Mütter und Andere
Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat
Vor über einer Million Jahre begann eine Linie von Menschenaffen, ihre Jungen gemeinschaftlich aufzuziehen. "Mütter und Andere" erzählt, warum sich aus dieser neuen Form der Fürsorge nicht nur neue Formen sozialen Miteinanders entwickelten, sondern auch...
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Produktinformationen zu „Mütter und Andere “
Vor über einer Million Jahre begann eine Linie von Menschenaffen, ihre Jungen gemeinschaftlich aufzuziehen. "Mütter und Andere" erzählt, warum sich aus dieser neuen Form der Fürsorge nicht nur neue Formen sozialen Miteinanders entwickelten, sondern auch unsere Fähigkeit, Gedanken und Absichten der Menschen um uns lesen" zu können.
Klappentext zu „Mütter und Andere “
Wie wäre es wohl, mit einer Horde Schimpansen in einem Flugzeug zu reisen? Die Passagiere würden in kürzester Zeit handgreiflich werden. Zwar fühlen auch wir Menschen uns in solcher Enge von einem schniefenden Sitznachbarn genervt, im Unterschied zu unseren evolutionsgeschichtlichen Vorfahren gehen wir den Störenfrieden jedoch nicht gleich an den Kragen. Warum und wie aber hat sich der Homo sapiens zu einem vergleichsweise umgänglichen" Wesen entwickelt, das in der Lage ist, sich in andere Menschen einzufühlen? Für Hrdy liegt der Ursprung unseres sozialen Verhaltens gerade nicht im Kampf gegen Konkurrenten, wie die klassische Anthropologie lange Zeit angenommen hat, sondern in gemeinschaftlicher Kindererziehung. Angesichts knapper Ressourcen waren steinzeitliche Eltern auf Hilfe anderer angewiesen. Um sich die Aufmerksamkeit und Fürsorge dieser sogenannten Allomütter zu sichern, entwickelten sich Menschenbabys zu wahren Stimmungsexperten, die Emotionen und Gesichtsausdrücke anderer meisterhaft deuten konnten. Daraus ergaben sich wiederum die einzigartigen menschlichen Fähigkeiten zur Empathie und zur Kooperation. Ohne diese wäre der atemberaubende kulturelleund technologische Fortschritt der Menschheit undenkbar gewesen. Hrdy liefert faszinierende Belege aus einem weiten Spektrum an Disziplinen, vor allem aus der Primatenforschung und aus ethnologischen Feldstudien an den letzten Jäger- und Sammler-Gesellschaften. Ihre Erkenntnisse berühren nicht bloss unser Selbstverständnis als Menschen, sondern werfen auch die Frage auf, was eigentlich passiert, wenn wir die evolutionäre Errungenschaft Empathie wieder verkümmern lassen.
Wie wäre es wohl, mit einer Horde Schimpansen in einem Flugzeug zu reisen? Die Passagiere würden in kürzester Zeit handgreiflich werden. Zwar fühlen auch wir Menschen uns in solcher Enge von einem schniefenden Sitznachbarn genervt, im Unterschied zu unseren evolutionsgeschichtlichen Vorfahren gehen wir den Störenfrieden jedoch nicht gleich an den Kragen. Warum und wie aber hat sich der Homo sapiens zu einem vergleichsweise "umgänglichen" Wesen entwickelt, das in der Lage ist, sich in andere Menschen einzufühlen? Für Hrdy liegt der Ursprung unseres sozialen Verhaltens gerade nicht im Kampf gegen Konkurrenten, wie die klassische Anthropologie lange Zeit angenommen hat, sondern in gemeinschaftlicher Kindererziehung. Angesichts knapper Ressourcen waren steinzeitliche Eltern auf Hilfe anderer angewiesen. Um sich die Aufmerksamkeit und Fürsorge dieser sogenannten Allomütter zu sichern, entwickelten sich Menschenbabys zu wahren Stimmungsexperten, die Emotionen und Gesichtsausdrücke anderer meisterhaft deuten konnten. Daraus ergaben sich wiederum die einzigartigen menschlichen Fähigkeiten zur Empathie und zur Kooperation. Ohne diese wäre der atemberaubende kulturelleund technologische Fortschritt der Menschheit undenkbar gewesen. Hrdy liefert faszinierende Belege aus einem weiten Spektrum an Disziplinen, vor allem aus der Primatenforschung und aus ethnologischen Feldstudien an den letzten Jäger- und Sammler-Gesellschaften. Ihre Erkenntnisse berühren nicht bloss unser Selbstverständnis als Menschen, sondern werfen auch die Frage auf, was eigentlich passiert, wenn wir die evolutionäre Errungenschaft Empathie wieder verkümmern lassen.
Lese-Probe zu „Mütter und Andere “
Mütter und andere – wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat von Sarah Blaffer Hrdy
1
Menschenaffen in einem Flugzeug
Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen.
