Montagsmenschen
Roman
Als Balletttänzerin und als Yoga-Lehrerin konnte sich die 36-jährige Nevada stets auf ihren Körper verlassen. Plötzlich aber lässt er sie im Stich. Drei Schüler halten ihr dennoch die Treue und kommen immer montags zum Kurs. Als ein Mord geschieht, gesteht...
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Produktinformationen zu „Montagsmenschen “
Klappentext zu „Montagsmenschen “
Als Balletttänzerin und als Yoga-Lehrerin konnte sich die 36-jährige Nevada stets auf ihren Körper verlassen. Plötzlich aber lässt er sie im Stich. Drei Schüler halten ihr dennoch die Treue und kommen immer montags zum Kurs. Als ein Mord geschieht, gesteht eine Schülerin die Tat der Polizei - allerdings ohne sie begangen zu haben, wie Nevada mit Hilfe eines Yoga-Spruchs herausfindet. Milena Mosers Roman knüpft an ihre grossen Erfolge an: treffend beobachtet, spannend und witzig erzählt, verwickelt die Autorin aus der Schweiz vier Menschen in ein tragikomisch-furioses Lebens- und Liebesdrama.
Lese-Probe zu „Montagsmenschen “
Montagsmenschen von Milena MoserNevada
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Sie stand im Hund, und sie fiel auf die Schnauze.
Hinabschauender Hund. Gähnender Hund. Totgeschossener Hund. Als Kind hatte sie einmal ein Bild gesehen, in einer Zeitschrift. Ein versehentlich getroffener Jagdhund. Er lag auf der Seite, dunkles Blut auf dem nassen Herbstlaub unter ihm wie eine Decke. Die Vorderpfoten waren angewinkelt, eng an den Körper gezogen und nach innen gekrümmt, als versuchte er zu beten. Hier lag sie nun. Nevada, die Schneebedeckte. Auf der abgewetzten blauen Yogamatte, die ihr Zuhause war. Ihre Nase drückte gegen den weichen Kunststoff, das Blau flimmerte vor ihren Augen, sie schloss sie.
Endlich schlafen, dachte sie. Einfach liegen bleiben. Nie mehr aufstehen. Seit Wochen quälte sie diese Schwere, als hätte sich die Erdanziehungskraft vervielfacht, sie konnte kaum die Arme heben, den Kopf aufrecht halten. Jede Bewegung kostete sie Kraft, die sie nicht mehr hatte. Seit einigen Wochen wachte sie außerdem jeden Morgen auf wie der tote Jagdhund auf dem Bild: die Handgelenke nach innen geknickt, die Finger gegen die Handflächen gezogen wie von einem Gummiband im Innern der Arme. Das Band war zu kurz. Es spannte, es juckte. Manchmal zog es plötzlich an, im nächsten Moment war es überdehnt, und ihre Finger schlackerten. Der Schmerz war als solcher kaum zu erkennen, ein unterirdisches Summen, aushaltbar, aber konstant. Manchmal flammte ein Jucken auf, das sich zum Stechen steigern konnte. Elektrische Leitungen spannten sich zu den Ellbogen hinauf, den Schultern. Ein Surren, Summen, etwas wie Zahnweh, nur eben in den Händen. Sie ertappte sich immer öfter dabei, wie sie die Hände rang. Wie die Mutter Gottes, dachte sie, und dann: Wo kommt das bloß her? Betete sie nicht seit zehn Jahren vor den Altaren hinduistischer Gottheiten? Mit einer Hand umfasste sie ihr Handgelenk und presste es sanft zusammen, als ließen sich die Nervenenden zu rückdämmen. Als ließe sich der Schmerz ins Innere des Körpers zurückdrängen, dorthin, wo er wohnte, dorthin, wo er schlief.
