewalt ein, um ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen. In diesem Fall werden sie so lange weitermachen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Da sie allerdings damit rechnen müssen, dass jemand die 110 wählt und dass Zeugen sie umso besser beschreiben können, je länger sie sich im Waggon aufhalten, werden sie versuchen, ihr Ziel möglichst schnell zu erreichen. Die Deeskalationsstrategie des Jungen läuft damit nicht nur ins Leere, sondern wirkt im Gegenteil eskalierend, da sie für die Gang das Erreichen ihres Ziels gefährlich verzögert.
»Gib das Handy raus, und du kannst weiterfahren, Alter. Passiert nichts«, sagt einer der Jugendlichen in einem so lockeren Ton, dass gerade die Ruhe in der Stimme die Drohung noch verstärkt. Das Alphatier hat seinen rechten Arm um die Schultern des Jungen gelegt. Seine Hand liegt wie eine Pranke auf dem Kopf des 15-Jährigen, während der mit der Kapuze sich so weit nach vorne beugt, dass sein Kopf und das verunsicherte Gesicht des Jungen sich beinahe berühren. Auch der Schlaksige setzt sich nun ins Abteil und tritt auf den Schuh des Jungen. Nur der Eisbrecher steht noch im Gang.
»Seid ihr bekloppt, oder was? Haut ab. Kauft euch selbst eins«, sagt der Junge kleinlaut.
Offensichtlich kann er nicht glauben, dass er in einer vollbesetzten Bahn überfallen wird und niemand ihm hilft.
»Gib das Handy raus, du Spasti!«, sagt der mit der Kapuze, während das Alphatier den Kopf des Jungen in seiner Armbeuge hin- und herdreht.
Kai M. hat genug gesehen. Der Impuls einzuschreiten wird immer stärker, und er kann ihn nicht länger ignorieren. Mit den Worten »Können Sie da mal einen Moment drauf aufpassen? Das geht so nicht mehr ...«, schiebt Kai M. seine Tasche zu Heinz Erhardt und deutet mit seinem Blick auf die Szene. »Kein Problem. « Der Mann versteht sofort und scheint beruhigt, dass der Kelch an ihm vorübergeht. Jedenfalls macht er keinerlei Anstalten, Kai M. zu unterstützen.
Plötzlich hört Kai M. ein metallisches Schnappgeräusch und hält inne. Das Alphatier hat ein Butterfly-Messer in der Hand und öffnet es mit einer geschmeidigen Bewegung. Dann legt er die Hand mit dem Messer um die Schulter des Jungen, der sofort aufhört sich zu bewegen und die Klinge anstarrt. Angst schießt wie ein Blitz durch Kai M.s Körper und lässt ihn erstarren. Jetzt ist endgültig klar, dass das hier kein pubertäres Mal- sehen-was-geht-Spielchen ist, sondern ein schwerer gemeinschaftlicher Raub. Kai M. begreift, dass er dem Jungen jetzt nicht mehr helfen kann, ohne sich selbst in große Gefahr zu begeben. Wegen eines scheiß Handys, denkt er. Soll er es halt einfach rausgeben!
Vermutlich verwenden die jungen Männer das Messer nicht, weil sie den Jungen tatsächlich verletzen wollen, sondern um den Druck auf das Opfer zu erhöhen. Aber der Preis für die vier ist ab jetzt extrem hoch, wenn sie erwischt werden. Für die jungen Männer geht es jetzt um alles. Und je chaotischer oder emotionaler die Situation wird, umso größer die Gefahr, dass sie die Waffe tatsächlich benutzen. Im Extremfall gilt: Wenn man eine Waffe zur Verfügung hat, setzt man sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein.
Kai M. beobachtet nervös die anderen Fahrgäste. Die Rentner weiter vorne und die beiden Jugendlichen scheinen das Messer nicht zu sehen. Ihr Blick wirkt verschwommen, ins Nirgendwo gerichtet. Später werden sie glaubhaft aussagen, sie hätten das Messer tatsächlich nicht gesehen.
