Mittsommersehnsucht
Ein Norwegenroman
Endlich kann die junge Ärztin Andrea zu ihrem Jonas nach Norwegen ziehen doch er betrügt sie mit einer anderen. Kurzerhand bucht sie eine Passage auf den Hurtigruten. Dort lernt sie einen geheimnisvollen jungen Mann kennen, der ihre Gefühle gewaltig in Aufruhr bringt.
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Produktinformationen zu „Mittsommersehnsucht “
Endlich kann die junge Ärztin Andrea zu ihrem Jonas nach Norwegen ziehen doch er betrügt sie mit einer anderen. Kurzerhand bucht sie eine Passage auf den Hurtigruten. Dort lernt sie einen geheimnisvollen jungen Mann kennen, der ihre Gefühle gewaltig in Aufruhr bringt.
Klappentext zu „Mittsommersehnsucht “
Alles hat die junge Ärztin Andrea für ihre grosse Liebe, Jonas Fredriksen, aufgegeben: ihren Job, ihre Heimat, ihre Freunde. Doch als sie im norwegischen Bergen ankommt, erwischt sie den Geliebten in flagranti. Kurzerhand bucht sie eine Passage mit den Hurtigruten! Zwischen überwältigenden Fjorden und der Weite des Meeres findet sie Ruhe und neue Freunde. Aber eines Tages wird ihr Können als Ärztin gefragt, und sie gerät in einen Strudel aus kriminellen Machenschaften und Gefühlen für einen geheimnisvollen jungen Mann ...Lese-Probe zu „Mittsommersehnsucht “
Mittsommersehnsucht von Elfie Ligensa1
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Zum Hotel Peer Gynt bitte.« Andreas Herz begann nervös zu schlagen, als sie sich auf die Rückbank des Taxis sinken ließ. Der Fahrer, ein grauhaariger Mann mit Wikingerbart und einer etwas zu großen Nase, nickte. Er hatte den silberfarbenen Rollkoffer und die braune Arzttasche, die Andrea mit im Flugzeug gehabt hatte, im Kofferraum verstaut und setzte sich jetzt mit einem unterdrückten Seufzer hinters Lenkrad.
»Das liegt aber am Stadtrand«, erklärte er und sah seinen Fahrgast im Rückspiegel fragend an.
»Ich weiß.«
»Ja, dann ...« Er fädelte sich in den Verkehr ein. Der Flughafen von Bergen lag etwa fünfzehn Kilometer südlich der Stadt. Achtlos schaute Andrea Sandberg aus dem Fenster. Sie war bestimmt schon ein Dutzend Mal hier gewesen, die Umgebung des Flughafens war so uninspirierend wie die der meisten Flughäfen der Welt. Ein paar Werbetafeln gaben Hinweise auf Bootsausflüge zum nahe gelegenen Geiranger-Fjord oder zu den nördlichen Gebieten, dorthin, wo die Sami mit ihren Rentierherden daheim waren. Ein Foto zeigte eine hölzerne Stabkirche, ein anderes die Weltkugel am Polarkreis.
Sekundenlang schloss die junge Ärztin die Augen. Am Fuß der eisernen Weltkugel hatte ihr Jonas seine Liebe gestanden. Nach einer romantischen Nacht in einem Hotel in Trondheim waren sie zu dem weitläufigen Nordkap- Plateau weitergefahren. Wenn man hier stand, hatte man wahrlich den Eindruck, am Ende der Welt angelangt zu sein. Es war ein trockener, heller Tag gewesen, fast hundert Touristen wurden Zeugen, als Jonas sie umarmte, lange küsste und sagte: »Ich liebe dich, schöne Doktorin, und ich würde dich am liebsten nie mehr loslassen. Seit wir uns getroffen haben, muss ich immerzu an dich denken. « So etwas wie Ironie hatte in seinen Worten mitgeschwungen, als er hinzufügte: »Das muss doch Schicksal sein, meinst du nicht auch? In Kapstadt begegnen wir uns, machen gemeinsam Urlaub in diesem Traumland ... und ich verliere mein Herz an dich.«
Mir ist es ganz genauso ergangen, dachte Andrea. Dieser Urlaub - ihr erster, seit sie als Chirurgin an der Düsseldorfer Universitätsklinik arbeitete - war auch ihr schicksalhaft erschienen. Und Jonas, ein blonder Hüne mit dem Aussehen eines jungen Robert Redford, schien der Mann zu sein, der für sie bestimmt war.
So oft es ging, besuchte sie ihn in seiner Heimat. Jonas war nicht so leicht abkömmlich wie sie, denn er leitete in Bergen ein großes Hotel, musste fast rund um die Uhr ansprechbar sein. Und so kam Andrea, wann immer sie einige freie Tage angesammelt hatte, in die alte Hansestadt, die so reizvoll war, dass sie sich hier beinahe heimisch fühlte. Und nach dem dritten Besuch beschloss sie, sich an einer Klinik in Bergen zu bewerben. Ärzte aus dem Ausland waren in Norwegen gern gesehen, und so bekam sie bereits nach wenigen Wochen eine Zusage.
Jonas ... sie freute sich so darauf, ihn zu überraschen!
Drei Wochen früher als geplant hatte sie ihre Arbeit in Düsseldorf beenden können und war spontan in das nächste Flugzeug gestiegen. Nur zwei Koffer hatte sie dabei, alles andere war verschifft worden und würde sicher wenig später als sie selbst in Jonas' Hotel eintreffen.