Adam Smith (1759)
Alljährlich fliegen 1,6 Milliarden Menschen mit dem Flugzeug. Geduldig stellen wir uns in eine Schlange, um uns von jemandem kontrollieren und abtasten zu lassen, den wir noch nie gesehen haben. Im Gänsemarsch stapfen wir an Bord einer Aluminiumröhre, zwängen uns in enge Sitze, Ellbogen an Ellbogen, und verhalten uns während des Fluges rücksichtsvoll zueinander. Nickend und mit einem schicksalsergebenen Lächeln nehmen Passagiere Blickkontakt zueinander auf und machen Nachzüglern Platz, die sich an ihnen vorbeidrängen. Ein junger Mann versetzt mir mit seinem Rucksack unabsichtlich einen Stoß, als er sich ausstreckt, um das sperrige Gepäckstück in der Ablage über den Sitzen zu verstauen, doch ich lächle (verhalten), statt das Gesicht zu verziehen oder die Zähne zu fletschen, und verberge so meinen Ärger. Die meisten Menschen an Bord beachten das schreiende Baby nicht weiter oder tun zumindest so. Einige wenige von uns geben der Mutter sogar mit einem seitlichen Nicken und einem gequälten Lächeln zu verstehen: »Ich weiß, wie Sie sich fühlen.« Wir wollen, dass sie weiß, dass wir Verständnis für sie haben und dass uns ihr schreiendes Baby nicht annähernd so stark belästigt, wie sie meint, obgleich wir wie sie selbst intuitiv spüren, dass der junge Mann neben ihr, der den Blickkontakt mit ihr meidet und wie gebannt auf den Bildschirm seines Laptops starrt, sich genauso stark gestört fühlt, wie sie es befürchtet. So
... mehr
benutzt jeder Vielflieger regelmäßig besondere empathische Fähigkeiten, um Annahmen über die mentalen Zustände und Intentionen anderer Menschen aufzustellen und ebendiese Begabung zum wechselseitigen Verstehen ist das, was unsere Spezies auszeichnet. Kognitive Psychologen nennen diese Fähigkeit, Bewusstseinsinhalte anderer Personen zu erfassen, eine »Theory of Mind«.1 Sie entwerfen ausgetüftelte Experimente, um herauszufinden, in welchem Alter Kinder diese Fähigkeit erwerben und wie gut sich nichtmenschliche Tiere darauf verstehen, mentale Zustände von Artgenossen zu erfassen (oder, genauer gesagt, darauf, anderen mentale Zustände zuzuschreiben engl. mind reading*). Andere Psychologen verwenden lieber den verwandten Begriff »Intersubjektivität«, der die Fähigkeit und den Willen betont, die emotionalen Zustände und Erlebnisse anderer Individuen zu teilen und diese Fähigkeit bildet sich, zumindest beim Menschen, in einem sehr frühen Entwicklungsstadium heraus und ist die Grundlage für komplexere Mentalisierungsfähigkeiten in höherem Lebensalter.2 Wie immer wir es nennen dieses ausgeprägte Interesse und diese Fähigkeit, in Gesichtern zu lesen, und unser unentwegtes Streben danach, zu verstehen, was andere denken und welche Absichten sie hegen, uns in ihre Erlebnisse und Ziele einzufühlen, bewirkt, dass wir mit den Menschen in unserem Umfeld viel geschickter kooperieren, als dies etwa andere Menschenaffen mit ihren Artgenossen tun. Viel häufiger, als wir uns bewusst sind, erfassen wir intuitiv die mentalen Erfahrungen anderer Menschen und das ist das eigentlich Interessante haben ein Interesse daran, dass andere Menschen ihre mentalen Erlebnisse mit uns teilen. Stellen Sie sich zwei Frauen vor, die in diesem Flugzeug nebeneinandersitzen; eine erleidet während des Flugs einen schweren
* Der Terminus »mind reading« wird im Folgenden im Allgemeinen mit »(Fähigkeit) zur Kognition mentaler Zustände« bzw. mit »Mentalisierung« übersetzt, womit die Fähigkeit gemeint ist, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren. A. d. Ü.
Migräneanfall. Obwohl sie nicht die gleiche Sprache sprechen, hilft ihr die fremde Mitreisende vielleicht hält sie ihr ein feuchtes Tuch an den Kopf, worauf die kranke Frau versichert, dass es ihr schon wieder besser gehe. Menschen wollen häufig andere verstehen, selbst verstanden werden und kooperieren. Passagiere, die dicht gedrängt in einem Flugzeug sitzen, sind nur ein Beispiel dafür, wie Empathie und Intersubjektivität in menschlichen Interaktionen routinemäßig genutzt werden. Weil es so oft geschieht, erachten wir die sich daraus ergebenden Übereinkommen als selbstverständlich. Aber stellen wir uns nur einmal vor, statt Menschen würden Individuen einer anderen Menschenaffenart in dieses Flugzeug gezwängt und wären mit den typischen Unannehmlichkeiten an Bord konfrontiert. In Momenten wie diesen ist es angesichts meiner etwas skurrilen soziobiologischen Phantasien vermutlich ganz gut, dass die Fähigkeit zur Kognition mentaler Zustände anderer beim Menschen nur unvollkommen entwickelt ist. Unwillkürlich frage ich mich immer wieder, was geschehen würde, wenn sich meine Mitreisenden plötzlich in Exemplare einer anderen Menschenaffenart verwandeln. Was wäre, wenn ich in einem Flugzeug voller Schimpansen reisen würde? Jeder von uns könnte sich glücklich schätzen, wenn er mit allen zehn Fingern und Zehen von Bord ginge, wenn das Baby noch atmen würde und nicht verstümmelt wäre. Blutige Ohrläppchen und andere Anhängsel lägen verstreut auf dem Mittelgang herum. Wenn man so viele hochimpulsive, einander fremde Individuen auf so engem Raum zusammenpferchen würde, müsste dies zwangsläufig zu einem Gemetzel führen. Hat man es sich erst einmal angewöhnt, Menschen mit anderen Primaten zu vergleichen, lässt sich diese Gewohnheit kaum noch abschütteln. Ich erinnere mich an einen meiner ersten Berichte über das Verhalten von Hanuman-Languren, einer asiatischen Affenart, die ich als junge Frau in Indien erforschte. T. H. Hughes war ein britischer Beamter und Amateur-Naturforscher, der auf den Subkontinent entsandt worden war, um die britische Kolonialregierung zu unterstützen. »Im April 1882, als wir bei dem Dorf Singpur im Distrikt Sohagpur des Bundesstaates Rewa unser Lager aufgeschlagen hatten ..., zog eine rastlose Versammlung von >Hanumanen< meine Aufmerksamkeit auf sich«, schrieb Hughes.
