Niederungen
Prosa. Ausgezeichnet mit dem Aspekte-Literatur-Preis 1984 und dem Rauriser Literaturpreis 1985
Mit diesem Roman wurde die Nobelpreisträgerin 1984 mit einem Schlag berühmt. Sie beschreibt darin das Leben der deutschsprachigen Banatschwaben im kommunistischen Rumänien ein Leben, das von Angst und Hass, von Intoleranz und Unbeweglichkeit geprägt ist.
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Produktinformationen zu „Niederungen “
Mit diesem Roman wurde die Nobelpreisträgerin 1984 mit einem Schlag berühmt. Sie beschreibt darin das Leben der deutschsprachigen Banatschwaben im kommunistischen Rumänien ein Leben, das von Angst und Hass, von Intoleranz und Unbeweglichkeit geprägt ist.
Klappentext zu „Niederungen “
"Niederungen" ist das Buch, mit dem Herta Müller auf einen Schlag bekannt wurde: In eindringlichen Szenen beschreibt die Nobelpreisträgerin das Leben der deutschsprachigen Banatschwaben im kommunistischen Rumänien, und sie beschreibt es als düstere Anti-Idylle in einer Enklave, die von Angst und Hass geprägt ist, von Intoleranz und Unbeweglichkeit. Diese schonungslose Chronik einer untergehenden Welt ist bereits die Grundlage eines Werkes, das sich seither immer breiter entfaltet hat. "Niederungen" erschien 1984 in Deutschland in einer gekürzten Form. Die Neuausgabe bringt Herta Müllers Debüt zum ersten Mal in der originalen Fassung.
Lese-Probe zu „Niederungen “
Niederung von Herta Müller Die Grabrede
Auf dem Bahnhof liefen die Verwandten neben dem dampfenden Zug her. Bei jedem Schritt bewegten sie den hoch gehobenen Arm und winkten.
Ein junger Mann stand hinter dem Zugfenster. die Scheibe reichte ihm bis unter die Arme. er hielt einen Strauß weißer, zerfledderter Blumen vor der Brust. Sein Gesicht war starr. Eine junge Frau trug ein fades Kind aus dem Bahnhof hinaus. die Frau hatte einen Buckel.
Der Zug fuhr in den Krieg.
Ich knipste den Fernseher aus.
Vater lag in einem Sarg mitten im Zimmer. an den Wänden hingen so viele Bilder, dass man die Wand nicht sah. auf einem Bild war Vater halb so groß wie der Stuhl, an dem er sich festhielt. Er hatte ein Kleid an und stand auf krummen Beinen, die voller Speckfalten waren. Sein Kopf war birnenförmig und kahl.
Auf einem anderen Bild war Vater Bräutigam. Man sah nur seine halbe Brust. Die andere Hälfte war ein Strauß weißer, zerfledderter Blumen, die Mutter in der Hand hielt. Ihre Köpfe waren so nahe nebeneinander, dass sich ihre Ohrläppchen berührten.
... mehr
Auf einem anderen Bild stand Vater kerzengerade vor einem Zaun. Unter seinen hohen Schuhen lag Schnee. Der Schnee war so weiß, dass Vater im Leeren stand. Seine Hand war über den Kopf gehoben zum Gruß. Auf seinem Rockkragen waren Runen. Auf dem Bild, das daneben hing, hielt Vater eine Hacke auf der Schulter. Hinter ihm stand ein Maisstengel, der in den Himmel ragte. Vater hatte einen Hut auf dem Kopf. Der Hut warf einen breiten Schatten und verdeckte Vaters Gesicht.
Auf dem nächsten Bild saß Vater am Lenkrad eines Lastautos. Das Auto war mit Rindern beladen. Vater fuhr jede Woche die Rinder ins Schlachthaus in die Stadt. Vaters Gesicht war schmal und hatte harte Kanten.
Auf allen Bildern war Vater mitten in einer Geste erstarrt. Auf allen Bildern sah Vater so aus, als ob er nicht mehr weiterwusste. Aber Vater wusste immer weiter. Deshalb waren alle diese Bilder falsch. Von den vielen falschen Bildern, von allen seinen falschen Gesichtern war es kalt geworden im Zimmer. ich wollte mich vom Stuhl erheben, aber mein Kleid war an dem Holz festgefroren. Mein Kleid war durchsichtig und schwarz. Wenn ich mich rührte, knirschte es. ich saß darin wie in Glas gegossen. Ich erhob mich und berührte Vatersgesicht. es war kälter als die Gegenstände in dem Zimmer. Draußen war es Sommer. Die Fliegen ließen im Flug ihre Maden fallen. Das Dorf zog sich neben dem breiten Sandweg hin. Er war heiß und braun und brannte einem mit seinem Glimmer die Augen aus.