Kai M. stockt der Atem, als er sieht, dass der Junge mit dem Handy immer noch nicht aufgibt. Der 15-Jährige zieht die Hand, mit der er das Handy umklammert hält, nicht aus der Tasche. Stattdessen ruft er in den Waggon: »Hey, hallo, die hier wollen mein Handy klauen, können Sie mir helfen? Ich werde überfallen! Die haben ein Messer!«
Heinz Erhardt zieht die Schultern hoch, die Schöne neben ihm schaut kurz über ihre Schulter auf das Geschehen und dann sofort wieder in die andere Richtung. Die Leute weiter vorn rühren sich nicht.
»Warum hilft mir denn hier keiner!?«, ruft der Junge ein weiteres Mal.
Inzwischen hört man in der Bahn nur noch die Fahrgeräusche; alle Gespräche sind verstummt. Niemand tut etwas.
Kai M. spürt, wie die Bahn langsamer wird. Aus dem Lautsprecher ertönt die Ansage: »Nächster Halt Zülpicher Platz, Ausstieg in Fahrtrichtung links.«
Dann geht alles sehr schnell. Der Angreifer mit der Kapuze, der dem Jugendlichen gegenübersitzt, beugt sich wieder nach vorne und sieht dem Jungen mit dem Handy direkt in die Augen.
Als der Junge den Blick ängstlich erwidert, schnellt der Kopf des Angreifers vor wie ein Katapult und rammt die Nase des Jungen mit voller Wucht. Der schreit auf, hält sich die Hände vors Gesicht und zieht die Beine an. Das Alphatier setzt sich auf ihn und zerrt ihm das Handy aus der Hosentasche.
Von hinten erhebt sich eine halbherzige Stimme: »Ey, was macht ihr denn da, jetzt reicht's aber!« Die Jungs drehen sich kurz um und schauen auf den Mann Mitte 30, der im hinteren Teil der Bahn steht. Dann drehen sie sich wieder weg.
Damit ist die Sache gegessen. Die U-Bahn fährt in den Bahnhof ein. Die vier Jungs verlassen den Waggon zielstrebig durch die vordere Tür. Während sie zum Nordausgang gehen und über die Rolltreppe verschwinden, ziehen sie ihre Kapuzen über, wenden die Gesichter ab und ziehen die Schultern hoch. Die Türen schließen sich, die Bahn fährt wieder an.
Kai M. läuft zu dem Jungen, der blutet und sich die Nase hält, und fragt ihn, wie es ihm gehe. Der Junge ist verwirrt und schaut angewidert in das Gesicht des Mannes. »Warum macht denn hier keiner was? Die haben mich doch überfallen, verdammte Scheiße!«, wiederholt er mit einem Ausdruck von völligem Unverständnis auf seinem Gesicht.
Heinz Erhardt ruft per Handy die Polizei, und im hinteren Waggon betätigt jemand den Notruf. An der nächsten Haltestelle steigt Kai M. mit Max, wie sich der Junge vorstellt, aus. Auch ein paar andere Fahrgäste schließen sich an und bleiben bei ihm, bis die Polizei eintrifft.
Heinz Erhardt redet dem Jungen zu. Er sagt, es sei alles gut, es hätte viel schlimmer kommen können, sie hätten ja nur das Handy genommen, und zum Glück sei das Ganze glimpflich ausgegangen. Doch seine Worte prallen an dem Jungen ab, er weicht den wohlmeinenden Blicken des Erwachsenen aus. Auch die anderen Zeugen sprechen kaum miteinander und meiden den Blickkontakt. Ein Gefühl von kollektiver Scham liegt in der Luft. Als die Polizisten eintreffen und die Aussagen der Fahrgäste aufnehmen, geben sich alle besondere Mühe, vermutlich auch aus Angst, dass die Beamten ihnen Vorwürfe machen könnten, was sie jedoch nicht tun. Ihnen ist wichtiger, schnell möglichst gute Zeugenaussagen für die Nahbereichsfahndung zu bekommen, die sofort eingeleitet wird.
Warum hilft niemand?