Während er das Treiben beobachtete, brach ein Kampf zwischen zwei Männchen aus das eine begleitete eine Gruppe von Weibchen, das andere war vermutlich ein fremdes Männchen.
»Ich sah, wie sie mit Armen und Zähnen heftig übereinander herfielen. Schon war die Kehle eines der Angreifer aufgeschlitzt, und er lag in den letzten Zügen.« Hughes vermutete nunmehr, dass »dem fremden Männchen der Sieg wohl sicher gewesen wäre, hätte es nicht das Pech gehabt, dass zwei Weibchen auf ihn vorrückten ... Sie stürzten sich auf ihn, und obgleich er seine Feindinnen ritterlich bekämpfte, gelang es einem der Weibchen, ihn am heiligsten Teil seiner Person zu packen und ihn seiner wesentlichsten Anhängsel zu berauben.«3 Beschreibungen von fehlenden Fingern oder Zehen, aufgeschlitzten Ohren und gelegentlichen Kastrationen finden sich verstreut in vielen Forschungsberichten über Freilandbeobachtungen an Languren und Roten Stummelaffen, an Lemuren Madagaskars und an unseren engen Verwandten unter den Menschenaffen. Selbst bei den für ihre vermeintliche Friedfertigkeit so bekannten Bonobos, einer in freier Wildbahn derart seltenen und schwer zugänglichen Schimpansenart, dass die meisten Beobachtungen aus Zoos stammen, müssen nach heftigen Auseinandersetzungen gelegentlich Tierärzte gerufen werden, um einen Hodensack oder Penis wieder anzunähen. Damit will ich nicht sagen, dass Menschen nicht ähnliche Neigungen zu Eifersucht, Entrüstung, Wut, Fremdenfeindlichkeit oder mörderischer Gewalttätigkeit zeigen. Aber verglichen mit unseren nächsten Verwandten sind wir Menschen viel geschickter darin, regelrechte Gemetzel zu vermeiden. Unser spontaner Impuls ist es, miteinander auszukommen. Wir stürzen uns nicht reflexartig auf jeden Fremden, und Menschen fällt es fiel schwerer als Schimpansen, in unmittelbaren körperlichen Auseinandersetzungen Artgenossen umzubringen. Unter den 1,6 Milliarden Passagieren, die alljährlich in Flugzeuge gepfercht und dort nicht immer sanft behandelt werden, sind bislang noch keine Zerstückelungen bekannt geworden. Ziel dieses Buches ist es, die frühen Ursprünge wechselseitigen Verstehens, der Schenkbereitschaft, der Mentalisierungsfähigkeit und weiterer hypersozialer Tendenzen, die dies ermöglichen, zu erklären.
»Festverdrahtete« Kooperationsbereitschaft
Schon von einem zarten Alter an und ohne in einer besonderen Weise geschult worden zu sein, identifizieren sich moderne Menschen mit der Not von Artgenossen und sind von sich aus bereit, selbst fremden Menschen zu helfen und mit ihnen zu teilen. In dieser Hinsicht bildet die Linie von Menschenaffen, der wir angehören, eine Klasse für sich. Denken wir zurück an den Tsunami in Indonesien oder den Hurrikan Katrina. Konfrontiert mit Bildern der Opfer, führte ein Spender nach dem anderen denselben Grund für seine Hilfsbereitschaft an: Er fühle sich besser, nachdem er etwas gespendet habe. Menschen reagierten instinktiv auf den Anblick verängstigter Gesichter und auf die Trauer von Überlebenden, die Verwandte verloren hatten herzzerreißende Auslösereize, die weltweit ausgestrahlt wurden. Diese Fähigkeit, sich mit anderen zu identifizieren und ihr Leid nachzuempfinden, ist nicht bloß erlernt: Sie ist ein Teil von uns. Neurowissenschaftler, die mit Hilfe bildgebender Verfahren die neuronale Aktivität im Gehirn von Menschen untersuchen, baten ihre Versuchspersonen, einem anderen Menschen beispielsweise beim Verzehr eines Apfels zuzusehen, oder sie baten sie bloß, sich jemanden vorzustellen, der einen Apfel isst. Sie fanden heraus, dass jene Hirnareale aktiviert werden, die für die Unterscheidung von Selbst und anderen zuständig sind, sowie die Areale, welche die beim Verzehr eines Apfels benutzten Kaumuskeln steuern. Tests, bei denen Menschen aufgefordert werden, sich andere Personen in einer bestimmten emotionalen Situation vorzustellen, führen zu ähnlichen Ergebnissen.4 Es ist eine Eigenart des Bewusstseins, die Menschen in allen möglichen sozialen Situationen nützt, nicht nur, wenn sie tätiges Mitgefühl zeigen, sondern auch bei Gastfreundschaft, beim Schenken und bei guten Umgangsformen Normen, die alle Kulturen kennen.