Nevada war sechsunddreißig Jahre alt und Yogalehrerin. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf und übte zwei Stunden lang für sich. Sie unterrichtete jeden Tag, manchmal zweimal. Sie aß seit zwanzig Jahren kein Fleisch mehr, sie spülte sich die Nasenlöcher mit Salzwasser aus, sie konnte die Füße im Nacken verschränken, während sie auf den Händen balancierte, sie konnte ihren großen Bauchmuskel hervortreten und rotieren lassen wie einen Quirl. Sie war so gesund, wie ein Mensch nur sein konnte. Als Kind hatte sie Ballett getanzt, sie wusste, was sie ihrem Körper abverlangen konnte. Nevada übte noch härter, noch länger. Die Handgelenke kräftigen, dachte sie und baute Chatturangha Dandasana, die Yoga-Liegestütze, ein, wo sie nur konnte.
Der Schmerz wurde stärker. Sie rieb sich die Handgelenke. Zog die Pulloverärmel bis über die Fingerspitzen. Dann kroch der Schmerz in die Schulter, und sie dachte, das sei ein gutes Zeichen. Etwas löst sich, dachte sie. Wenn sie nur nicht so müde wäre.
Sie wickelte elastische Binden um die Handgelenke. Dann konnte sie deren Druck nicht ertragen und riss sie wieder hinunter. Sie musste ihre Ringe abstreifen. Der dünne rote Faden, den sie seit ihrem letzten Meditationsretreat umgebunden trug, schien mitten in der Nacht Feuer zu fangen und sich in ihre Haut zu brennen. Sie biss ihn mit den Zähnen durch wie ein gefangenes Tier seine Fesseln. Doch ihre Fesseln lagen tiefer. Unter der Haut. Sie kam nicht an sie heran.
Danach hatte sie lange wach gelegen, die Hände zwischen den Brüsten versorgt, und sich gefragt, was es wohl für karmische Konsequenzen haben würde, dass sie den von ihrem Meditationslehrer gesegneten Faden durchgebissen hatte. Ob sie ihn anrufen, um einen neuen Faden bitten konnte? War der Schmerz bereits die Strafe? Wenn ja, wofür?
Der Faden war mit einem Wunsch verbunden gewesen, der in Erfüllung gehen sollte, wenn der Faden sich auflöst. Das hatte sie jetzt wohl verhindert. An ihren Wunsch konnte sie sich ohnehin nicht mehr erinnern. Etwas Ungefähres vermutlich, wie «Klarheit». Jetzt hatte sie nur noch einen Wunsch, und der war klar: Aufhören! Es soll aufhören! Die Stunde am Montagabend war eine ihrer liebsten. Sie kannte die meisten ihrer Schüler schon länger. Lakshmi, der das Yogastudio am Wasser gehörte, fand, sie unterrichte zu viel.
«Du dominierst das Studio», hatte sie gesagt. «Lass doch auch mal die jüngeren Lehrerinnen ran!» Die Yogalehrerinnen, die sie selber ausbildete, wollten schließlich beschäftigt sein. Doch Nevadas Klassen waren immer voll. Ihre Schüler schätzten ihre anstrengenden und klarstrukturierten Lektionen. Sie wollten schwitzen, nicht beten. Nevada verlor keine Zeit mit dem Rezitieren unverständlicher Sanskritverse.
Bei ihr gab es nur einatmen, die Arme zur Decke strecken, ausatmen, mit den Händen den Fußboden berühren.
Zwanzig Minuten bevor die Lektion begann, öffnete Nevada den Raum, rollte die Matten aus, zündete eine Kerze an. Dann setzte sie sich unter den kleinen Altar, auf dem eine Statue des Elefantengottes Ganesha neben einer Vase mit frischen Blumen stand.
Ganesha, mach die Schmerzen weg, dachte Nevada. Aufgabe des Elefantengottes war es schließlich, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Allerdings auch, sie einem vor die Füße zu legen. Es war gut möglich, dass Ganesha ihr diese Schmerzen untergejubelt hatte. Doch warum? Sollte sie aus dem Gleichtritt gebracht, gebremst werden? Worüber sollte sie nachdenken? Ganesha, ich tue alles, aber bitte nimm mir den Schmerz!