»Wir sind da. Ich wünsche einen schönen Aufenthalt in Bergen«, sagte der Taxifahrer, als sie den Stadtteil Fana erreicht hatten, und lud ihr Gepäck aus. Andrea glaubte die nahe See zu riechen, den unverwechselbaren Geruch nach Salz und Teer, nach Fisch und Tang. Aber das war wohl nur Einbildung. »Danke.« Sie gab ein üppiges Trinkgeld. Warum sollte der Mann mit der viel zu großen, leicht geröteten Nase nicht auch ein wenig von dem Glück, das sie verspürte, abbekommen? Er nickte nur zum Dank und ging, sich den Bart streichend, zurück zur Fahrertür.
Ein Portier, der Andrea nicht kannte, begrüßte sie höflich und fragte sie, wie lange sie bleiben wolle.
»Das kommt ganz auf Ihren Chef an«, erwiderte Andrea lächelnd. »Lassen Sie bitte das Gepäck in sein Büro bringen. Ich gehe gleich hinauf in seine Privaträume.«
»Aber ...« Der Portier, etwa sechzig Jahre alt und mit einem ähnlichen Vollbart wie der Taxifahrer, zuckte nur mit den Schultern und zeigte zum Lift. »Dann kennen Sie ja den Weg.« Er sprach ein fast akzentfreies Deutsch.
Kam es ihr nur so vor oder war tatsächlich alles Freundliche, Verbindliche aus seiner Miene verschwunden? Andrea zuckte unmerklich mit den Schultern. Die Vorfreude auf das Wiedersehen hatte sie wohl ein wenig verwirrt, denn als sie sich noch einmal nach dem Mann umblickte, sah er ihr mit einem unverbindlichen Lächeln nach.
Im vierten Stock des Hotels, das zur Südseite hin einen Blick auf das Grieg-Haus gewährte, besaß Jonas Fredriksen eine Wohnung, die durch eine Wendeltreppe mit einem darüber liegenden Maisonettebereich verbunden war. Nur drei Räume befanden sich hier oben - ein geräumiges Schlafzimmer, an das sich ein Bad anschloss, eine Küche und ein Wintergarten, der eine fantastische Aussicht bot. Weit dehnten sich die grünen Hügel bis hinunter zum Fjord. Dort, in einem Felsengrab, lagen Edvard Grieg und seine Frau Nina begraben. Bei ihrem ersten Besuch hier war Andrea, so wie viele Touristen, dorthin gegangen und hatte an dem Gedenkstein eine kurze Andacht gehalten.
Sie wollte gerade an Jonas' Wohnungstür läuten, als sie sah, dass die Tür nur angelehnt war. Sicher war Jonas für einen Moment nach oben gegangen, um etwas zu holen. Es war schon recht praktisch, wenn man gleich über dem Arbeitsplatz wohnte.
Sie lächelte und trat ein. Die fast rechteckige Diele war mit hellen Ahorndielen ausgelegt. Links befand sich ein ebenfalls aus Ahorn gefertigter Einbauschrank, rechts stand eine bunt bemalte kleine Truhe, über der zwei rechteckige Lampen hingen. Geradeaus ging es zum großen Wintergarten, rechts zur Küche, die jedoch kaum benutzt wurde. Der Hotelier aß meist mit seinen Leuten zusammen. Jonas legte Wert darauf, dass auch das Essen für die Hotelangestellten gut und reichhaltig war.
»Jonas?«
Keine Antwort. Dabei war Andrea sicher, Geräusche gehört zu haben.
Langsam, zögernd stieg sie die helle Holztreppe hinauf - und glaubte im nächsten Moment, einen Schlag in die Magengrube bekommen zu haben. Das war ein schlechter Film, in den sie da hineingeraten war! So etwas passierte vielleicht in billigen Soaps, doch nicht ihr, nicht im wirklichen Leben.
Aber das Bild blieb: Jonas lag nackt mit einem langbeinigen, blutjungen Mädchen auf seinem Bett, über das eine rotbraune Fuchsfell-Decke gebreitet war. Die beiden waren so intensiv miteinander beschäftigt, dass sie Andrea nicht bemerkten. Neben dem Bett stand ein weißer Barwagen, darauf ein Champagnerkübel, zwei Gläser, eine Silbervase mit einer Rose - das übliche Szenario einer routinierten Verführung, schoss es Andrea durch den Kopf. Bei ihren ersten beiden Besuchen war auch sie von Jonas mit Champagner, frischen Erdbeeren und roten Rosen begrüßt worden. Sie hatte es romantisch gefunden und erinnerte sich jetzt noch genau daran, wie ausgiebig und leidenschaftlich Jonas und sie das Wiedersehen gefeiert hatten.
War das wirklich erst ein halbes Jahr her?
Andrea biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Nur nicht schreien jetzt. Nur nicht nach der bauchigen Tonvase greifen, die auf einem Sideboard links von der Tür stand und geradezu dazu einlud, nach Jonas geschleudert zu werden. Nur nicht weinen ...
Nur weg! Fort aus dem Haus, so weit weg wie möglich von Jonas!
Wie blind rannte sie die Treppen und dann den Hang hinunter, stolperte zweimal über kleine Steinbrocken, die von Grasbüscheln verdeckt waren, rannte an Touristen vorbei, die das Grieg-Haus Troldhaugen und die Grabstätte des Komponisten besichtigen wollten.