Der Friedhof war aus Geröll. Auf den Gräbern lagen große Steine.
Als ich auf den Boden sah, merkte ich, dass meine Schuhsohlen nach oben gekehrt waren. Ich war die ganze Zeit über auf meinen Schnürsenkeln gegangen. Sie lagen lang und dick hinter mir. An den Enden ringelten sie sich ineinander. Zwei kleine wankende Männchen hoben den Sarg vom Leichenwagen und senkten ihn mit zwei zerriebenen Stricken ins Grab. Der Sarg schaukelte. Ihre Arme und ihre Stricke wurden immer länger. Das Grab war trotz der Trockenheit mit Wasser gefüllt. Dein Vater hat viele Tote auf dem Gewissen, sagte eines der betrunkenen Männchen.
Ich sagte: er war im Krieg. Für fünfundzwanzig Tote hat er eine Auszeichnung bekommen.
Er hat mehrere Auszeichnungen mitgebracht. In einem Rübenfeld hat er eine Frau vergewaltigt, sagte das Männchen. Zusammen mit vier anderen Soldaten. Dein Vater hat ihr eine Rübe zwischen die Beine gesteckt. Als wir weggingen, hat sie geblutet. Es war eine Russin.
Nachher nannten wir noch wochenlang alle Waffen Rübe.
Es war Spätherbst, sagte das Männchen. die Rübenblätter waren schwarz und zusammengeklappt vom Frost.
Dann trug das Männchen einen dicken Stein auf den Sarg. Das andere betrunkene Männchen sprach weiter: im neuen Jahr gingen wir in einem deutschen Städtchen in die Oper. Die Sängerin sang so schrill, wie die Russin geschrien hatte. Wir verließen der Reihe nach den Saal. Dein Vater ist bis zum Ende geblieben. Nachher nannte er wochenlang alle Lieder Rübe und alle Frauen Rübe.
Das Männchen trank Schnaps. in seinem Bauch gluckste es. Ich habe so viel Schnaps im Bauch, wie viel Grundwasser in den Gräbern ist, sagte das Männchen.
Dann trug das Männchen einen dicken Stein auf den Sarg. Neben einem weißen Marmorkreuz stand der Grabredner. er kam auf mich zu. Er hatte beide Hände in den Rocktaschen vergraben.
Der Grabredner hatte eine handgroße rose im Knopfloch stecken. Sie war samtig. Als er neben mir stand, zog er eine Hand aus der Rocktasche hervor. es war eine Faust.
Er wollte die Finger geradebiegen und konnte nicht. Der Schmerz ließ seine Augen dick werden. Er begann leise vor sich hin zu weinen.
Mit den Landsleuten versteht man sich nicht im Krieg, sagte er. Die lassen sich nicht befehlen.
Dann trug der Redner einen dicken Stein auf den Sarg. Jetzt stellte sich ein dicker Mann neben mich. Er hatte einen Kopf wie ein Schlauch und kein Gesicht.
Dein Vater hat jahrelang mit meiner Frau geschlafen, sagte er. Er hat mich im Suff erpresst und mir das Geld gestohlen.
Er setzte sich auf einen Stein.
Dann kam ein runzeliges dürres Weib auf mich zu, spuckte auf die Erde und sagte pfui zu mir.
Die Leichenversammlung stand am anderen Ende des Grabes. Ich sah an mir herab und erschrak, weil man meine Brüste sah. Ich fror. alle hatten die Augen auf mich gerichtet. Sie waren leer. Ihre Pupillen stachen unter ihren Lidern. Die Männer hatten Gewehre auf den Schultern hängen, und die Frauen rasselten mit Rosenkränzen.
Der Redner zupfte an seiner Rose. Er riss ihr ein blutrotes Blatt aus und aß es.
Er gab mir ein Zeichen mit der Hand. Ich wusste, dass ich jetzt eine Rede halten musste. Alle sahen mich an. Es fiel mir kein Wort ein. Die Augen stiegen mir durch die Kehle in den Kopf. Ich führte die Hand zum Mund und zerbiss mir die Finger. Auf meinem Handrücken sah man die Male meiner Zähne. Meine Zähne waren heiß. Aus den Mundwinkeln rann mir Blut auf die Schultern.