Was uns an dieser Geschichte aufwühlt, peinlich berührt, uns vielleicht sogar traurig oder wütend macht, ist natürlich nicht das geraubte Handy. Es ist die Tatsache, dass es vier Jugendlichen gelingt, eine viel größere Gruppe von erwachsenen Menschen derart einzuschüchtern, dass sie ihre Stimme und ihre Integrität verliert und nicht den Mut findet, Verantwortung für die Situation zu übernehmen und dem Jungen zu helfen. Die Menschen sind in die Vereinzelung geraten und haben ihre Angst nicht genutzt, sondern sie sind ihr erlegen. Sie haben eine kollektive Opfererfahrung gemacht.
Klar, hinterher ist man immer schlauer. Und mancher Leser wird sich denken: Das wäre mir nicht passiert. Ich hätte eingegriffen. Aber was genau hätten Sie getan? Wie hätten Sie sichergestellt, dass die Situation durch Ihr Eingreifen nicht eskaliert? Wie hätten Sie sich selbst geschützt?
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Die Frau rechts neben Heinz Erhardt ist Ende 20, hat lange blonde Haare, ist groß, trägt ein schwarzes enges Business-Outfit, dazu knallrosa hochhackige Schuhe. Eine attraktive Frau, vielleicht aus der Modebranche. Vor ihr stehen zwei schwarze kleine Koffer. Vielleicht kommt sie aus München, aber auf jeden Fall vom Flughafen. An ihren Koffern sind noch die Aufkleber zu sehen. Sie simst mit ihrem Smartphone und sieht aus, als sei sie froh, den Arbeitstag hinter sich zu haben und wieder zu Hause zu sein. Der Mann, der neben Kai M. sitzt, könnte Lehrer sein. Vielleicht an einer Berufsschule, Mathe oder Physik. Mittleres Alter, braune Hose, Winterjacke, obwohl es noch nicht kalt ist, dazu eine helle Ledertasche auf seinen Knien, aus der ein Kabel bis zu den Ohren reicht.
In der nächsten Sitzgruppe sitzt ein Rentnerehepaar, das eine Zufriedenheit und Verbundenheit ausstrahlt, die Kai M. als tröstlich empfindet. Zwischen ihnen auf der Rückenlehne schimmern große Graffiti-Lettern. Kai M. fragt sich, warum manche Leute die U-Bahnen unbedingt als ihre persönliche Galerie benutzen müssen. In der Sitzgruppe auf der anderen Seite des Ganges sprechen ein paar Jugendliche aufgeregt die wichtigen Begebenheiten des Tages durch. Ganz vorne, schräg gegenüber den Rentnern hat sich ein 15-jähriger Junge hingefläzt. Er ist der typische Spiel-Freak, leicht unterkühltes und ausdrucksloses Gesicht, blasse Haut, Lockenkopf und keinerlei Antennen für seine Umgebung. Er fingert mit einer irren Geschwindigkeit über das Touchscreen seines iPhone und ist vollkommen versunken.
Auch sonst ist der Waggon ziemlich voll. Fast alle Sitzplätze sind besetzt, außer am vorderen Ausstieg, wo der Junge mit dem iPhone sitzt. Einige Fahrgäste stehen in den Gängen. Die Klappfenster sind offen, und die Zugluft trägt einen Geruch von Flugrost in den Waggon.