Die irritierten, teils mitleidigen, teils verständnislosen
Blicke, die ihr folgten, bemerkte sie nicht. Erst als sie Seitenstechen bekam und nach Luft ringend am Straßenrand stehen bleiben musste, kam sie wieder zu sich. Die Enttäuschung wich Wut, aus Trauer wurde gerechter Zorn.
»Scheißkerl!«, schimpfte sie laut vor sich hin. »Verdammter Scheißkerl!«
»Junge Frau ... wollen Sie zurück in die Stadt?« Der bärtige Taxifahrer, der sie hergebracht hatte, stand plötzlich neben ihr. Die dicke Nase leuchtete blaurot, doch seine Augen waren voller Wärme auf Andrea gerichtet. »Ich fahre zum Hafen. Zur Anlegestelle der Hurtigruten.« Er strich sich über den Bart und sah sie erwartungsvoll an. »Na, wäre das nichts für Sie, so eine Fahrt mit dem Postschiff? Die Reise würde Sie auf andere Gedanken bringen. «
Als sie nicht antwortete, sagte er: »Warten Sie hier. Ich hole Ihr Gepäck.«
»Ja, aber ...« Sie schüttelte den Kopf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihren Koffer und die Arzttasche im Hotel gelassen hatte.
Der Alte reagierte nicht, er wendete das Taxi, fuhr zurück zum Hotel - und war knappe fünf Minuten später wieder bei ihr. Andrea war langsam, mit gesenktem Kopf, weitergegangen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es tat gut, weinen zu können, es nahm den Druck von ihrer Brust. Und dennoch blieben tausend quälende Gedanken: Warum tat ihr Jonas das an? Was faszinierte ihn an dem blonden Mädchen? Ihre perfekte Figur? Die Jugend? Ihre Unbeschwertheit? Andrea konnte sich gut vorstellen, dass die blonde Norwegerin das Leben unbekümmert genoss, dass sie von den Pflichten des täglichen Lebens, die ihren eigenen Alltag prägten, noch nicht viel wusste - oder wissen wollte.
Seinetwegen hab ich daheim alles aufgegeben ... der Gedanke ließ Andrea noch heftiger weinen. Sie hatte an die wahre Liebe geglaubt, war sicher gewesen, mit Jonas in Norwegen ein neues Leben anfangen zu können. Sie hatten doch so viele Pläne gemacht. Hatten sich die gemeinsame Zukunft in vielen Stunden ausgemalt. Und jetzt? Alles vorbei. Von einer Sekunde zur anderen war ein Traum geplatzt.
Warum nur? Warum? Die Frage, auf die sie keine Antwort wusste, tat körperlich weh.
»Zum Hafen, nicht wahr?«, fragte der Taxifahrer.
Als Andrea nickte, glitt ein kleines Lächeln über das faltige Gesicht des Mannes. »In zwei Stunden geht ein Schiff nach Norden«, erklärte er mit ruhiger dunkler Stimme. »Buchen Sie eine Passage, Sie werden es nicht bereuen. «
»Aber ...«
Er wischte den Einwand, den sie noch nicht mal ausgesprochen hatte, mit einer kleinen Handbewegung weg. »Sie wollen doch in meiner Heimat bleiben, oder?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er beinahe beschwörend fort: »Sie werden bleiben. Und glücklich werden. «
Durch das halb geöffnete Fenster wehte der Wind den Geruch nach Salz und Dieselöl, nach Fisch und Tang. Doch es duftete auch nach frischem Gebäck, und als das schwarze Taxi an einem Bäckereistand vorüberfuhr, knurrte Andreas Magen unüberhörbar. Sie biss sich auf die Lippe. Vor lauter Vorfreude auf Jonas hatte sie kaum etwas zu sich genommen vor dem Abflug. Und den Snack im Flieger hatte sie ignoriert, nur zwei Kaffee getrunken.
In den Lärm der Autos mischten sich laute Rufe der vielen Fischhändler, die fangfrische Lachse, Dorsch und Krabben anboten. Hin und wieder erklang das laute Tuten eines Schiffes, das auslief. Große Fähren und kleinere Ausflugsschiffe verließen den Hafenbereich oder liefen ein. Fischerboote und ein paar Segelyachten nahmen von einem anderen Hafenbereich aus Kurs hoch in den Norden.
»Dort liegt die Midnatsol, eines der schönsten Schiffe der Hurtigruten-Flotte.« Der bärtige Chauffeur wies mit der Hand nach links, wo am Kai ein Schiff lag, das fast schon die Ausmaße eines Kreuzfahrtschiffes besaß. »Ein Neffe von mir ist dort Erster Offizier. Ich kann mit ihm reden ... er wird bestimmt noch einen Platz für Sie haben. Ach, übrigens, ich heiße Bengt.«
»Und ich Andrea.« Der Wind blies ihr eine blonde Locke ins Gesicht, die sich aus der lässig zusammengebundenen Frisur gelöst hatte. Während ihres Dienstes trug Andrea das blonde Haar meist hochgesteckt, aber Jonas liebte es, seine Finger in den langen Haaren zu verstecken. Bei der Erinnerung an seine Hände, die erst das Haar, dann den Nacken und später ihren ganzen Körper gestreichelt hatten, bekam Andrea eine Gänsehaut.
Eine Möwe, die dicht über der Frontscheibe des Taxis hinwegflog, riss sie aus den Gedanken. Mit einer fast unwilligen Bewegung steckte sie die Haarlocke in das Gummiband, mit dem sie die Haare am Morgen zusammengebunden hatte.