Nevada bezweifelte, dass Ganesha sich erbarmen würde. Er war hart im Nehmen, schließlich hatte ihn sein eigener Vater aus Versehen geköpft und dann in der Eile mit einem Elefantenkopf versehen, dem erst noch ein Stoßzahn fehlte. Brennende Hände konnten ihn nicht beeindrucken. Nevada öffnete die Augen und richtete sich auf. Sie saß mit gekreuzten Beinen und im Schoß gefalteten Händen. So beobachtete sie die eintreffenden Schüler. In der ersten Reihe sah sie Poppy, eine ihrer treuesten Schülerinnen, die ihre Matte immer auf denselben Platz legte, links, gleich bei der Tür. Poppy starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Als ob sie sich etwas von Nevada erhoffte. Eine Antwort? Nevada schien diese Hoffnung jedes Mal neu zu enttäuschen, und doch starrte Poppy sie zu Beginn jeder Stunde so an, unbeirrbar.
Später würde sich ihr Blick verlieren. Poppy würde Nevadas Ansagen ignorieren und eine wahllose Abfolge von Asanas ausführen, die ihr eine innere Stimme zu diktieren schien.
Weiter hinten erkannte Nevada Marie, die nur unregelmäßig kam. Sie war Oberärztin im nahegelegenen Kantonsspital und arbeitete oft abends oder nachts. Marie hatte die Augen fest geschlossen, die Stirn gerunzelt, wie ein Kind, das innerlich bis zehn zählt. Marie schlief manchmal in der Endentspannung ein, auf dem Rücken liegend, den Mund leicht geöffnet, den Atem zu einem leisen Schnarchen verdickt.
Liegen. Schlafen. Nur nicht daran denken. Das Bild eines liegenden Körpers war schon zu viel. Sie war so müde. Wie konnte ein Mensch so müde sein? Sie konnte sich kaum aufrecht halten. Hatte sie geschlafen? Sie wusste es nicht mehr.
«Einatmen.» Sie hob ihre Hände über den Kopf, zog sie durch immer zähflüssigeren, schnell härtenden Beton. Als sich die Handflächen über ihrem Kopf berührten, weinte sie beinahe. Sie presste die Lippen zusammen.
«Ausatmen.» Sie beugte sich vor. Ihre Arme schlackerten. Sie führte die Gruppe durch die ersten Sonnengrüße, langsam, da war ein Neuer, ein junger Mann in modischer Turnhose, der mit Mühe den Rücken beugte, die Hände nach unten streckte, weit vom Fußboden entfernt. Immer wieder hob er den Kopf, schaute sich im Raum um, sein Blick huschte verstohlen über die Frauenkörper, die ihn umgaben. Später würde sie den Pfau vorführen, Männer reagierten auf solche Demonstrationen der Überlegenheit.
«Chatturangha Dandasana», sagte sie.
Langsam senkte sich ihr Körper in die Stütze, flach wie ein Brett. Eine Handbreit über dem Fußboden hielt sie inne, wandte den Kopf zur Klasse, die Hälfte der Schüler lag flach auf dem Bauch. Am liebsten hätte sie es ihnen gleichgetan. Diese Schwere, die sie seit Wochen begleitete, drückte sie nieder.
«Urdvha Mukho Svanasana, der hinaufschauende Hund.»
Sie streckte die Arme durch, reckte den Oberkörper nach oben, legte den Kopf in den Nacken, sie hatte noch nie einen Hund in dieser Stellung gesehen. «Ausatmen, Adho Mukha Svanasana, der hinabschauende Hund.»
Fünfzehn Hinterteile reckten sich in die Luft.