Der Wind hatte einen Ärmel meines Kleides ausgerissen. er schwebte hauchig und schwarz in der Luft. Ein Mann lehnte seinen Gehstock an einen dicken Stein. er legte das Gewehr an und schoss den Ärmel ab. Als er vor meinem Gesicht niedersank, war er voller Blut. Die Leichenversammlung klatschte Beifall. Mein Arm war nackt. ich spürte, wie er an der Luft versteinte. Der Redner gab ein Zeichen. Der Beifall verstummte.
Wir sind stolz auf unsere Gemeinde. Unsere Tüchtigkeit bewahrt uns vor dem Untergang. Wir lassen uns nicht beschimpfen, sagte er. Wir lassen uns nicht verleumden. Im Namen unserer deutschen gemeinde wirst du zum Tode verurteilt.
Alle richteten ihre Gewehre auf mich. In meinem Kopf war ein betäubender Knall.
Ich fiel um und erreichte den Boden nicht. Ich blieb quer über ihren Köpfen in der Luft liegen. Leise stieß ich die Türen auf.
Meine Mutter hatte alle Zimmer ausgeräumt.
Im Zimmer, in dem die Leiche aufgebahrt gewesen war, stand nun ein langer Tisch. es war ein Schlachttisch. Ein leerer weißer Teller und eine Vase mit einem Strauß weißer, zerfledderter Blumen standen darauf.
Mutter hatte ein durchsichtiges schwarzes Kleid an. Sie hielt ein großes Messer in der Hand. Mutter trat vor den Spiegel und schnitt sich mit dem großen Messer ihren grauen, dicken Zopf ab. Mit beiden Händen trug sie ihn zum Tisch. Sie legte ihn mit einem ende in den Teller.
Ich werde mein ganzes Leben in Schwarz gehen, sagte sie. Sie zündete den Zopf an einem Ende an. Er reichte von einem Ende des Tisches bis zum anderen. Der Zopf brannte wie eine Zündschnur. Das Feuer leckte und fraß.
In Russland haben sie mich geschoren. Das war die kleinste Strafe, sagte sie. Ich taumelte vor Hunger. Nachts kroch ich in ein Rübenfeld. Der Hüter hatte ein Gewehr. Wenn er mich gesehen hätte, hätte er mich umgebracht. Das Feld raschelte nicht. Es war Spätherbst, und die Rübenblätter waren schwarz und zusammengeklappt vom Frost.
Ich sah Mutter nicht mehr. Der Zopf brannte noch. Das Zimmer war voll rauch.
Sie haben dich umgebracht, sagte meine Mutter.
Wir sahen uns nicht mehr, so viel Rauch war im Zimmer. Ich hörte ihre Schritte dicht neben mir. Ich tastete mit aus gestreckten Armen nach ihr. Sie hakte auf einmal ihre knochige Hand in mein Haar. Sie schüttelte meinen Kopf. Ich schrie. Ich riss die Augen auf. Das Zimmer drehte sich. Ich lag in einer Kugel aus weißen, zerfledderten Blumen und war eingeschlossen.
Dann hatte ich das Gefühl, dass der Wohnblock umkippt und sich entleert in den Boden.
Der Wecker läutete. Es war Samstag morgen, halb sechs.
© Calr Hanser Verlag, München
Auf dem nächsten Bild saß Vater am Lenkrad eines Lastautos. Das Auto war mit Rindern beladen. Vater fuhr jede Woche die Rinder ins Schlachthaus in die Stadt. Vaters Gesicht war schmal und hatte harte Kanten.
Auf allen Bildern war Vater mitten in einer Geste erstarrt. Auf allen Bildern sah Vater so aus, als ob er nicht mehr weiterwusste. Aber Vater wusste immer weiter. Deshalb waren alle diese Bilder falsch. Von den vielen falschen Bildern, von allen seinen falschen Gesichtern war es kalt geworden im Zimmer. ich wollte mich vom Stuhl erheben, aber mein Kleid war an dem Holz festgefroren. Mein Kleid war durchsichtig und schwarz. Wenn ich mich rührte, knirschte es. ich saß darin wie in Glas gegossen. Ich erhob mich und berührte Vatersgesicht. es war kälter als die Gegenstände in dem Zimmer. Draußen war es Sommer. Die Fliegen ließen im Flug ihre Maden fallen. Das Dorf zog sich neben dem breiten Sandweg hin. Er war heiß und braun und brannte einem mit seinem Glimmer die Augen aus.
