Neue Leben
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Neue Lebenvon Ingo Schulze
LESEPROBE
Vorwort
Auf der Suche nach einem Romanstoff begann ich vor sieben JahrenMaterial über deutsche Geschäftsleute zu sammeln. Heinrich Türmer weckte meinInteresse, weil er in wenigen Jahren, gründend auf einer Zeitung, ein kleinesImperium geschaffen und eine ganze Region an der Grenze von Thüringen undSachsen unter seinen Einfluss gebracht hatte. Das Ende von Türmers weitverzweigtemUnternehmen kam ebenso überraschend wie aufsehenerregend. Zum Jahreswechsel 1997/98standen Gläubiger und Steuerfahnder vor offenen Türen und leeren Kassen.Türmer hatte sich der Strafverfolgung durch Flucht entzogen. Die Rechnung fürseine Spekulationen zahlten andere, die Folgen sind bis heute in der Regionspürbar.
Bei meinen Recherchen stiess ich auf viele merkwürdige und ungewöhnlicheVorgänge. Ein unspektakuläres Detail aber führte mich zu einer Entdeckung, dieunerwarteter nicht hätte sein können.
Türmer hatte ursprünglich den Vornamen Enrico getragen undihn erst in der zweiten Jahreshälfte 1990 zu Heinrich germanisiert. Ein inDresden geborener und aufgewachsener Enrico Türmer jedoch war mir bekannt: alsBruder von Vera Türmer - einer Freundin, zu der nach ihrer Ausreise in denWesten der Kontakt verloren gegangen war - sowie als Schüler einer Parallelklasse.Mir fiel es schwer zu glauben, dass jener korpulente und elegant gekleideteGeschäftsführer auf den Zeitungsfotos derselbe Mensch sein sollte wie derunauffällige Enrico, mit dem ich einst Fussball gespielt und im Chor gesungenhatte.
Zu meinerweiteren Überraschung fand ich unter dem Stichwort Türmer einen aufwendigausgestatteten Band Kurzprosa (Göttingen 1998). Ich vermute, dass diePublikation ohne das finanzielle Zutun des Autors nicht möglich gewesen wäre.Die wenigen Reaktionen waren ausnahmslos geringschätzig. Zu Recht. Wäre danicht der bittere Beigeschmack seiner Flucht, liesse sich Türmers Versuchhonorieren, den Alltag eines Unternehmers mit seinen Sorgen, Nöten und Freudenliteraturfähig zu machen. Im Vorwort preist Türmer die Welt der Arbeit als »dasgelobte Land zukünftiger Literatur«.
MeineVersuche, über den Verlag Kontakt mit Heinrich Türmer aufzunehmen, misslangen.Antwort erhielt ich dagegen von Vera Barakat-Türmer. Sie bestärkte mich sogarin meinem Wunsch, das Leben ihres Bruders als Vorlage für einen Roman zuverwenden. In selbstloser und grosszügiger Weise stellte mir Vera Barakat-Türmeralle Aufzeichnungen ihres Bruders zur Verfügung, die er bereits 1990 in ihreObhut gegeben hatte und die deshalb einer Beschlagnahme entgangen waren. Nun,so hoffte ich, würde ich den Fall Türmer zumindest bis in die Anfänge seinesUnternehmertums nachvollziehen können.
Verteiltauf fünf voll gestopfte staubige Schuhkartons, fanden sich Tagebücher, Briefe,Notate und fragmentarische Prosaarbeiten neben Quittungen, Fahrscheinen,Einkaufszetteln und Ähnlichem. Das meiste, was Türmer - als Schüler inDresden, Soldat in Oranienburg, Student in Jena und Theatermann in Altenburg -zwischen 1978 und 1990 zu Papier gebracht hatte, erwies sich aber für meineZwecke als wertlos. Schwer erträglich war der pubertäre Tonfall. Türmer, so kames mir vor, schielte selbst in seinen Briefen mit jedem Satz auf ein imaginäresPublikum. Bezeichnenderweise behielt er von seinen eigenen Briefen immer einenDurchschlag, die an ihn gerichteten dagegen bewahrte er nur äusserst selten auf.
Meinwachsender Widerwille gegen die Figur Türmer drohte das Vorhaben bereits zugefährden, da wurde ich endlich fündig.
Vor mirlagen die Briefe an Nicoletta Hansen. Ihre Qualität liess mich an TürmersAutorschaft zweifeln, doch vergeblich suchte ich in der Handschrift nachIndizien für meinen Verdacht.
Zwischenden Briefen an Nicoletta lagen in unregelmässigen Abständen Schreiben an denJugendfreund Johann Ziehlke aus derselben Zeit, dem ersten Halbjahr 1990. Auchhier schien Türmer, wie schon in den Briefen an Nicoletta, das geglückt zusein, was er in seiner Prosa immer vergeblich versucht hat.
Auf meineBitte hin gelang es Vera Barakat-Türmer, sowohl Nicoletta Hansen als auchJohann Ziehlke zu bewegen, mir sämtliche Briefe im Original zur Einsichtnahmezu überlassen. Zudem vertraute mir Vera Barakat-Türmer dreizehn an sie gerichteteBriefe ihres Bruders an.