Mitgefühl ist nicht unbedingt auf Mitglieder der eigenen Gruppe beschränkt. Der hier abgebildete spanische Soldat wärmt mit seinem Körper einen unterkühlten afrikanischen Flüchtling, der gerettet wurde, als er mit dem Boot von Marokko nach Spanien gelangen wollte. (R. Perales/AP )
Unwillkürliche altruistische Impulse decken sich mit den Befunden von Neurowissenschaftlern, die mit Hilfe der Magnetresonanztomographie (MRT ) die Gehirnaktivität zweier einander fremder Personen sichtbar machten, die in einer Variante eines berühmten Spiels, des »Gefangenen-Dilemmas«, einander paarweise zugeordnet werden. In dieser Situation erhalten zwei Spieler Belohnungen dafür, dass sie entweder kooperieren oder den anderen verraten. Wenn keiner der beiden Spieler den anderen verrät und beide über mehrere aufeinanderfolgende Spielrunden kooperieren, dann gewinnen beide mehr, als sie hätten, wenn sie gar nicht spielen würden. Wenn aber ein Spieler auf eigene Rechnung spielt, während sein Partner kooperiert, gewinnt der Verräter noch mehr, und sein Partner geht leer aus. Wenn beide verraten, kommen sie ganz schlecht weg. Diese Experimente führen zu bemerkenswerten Ergebnissen. Selbst wenn die Versuchsleiter den Spielern sagen, dass nur ein einziges Spiel stattfindet, so dass jeder Spieler bloß eine Chance hat, um zu kooperieren oder zu verraten ohne die Möglichkeit, zum beiderseitigen Vorteil ein weiteres Mal zu kooperieren , entscheiden sich 42 Prozent der zufällig ausgewählten Fremden dennoch dafür, sich kooperativ zu verhalten.
Diese Uneigennützigkeit mutet auf den ersten Blick irrational an, insbesondere aus der Sicht von Ökonomen, die normalerweise mit Wirtschaftsmodellen arbeiten, welche von eigennützigen »rationalen Akteuren« ausgehen und das Individuum in den Mittelpunkt stellen, oder auch für eine Soziobiologin wie mich, die einen Großteil ihres Berufslebens damit verbracht hat, die Konkurrenz zwischen Primatenmännchen um fruchtbare Weibchen, zwischen Weibchen derselben Gruppe um Ressourcen und auch zwischen Nachkommen derselben Familie um Nahrung und Fürsorge zu erforschen. Betrachtet man diese uneigennützigen Verhaltensdispositionen im Rahmen der Frage, wie es der Menschheit gelang, so lange Zeiträume und so einschneidende Klimaschwankungen während der letzten Eiszeit (Pleistozän), die zwischen 1,8 Millionen Jahre und etwa 12 000 Jahre v. Chr. andauerte, zu überstehen, so erweisen sie sich als »mehr als rational«, denn die Menschen waren damals auf bewährte Beziehungen zu anderen angewiesen.
Wo Menschen in kleinen, weit verstreuten Gruppen von untereinander verbundenen Familien leben, die vermutlich immer wieder miteinander in Austausch treten, werden prosoziale Impulse also Neigungen, freiwillig Dinge zu tun, die anderen nützen wahrscheinlich erwidert oder belohnt.
Das Wohl der großzügigen Person und das ihrer Familie hing stärker von der Aufrechterhaltung des Netzes sozialer Beziehungen, das ihr Überleben in guten und schlechten Zeiten sicherte, als von dem unmittelbaren Ergebnis einer bestimmten Transaktion ab. Die Menschen, die man in diesem Jahr großzügig behandelt, indem man ihnen ein Werkzeug leiht oder ihnen Nahrungsmittel schenkt, sind dieselben Menschen, auf die man nächstes Jahr angewiesen ist, wenn die eigenen Wasserlöcher austrocknen oder das Wild im eigenen Siedlungsgebiet verschwindet.
Im Lauf ihres Lebens trafen Menschen immer wieder wenn auch nicht unbedingt häufig mit ihren Nachbarn zusammen. Erwiderte man eine Gefälligkeit nicht, führte dies zum Verlust von Verbündeten oder, schlimmer noch, zu sozialem Ausschluss. Machen wir nun einen Zeitsprung von etlichen Tausend Jahren in jene Labors, in denen Forscher heute solche Experimente durchführen. Wie Versuchspersonen zeigen, die auch dann kooperieren, wenn es ausgeschlossen ist, dass die Gefälligkeit erwidert werden kann, ist das menschliche Gehirn nicht auf die Erfassung »einmaliger Abmachungen« ausgelegt.
Schon sehr früh, noch bevor sie sprechen können, machen Menschen die Erfahrung, dass es sich immer lohnt, anderen zu helfen, und sie lernen, aufmerksam zu registrieren, wer hilfsbereit ist und wer nicht.9 Dieselben Regionen des Gehirns, die aktiviert werden, wenn man jemandem hilft, werden auch dann aktiviert, wenn das Gehirn andere Belohnungen verarbeitet. Jeder, der glaubt, Babys kämen als kleine Egoisten zur Welt, die zunächst einmal sozialisiert werden müssten, damit sie lernen, sich für andere zu interessieren und gute Bürger zu werden, übersieht andere Dispositionen, die genauso arttypisch sind. Menschen nehmen von Geburt an wahr, in welchem Verhältnis sie zu anderen stehen. Immer mehr Forschungsergebnisse überzeugen Neurowissenschaftler davon, dass die von Baruch Spinoza im 17. Jahrhundert aufgestellte Hypothese das Spannungsfeld, in dem Menschen aufwachsen, besser auf den Punkt bringt. »Das Bestreben, in wechselseitiger friedlicher Eintracht mit anderen zu leben, ist eine Fortsetzung des Strebens nach Selbsterhaltung.«
Psychologen und Wirtschaftswissenschaftler gelangen unter dem Eindruck der neuesten empirischen Befunde zu dem Schluss, dass »die Bereitschaft zur Kooperation mit anderen in unserem Gehirn angelegt ist«, und das Gleiche gilt für die Neigung, andere für wechselseitige Kooperation zu belohnen und diejenigen zu bestrafen, die nicht kooperieren.