Der Friedhof war aus Geröll. Auf den Gräbern lagen große Steine.
Als ich auf den Boden sah, merkte ich, dass meine Schuhsohlen nach oben gekehrt waren. Ich war die ganze Zeit über auf meinen Schnürsenkeln gegangen. Sie lagen lang und dick hinter mir. An den Enden ringelten sie sich ineinander. Zwei kleine wankende Männchen hoben den Sarg vom Leichenwagen und senkten ihn mit zwei zerriebenen Stricken ins Grab. Der Sarg schaukelte. Ihre Arme und ihre Stricke wurden immer länger. Das Grab war trotz der Trockenheit mit Wasser gefüllt. Dein Vater hat viele Tote auf dem Gewissen, sagte eines der betrunkenen Männchen.
Ich sagte: er war im Krieg. Für fünfundzwanzig Tote hat er eine Auszeichnung bekommen.
Er hat mehrere Auszeichnungen mitgebracht. In einem Rübenfeld hat er eine Frau vergewaltigt, sagte das Männchen. Zusammen mit vier anderen Soldaten. Dein Vater hat ihr eine Rübe zwischen die Beine gesteckt. Als wir weggingen, hat sie geblutet. Es war eine Russin.
Nachher nannten wir noch wochenlang alle Waffen Rübe.
Es war Spätherbst, sagte das Männchen. die Rübenblätter waren schwarz und zusammengeklappt vom Frost.
Dann trug das Männchen einen dicken Stein auf den Sarg. Das andere betrunkene Männchen sprach weiter: im neuen Jahr gingen wir in einem deutschen Städtchen in die Oper. Die Sängerin sang so schrill, wie die Russin geschrien hatte. Wir verließen der Reihe nach den Saal. Dein Vater ist bis zum Ende geblieben. Nachher nannte er wochenlang alle Lieder Rübe und alle Frauen Rübe.
Das Männchen trank Schnaps. in seinem Bauch gluckste es. Ich habe so viel Schnaps im Bauch, wie viel Grundwasser in den Gräbern ist, sagte das Männchen.
Dann trug das Männchen einen dicken Stein auf den Sarg. Neben einem weißen Marmorkreuz stand der Grabredner. er kam auf mich zu. Er hatte beide Hände in den Rocktaschen vergraben.
Der Grabredner hatte eine handgroße rose im Knopfloch stecken. Sie war samtig. Als er neben mir stand, zog er eine Hand aus der Rocktasche hervor. es war eine Faust.
Er wollte die Finger geradebiegen und konnte nicht. Der Schmerz ließ seine Augen dick werden. Er begann leise vor sich hin zu weinen.
Mit den Landsleuten versteht man sich nicht im Krieg, sagte er. Die lassen sich nicht befehlen.
Dann trug der Redner einen dicken Stein auf den Sarg. Jetzt stellte sich ein dicker Mann neben mich. Er hatte einen Kopf wie ein Schlauch und kein Gesicht.
Dein Vater hat jahrelang mit meiner Frau geschlafen, sagte er. Er hat mich im Suff erpresst und mir das Geld gestohlen.
Er setzte sich auf einen Stein.
Dann kam ein runzeliges dürres Weib auf mich zu, spuckte auf die Erde und sagte pfui zu mir.
Die Leichenversammlung stand am anderen Ende des Grabes. Ich sah an mir herab und erschrak, weil man meine Brüste sah. Ich fror. alle hatten die Augen auf mich gerichtet. Sie waren leer. Ihre Pupillen stachen unter ihren Lidern. Die Männer hatten Gewehre auf den Schultern hängen, und die Frauen rasselten mit Rosenkränzen.
Der Redner zupfte an seiner Rose. Er riss ihr ein blutrotes Blatt aus und aß es.
Er gab mir ein Zeichen mit der Hand. Ich wusste, dass ich jetzt eine Rede halten musste. Alle sahen mich an. Es fiel mir kein Wort ein. Die Augen stiegen mir durch die Kehle in den Kopf. Ich führte die Hand zum Mund und zerbiss mir die Finger. Auf meinem Handrücken sah man die Male meiner Zähne. Meine Zähne waren heiß. Aus den Mundwinkeln rann mir Blut auf die Schultern.
Der Wind hatte einen Ärmel meines Kleides ausgerissen. er schwebte hauchig und schwarz in der Luft. Ein Mann lehnte seinen Gehstock an einen dicken Stein. er legte das Gewehr an und schoss den Ärmel ab. Als er vor meinem Gesicht niedersank, war er voller Blut. Die Leichenversammlung klatschte Beifall. Mein Arm war nackt. ich spürte, wie er an der Luft versteinte. Der Redner gab ein Zeichen. Der Beifall verstummte.