Plötzlich wird es laut. Im Rücken von Kai M., am mittleren Eingang, sind neue Fahrgäste zugestiegen, die offensichtlich noch nicht Feierabend haben. Eine Stimme dröhnt durch die U-Bahn: »HAT HIER IRGENDEINER FEUER? Sie? Sie? Sie? Hat hier irgendeiner ein FEUERZEUG!?«
Die entspannte Atmosphäre ist mit einem Schlag verflogen. Urplötzlich liegt Spannung in der Luft. Kai M. denkt: »Bestimmt ein paar besoffene FC-Fans, die zum Abendspiel fahren. Nicht nur die Mannschaft ist zweitklassig, auch ihre Fans.« Die Parade rückt weiter in den Mittelgang und bleibt direkt in Kai M.s Abteil stehen. Einer der Männer beugt sein Gesicht unangenehm nah zu Kai M. herunter: »SIE? HABEN SIE FEUER?« Seine Stimme ist laut, der Ton herablassend. Kai M. schüttelt nur den Kopf. Der junge Mann wendet sich ab. Er ist vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, bullig, rundes Gesicht, wache Augen - ein Kämpfertyp. Er bewegt sich geschmeidig wie eine Katze, trägt schwarze Jogginghosen mit Streifen, schwarze Turnschuhe, einen Lederblouson und darunter eine Kapuzenjacke. Mit seinen fingerlosen Handschuhen sieht er aus wie ein Boxer beim Sandsacktraining. Sein Kumpel, der einen halben Kopf kleiner und auch wesentlich schmaler ist, hat sich in der Zwischenzeit nach vorne durchgeschlängelt und lehnt am vorderen Ausgang, wo der Junge mit dem iPhone sitzt. Er schaut sich die Inszenierung seines Kumpels an und grinst amüsiert.
Kai M. bemerkt zwei weitere Jungs, die hinter dem Kämpfer auftauchen. Anscheinend handelt es sich nicht um Fußballfans, sondern um eine Gang. Die meisten Fahrgäste sagen später, dass die Jugendlichen vermutlich türkischer oder arabischer Abstammung sind. Für Kai M. sind sie einfach »Deutsch-Plus«, wie sein Kollege immer sagt. Deutsch mit Migrationshintergrund. Viel entscheidender ist: Anscheinend können sie sich nicht benehmen.
In der Bahn macht sich Unmut breit. Einige Fahrgäste tuscheln empört. Kai M. fühlt sich ebenfalls provoziert, hält sich aber zurück, weil er nicht weiß, was hier gespielt wird. Ist das eine spätpubertäre Mutprobe oder machen die nur einen auf »dicke Hose«?
Währenddessen hält der Kämpfer eine Zigarette quer in die Luft und steht breitbeinig im Gang. Er ruft seinem schlaksigen Kumpel am Vordereingang zu: »SUPER, ALTER! KEINER, ALTER? WARUM HAST DU KEINS MITGENOMMEN, ALTER? HAB ISCH DOCH GEWUSST, DASS HIER NUR NISCHTRAUCHERNASEN RUMHÄNGEN, ALTER!«
Kai spürt, wie sich Verunsicherung im Waggon breitmacht. Etwas Flirrendes liegt in der Luft, und alle scheinen plötzlich hellwach. Der Geräuschpegel fällt deutlich ab, die Gespräche werden fast flüsternd fortgesetzt oder völlig eingestellt. Auch das Giggeln der Jugendlichen im Abteil vor Kai M. ist deutlich leiser geworden. Sie scheinen zu spüren, dass sie als Erste in das Beuteschema der Gang passen. Auch der großen Blonden gegenüber von Kai M. ist die gute Laune abhandengekommen. Sie schaut ausweichend in die dunkle Fensterscheibe und zieht ihre Köfferchen näher zu sich heran. Die meisten Fahrgäste meiden den Blickkontakt mit den vier Unruhestiftern, andere sehen nach einem kurzen Blick sofort wieder weg. Heinz Erhardt liest Kai M.s Zeitung noch konzentrierter als zuvor und rümpft die Nase.
Nur der Junge mit dem iPhone am Ende des Waggons scheint sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und hebt nur kurz den Kopf, bevor er sich wieder auf sein Handy konzentriert und weiterspielt.
Der Schlaksige am vorderen Eingang zeigt auf ihn und ruft dem Kämpfer zu: »Der hier, Alter! Isch glaub, der hat Feuer!«
Der Kämpfer blickt zu dem Jungen und geht dann wie ein Eisbrecher durch den Mittelgang nach vorne. Er scheint der Anführer zu sein, denn die beiden in seinem Schlepptau verhalten sich passiver. Einer hat seine hellgrüne Kapuze ganz über den Kopf gezogen, während der Vierte und Kleinste die Hände in den Hosentaschen vergräbt und offensiv in Richtung der Fahrgäste schaut, wie um den anderen den Rücken freizuhalten. Die Leute, die ihnen im Weg stehen, schieben sie einfach zur Seite. Einige Fahrgäste bewegen sich in Richtung des hinteren Ausgangs. Warum sagt niemand was, wenn er angerempelt wird?, fragt sich Kai M. entrüstet.
