Nichts als Gespenster
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Nichts als Gespenster von Judith Herrmann
LESEPROBE
Ruth
(Freundinnen)
Ruth sagte »Versprich mir, dass du niemals etwas mit ihm anfangen wirst«.Ich erinnere mich, wie sie aussah dabei. Sie sass auf dem Stuhl am Fenster, dienackten Beine hochgezogen, sie hatte geduscht und sich die Haare gewaschen, sietrug nur ihre Unterwäsche, ein Handtuch um den Kopf geschlungen, ihr Gesichtsehr offen, gross, sie sah mich interessiert an, eher belustigt, nichtängstlich. Sie sagte »Versprich mir das, ja?«, und ich sah an ihr vorbei ausdem Fenster, auf das Parkhaus auf der anderen Strassenseite, es regnete undwurde schon dunkel, die Parkhausreklame leuchtete blau und schön, ich sagte»Also hör mal, warum sollte ich dir das versprechen, natürlich fange ich nichtsmit ihm an«. Ruth sagte »Ich weiss. Versprich es mir trotzdem«, und ich sagte»Ich verspreche es dir«, und dann sah ich sie wieder an, sie hätte es nichtsagen sollen.
Ich kenne Ruth schon mein Leben lang.
Sie kannte Raoul seit zwei oder drei Wochen. Er war für ein Gastspiel andas Schauspielhaus gekommen, an dem sie für zwei Jahre engagiert war, er würdenicht lange bleiben, vielleicht hatte sie es deshalb so eilig. Sie rief mich inBerlin an, wir hatten zusammen gewohnt, bis sie wegen des Engagements umziehen musste,wir konnten nicht gut damit umgehen, voneinander getrennt zu sein, sie riefmich eigentlich jeden Abend an. Ich vermisste sie. Ich sass in der Küche, diejetzt leer war bis auf einen Tisch und einen Stuhl, ich starrte auf die Wand,während ich mit ihr telefonierte, an der Wand hing ein kleiner Zettel, den siedort irgendwann aufgehängt hatte, »tonight, tonight its gonna be the night,the night«. Ich dachte ständig darüber nach, ihn abzureissen, aber dann tat iches nie. Sie rief mich an, wie immer, und sagte sofort und ohne zu zögern »Ichhabe mich verliebt«, und dann erzählte sie von Raoul, und ihre Stimme klang soglücklich, dass ich aufstehen und mit dem Telefon in der Hand durch die Wohnunglaufen musste, sie machte mich unruhig, in gewisser Weise nervös. Ich hatte michnie für ihre Männer interessiert und sie sich nie für meine. Sie sagte »Er istso gross«. Sie sagte all das, was man immer sagt, und auch ein bisschen wasNeues, ihre Verliebtheit schien sich nicht unbedingt von anderen, früherenVerliebtheiten zu unterscheiden. Sie waren eine Woche lang umeinanderherumgeschlichen und hatten sich Blicke zugeworfen und die Nähe des anderengesucht, sie hatten sich nachts, nach einem Fest, betrunken in derEinkaufspassage der Kleinstadt zum ersten Mal geküsst, sie küssten sich hinterden Kulissen in den Pausen zwischen zwei Szenen und in der Kantine, wenn dieKollegen gegangen waren und die Kantinenköchin die Stühle hochstellte - er habeso weiche Hände, sagte sie, sein Schädel sei kahlrasiert, manchmal trage ereine Brille, das sehe dann seltsam aus, ein kleines, verbogenes Metallgestell,unpassend für sein Gesicht. Sie sagte »Er ist eigentlich eher dein Typ,wirklich, genau dein Typ, du würdest umfallen, wenn du ihn sehen könntest«, ichsagte »Was soll das denn sein, mein Typ?«, und Ruth zögerte, kicherte dann,sagte »Weiss nicht, körperlich eben? Bisschen asozial vielleicht?« Er würdeschöne Sachen sagen - »Die Farbe deiner Augen ist wie Gras, wenn der Windhineinfährt und die Halme ins Weisse kehrt« -, sie zitierte ihn andächtig, ersei auch eitel (sie lachte darüber), in gewisser Weise wie ein Kind, er spielteden Caliban im Sturm, das Publikum würde toben, Abend für Abend. Er käme ausMünchen, sein Vater sei schon lange tot, er habe Philosophie studiert, eigentlich,im Sommer fahre er nach Irland, schlafe im Auto, versuche zu schreiben an denKlippen mit Blick auf das Meer. Raoul. Ruth sagte Raul.