Es ist vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass die Hilfsbereitschaft am stärksten im direkten Kontakt mit anderen Menschen aktiviert wird. Bestimmte Regionen des menschlichen Gehirns, weite Areale des frontalen und parietotemporalen Kortex sind auf die Verarbeitung und Deutung der Lautäußerungen und der Mimik anderer Menschen spezialisiert. Von den ersten Lebenstagen an beobachtet jeder gesunde Mensch begierig die Personen in seiner Umgebung und lernt, ihre Gesichtsmimik wiederzuerkennen, zu deuten und sogar nachzuahmen. Eine angeborene Fähigkeit zur Einfühlung in andere zeigt sich in den ersten sechs Monaten.
Im frühen Erwachsenenalter sind die meisten von uns wahre Meister darin, die Intentionen anderer Menschen zu erfassen. Wir haben ein so ausgeprägtes Gespür für die inneren Gedanken und Gefühle der Menschen in unserem Umfeld, dass es selbst Fachleuten, die gelernt haben, auf die Not anderer nicht emotional zu reagieren, schwerfällt, ungerührt zu bleiben. Therapeuten sind in dieser Hinsicht mit besonders großen Herausforderungen konfrontiert. Empathie, das grundlegende Handwerkszeug der Psychotherapeuten, ist für diese nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch. Menschen, die sich Tag für Tag mit den Problemen von anderen befassen, sind beruflichen Risiken wie »stellvertretender Traumatisierung« und »Mitgefühlserschöpfung« ausgesetzt, oder sie laufen Gefahr, sich an der Depression von Patienten »anzustecken«.
Neue Entdeckungen von Psychologen, Ökonomen und Neurowissenschaftlern mit evolutionsbiologischem Hintergrund rücken die kooperative Seite des menschlichen Verhaltens in den Mittelpunkt des Interesses. Neuere Erkenntnisse darüber, wie irrational, emotional, mitfühlend und auch selbstlos menschliche Entscheidungen sein können, verändern wissenschaftliche Disziplinen, die lange von der Annahme ausgingen, die Welt sei ein Ort allgegenwärtiger Konkurrenz, wo sich ein rationaler Akteur notwendigerweise egoistisch verhalte. Unter Forschern unterschiedlichster Fachgebiete setzt sich zusehends die Erkenntnis durch, dass Menschen zwar tatsächlich sehr egoistisch sein können, dass sie aber in Anbetracht ihrer empathischen Reaktionen auf andere und ihrer Bereitschaft, anderen zu helfen und mit ihnen zu teilen, zugleich recht ungewöhnlich sind und sich insbesondere von anderen Menschenaffen deutlich unterscheiden.
»Ohne prosoziale Emotionen«, schrieben unlängst zwei Wirtschaftstheoretiker, »wären wir alle Soziopathen, und die menschliche Gesellschaft würde nicht existieren, wie stark die Institutionen des Vertragsrechts, der staatlichen Rechtsdurchsetzung und des sozialen Ansehens auch wären.«
Aus dem Mund von Praktikern der »freudlosen, kalten Wissenschaft« kommt dies einer Revolution gleich. Evolutionsforscher müssen nun entweder neues Beweismaterial beibringen oder neue Denkansätze zu der Frage entwickeln, wie unsere Spezies entstanden ist und was Menschsein bedeutet.
Übersetzung: Thorsten Schmidt
© Berlin Verlag
* Der Terminus »mind reading« wird im Folgenden im Allgemeinen mit »(Fähigkeit) zur Kognition mentaler Zustände« bzw. mit »Mentalisierung« übersetzt, womit die Fähigkeit gemeint ist, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren. A. d. Ü.
Migräneanfall. Obwohl sie nicht die gleiche Sprache sprechen, hilft ihr die fremde Mitreisende vielleicht hält sie ihr ein feuchtes Tuch an den Kopf, worauf die kranke Frau versichert, dass es ihr schon wieder besser gehe. Menschen wollen häufig andere verstehen, selbst verstanden werden und kooperieren. Passagiere, die dicht gedrängt in einem Flugzeug sitzen, sind nur ein Beispiel dafür, wie Empathie und Intersubjektivität in menschlichen Interaktionen routinemäßig genutzt werden. Weil es so oft geschieht, erachten wir die sich daraus ergebenden Übereinkommen als selbstverständlich. Aber stellen wir uns nur einmal vor, statt Menschen würden Individuen einer anderen Menschenaffenart in dieses Flugzeug gezwängt und wären mit den typischen Unannehmlichkeiten an Bord konfrontiert. In Momenten wie diesen ist es angesichts meiner etwas skurrilen soziobiologischen Phantasien vermutlich ganz gut, dass die Fähigkeit zur Kognition mentaler Zustände anderer beim Menschen nur unvollkommen entwickelt ist. Unwillkürlich frage ich mich immer wieder, was geschehen würde, wenn sich meine Mitreisenden plötzlich in Exemplare einer anderen Menschenaffenart verwandeln. Was wäre, wenn ich in einem Flugzeug voller Schimpansen reisen würde? Jeder von uns könnte sich glücklich schätzen, wenn er mit allen zehn Fingern und Zehen von Bord ginge, wenn das Baby noch atmen würde und nicht verstümmelt wäre. Blutige Ohrläppchen und andere Anhängsel lägen verstreut auf dem Mittelgang herum. Wenn man so viele hochimpulsive, einander fremde Individuen auf so engem Raum zusammenpferchen würde, müsste dies zwangsläufig zu einem Gemetzel führen. Hat man es sich erst einmal angewöhnt, Menschen mit anderen Primaten zu vergleichen, lässt sich diese Gewohnheit kaum noch abschütteln. Ich erinnere mich an einen meiner ersten Berichte über das Verhalten von Hanuman-Languren, einer asiatischen Affenart, die ich als junge Frau in Indien erforschte. T. H. Hughes war ein britischer Beamter und Amateur-Naturforscher, der auf den Subkontinent entsandt worden war, um die britische Kolonialregierung zu unterstützen. »Im April 1882, als wir bei dem Dorf Singpur im Distrikt Sohagpur des Bundesstaates Rewa unser Lager aufgeschlagen hatten ..., zog eine rastlose Versammlung von >Hanumanen< meine Aufmerksamkeit auf sich«, schrieb Hughes.