An dem Abteil angekommen, wo der Junge unverdrossen mit seinem Handy spielt, bleibt die Gang stehen.
»Hey, können wir mitspielen, Alter? Ist hier doch sicher noch ein Platz frei, Alter.«
Und schon sitzt das Alphatier neben dem Jungen und rückt ihm auf die Pelle, während der Junge mit einer raschen Bewegung sein iPhone in seiner Jeans verschwinden lässt. Offenbar sind ihm die neuen Mitspieler nicht ganz geheuer. Sie setzen sich so nah an den Jungen heran, wie man das normalerweise nur bei guten Freunden tut; Kai M. kommt der Gedanke, dass die Jungs sich vielleicht kennen. Der kleine, aber dominante Eisbrecher und der längere Schlaks bleiben vor dem Abteil stehen und schirmen so das Geschehen gegen fremde Blicke ab. Was zum Teufel führen die im Schilde?, fragt sich Kai M. Wollen die sein Handy? Hier sind doch überall Zeugen!
Was Kai M. und die anderen Fahrgäste nicht wissen: Die Gang hat bereits die zweite Phase strategischer Gewalt eingeläutet. Die erste Phase bestand darin, durch gezielte Provokationen abzuchecken, ob es im Waggon Gegenwind geben würde, wenn sie »weitergehen«. Da das Gros der Fahrgäste abgesehen von ein paar Nörgeleien lammfromm geblieben ist, gehen sie nun zur nächsten Stufe über.
Das Alphatier und sein Gehilfe im grünen Kapuzenpulli knuffen den Jungen und verstrubbeln ihm die Haare. Durch solche kleinen Provokationen bindet die Gruppe seine Aufmerksamkeit. Der Junge ist sichtlich verunsichert. Genau das wollen die Jugendlichen: Kontrolle über seine Emotionen. Wer über die Emotionalität einer Situation bestimmt, hat die Führung und bestimmt, wie es weitergeht.
Viele Fahrgäste schauen nervös bis ängstlich. Einige stehen auf und entfernen sich von der Szene. Inzwischen ist fast jedem klar, dass hier etwas schiefläuft. Aber niemand schreitet ein. Die Gang und ihr Opfer sind vielleicht vier Meter von Kai M. entfernt. Wie die anderen Fahrgäste hat auch er sein Blickverhalten der Situation angepasst und vermeidet direkten Blickkontakt mit den Tätern. Dafür stellt er seine Ohren scharf.
»Ey Alter, lass uns mitspielen, Alter ... Handy in Hosentasche is nisch gesund, Alter, da strahlen deine Eier, Alter, kapiert? Also, zeig den Scheiß ma, Alter!«
Plötzlich hat Kai M. den Impuls einzugreifen, um dem Jungen zu helfen. Doch dann zweifelt er: Wenn niemand etwas tut, kann die Sache nicht so gefährlich sein. Und vielleicht kennen sich die Jungs ja wirklich? Sonst würde der Junge doch einfach weggehen und Hilfe suchen!
Dem Jungen gelingt es jetzt kaum noch, direkten Blickkontakt zu anderen Fahrgästen herzustellen. Die Körper der »Abschirmer « verdecken das Geschehen im Abteil. Er ist isoliert.
Kai M. schaut sich um und versucht Blickkontakt zu anderen Fahrgästen aufzunehmen und zu beurteilen, wie sie die Situation einschätzen. Die Jugendlichen tuscheln jetzt nur noch miteinander, die alten Herrschaften schauen angestrengt in den schwarzen U-Bahn-Tunnel. Der Blick von Kai M. trifft den von Heinz Erhardt, der nur seine Mundwinkel nach hinten zieht und wissend den Kopf schüttelt, als wolle er sagen: Die können es halt nicht lassen. Er wirkt immer noch ganz cool.