«Weiteratmen», befahl Nevada. Sie wollte aufstehen, durch den Raum gehen, ihre Hand auf den Rücken des Neuen legen, seine Stellung korrigieren. Sie sah, wie sein Blick wanderte, ihr Geist wanderte mit, und plötzlich knickten ihre Handgelenke weg. Ihr Hintern blieb einen Augenblick in der Luft hängen, als könnte er ihren Körper dort verankern. Im nächsten Augenblick lag sie flach auf der Matte. Blut füllte ihren Mund.
© Nagel und Kimche im Carl Hanser Verlag, München
Sie stand im Hund, und sie fiel auf die Schnauze.
Hinabschauender Hund. Gähnender Hund. Totgeschossener Hund. Als Kind hatte sie einmal ein Bild gesehen, in einer Zeitschrift. Ein versehentlich getroffener Jagdhund. Er lag auf der Seite, dunkles Blut auf dem nassen Herbstlaub unter ihm wie eine Decke. Die Vorderpfoten waren angewinkelt, eng an den Körper gezogen und nach innen gekrümmt, als versuchte er zu beten. Hier lag sie nun. Nevada, die Schneebedeckte. Auf der abgewetzten blauen Yogamatte, die ihr Zuhause war. Ihre Nase drückte gegen den weichen Kunststoff, das Blau flimmerte vor ihren Augen, sie schloss sie.
Endlich schlafen, dachte sie. Einfach liegen bleiben. Nie mehr aufstehen. Seit Wochen quälte sie diese Schwere, als hätte sich die Erdanziehungskraft vervielfacht, sie konnte kaum die Arme heben, den Kopf aufrecht halten. Jede Bewegung kostete sie Kraft, die sie nicht mehr hatte. Seit einigen Wochen wachte sie außerdem jeden Morgen auf wie der tote Jagdhund auf dem Bild: die Handgelenke nach innen geknickt, die Finger gegen die Handflächen gezogen wie von einem Gummiband im Innern der Arme. Das Band war zu kurz. Es spannte, es juckte. Manchmal zog es plötzlich an, im nächsten Moment war es überdehnt, und ihre Finger schlackerten. Der Schmerz war als solcher kaum zu erkennen, ein unterirdisches Summen, aushaltbar, aber konstant. Manchmal flammte ein Jucken auf, das sich zum Stechen steigern konnte. Elektrische Leitungen spannten sich zu den Ellbogen hinauf, den Schultern. Ein Surren, Summen, etwas wie Zahnweh, nur eben in den Händen. Sie ertappte sich immer öfter dabei, wie sie die Hände rang. Wie die Mutter Gottes, dachte sie, und dann: Wo kommt das bloß her? Betete sie nicht seit zehn Jahren vor den Altaren hinduistischer Gottheiten? Mit einer Hand umfasste sie ihr Handgelenk und presste es sanft zusammen, als ließen sich die Nervenenden zu rückdämmen. Als ließe sich der Schmerz ins Innere des Körpers zurückdrängen, dorthin, wo er wohnte, dorthin, wo er schlief.
Nevada war sechsunddreißig Jahre alt und Yogalehrerin. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf und übte zwei Stunden lang für sich. Sie unterrichtete jeden Tag, manchmal zweimal. Sie aß seit zwanzig Jahren kein Fleisch mehr, sie spülte sich die Nasenlöcher mit Salzwasser aus, sie konnte die Füße im Nacken verschränken, während sie auf den Händen balancierte, sie konnte ihren großen Bauchmuskel hervortreten und rotieren lassen wie einen Quirl. Sie war so gesund, wie ein Mensch nur sein konnte. Als Kind hatte sie Ballett getanzt, sie wusste, was sie ihrem Körper abverlangen konnte. Nevada übte noch härter, noch länger. Die Handgelenke kräftigen, dachte sie und baute Chatturangha Dandasana, die Yoga-Liegestütze, ein, wo sie nur konnte.