Von einem Fährschiff, das den Hafen verließ, erklang dreimal lang anhaltendes Tuten. Ein paar Autos hupten, zwei kleine Jungen auf ihren Rädern fuhren laut klingelnd an dem Taxi vorbei. Sie hielten an einem Eisstand und bestellten, wild gestikulierend, ihre Eiswaffeln.
Der Taxifahrer drehte sich halb um. »Norwegen ist ein guter Platz zum Leben. Vergessen Sie das nicht.«
»Ich weiß. Aber ich kann trotzdem nicht einfach auf ein Schiff gehen. Das war nicht geplant. Und ich habe gar nicht genug Gepäck bei mir. Und außerdem ...«
»Außerdem brauchen Sie Abwechslung, das ist am wichtigsten. Und Kleidung kann man überall kaufen.« Er zuckte mit den Schultern. »Auf einem Postschiff muss man keine Modenschau machen.« Er strich sich wieder über den Bart. »Ich denke mir, dass Sie die wichtigsten Dinge im Koffer haben, oder? Für die ersten Tage reichen sowieso zwei Pullover und eine Wetterjacke, es ist Regen angesagt.«
Wider Willen musste Andrea lächeln. »So kann auch nur ein Mann reden.« Sie sah vom Hafenkai aus hinüber zur anderen Seite, dorthin, wo die bunten Häuser der Brygge standen. Bereits 1350, hatte ihr Jonas bei ihrem ersten Besuch in seiner Heimatstadt stolz erzählt, war die erste Hanse-Niederlassung hier begründet worden. Und damit der Ruhm und Reichtum der Stadt. Die spitzgiebeligen bunten Holzhäuser waren zu Beginn des vorigen Jahrhunderts ein Opfer der Flammen geworden, doch seit 1955 wieder aufgebaut und mit neuem Leben erfüllt worden. Jetzt waren sie in helles Sonnenlicht getaucht und zogen das Interesse der Touristen, die durch die Straßen schlenderten, auf sich.
Auch der Ulriken, einer der sieben Berge, die die Stadt umgaben, war von der Sonne beschienen. Die Schwebebahn, die hinauffuhr, glänzte silbern inmitten von grünen Bäumen und braunen Felsen.
Tränen stiegen Andrea in die Augen, als sie sich daran erinnerte, dass sie häufig mit Jonas durch die engen Gassen des Stadtkerns spaziert war und sie gemeinsam in den Geschäften gestöbert hatten. Immer wieder hatte Jonas bei einer solchen Gelegenheit von der gemeinsamen Zukunft gesprochen, von einem Leben mit ihr.
»Komm zu mir. Ich bin sicher, du wirst rasch einen Job finden, wenn du dich an einem Krankenhaus in der Gegend bewirbst«, hatte er ihr versichert. »Und alle Patienten werden dich lieben - so wie ich!«
»Er ist es nicht wert.« Die dunkle Stimme des Taxifahrers riss sie aus ihren Gedanken.
»Was meinen Sie?«
»Der Mann - er ist nicht wert, dass Sie um ihn weinen. Machen Sie einen Strich unter die Beziehung, fangen Sie neu an.« Er wendete und fuhr zum Anlegeplatz des Hurtigruten-Schiffes. »Wollen wir fragen, ob noch eine Kabine frei ist?«
Andrea zögerte. Dieser alte Mann besaß eine ungeheure Ausstrahlung. Seine Augen blickten wach und wissend, seine dunkle Stimme hatte einen fast suggestiven Tonfall. Dabei sah er aus wie ein Waldschrat. Nein, korrigierte sie sich sofort, hier sagt man ja Troll dazu.
Doch Trolle trieben oft ihren Schabernack mit den Menschen, nicht immer verliefen die Begegnungen mit ihnen positiv. Bengt aber schien ein sehr netter Kerl zu sein. Vielleicht war er ein liebenswerter Troll. Sie lächelte. Was für ein Unsinn! Sie lebte im 21. Jahrhundert, da gehörten die Geschichten von Trollen und Elfen ins Märchenland. Langsam folgte sie dem Alten hinüber zum Anlegeplatz. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er sie gesiezt hatte. Das war ungewöhnlich, denn in Norwegen duzte man sich. Ausnahmen bildeten höchstens Respektspersonen oder sehr viel ältere Menschen. Anfangs war es ihr nicht leichtgefallen, sich daran zu gewöhnen.
»Andrea?«
Jonas!
Er kam vom Parkplatz schräg gegenüber. Sein Hemd war, wie sie mit einer gewissen Ironie feststellte, falsch geknöpft, das sonst stets korrekt gescheitelte Haar nur mit ein paar Fingerstrichen geglättet. Der Blick, mit dem er Andrea ansah, war eine Mischung aus Unglauben und Entsetzen. »Du ... du bist hier?«
»Wie du siehst.« Glaubt er wirklich, ich würde mich für Tage oder gar Wochen verkriechen und um ihn weinen? Das kommt ja gar nicht in Frage!, schoss es ihr durch den Kopf. Gesunde Wut und der trotzige Gedanke, dass sie auch ohne ihn gut zurechtkam, ließen sie kühl reagieren.