Als ich Ruth besuchte - nicht wegen dieser neuen Liebe, ich hätte sieohnehin besucht -, holte sie mich vom Bahnhof ab, und ich sah sie, bevor siemich sah. Sie lief den Bahnsteig entlang, versuchte mich zu entdecken, sie trugein langes, blaues Kleid, die Haare hochgesteckt, ihr Gesicht leuchtete, undihre ganze Körperspannung, ihr Gang, die Haltung ihres Kopfes und ihr suchenderBlick drückten eine Erwartung aus, die in keiner Weise, die niemals mir geltenkonnte. Sie fand mich auch nicht, und irgendwann stellte ich mich ihr einfachin den Weg. Sie erschrak, und dann fiel sie mir um den Hals, küsste mich undsagte »Liebe, Liebe« - das neue Parfum, das sie trug, roch nach Sandelholz undZitronen. Ich löste ihre Hände von mir und hielt sie fest, ich sah in ihrGesicht, ihr Lachen war mir sehr vertraut.
Ruth hatte eine winzige Wohnung in der Innenstadt gemietet, eine Art amerikanischesApartment, ein Zimmer, eine Kochnische, ein Bad. Vor den grossen Fenstern hingenkeine Vorhänge, einzig im Badezimmer konnte man sich vor den Blicken derAutofahrer, die ihr Auto im gegenüberliegenden Parkhaus abstellten und dannminutenlang, wie geistesabwesend, herüberstarrten, verbergen. Das Zimmer warklein, ein Bett darin, eine Kleiderstange, ein Tisch, zwei Stühle, eineStereoanlage. Auf dem Fenstersims das Foto mit dem Blick aus dem Fensterunserer Wohnung in Berlin, das ich ihr zum Abschied geschenkt hatte, auf demTisch ein silberner Aschenbecher aus Marokko, ein Passfoto von mir im Rahmen desSpiegels über dem Waschbecken im Bad. Es muss einen Moment gegeben haben, in demich in der Wohnung alleine war - Ruth im Theater, beim Einkaufen, mit Raoul -,und ich erinnere mich, dass ich auf dem Stuhl am Fenster sass, auf Ruths Stuhl,eine Zigarette rauchte und mich den Blicken der Menschen im Parkhaus aussetzte,die Leuchtreklame flackerte, das Zimmer war fremd, das Treppenhaus hinter derWohnungstür dunkel und still.
© S. Fischer Verlag GmbH
Autoren-Porträt von Judith Hermann
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Nach einerjournalistischen Ausbildung und einem Zeitungspraktikum in New York erhielt sie1997 das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste. 1998 erschien ihrerstes Buch »Sommerhaus, später«, dem eine aussergewöhnliche Resonanz zuteilwurde. Im selben Jahr wurde ihr der Literaturförderpreis der Stadt Bremenzuerkannt, 1999 der Hugo- Ball- Förderpreis und 2001 der Kleist- Preis. JudithHermann lebt und schreibt in Berlin.
Interview mitJudith Hermann
Sie haben den Kleistpreis für Ihr Debüt"Sommerhaus, später" erhalten und fast einhelliges Lob von allenKritikern. Marcel Reich-Ranicki bezeichnete Sie als "hervorragendeAutorin". Was hat das mit Ihnen gemacht?
Ich bin damals oft gefragtworden, ob mich der Erfolg glücklich machen würde. Und es war schwierig, daraufzu beharren, dass er das nicht tat. Es gab kleine Glücksmomente am Rande, in unerwartetenMomenten, ausserhalb des Literaturbetriebes. Aber ich bin nicht auf der grossen, beglückendenWoge des Erfolges geschwommen, ich wurde eher von ihr überrascht und überrollt,ratlos gemacht und erschöpft und zwar so, dass ich mich am Ende zurückziehenwollte. Ich werde oft gefragt, ob ich mein altes Leben wieder haben möchte. Nein,ich will es nicht wieder haben, ich bedauere nur, dass ich nicht glücklichermit dem Erfolg sein konnte.
Was war das Schwierige am Erfolg?
In meinem ersten Buch sagenzwei Figuren, dass ihnen geschieht, was niemandem sonst geschieht. Aus einemganz ähnlichen Gefühl heraus habe ich die Geschichten geschrieben. Das Buchentstand innerhalb eines Jahres und ein halbes Jahr später kam der Erfolg."Sommerhaus, später" war ein kleines Buch, das mitgerissen wurde undsich plötzlich zu etwas Riesigem entwickelte. Es ging alles unglaublichschnell. Und auf einmal waren diese Geschichten, in denen für michUnvergleichliches geschah, über Nacht weg von mir und bei Tausenden unbekanntenLesern, die aber alle behaupteten, ich würde genau das erzählen, was ihnen auchgeschehen sei. Das waren schwierige Momente.