Der Schmerz wurde stärker. Sie rieb sich die Handgelenke. Zog die Pulloverärmel bis über die Fingerspitzen. Dann kroch der Schmerz in die Schulter, und sie dachte, das sei ein gutes Zeichen. Etwas löst sich, dachte sie. Wenn sie nur nicht so müde wäre.
Sie wickelte elastische Binden um die Handgelenke. Dann konnte sie deren Druck nicht ertragen und riss sie wieder hinunter. Sie musste ihre Ringe abstreifen. Der dünne rote Faden, den sie seit ihrem letzten Meditationsretreat umgebunden trug, schien mitten in der Nacht Feuer zu fangen und sich in ihre Haut zu brennen. Sie biss ihn mit den Zähnen durch wie ein gefangenes Tier seine Fesseln. Doch ihre Fesseln lagen tiefer. Unter der Haut. Sie kam nicht an sie heran.
Danach hatte sie lange wach gelegen, die Hände zwischen den Brüsten versorgt, und sich gefragt, was es wohl für karmische Konsequenzen haben würde, dass sie den von ihrem Meditationslehrer gesegneten Faden durchgebissen hatte. Ob sie ihn anrufen, um einen neuen Faden bitten konnte? War der Schmerz bereits die Strafe? Wenn ja, wofür?
Der Faden war mit einem Wunsch verbunden gewesen, der in Erfüllung gehen sollte, wenn der Faden sich auflöst. Das hatte sie jetzt wohl verhindert. An ihren Wunsch konnte sie sich ohnehin nicht mehr erinnern. Etwas Ungefähres vermutlich, wie «Klarheit». Jetzt hatte sie nur noch einen Wunsch, und der war klar: Aufhören! Es soll aufhören! Die Stunde am Montagabend war eine ihrer liebsten. Sie kannte die meisten ihrer Schüler schon länger. Lakshmi, der das Yogastudio am Wasser gehörte, fand, sie unterrichte zu viel.
«Du dominierst das Studio», hatte sie gesagt. «Lass doch auch mal die jüngeren Lehrerinnen ran!» Die Yogalehrerinnen, die sie selber ausbildete, wollten schließlich beschäftigt sein. Doch Nevadas Klassen waren immer voll. Ihre Schüler schätzten ihre anstrengenden und klarstrukturierten Lektionen. Sie wollten schwitzen, nicht beten. Nevada verlor keine Zeit mit dem Rezitieren unverständlicher Sanskritverse.
Bei ihr gab es nur einatmen, die Arme zur Decke strecken, ausatmen, mit den Händen den Fußboden berühren.
Zwanzig Minuten bevor die Lektion begann, öffnete Nevada den Raum, rollte die Matten aus, zündete eine Kerze an. Dann setzte sie sich unter den kleinen Altar, auf dem eine Statue des Elefantengottes Ganesha neben einer Vase mit frischen Blumen stand.
Ganesha, mach die Schmerzen weg, dachte Nevada. Aufgabe des Elefantengottes war es schließlich, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Allerdings auch, sie einem vor die Füße zu legen. Es war gut möglich, dass Ganesha ihr diese Schmerzen untergejubelt hatte. Doch warum? Sollte sie aus dem Gleichtritt gebracht, gebremst werden? Worüber sollte sie nachdenken? Ganesha, ich tue alles, aber bitte nimm mir den Schmerz!
Nevada bezweifelte, dass Ganesha sich erbarmen würde. Er war hart im Nehmen, schließlich hatte ihn sein eigener Vater aus Versehen geköpft und dann in der Eile mit einem Elefantenkopf versehen, dem erst noch ein Stoßzahn fehlte. Brennende Hände konnten ihn nicht beeindrucken. Nevada öffnete die Augen und richtete sich auf. Sie saß mit gekreuzten Beinen und im Schoß gefalteten Händen. So beobachtete sie die eintreffenden Schüler. In der ersten Reihe sah sie Poppy, eine ihrer treuesten Schülerinnen, die ihre Matte immer auf denselben Platz legte, links, gleich bei der Tür. Poppy starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Als ob sie sich etwas von Nevada erhoffte. Eine Antwort? Nevada schien diese Hoffnung jedes Mal neu zu enttäuschen, und doch starrte Poppy sie zu Beginn jeder Stunde so an, unbeirrbar.