»Ja aber ... Ich ... wir ... du wolltest doch ...«
»Seit wann stotterst du, Jonas?« Ihr fiel es wirklich nicht leicht, ihm ruhig entgegenzusehen. Am liebsten wäre sie auf ihn zugerannt und hätte ihm das Gesicht zerkratzt. Verrückt, dachte sie im nächsten Moment. So was sieht man nur im Kino, da lassen die betrogenen Frauen ihrem Frust freien Lauf. Aber wir sind hier auf der Straße, und ich ... ich werde ihm nicht zeigen, wie sehr er mich verletzt hat. Doch ihr Herz klopfte heftig, sie spürte, dass ihre Hände verdächtig zitterten, und verbarg sie rasch in den Jackentaschen.
© ullstein
Zum Hotel Peer Gynt bitte.« Andreas Herz begann nervös zu schlagen, als sie sich auf die Rückbank des Taxis sinken ließ. Der Fahrer, ein grauhaariger Mann mit Wikingerbart und einer etwas zu großen Nase, nickte. Er hatte den silberfarbenen Rollkoffer und die braune Arzttasche, die Andrea mit im Flugzeug gehabt hatte, im Kofferraum verstaut und setzte sich jetzt mit einem unterdrückten Seufzer hinters Lenkrad.
»Das liegt aber am Stadtrand«, erklärte er und sah seinen Fahrgast im Rückspiegel fragend an.
»Ich weiß.«
»Ja, dann ...« Er fädelte sich in den Verkehr ein. Der Flughafen von Bergen lag etwa fünfzehn Kilometer südlich der Stadt. Achtlos schaute Andrea Sandberg aus dem Fenster. Sie war bestimmt schon ein Dutzend Mal hier gewesen, die Umgebung des Flughafens war so uninspirierend wie die der meisten Flughäfen der Welt. Ein paar Werbetafeln gaben Hinweise auf Bootsausflüge zum nahe gelegenen Geiranger-Fjord oder zu den nördlichen Gebieten, dorthin, wo die Sami mit ihren Rentierherden daheim waren. Ein Foto zeigte eine hölzerne Stabkirche, ein anderes die Weltkugel am Polarkreis.
Sekundenlang schloss die junge Ärztin die Augen. Am Fuß der eisernen Weltkugel hatte ihr Jonas seine Liebe gestanden. Nach einer romantischen Nacht in einem Hotel in Trondheim waren sie zu dem weitläufigen Nordkap- Plateau weitergefahren. Wenn man hier stand, hatte man wahrlich den Eindruck, am Ende der Welt angelangt zu sein. Es war ein trockener, heller Tag gewesen, fast hundert Touristen wurden Zeugen, als Jonas sie umarmte, lange küsste und sagte: »Ich liebe dich, schöne Doktorin, und ich würde dich am liebsten nie mehr loslassen. Seit wir uns getroffen haben, muss ich immerzu an dich denken. « So etwas wie Ironie hatte in seinen Worten mitgeschwungen, als er hinzufügte: »Das muss doch Schicksal sein, meinst du nicht auch? In Kapstadt begegnen wir uns, machen gemeinsam Urlaub in diesem Traumland ... und ich verliere mein Herz an dich.«
Mir ist es ganz genauso ergangen, dachte Andrea. Dieser Urlaub - ihr erster, seit sie als Chirurgin an der Düsseldorfer Universitätsklinik arbeitete - war auch ihr schicksalhaft erschienen. Und Jonas, ein blonder Hüne mit dem Aussehen eines jungen Robert Redford, schien der Mann zu sein, der für sie bestimmt war.
So oft es ging, besuchte sie ihn in seiner Heimat. Jonas war nicht so leicht abkömmlich wie sie, denn er leitete in Bergen ein großes Hotel, musste fast rund um die Uhr ansprechbar sein. Und so kam Andrea, wann immer sie einige freie Tage angesammelt hatte, in die alte Hansestadt, die so reizvoll war, dass sie sich hier beinahe heimisch fühlte. Und nach dem dritten Besuch beschloss sie, sich an einer Klinik in Bergen zu bewerben. Ärzte aus dem Ausland waren in Norwegen gern gesehen, und so bekam sie bereits nach wenigen Wochen eine Zusage.
Jonas ... sie freute sich so darauf, ihn zu überraschen!
Drei Wochen früher als geplant hatte sie ihre Arbeit in Düsseldorf beenden können und war spontan in das nächste Flugzeug gestiegen. Nur zwei Koffer hatte sie dabei, alles andere war verschifft worden und würde sicher wenig später als sie selbst in Jonas' Hotel eintreffen.
»Wir sind da. Ich wünsche einen schönen Aufenthalt in Bergen«, sagte der Taxifahrer, als sie den Stadtteil Fana erreicht hatten, und lud ihr Gepäck aus. Andrea glaubte die nahe See zu riechen, den unverwechselbaren Geruch nach Salz und Teer, nach Fisch und Tang. Aber das war wohl nur Einbildung. »Danke.« Sie gab ein üppiges Trinkgeld. Warum sollte der Mann mit der viel zu großen, leicht geröteten Nase nicht auch ein wenig von dem Glück, das sie verspürte, abbekommen? Er nickte nur zum Dank und ging, sich den Bart streichend, zurück zur Fahrertür.
Ein Portier, der Andrea nicht kannte, begrüßte sie höflich und fragte sie, wie lange sie bleiben wolle.