Während er das Treiben beobachtete, brach ein Kampf zwischen zwei Männchen aus das eine begleitete eine Gruppe von Weibchen, das andere war vermutlich ein fremdes Männchen.
»Ich sah, wie sie mit Armen und Zähnen heftig übereinander herfielen. Schon war die Kehle eines der Angreifer aufgeschlitzt, und er lag in den letzten Zügen.« Hughes vermutete nunmehr, dass »dem fremden Männchen der Sieg wohl sicher gewesen wäre, hätte es nicht das Pech gehabt, dass zwei Weibchen auf ihn vorrückten ... Sie stürzten sich auf ihn, und obgleich er seine Feindinnen ritterlich bekämpfte, gelang es einem der Weibchen, ihn am heiligsten Teil seiner Person zu packen und ihn seiner wesentlichsten Anhängsel zu berauben.«3 Beschreibungen von fehlenden Fingern oder Zehen, aufgeschlitzten Ohren und gelegentlichen Kastrationen finden sich verstreut in vielen Forschungsberichten über Freilandbeobachtungen an Languren und Roten Stummelaffen, an Lemuren Madagaskars und an unseren engen Verwandten unter den Menschenaffen. Selbst bei den für ihre vermeintliche Friedfertigkeit so bekannten Bonobos, einer in freier Wildbahn derart seltenen und schwer zugänglichen Schimpansenart, dass die meisten Beobachtungen aus Zoos stammen, müssen nach heftigen Auseinandersetzungen gelegentlich Tierärzte gerufen werden, um einen Hodensack oder Penis wieder anzunähen. Damit will ich nicht sagen, dass Menschen nicht ähnliche Neigungen zu Eifersucht, Entrüstung, Wut, Fremdenfeindlichkeit oder mörderischer Gewalttätigkeit zeigen. Aber verglichen mit unseren nächsten Verwandten sind wir Menschen viel geschickter darin, regelrechte Gemetzel zu vermeiden. Unser spontaner Impuls ist es, miteinander auszukommen. Wir stürzen uns nicht reflexartig auf jeden Fremden, und Menschen fällt es fiel schwerer als Schimpansen, in unmittelbaren körperlichen Auseinandersetzungen Artgenossen umzubringen. Unter den 1,6 Milliarden Passagieren, die alljährlich in Flugzeuge gepfercht und dort nicht immer sanft behandelt werden, sind bislang noch keine Zerstückelungen bekannt geworden. Ziel dieses Buches ist es, die frühen Ursprünge wechselseitigen Verstehens, der Schenkbereitschaft, der Mentalisierungsfähigkeit und weiterer hypersozialer Tendenzen, die dies ermöglichen, zu erklären.
»Festverdrahtete« Kooperationsbereitschaft
Schon von einem zarten Alter an und ohne in einer besonderen Weise geschult worden zu sein, identifizieren sich moderne Menschen mit der Not von Artgenossen und sind von sich aus bereit, selbst fremden Menschen zu helfen und mit ihnen zu teilen. In dieser Hinsicht bildet die Linie von Menschenaffen, der wir angehören, eine Klasse für sich. Denken wir zurück an den Tsunami in Indonesien oder den Hurrikan Katrina. Konfrontiert mit Bildern der Opfer, führte ein Spender nach dem anderen denselben Grund für seine Hilfsbereitschaft an: Er fühle sich besser, nachdem er etwas gespendet habe. Menschen reagierten instinktiv auf den Anblick verängstigter Gesichter und auf die Trauer von Überlebenden, die Verwandte verloren hatten herzzerreißende Auslösereize, die weltweit ausgestrahlt wurden. Diese Fähigkeit, sich mit anderen zu identifizieren und ihr Leid nachzuempfinden, ist nicht bloß erlernt: Sie ist ein Teil von uns. Neurowissenschaftler, die mit Hilfe bildgebender Verfahren die neuronale Aktivität im Gehirn von Menschen untersuchen, baten ihre Versuchspersonen, einem anderen Menschen beispielsweise beim Verzehr eines Apfels zuzusehen, oder sie baten sie bloß, sich jemanden vorzustellen, der einen Apfel isst. Sie fanden heraus, dass jene Hirnareale aktiviert werden, die für die Unterscheidung von Selbst und anderen zuständig sind, sowie die Areale, welche die beim Verzehr eines Apfels benutzten Kaumuskeln steuern. Tests, bei denen Menschen aufgefordert werden, sich andere Personen in einer bestimmten emotionalen Situation vorzustellen, führen zu ähnlichen Ergebnissen.4 Es ist eine Eigenart des Bewusstseins, die Menschen in allen möglichen sozialen Situationen nützt, nicht nur, wenn sie tätiges Mitgefühl zeigen, sondern auch bei Gastfreundschaft, beim Schenken und bei guten Umgangsformen Normen, die alle Kulturen kennen.