Kai M. versucht aus dem Augenwinkel die Mimik des Jungen zu entschlüsseln, wann immer eine Lücke zwischen den Angreifern den Blick auf ihn freigibt. Der Junge steht eindeutig unter Strom. Die Angreifer provozieren ihn weiter, tätscheln ihn am Kopf, zupfen an seiner Umhängetasche. Der Junge wehrt sich verhalten, aber nicht sehr effektiv: »Ey, was soll das? Lass los! Hört auf mit dem Mist.« Seine Stimme klingt ängstlich.
Der Mittelgang ist jetzt wie leergefegt. Die Leute sind zum hinteren Ausgang verschwunden. Kai M. ist zu angespannt und zu betroffen, um einfach wegzugehen. Trotzdem fühlt er sich nicht direkt verantwortlich, es sind ja schließlich eine Menge Leute in der Bahn, und die Leute vor ihm sind viel näher dran. Wieder hört er die Stimme des Jungen: »Was wollt ihr, Mann? Lasst mich in Ruhe ...«
Der leicht klagende Ton in der Stimme des Jungen signalisiert, dass er die Übermacht der Angreifer akzeptiert hat. Auch er wendet inzwischen eine Strategie an: Er macht sich klein, verschränkt die Arme und quetscht sich in die äußerste Ecke der Sitzgruppe. Zu verdenken ist es ihm nicht. »Sich kleinmachen« ist eine Deeskalationsform, die dem Angreifer den Wind aus den Segeln nimmt. In der Regel ist ein Konflikt in dem Moment vorbei, wenn der andere klein beigibt. Es sei denn, die Täter setzen Gewalt ein, um ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen. In diesem Fall werden sie so lange weitermachen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Da sie allerdings damit rechnen müssen, dass jemand die 110 wählt und dass Zeugen sie umso besser beschreiben können, je länger sie sich im Waggon aufhalten, werden sie versuchen, ihr Ziel möglichst schnell zu erreichen. Die Deeskalationsstrategie des Jungen läuft damit nicht nur ins Leere, sondern wirkt im Gegenteil eskalierend, da sie für die Gang das Erreichen ihres Ziels gefährlich verzögert.
»Gib das Handy raus, und du kannst weiterfahren, Alter. Passiert nichts«, sagt einer der Jugendlichen in einem so lockeren Ton, dass gerade die Ruhe in der Stimme die Drohung noch verstärkt. Das Alphatier hat seinen rechten Arm um die Schultern des Jungen gelegt. Seine Hand liegt wie eine Pranke auf dem Kopf des 15-Jährigen, während der mit der Kapuze sich so weit nach vorne beugt, dass sein Kopf und das verunsicherte Gesicht des Jungen sich beinahe berühren. Auch der Schlaksige setzt sich nun ins Abteil und tritt auf den Schuh des Jungen. Nur der Eisbrecher steht noch im Gang.
»Seid ihr bekloppt, oder was? Haut ab. Kauft euch selbst eins«, sagt der Junge kleinlaut.
Offensichtlich kann er nicht glauben, dass er in einer vollbesetzten Bahn überfallen wird und niemand ihm hilft.
»Gib das Handy raus, du Spasti!«, sagt der mit der Kapuze, während das Alphatier den Kopf des Jungen in seiner Armbeuge hin- und herdreht.
Kai M. hat genug gesehen. Der Impuls einzuschreiten wird immer stärker, und er kann ihn nicht länger ignorieren. Mit den Worten »Können Sie da mal einen Moment drauf aufpassen? Das geht so nicht mehr ...«, schiebt Kai M. seine Tasche zu Heinz Erhardt und deutet mit seinem Blick auf die Szene. »Kein Problem. « Der Mann versteht sofort und scheint beruhigt, dass der Kelch an ihm vorübergeht. Jedenfalls macht er keinerlei Anstalten, Kai M. zu unterstützen.