»Das kommt ganz auf Ihren Chef an«, erwiderte Andrea lächelnd. »Lassen Sie bitte das Gepäck in sein Büro bringen. Ich gehe gleich hinauf in seine Privaträume.«
»Aber ...« Der Portier, etwa sechzig Jahre alt und mit einem ähnlichen Vollbart wie der Taxifahrer, zuckte nur mit den Schultern und zeigte zum Lift. »Dann kennen Sie ja den Weg.« Er sprach ein fast akzentfreies Deutsch.
Kam es ihr nur so vor oder war tatsächlich alles Freundliche, Verbindliche aus seiner Miene verschwunden? Andrea zuckte unmerklich mit den Schultern. Die Vorfreude auf das Wiedersehen hatte sie wohl ein wenig verwirrt, denn als sie sich noch einmal nach dem Mann umblickte, sah er ihr mit einem unverbindlichen Lächeln nach.
Im vierten Stock des Hotels, das zur Südseite hin einen Blick auf das Grieg-Haus gewährte, besaß Jonas Fredriksen eine Wohnung, die durch eine Wendeltreppe mit einem darüber liegenden Maisonettebereich verbunden war. Nur drei Räume befanden sich hier oben - ein geräumiges Schlafzimmer, an das sich ein Bad anschloss, eine Küche und ein Wintergarten, der eine fantastische Aussicht bot. Weit dehnten sich die grünen Hügel bis hinunter zum Fjord. Dort, in einem Felsengrab, lagen Edvard Grieg und seine Frau Nina begraben. Bei ihrem ersten Besuch hier war Andrea, so wie viele Touristen, dorthin gegangen und hatte an dem Gedenkstein eine kurze Andacht gehalten.
Sie wollte gerade an Jonas' Wohnungstür läuten, als sie sah, dass die Tür nur angelehnt war. Sicher war Jonas für einen Moment nach oben gegangen, um etwas zu holen. Es war schon recht praktisch, wenn man gleich über dem Arbeitsplatz wohnte.
Sie lächelte und trat ein. Die fast rechteckige Diele war mit hellen Ahorndielen ausgelegt. Links befand sich ein ebenfalls aus Ahorn gefertigter Einbauschrank, rechts stand eine bunt bemalte kleine Truhe, über der zwei rechteckige Lampen hingen. Geradeaus ging es zum großen Wintergarten, rechts zur Küche, die jedoch kaum benutzt wurde. Der Hotelier aß meist mit seinen Leuten zusammen. Jonas legte Wert darauf, dass auch das Essen für die Hotelangestellten gut und reichhaltig war.
»Jonas?«
Keine Antwort. Dabei war Andrea sicher, Geräusche gehört zu haben.
Langsam, zögernd stieg sie die helle Holztreppe hinauf - und glaubte im nächsten Moment, einen Schlag in die Magengrube bekommen zu haben. Das war ein schlechter Film, in den sie da hineingeraten war! So etwas passierte vielleicht in billigen Soaps, doch nicht ihr, nicht im wirklichen Leben.
Aber das Bild blieb: Jonas lag nackt mit einem langbeinigen, blutjungen Mädchen auf seinem Bett, über das eine rotbraune Fuchsfell-Decke gebreitet war. Die beiden waren so intensiv miteinander beschäftigt, dass sie Andrea nicht bemerkten. Neben dem Bett stand ein weißer Barwagen, darauf ein Champagnerkübel, zwei Gläser, eine Silbervase mit einer Rose - das übliche Szenario einer routinierten Verführung, schoss es Andrea durch den Kopf. Bei ihren ersten beiden Besuchen war auch sie von Jonas mit Champagner, frischen Erdbeeren und roten Rosen begrüßt worden. Sie hatte es romantisch gefunden und erinnerte sich jetzt noch genau daran, wie ausgiebig und leidenschaftlich Jonas und sie das Wiedersehen gefeiert hatten.
War das wirklich erst ein halbes Jahr her?
Andrea biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Nur nicht schreien jetzt. Nur nicht nach der bauchigen Tonvase greifen, die auf einem Sideboard links von der Tür stand und geradezu dazu einlud, nach Jonas geschleudert zu werden. Nur nicht weinen ...
Nur weg! Fort aus dem Haus, so weit weg wie möglich von Jonas!
Wie blind rannte sie die Treppen und dann den Hang hinunter, stolperte zweimal über kleine Steinbrocken, die von Grasbüscheln verdeckt waren, rannte an Touristen vorbei, die das Grieg-Haus Troldhaugen und die Grabstätte des Komponisten besichtigen wollten.
Die irritierten, teils mitleidigen, teils verständnislosen
Blicke, die ihr folgten, bemerkte sie nicht. Erst als sie Seitenstechen bekam und nach Luft ringend am Straßenrand stehen bleiben musste, kam sie wieder zu sich. Die Enttäuschung wich Wut, aus Trauer wurde gerechter Zorn.
»Scheißkerl!«, schimpfte sie laut vor sich hin. »Verdammter Scheißkerl!«
»Junge Frau ... wollen Sie zurück in die Stadt?« Der bärtige Taxifahrer, der sie hergebracht hatte, stand plötzlich neben ihr. Die dicke Nase leuchtete blaurot, doch seine Augen waren voller Wärme auf Andrea gerichtet. »Ich fahre zum Hafen. Zur Anlegestelle der Hurtigruten.« Er strich sich über den Bart und sah sie erwartungsvoll an. »Na, wäre das nichts für Sie, so eine Fahrt mit dem Postschiff? Die Reise würde Sie auf andere Gedanken bringen. «
Als sie nicht antwortete, sagte er: »Warten Sie hier. Ich hole Ihr Gepäck.«
»Ja, aber ...« Sie schüttelte den Kopf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihren Koffer und die Arzttasche im Hotel gelassen hatte.