Der unvermeidliche Ablösungsprozess vom eigenenBuch...
Ja, beim zweiten Buch weissman das. Aber beim ersten ist es eine ganz neue und schwierige Erfahrung. Esgab diesen Satz "Wir haben eine neue Autorin bekommen"; und ich wussteüberhaupt nicht, ob ich eine Autorin bin, ob nicht dieses Buch alles war, wasich zu sagen hatte, ob es überhaupt ein zweites Buch geben würde. Ich fühltemich wie eine Hochstaplerin. Ich hatte keine Kiste voller Geschichten, die ichnachreichen konnte, sondern nur dieses hohe Podium, auf dem ich stand. Und dannstellten sich Ängste ein: Ich befürchtete, dass ich in meinem Privatlebenjemanden verlieren könnte, ich hatte das Gefühl, einen Preis zahlen zu müssen,die Angst, etwas weggeben zu müssen für den Erfolg.
Es wird oft gesagt, dass Ihre Geschichten süchtigmachen. Können Sie damit etwas anfangen?
Das hat mich bei den erstenBesprechungen auch eher irritiert. Ich finde es einerseits ganz schön, aber esbeunruhigt mich auch. Ich glaube eher, dass ich einen bestimmten Ton habe. Ichversuche aber nicht, ihn weiter zu benennen oder für mich ans Licht zu ziehen.Wenn ich ihn unangetastet und so unbefragt als möglich lasse, kann ich ihn auchnoch eine ganze Weile halten. Wenn ich anfange herauszufinden, wie ich dasmache, würde ich ihn verlieren.
Ihre Liebe zur Beobachtung ist augenfällig. In einerGeschichte findet sich der Satz: "Ich stelle mir etwas vor, so präzise undschmerzhaft als möglich". Ist das Ihre Herangehensweise an dieBeschreibung?
Ich glaube, es ist genau so.Es hat etwas Lustvolles, sich etwas so präzise als möglich vorzustellen und imschlimmsten Fall ist es eine wirklich schmerzhafte Vorstellung. Es kannlustvoll sein, sich diesen Schmerz vorzustellen und zu wissen, man muss ihnnicht einlösen - jedenfalls jetzt noch nicht.
In Bezug auf die Liebe wirken Ihre Figuren häufigerschöpft. Sind sie erschöpft von den vielen Liebesgeschichten in derVergangenheit?
Ich stelle das zumindest fürmich fest und sehe es bei den Menschen, mit denen ich zu tun habe. Jeder hatseine eine grosse Liebe gehabt, und meistens ist sie vorbei. Man ist nicht mehrmit dem Menschen zusammen, aber es hat diese Liebe gegeben und alles, wasdanach kommt, ist eine Wiederholung. Es ist vertrackt. Zu der Zeit von"Sommerhaus, später", oder als ich 26 Jahre alt war, dachte ichimmer, die grosse Liebe käme noch. Und plötzlich begreift man - sie ist schonvorüber, und alles andere wiederholt sich. Und das ist erschöpfend, ja.
Ihrem Buch "Nichts als Gespenster" haben sie die Liedzeilevon den Beach Boys vorangestellt: "Wäre es nicht schön, wenn wir hierleben könnten und dies der Ort wäre, zu dem wir gehören." Erklärt sich dieTraurigkeit Ihrer Figuren aus der Einsicht, dass wir hier eben nicht für immerbleiben können?
Ein wenig schon. Die Figurenreisen immer guten Willens los und kommen mit der Erwartung auf Erlösung aneinen Ort, als würde ihnen dort jemand begegnen, der etwas verändert. Und esgeht um das Begreifen, dass das nicht geschehen wird, also zumindest nicht sooffensichtlich. Die Erkenntnis, dass es diese Art von Erlösung nicht gibt, machtein bisschen traurig. Man muss also weitergehen und man darf auch weitergehen,denn es ist ja auch etwas Schönes.
Interview: Cornelia Teufl
- Autor: Judith Hermann
- 2004, 9. Aufl., 320 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596157986
- ISBN-13: 9783596157983
- Erscheinungsdatum: 22.04.2004
"Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird gross sein." (Marcel Reich-Ranicki)
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