Als ich dieBriefe an alle drei Adressaten chronologisch geordnet (vom 6. Januar bis 11.Juli 1990) und komplettiert las, entfaltete sich vor mir das Panorama jenerZeit, in der das Leben Türmers auf der Kippe gestanden hatte, und nicht nurseins.
Ich las voneinem Theatermann, der zu einem Zeitungsredakteur, von einem gescheitertenSchriftsteller, der zu einem glücklichen Unternehmer wird, ich las von einemSchuljungen, dessen Wunsch nach Ruhm sich als Fluch erweist, von einemSoldaten, der dem Einmarsch in Polen entgeht, nicht aber seinen Kameraden, voneinem Studenten, der sich in eine Schauspielerin verliebt, von einem Zauderer,der zum Helden wider Willen wird, ich las von Demonstrationen und ersten Schrittenin den Westen, ich las von einem Bruder, der nicht ohne seine Schwester leben kann,ich las von Krankheit und Teufelsbeschwörung - mit einem Wort, ich las einenRoman.
Und ichbeschloss, mein eigenes Romanvorhaben zurückzustellen und mich mit ganzer Kraftder Herausgabe dieser Briefe zu widmen.
Um esvorwegzusagen: Die Suche nach einem Verlag wie auch die Gespräche mit denBetroffenen nahmen Jahre in Anspruch.
Nicht immerwar es möglich, das Einverständnis von allen zu erreichen oder auf ihreBedingungen einzugehen. Wie wenig ausgewogen, ja wie falsch und gehässigmitunter Türmers Beschreibungen sein konnten, haben fast alle erfahren müssen,auf die sein Blick fiel. Auch dem Verfasser dieser Zeilen blieb es nichterspart, sich entstellt im Türmer'schen Zerrspiegel wiederzufinden.
Meinbesonderer Dank gilt der Schauspielerin Michaela von Barrista-Fürst und ihremSohn Robert Fürst, mit denen Türmer damals zusammengelebt hat. Ohne ihrVerständnis und ohne ihre Grossmut wäre das Vorhaben zum Scheitern verurteilt gewesen.Elisabeth Türmer zögerte lange mit ihrer Zusage, wirft doch dieVeröffentlichung nicht gerade das günstigste Licht auf ihren Sohn. Dass sieschliesslich einwilligte, verdient Anerkennung. Auch Johann Ziehlke, Freund ausSchultagen und studierter Theologe, musste für die Zustimmung über seinenSchatten springen. Denn als Vertrauter und leitender Angestellter Türmersbedeutete dessen Flucht nicht nur den Verrat an ihrer Freundschaft, sondernbrachte ihn und seine Familie juristisch und finanziell in grössteSchwierigkeiten. Die wenigen von ihm erbetenen Streichungen waren hinnehmbarund für den Gesamteindruck ohne Bedeutung.
Manchmal war ein Einverständnis nur durch die Zusage zu erlangen,auch eine gegenteilige Position zu Wort kommen zu lassen. Dass sich Marion undJörg Schröder, die ehemaligen Zeitungskollegen, auf diesen Kompromisseingelassen haben, freut mich sehr. Nicht zuletzt möchte ich Nicoletta Hansendanken,
die ihrVerhältnis zu Türmer bereits 1995 wieder gelöst hatte. In einigenFällen fehlt die Einwilligung, weil, wie zum Beispiel bei Dr. Clemens vonBarrista, die Aufenthaltsorte nicht zu ermitteln waren.
Zu Anhangund Kommentar ist Folgendes zu bemerken:
Zwanzig derBriefe an Nicoletta Hansen wurden auf den Rückseiten alter Manuskriptegeschrieben. Diese Manuskripte sind - und Türmer selbst hatte das als Erstererkannt - bestenfalls zweitrangig, dazu lückenhaft und unvollendet. Sie werdenhier im Anhang abgedruckt, um das Verständnis dessen, was in den Briefenausgespart bleibt oder nur angedeutet wird, gelegentlich zu verbessern.
DieFussnoten sollen die Lektüre erleichtern. Was dem einen oder der anderenüberflüssig erscheinen mag, werden gerade jüngere Leser dankbar zur Kenntnisnehmen. Ich habe mich eines Kommentars enthalten, wenn sich der Sachverhalt ausspäteren Passagen erschliessen lässt.
Demaufmerksamen Leser wird nicht entgehen, dass der Briefschreiber Türmer ein unddenselben Vorgang je nach Adressat in höchst unterschiedlichen Versionenschildert. Dies zu bewerten ist nicht Sache des Herausgebers.
MeinErstaunen über Türmers geradezu manischen Bekenntnisfuror beantwortete VeraBarakat-Türmer mit der Bemerkung: »Ich habe mich bei Enrico immer gewundert,warum er so ein grosses Bedürfnis hatte, sich jemandem anzuschliessen und mitzuteilen.Es gab in jeder Phase seines Lebens einen Menschen, den er rückhaltlosbewunderte und dem er sich beinah hündisch ergeben zeigte.«
IngoSchulze
Berlin, imJuli 2005
© Berlin Verlag GmbH
- Autor: Ingo Schulze
- 2005, 1. Auflage, 752 Seiten, Masse: 15,2 x 22,5 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827000521
- ISBN-13: 9783827000521
- Erscheinungsdatum: 24.10.2005
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