Plötzlich hört Kai M. ein metallisches Schnappgeräusch und hält inne. Das Alphatier hat ein Butterfly-Messer in der Hand und öffnet es mit einer geschmeidigen Bewegung. Dann legt er die Hand mit dem Messer um die Schulter des Jungen, der sofort aufhört sich zu bewegen und die Klinge anstarrt. Angst schießt wie ein Blitz durch Kai M.s Körper und lässt ihn erstarren. Jetzt ist endgültig klar, dass das hier kein pubertäres Mal- sehen-was-geht-Spielchen ist, sondern ein schwerer gemeinschaftlicher Raub. Kai M. begreift, dass er dem Jungen jetzt nicht mehr helfen kann, ohne sich selbst in große Gefahr zu begeben. Wegen eines scheiß Handys, denkt er. Soll er es halt einfach rausgeben!
Vermutlich verwenden die jungen Männer das Messer nicht, weil sie den Jungen tatsächlich verletzen wollen, sondern um den Druck auf das Opfer zu erhöhen. Aber der Preis für die vier ist ab jetzt extrem hoch, wenn sie erwischt werden. Für die jungen Männer geht es jetzt um alles. Und je chaotischer oder emotionaler die Situation wird, umso größer die Gefahr, dass sie die Waffe tatsächlich benutzen. Im Extremfall gilt: Wenn man eine Waffe zur Verfügung hat, setzt man sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein.
Kai M. beobachtet nervös die anderen Fahrgäste. Die Rentner weiter vorne und die beiden Jugendlichen scheinen das Messer nicht zu sehen. Ihr Blick wirkt verschwommen, ins Nirgendwo gerichtet. Später werden sie glaubhaft aussagen, sie hätten das Messer tatsächlich nicht gesehen.
Kai M. stockt der Atem, als er sieht, dass der Junge mit dem Handy immer noch nicht aufgibt. Der 15-Jährige zieht die Hand, mit der er das Handy umklammert hält, nicht aus der Tasche. Stattdessen ruft er in den Waggon: »Hey, hallo, die hier wollen mein Handy klauen, können Sie mir helfen? Ich werde überfallen! Die haben ein Messer!«
Heinz Erhardt zieht die Schultern hoch, die Schöne neben ihm schaut kurz über ihre Schulter auf das Geschehen und dann sofort wieder in die andere Richtung. Die Leute weiter vorn rühren sich nicht.
»Warum hilft mir denn hier keiner!?«, ruft der Junge ein weiteres Mal.
Inzwischen hört man in der Bahn nur noch die Fahrgeräusche; alle Gespräche sind verstummt. Niemand tut etwas.
Kai M. spürt, wie die Bahn langsamer wird. Aus dem Lautsprecher ertönt die Ansage: »Nächster Halt Zülpicher Platz, Ausstieg in Fahrtrichtung links.«
Dann geht alles sehr schnell. Der Angreifer mit der Kapuze, der dem Jugendlichen gegenübersitzt, beugt sich wieder nach vorne und sieht dem Jungen mit dem Handy direkt in die Augen.
Als der Junge den Blick ängstlich erwidert, schnellt der Kopf des Angreifers vor wie ein Katapult und rammt die Nase des Jungen mit voller Wucht. Der schreit auf, hält sich die Hände vors Gesicht und zieht die Beine an. Das Alphatier setzt sich auf ihn und zerrt ihm das Handy aus der Hosentasche.
Von hinten erhebt sich eine halbherzige Stimme: »Ey, was macht ihr denn da, jetzt reicht's aber!« Die Jungs drehen sich kurz um und schauen auf den Mann Mitte 30, der im hinteren Teil der Bahn steht. Dann drehen sie sich wieder weg.
Damit ist die Sache gegessen. Die U-Bahn fährt in den Bahnhof ein. Die vier Jungs verlassen den Waggon zielstrebig durch die vordere Tür. Während sie zum Nordausgang gehen und über die Rolltreppe verschwinden, ziehen sie ihre Kapuzen über, wenden die Gesichter ab und ziehen die Schultern hoch. Die Türen schließen sich, die Bahn fährt wieder an.