Mitgefühl ist nicht unbedingt auf Mitglieder der eigenen Gruppe beschränkt. Der hier abgebildete spanische Soldat wärmt mit seinem Körper einen unterkühlten afrikanischen Flüchtling, der gerettet wurde, als er mit dem Boot von Marokko nach Spanien gelangen wollte. (R. Perales/AP )
Unwillkürliche altruistische Impulse decken sich mit den Befunden von Neurowissenschaftlern, die mit Hilfe der Magnetresonanztomographie (MRT ) die Gehirnaktivität zweier einander fremder Personen sichtbar machten, die in einer Variante eines berühmten Spiels, des »Gefangenen-Dilemmas«, einander paarweise zugeordnet werden. In dieser Situation erhalten zwei Spieler Belohnungen dafür, dass sie entweder kooperieren oder den anderen verraten. Wenn keiner der beiden Spieler den anderen verrät und beide über mehrere aufeinanderfolgende Spielrunden kooperieren, dann gewinnen beide mehr, als sie hätten, wenn sie gar nicht spielen würden. Wenn aber ein Spieler auf eigene Rechnung spielt, während sein Partner kooperiert, gewinnt der Verräter noch mehr, und sein Partner geht leer aus. Wenn beide verraten, kommen sie ganz schlecht weg. Diese Experimente führen zu bemerkenswerten Ergebnissen. Selbst wenn die Versuchsleiter den Spielern sagen, dass nur ein einziges Spiel stattfindet, so dass jeder Spieler bloß eine Chance hat, um zu kooperieren oder zu verraten ohne die Möglichkeit, zum beiderseitigen Vorteil ein weiteres Mal zu kooperieren , entscheiden sich 42 Prozent der zufällig ausgewählten Fremden dennoch dafür, sich kooperativ zu verhalten.
Diese Uneigennützigkeit mutet auf den ersten Blick irrational an, insbesondere aus der Sicht von Ökonomen, die normalerweise mit Wirtschaftsmodellen arbeiten, welche von eigennützigen »rationalen Akteuren« ausgehen und das Individuum in den Mittelpunkt stellen, oder auch für eine Soziobiologin wie mich, die einen Großteil ihres Berufslebens damit verbracht hat, die Konkurrenz zwischen Primatenmännchen um fruchtbare Weibchen, zwischen Weibchen derselben Gruppe um Ressourcen und auch zwischen Nachkommen derselben Familie um Nahrung und Fürsorge zu erforschen. Betrachtet man diese uneigennützigen Verhaltensdispositionen im Rahmen der Frage, wie es der Menschheit gelang, so lange Zeiträume und so einschneidende Klimaschwankungen während der letzten Eiszeit (Pleistozän), die zwischen 1,8 Millionen Jahre und etwa 12 000 Jahre v. Chr. andauerte, zu überstehen, so erweisen sie sich als »mehr als rational«, denn die Menschen waren damals auf bewährte Beziehungen zu anderen angewiesen.
Wo Menschen in kleinen, weit verstreuten Gruppen von untereinander verbundenen Familien leben, die vermutlich immer wieder miteinander in Austausch treten, werden prosoziale Impulse also Neigungen, freiwillig Dinge zu tun, die anderen nützen wahrscheinlich erwidert oder belohnt.
Das Wohl der großzügigen Person und das ihrer Familie hing stärker von der Aufrechterhaltung des Netzes sozialer Beziehungen, das ihr Überleben in guten und schlechten Zeiten sicherte, als von dem unmittelbaren Ergebnis einer bestimmten Transaktion ab. Die Menschen, die man in diesem Jahr großzügig behandelt, indem man ihnen ein Werkzeug leiht oder ihnen Nahrungsmittel schenkt, sind dieselben Menschen, auf die man nächstes Jahr angewiesen ist, wenn die eigenen Wasserlöcher austrocknen oder das Wild im eigenen Siedlungsgebiet verschwindet.
Im Lauf ihres Lebens trafen Menschen immer wieder wenn auch nicht unbedingt häufig mit ihren Nachbarn zusammen. Erwiderte man eine Gefälligkeit nicht, führte dies zum Verlust von Verbündeten oder, schlimmer noch, zu sozialem Ausschluss. Machen wir nun einen Zeitsprung von etlichen Tausend Jahren in jene Labors, in denen Forscher heute solche Experimente durchführen. Wie Versuchspersonen zeigen, die auch dann kooperieren, wenn es ausgeschlossen ist, dass die Gefälligkeit erwidert werden kann, ist das menschliche Gehirn nicht auf die Erfassung »einmaliger Abmachungen« ausgelegt.