Wir sind stolz auf unsere Gemeinde. Unsere Tüchtigkeit bewahrt uns vor dem Untergang. Wir lassen uns nicht beschimpfen, sagte er. Wir lassen uns nicht verleumden. Im Namen unserer deutschen gemeinde wirst du zum Tode verurteilt.
Alle richteten ihre Gewehre auf mich. In meinem Kopf war ein betäubender Knall.
Ich fiel um und erreichte den Boden nicht. Ich blieb quer über ihren Köpfen in der Luft liegen. Leise stieß ich die Türen auf.
Meine Mutter hatte alle Zimmer ausgeräumt.
Im Zimmer, in dem die Leiche aufgebahrt gewesen war, stand nun ein langer Tisch. es war ein Schlachttisch. Ein leerer weißer Teller und eine Vase mit einem Strauß weißer, zerfledderter Blumen standen darauf.
Mutter hatte ein durchsichtiges schwarzes Kleid an. Sie hielt ein großes Messer in der Hand. Mutter trat vor den Spiegel und schnitt sich mit dem großen Messer ihren grauen, dicken Zopf ab. Mit beiden Händen trug sie ihn zum Tisch. Sie legte ihn mit einem ende in den Teller.
Ich werde mein ganzes Leben in Schwarz gehen, sagte sie. Sie zündete den Zopf an einem Ende an. Er reichte von einem Ende des Tisches bis zum anderen. Der Zopf brannte wie eine Zündschnur. Das Feuer leckte und fraß.
In Russland haben sie mich geschoren. Das war die kleinste Strafe, sagte sie. Ich taumelte vor Hunger. Nachts kroch ich in ein Rübenfeld. Der Hüter hatte ein Gewehr. Wenn er mich gesehen hätte, hätte er mich umgebracht. Das Feld raschelte nicht. Es war Spätherbst, und die Rübenblätter waren schwarz und zusammengeklappt vom Frost.
Ich sah Mutter nicht mehr. Der Zopf brannte noch. Das Zimmer war voll rauch.
Sie haben dich umgebracht, sagte meine Mutter.
Wir sahen uns nicht mehr, so viel Rauch war im Zimmer. Ich hörte ihre Schritte dicht neben mir. Ich tastete mit aus gestreckten Armen nach ihr. Sie hakte auf einmal ihre knochige Hand in mein Haar. Sie schüttelte meinen Kopf. Ich schrie. Ich riss die Augen auf. Das Zimmer drehte sich. Ich lag in einer Kugel aus weißen, zerfledderten Blumen und war eingeschlossen.
Dann hatte ich das Gefühl, dass der Wohnblock umkippt und sich entleert in den Boden.
Der Wecker läutete. Es war Samstag morgen, halb sechs.
© Calr Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Herta Müller
Herta Müller wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Sie studierte in Temeswar rumänische und deutsche Literatur. Sie arbeitete nach dem Studium in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin. Weil sie sich weigerte, ihre Kollegen für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu bespitzeln, verlor sie ihre Stelle, fand danach nur noch Aushilfstätigkeiten und geriet selbst ins Visier der Securitate. Es folgten Verhöre und Hausdurchsuchungen und die Verleumdung. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute noch lebt. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt wurden ihr der Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museum Berlin sowie der Internationale Brückepreis der Europastadt Görlitz/Zgorzelec verliehen und sie wurde in den Orden Pour le mérite aufgenommen. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis. Ihr Werk wurde in über 50 Sprachen übersetzt und erscheint auf Deutsch bei Hanser, zuletzt die Collagenbände Im Heimweh ist ein blauer Saal (2019) und Der Beamte sagte (2021) sowie Eine Fliege kommt durch einen halben Wald (2023).
Bibliographische Angaben
- Autor: Herta Müller
- 2010, 3. Aufl., 172 Seiten, Masse: 13,3 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446235248
- ISBN-13: 9783446235243
- Erscheinungsdatum: 03.03.2010
Rezension zu „Niederungen “
"Ein aussergewöhnliches Debüt." Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.02.10 "Mehr denn je liest sich Herta Müllers Erstling nun als Schlüssel zu einem Werk, das wie kein anderes Aufklärung zugleich und grosse Literatur ist." Friedmar Apel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.04.10
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