Später würde sich ihr Blick verlieren. Poppy würde Nevadas Ansagen ignorieren und eine wahllose Abfolge von Asanas ausführen, die ihr eine innere Stimme zu diktieren schien.
Weiter hinten erkannte Nevada Marie, die nur unregelmäßig kam. Sie war Oberärztin im nahegelegenen Kantonsspital und arbeitete oft abends oder nachts. Marie hatte die Augen fest geschlossen, die Stirn gerunzelt, wie ein Kind, das innerlich bis zehn zählt. Marie schlief manchmal in der Endentspannung ein, auf dem Rücken liegend, den Mund leicht geöffnet, den Atem zu einem leisen Schnarchen verdickt.
Liegen. Schlafen. Nur nicht daran denken. Das Bild eines liegenden Körpers war schon zu viel. Sie war so müde. Wie konnte ein Mensch so müde sein? Sie konnte sich kaum aufrecht halten. Hatte sie geschlafen? Sie wusste es nicht mehr.
«Einatmen.» Sie hob ihre Hände über den Kopf, zog sie durch immer zähflüssigeren, schnell härtenden Beton. Als sich die Handflächen über ihrem Kopf berührten, weinte sie beinahe. Sie presste die Lippen zusammen.
«Ausatmen.» Sie beugte sich vor. Ihre Arme schlackerten. Sie führte die Gruppe durch die ersten Sonnengrüße, langsam, da war ein Neuer, ein junger Mann in modischer Turnhose, der mit Mühe den Rücken beugte, die Hände nach unten streckte, weit vom Fußboden entfernt. Immer wieder hob er den Kopf, schaute sich im Raum um, sein Blick huschte verstohlen über die Frauenkörper, die ihn umgaben. Später würde sie den Pfau vorführen, Männer reagierten auf solche Demonstrationen der Überlegenheit.
«Chatturangha Dandasana», sagte sie.
Langsam senkte sich ihr Körper in die Stütze, flach wie ein Brett. Eine Handbreit über dem Fußboden hielt sie inne, wandte den Kopf zur Klasse, die Hälfte der Schüler lag flach auf dem Bauch. Am liebsten hätte sie es ihnen gleichgetan. Diese Schwere, die sie seit Wochen begleitete, drückte sie nieder.
«Urdvha Mukho Svanasana, der hinaufschauende Hund.»
Sie streckte die Arme durch, reckte den Oberkörper nach oben, legte den Kopf in den Nacken, sie hatte noch nie einen Hund in dieser Stellung gesehen. «Ausatmen, Adho Mukha Svanasana, der hinabschauende Hund.»
Fünfzehn Hinterteile reckten sich in die Luft.
«Weiteratmen», befahl Nevada. Sie wollte aufstehen, durch den Raum gehen, ihre Hand auf den Rücken des Neuen legen, seine Stellung korrigieren. Sie sah, wie sein Blick wanderte, ihr Geist wanderte mit, und plötzlich knickten ihre Handgelenke weg. Ihr Hintern blieb einen Augenblick in der Luft hängen, als könnte er ihren Körper dort verankern. Im nächsten Augenblick lag sie flach auf der Matte. Blut füllte ihren Mund.
© Nagel und Kimche im Carl Hanser Verlag, München
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Bibliographische Angaben
- Autor: Milena Moser
- 2012, 1. Auflage, 394 Seiten, Masse: 15,4 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Nagel & Kimche
- ISBN-10: 3312004969
- ISBN-13: 9783312004966
- Erscheinungsdatum: 01.02.2012
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