Der Alte reagierte nicht, er wendete das Taxi, fuhr zurück zum Hotel - und war knappe fünf Minuten später wieder bei ihr. Andrea war langsam, mit gesenktem Kopf, weitergegangen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Es tat gut, weinen zu können, es nahm den Druck von ihrer Brust. Und dennoch blieben tausend quälende Gedanken: Warum tat ihr Jonas das an? Was faszinierte ihn an dem blonden Mädchen? Ihre perfekte Figur? Die Jugend? Ihre Unbeschwertheit? Andrea konnte sich gut vorstellen, dass die blonde Norwegerin das Leben unbekümmert genoss, dass sie von den Pflichten des täglichen Lebens, die ihren eigenen Alltag prägten, noch nicht viel wusste - oder wissen wollte.
Seinetwegen hab ich daheim alles aufgegeben ... der Gedanke ließ Andrea noch heftiger weinen. Sie hatte an die wahre Liebe geglaubt, war sicher gewesen, mit Jonas in Norwegen ein neues Leben anfangen zu können. Sie hatten doch so viele Pläne gemacht. Hatten sich die gemeinsame Zukunft in vielen Stunden ausgemalt. Und jetzt? Alles vorbei. Von einer Sekunde zur anderen war ein Traum geplatzt.
Warum nur? Warum? Die Frage, auf die sie keine Antwort wusste, tat körperlich weh.
»Zum Hafen, nicht wahr?«, fragte der Taxifahrer.
Als Andrea nickte, glitt ein kleines Lächeln über das faltige Gesicht des Mannes. »In zwei Stunden geht ein Schiff nach Norden«, erklärte er mit ruhiger dunkler Stimme. »Buchen Sie eine Passage, Sie werden es nicht bereuen. «
»Aber ...«
Er wischte den Einwand, den sie noch nicht mal ausgesprochen hatte, mit einer kleinen Handbewegung weg. »Sie wollen doch in meiner Heimat bleiben, oder?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er beinahe beschwörend fort: »Sie werden bleiben. Und glücklich werden. «
Durch das halb geöffnete Fenster wehte der Wind den Geruch nach Salz und Dieselöl, nach Fisch und Tang. Doch es duftete auch nach frischem Gebäck, und als das schwarze Taxi an einem Bäckereistand vorüberfuhr, knurrte Andreas Magen unüberhörbar. Sie biss sich auf die Lippe. Vor lauter Vorfreude auf Jonas hatte sie kaum etwas zu sich genommen vor dem Abflug. Und den Snack im Flieger hatte sie ignoriert, nur zwei Kaffee getrunken.
In den Lärm der Autos mischten sich laute Rufe der vielen Fischhändler, die fangfrische Lachse, Dorsch und Krabben anboten. Hin und wieder erklang das laute Tuten eines Schiffes, das auslief. Große Fähren und kleinere Ausflugsschiffe verließen den Hafenbereich oder liefen ein. Fischerboote und ein paar Segelyachten nahmen von einem anderen Hafenbereich aus Kurs hoch in den Norden.
»Dort liegt die Midnatsol, eines der schönsten Schiffe der Hurtigruten-Flotte.« Der bärtige Chauffeur wies mit der Hand nach links, wo am Kai ein Schiff lag, das fast schon die Ausmaße eines Kreuzfahrtschiffes besaß. »Ein Neffe von mir ist dort Erster Offizier. Ich kann mit ihm reden ... er wird bestimmt noch einen Platz für Sie haben. Ach, übrigens, ich heiße Bengt.«
»Und ich Andrea.« Der Wind blies ihr eine blonde Locke ins Gesicht, die sich aus der lässig zusammengebundenen Frisur gelöst hatte. Während ihres Dienstes trug Andrea das blonde Haar meist hochgesteckt, aber Jonas liebte es, seine Finger in den langen Haaren zu verstecken. Bei der Erinnerung an seine Hände, die erst das Haar, dann den Nacken und später ihren ganzen Körper gestreichelt hatten, bekam Andrea eine Gänsehaut.
Eine Möwe, die dicht über der Frontscheibe des Taxis hinwegflog, riss sie aus den Gedanken. Mit einer fast unwilligen Bewegung steckte sie die Haarlocke in das Gummiband, mit dem sie die Haare am Morgen zusammengebunden hatte.
Von einem Fährschiff, das den Hafen verließ, erklang dreimal lang anhaltendes Tuten. Ein paar Autos hupten, zwei kleine Jungen auf ihren Rädern fuhren laut klingelnd an dem Taxi vorbei. Sie hielten an einem Eisstand und bestellten, wild gestikulierend, ihre Eiswaffeln.