Schon sehr früh, noch bevor sie sprechen können, machen Menschen die Erfahrung, dass es sich immer lohnt, anderen zu helfen, und sie lernen, aufmerksam zu registrieren, wer hilfsbereit ist und wer nicht.9 Dieselben Regionen des Gehirns, die aktiviert werden, wenn man jemandem hilft, werden auch dann aktiviert, wenn das Gehirn andere Belohnungen verarbeitet. Jeder, der glaubt, Babys kämen als kleine Egoisten zur Welt, die zunächst einmal sozialisiert werden müssten, damit sie lernen, sich für andere zu interessieren und gute Bürger zu werden, übersieht andere Dispositionen, die genauso arttypisch sind. Menschen nehmen von Geburt an wahr, in welchem Verhältnis sie zu anderen stehen. Immer mehr Forschungsergebnisse überzeugen Neurowissenschaftler davon, dass die von Baruch Spinoza im 17. Jahrhundert aufgestellte Hypothese das Spannungsfeld, in dem Menschen aufwachsen, besser auf den Punkt bringt. »Das Bestreben, in wechselseitiger friedlicher Eintracht mit anderen zu leben, ist eine Fortsetzung des Strebens nach Selbsterhaltung.«
Psychologen und Wirtschaftswissenschaftler gelangen unter dem Eindruck der neuesten empirischen Befunde zu dem Schluss, dass »die Bereitschaft zur Kooperation mit anderen in unserem Gehirn angelegt ist«, und das Gleiche gilt für die Neigung, andere für wechselseitige Kooperation zu belohnen und diejenigen zu bestrafen, die nicht kooperieren.
Es ist vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass die Hilfsbereitschaft am stärksten im direkten Kontakt mit anderen Menschen aktiviert wird. Bestimmte Regionen des menschlichen Gehirns, weite Areale des frontalen und parietotemporalen Kortex sind auf die Verarbeitung und Deutung der Lautäußerungen und der Mimik anderer Menschen spezialisiert. Von den ersten Lebenstagen an beobachtet jeder gesunde Mensch begierig die Personen in seiner Umgebung und lernt, ihre Gesichtsmimik wiederzuerkennen, zu deuten und sogar nachzuahmen. Eine angeborene Fähigkeit zur Einfühlung in andere zeigt sich in den ersten sechs Monaten.
Im frühen Erwachsenenalter sind die meisten von uns wahre Meister darin, die Intentionen anderer Menschen zu erfassen. Wir haben ein so ausgeprägtes Gespür für die inneren Gedanken und Gefühle der Menschen in unserem Umfeld, dass es selbst Fachleuten, die gelernt haben, auf die Not anderer nicht emotional zu reagieren, schwerfällt, ungerührt zu bleiben. Therapeuten sind in dieser Hinsicht mit besonders großen Herausforderungen konfrontiert. Empathie, das grundlegende Handwerkszeug der Psychotherapeuten, ist für diese nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch. Menschen, die sich Tag für Tag mit den Problemen von anderen befassen, sind beruflichen Risiken wie »stellvertretender Traumatisierung« und »Mitgefühlserschöpfung« ausgesetzt, oder sie laufen Gefahr, sich an der Depression von Patienten »anzustecken«.
Neue Entdeckungen von Psychologen, Ökonomen und Neurowissenschaftlern mit evolutionsbiologischem Hintergrund rücken die kooperative Seite des menschlichen Verhaltens in den Mittelpunkt des Interesses. Neuere Erkenntnisse darüber, wie irrational, emotional, mitfühlend und auch selbstlos menschliche Entscheidungen sein können, verändern wissenschaftliche Disziplinen, die lange von der Annahme ausgingen, die Welt sei ein Ort allgegenwärtiger Konkurrenz, wo sich ein rationaler Akteur notwendigerweise egoistisch verhalte. Unter Forschern unterschiedlichster Fachgebiete setzt sich zusehends die Erkenntnis durch, dass Menschen zwar tatsächlich sehr egoistisch sein können, dass sie aber in Anbetracht ihrer empathischen Reaktionen auf andere und ihrer Bereitschaft, anderen zu helfen und mit ihnen zu teilen, zugleich recht ungewöhnlich sind und sich insbesondere von anderen Menschenaffen deutlich unterscheiden.
»Ohne prosoziale Emotionen«, schrieben unlängst zwei Wirtschaftstheoretiker, »wären wir alle Soziopathen, und die menschliche Gesellschaft würde nicht existieren, wie stark die Institutionen des Vertragsrechts, der staatlichen Rechtsdurchsetzung und des sozialen Ansehens auch wären.«
Aus dem Mund von Praktikern der »freudlosen, kalten Wissenschaft« kommt dies einer Revolution gleich. Evolutionsforscher müssen nun entweder neues Beweismaterial beibringen oder neue Denkansätze zu der Frage entwickeln, wie unsere Spezies entstanden ist und was Menschsein bedeutet.
Übersetzung: Thorsten Schmidt
© Berlin Verlag
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Autoren-Porträt von Sarah Blaffer Hrdy
Blaffer Hrdy, SarahSarah Blaffer Hrdy ist emeritierte Professorin für Anthropologie an der University of California und zählt zu den führenden Soziobiologen und Primatenforschern unserer Zeit. Sie ist Mitglied der amerikanischen National Academy of Sciences und veröffentlichte zahllose Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften. Ihr bahnbrechendes Buch »Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution« (2002) erhielt etliche Auszeichnungen, u. a. als »Wissenschaftsbuch des Jahres« Hrdy ist selbst Mutter von drei Kindern und betreibt mit ihrem Mann eine Walnussplantage in Nordkalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah Blaffer Hrdy
- 2010, 544 Seiten, mit Abbildungen, Masse: 14,8 x 22,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Thorsten
- Übersetzer: Thorsten Schmidt
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827008859
- ISBN-13: 9783827008855
- Erscheinungsdatum: 27.02.2010
Rezension zu „Mütter und Andere “
"Bei der Erforschung von Mutterschaft kann niemand Sarah Hrdy das Wasser reichen"MARC D. HAUSER
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