Kai M. läuft zu dem Jungen, der blutet und sich die Nase hält, und fragt ihn, wie es ihm gehe. Der Junge ist verwirrt und schaut angewidert in das Gesicht des Mannes. »Warum macht denn hier keiner was? Die haben mich doch überfallen, verdammte Scheiße!«, wiederholt er mit einem Ausdruck von völligem Unverständnis auf seinem Gesicht.
Heinz Erhardt ruft per Handy die Polizei, und im hinteren Waggon betätigt jemand den Notruf. An der nächsten Haltestelle steigt Kai M. mit Max, wie sich der Junge vorstellt, aus. Auch ein paar andere Fahrgäste schließen sich an und bleiben bei ihm, bis die Polizei eintrifft.
Heinz Erhardt redet dem Jungen zu. Er sagt, es sei alles gut, es hätte viel schlimmer kommen können, sie hätten ja nur das Handy genommen, und zum Glück sei das Ganze glimpflich ausgegangen. Doch seine Worte prallen an dem Jungen ab, er weicht den wohlmeinenden Blicken des Erwachsenen aus. Auch die anderen Zeugen sprechen kaum miteinander und meiden den Blickkontakt. Ein Gefühl von kollektiver Scham liegt in der Luft. Als die Polizisten eintreffen und die Aussagen der Fahrgäste aufnehmen, geben sich alle besondere Mühe, vermutlich auch aus Angst, dass die Beamten ihnen Vorwürfe machen könnten, was sie jedoch nicht tun. Ihnen ist wichtiger, schnell möglichst gute Zeugenaussagen für die Nahbereichsfahndung zu bekommen, die sofort eingeleitet wird.
Warum hilft niemand?
Was uns an dieser Geschichte aufwühlt, peinlich berührt, uns vielleicht sogar traurig oder wütend macht, ist natürlich nicht das geraubte Handy. Es ist die Tatsache, dass es vier Jugendlichen gelingt, eine viel größere Gruppe von erwachsenen Menschen derart einzuschüchtern, dass sie ihre Stimme und ihre Integrität verliert und nicht den Mut findet, Verantwortung für die Situation zu übernehmen und dem Jungen zu helfen. Die Menschen sind in die Vereinzelung geraten und haben ihre Angst nicht genutzt, sondern sie sind ihr erlegen. Sie haben eine kollektive Opfererfahrung gemacht.
Klar, hinterher ist man immer schlauer. Und mancher Leser wird sich denken: Das wäre mir nicht passiert. Ich hätte eingegriffen. Aber was genau hätten Sie getan? Wie hätten Sie sichergestellt, dass die Situation durch Ihr Eingreifen nicht eskaliert? Wie hätten Sie sich selbst geschützt?
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Autoren-Porträt von Ralf Bongartz
Ralf Bongartz wurde 1962 in Bonn geboren. Er hat Verwaltungswissenschaften Fachrichtung Polizei mit den Schwerpunkten Kriminalistik, Kriminologie, Strafrecht und Psychologie studiert. 20 Jahre lang war er bei der Polizei Nordrhein-Westfalen und dort als Kriminalhauptkommissar zuständig für die Aufklärung von Sexualstraftaten, Tötungsdelikten und Rechtsextremismus. Gleichzeitig machte er eine Ausbildung in klassischer Pantomime und Schauspiel und war 13 Jahre auf der Bühne tätig. Seit 1999 arbeitet Ralf Bongartz als Trainer für Konfliktmanagement und Körpersprache. Er berät und unterrichtet u.a. in Schulen, Gefängnissen, bei der Polizei und in Unternehmen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ralf Bongartz
- 2013, 2. Aufl., 272 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596189195
- ISBN-13: 9783596189199
- Erscheinungsdatum: 05.03.2013
Rezension zu „Nutze deine Angst “
'Nutze deine Angst' von Ralf Bongartz sollte zur regelmässigen Pflichtlektüre werden für alle, die mit Menschen zu tun haben - also für jede/n. Buchkritik.at 20130902
Pressezitat
'Nutze deine Angst' von Ralf Bongartz sollte zur regelmässigen Pflichtlektüre werden für alle, die mit Menschen zu tun haben - also für jede/n. Buchkritik.at 20130902
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