Der Taxifahrer drehte sich halb um. »Norwegen ist ein guter Platz zum Leben. Vergessen Sie das nicht.«
»Ich weiß. Aber ich kann trotzdem nicht einfach auf ein Schiff gehen. Das war nicht geplant. Und ich habe gar nicht genug Gepäck bei mir. Und außerdem ...«
»Außerdem brauchen Sie Abwechslung, das ist am wichtigsten. Und Kleidung kann man überall kaufen.« Er zuckte mit den Schultern. »Auf einem Postschiff muss man keine Modenschau machen.« Er strich sich wieder über den Bart. »Ich denke mir, dass Sie die wichtigsten Dinge im Koffer haben, oder? Für die ersten Tage reichen sowieso zwei Pullover und eine Wetterjacke, es ist Regen angesagt.«
Wider Willen musste Andrea lächeln. »So kann auch nur ein Mann reden.« Sie sah vom Hafenkai aus hinüber zur anderen Seite, dorthin, wo die bunten Häuser der Brygge standen. Bereits 1350, hatte ihr Jonas bei ihrem ersten Besuch in seiner Heimatstadt stolz erzählt, war die erste Hanse-Niederlassung hier begründet worden. Und damit der Ruhm und Reichtum der Stadt. Die spitzgiebeligen bunten Holzhäuser waren zu Beginn des vorigen Jahrhunderts ein Opfer der Flammen geworden, doch seit 1955 wieder aufgebaut und mit neuem Leben erfüllt worden. Jetzt waren sie in helles Sonnenlicht getaucht und zogen das Interesse der Touristen, die durch die Straßen schlenderten, auf sich.
Auch der Ulriken, einer der sieben Berge, die die Stadt umgaben, war von der Sonne beschienen. Die Schwebebahn, die hinauffuhr, glänzte silbern inmitten von grünen Bäumen und braunen Felsen.
Tränen stiegen Andrea in die Augen, als sie sich daran erinnerte, dass sie häufig mit Jonas durch die engen Gassen des Stadtkerns spaziert war und sie gemeinsam in den Geschäften gestöbert hatten. Immer wieder hatte Jonas bei einer solchen Gelegenheit von der gemeinsamen Zukunft gesprochen, von einem Leben mit ihr.
»Komm zu mir. Ich bin sicher, du wirst rasch einen Job finden, wenn du dich an einem Krankenhaus in der Gegend bewirbst«, hatte er ihr versichert. »Und alle Patienten werden dich lieben - so wie ich!«
»Er ist es nicht wert.« Die dunkle Stimme des Taxifahrers riss sie aus ihren Gedanken.
»Was meinen Sie?«
»Der Mann - er ist nicht wert, dass Sie um ihn weinen. Machen Sie einen Strich unter die Beziehung, fangen Sie neu an.« Er wendete und fuhr zum Anlegeplatz des Hurtigruten-Schiffes. »Wollen wir fragen, ob noch eine Kabine frei ist?«
Andrea zögerte. Dieser alte Mann besaß eine ungeheure Ausstrahlung. Seine Augen blickten wach und wissend, seine dunkle Stimme hatte einen fast suggestiven Tonfall. Dabei sah er aus wie ein Waldschrat. Nein, korrigierte sie sich sofort, hier sagt man ja Troll dazu.
Doch Trolle trieben oft ihren Schabernack mit den Menschen, nicht immer verliefen die Begegnungen mit ihnen positiv. Bengt aber schien ein sehr netter Kerl zu sein. Vielleicht war er ein liebenswerter Troll. Sie lächelte. Was für ein Unsinn! Sie lebte im 21. Jahrhundert, da gehörten die Geschichten von Trollen und Elfen ins Märchenland. Langsam folgte sie dem Alten hinüber zum Anlegeplatz. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er sie gesiezt hatte. Das war ungewöhnlich, denn in Norwegen duzte man sich. Ausnahmen bildeten höchstens Respektspersonen oder sehr viel ältere Menschen. Anfangs war es ihr nicht leichtgefallen, sich daran zu gewöhnen.
»Andrea?«
Jonas!
Er kam vom Parkplatz schräg gegenüber. Sein Hemd war, wie sie mit einer gewissen Ironie feststellte, falsch geknöpft, das sonst stets korrekt gescheitelte Haar nur mit ein paar Fingerstrichen geglättet. Der Blick, mit dem er Andrea ansah, war eine Mischung aus Unglauben und Entsetzen. »Du ... du bist hier?«
»Wie du siehst.« Glaubt er wirklich, ich würde mich für Tage oder gar Wochen verkriechen und um ihn weinen? Das kommt ja gar nicht in Frage!, schoss es ihr durch den Kopf. Gesunde Wut und der trotzige Gedanke, dass sie auch ohne ihn gut zurechtkam, ließen sie kühl reagieren.
»Ja aber ... Ich ... wir ... du wolltest doch ...«
»Seit wann stotterst du, Jonas?« Ihr fiel es wirklich nicht leicht, ihm ruhig entgegenzusehen. Am liebsten wäre sie auf ihn zugerannt und hätte ihm das Gesicht zerkratzt. Verrückt, dachte sie im nächsten Moment. So was sieht man nur im Kino, da lassen die betrogenen Frauen ihrem Frust freien Lauf. Aber wir sind hier auf der Straße, und ich ... ich werde ihm nicht zeigen, wie sehr er mich verletzt hat. Doch ihr Herz klopfte heftig, sie spürte, dass ihre Hände verdächtig zitterten, und verbarg sie rasch in den Jackentaschen.
© ullstein
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Autoren-Porträt von Elfie Ligensa
Elfie Ligensa schreibt erfolgreich Romane und Drehbücher und lebt mit ihrem Mann und einer eigenwilligen Katze in der Nähe von Köln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elfie Ligensa
- 2012, 4. Aufl., 416 Seiten, Masse: 12 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284361
- ISBN-13: 9783548284361
- Erscheinungsdatum: 09.11.2012
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