Matterhörner
Eine folgenschwere Erbschaft
Das Matterhorn ist einzigartig - von daher braucht dieser schöne Berg garantiert keine Mehrzahl. Eigentlich. Aber in Blanca Imbodens neuem Roman vervielfacht sich das Wahrzeichen der Schweiz. Und das hat folgenden Grund: Antonia, eine Innerschweizer...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Matterhörner “
Klappentext zu „Matterhörner “
Das Matterhorn ist einzigartig - von daher braucht dieser schöne Berg garantiert keine Mehrzahl. Eigentlich. Aber in Blanca Imbodens neuem Roman vervielfacht sich das Wahrzeichen der Schweiz. Und das hat folgenden Grund: Antonia, eine Innerschweizer Seilbähnlerin, die bei der Morschach-Stoos-Bahn arbeitet, erbt von ihrer Schwester Mona vierzig Matterhorn- Bilder, gezeichnet, gemalt, skizziert, in Öl, Kreide, Acryl. Da die Geschwister jahrelang keinen Kontakt mehr hatten, steht Antonia vor einem Rätsel, und um dieses zu lösen, reist sie zum ersten Mal in ihrem Leben nach Zermatt. Dort verliebt sie sich in den "Berg der Berge" genauso wie in die Bergler. Bei ihrer Recherche blickt sie aber auch in ein paar Abgründe, tief wie Gletscherspalten, trifft erst auf einen Schurken und dann auf Bruno. Als sie des Rätsels Lösung endlich findet, gibt ihr Letzterer ein neues, weit schöneres, auf.
Lese-Probe zu „Matterhörner “
1»Grosi, malst du mir etwas?«
Ich bin wohl kurz auf dem Sofa eingenickt und werde nun ziemlich unsanft von meinem Enkelkind aus dem Schlaf geholt, das mir die Ecke eines übergroßen Zeichenblocks in die Nase bohrt. Keine nette, aber eine sehr effiziente Methode: Von null auf hundert bin ich hellwach.
»Aber ja«, sage ich mit leicht gequältem Lächeln und setze mich auf. Als Großmutter hat man halt keine festen Arbeitszeiten. Außerdem ist eine schlafende Oma eine schlechte Betreuerin. Seit meine Tochter Fränzi mit ihrer kleinen Lea vorübergehend wieder bei mir eingezogen ist, hat sich mein Leben verändert. Früher war es beschaulich, ruhig und unkompliziert, ganz selten auch mal einsam. Heute ist es wild und chaotisch. Manchmal gefällt mir das sogar. Und wenn es mich mal echt nervt, richte ich mich innerlich an dem Wort vorübergehend wieder auf.
»Was soll ich dir denn heute zeichnen?«, frage ich.
»Eine Luftseilbahn«, erklärt Lea und streicht sich ihre blonden Locken aus dem Gesicht.
Eigentlich war mir das schon vorher klar. Sie will immer, dass ich Luftseilbahnen zeichne. Das kann ich inzwischen schon fast blind. Ich bin ein wenig überqualifiziert für diese Aufgabe, skizziere aber jeweils ohne Murren die Umrisse, und Lea malt die Bähnchen dann aus. Längst weiß sie, dass die Sonne gelb, der Schriftzug rot, das Bähnchen blau gemalt werden muss.
»Du gehörst auch mit drauf. Sonst fährt die Bahn ja nicht«, erklärt Lea, strahlt mich an und zeichnet mich mit dazu.
Sie bewundert mich, weil ich auf dem Stoos als Seilbahnführerin arbeite. Das tut mir gut. Wäre ich Bundesrätin, würde ich die Nationalbank leiten, Bestseller schreiben oder exklusive Mode entwerfen, könnte ich niemals mit so viel Bewunderung von ihr rechnen. Kinder haben ihre eigenen Werte.
... mehr
Ich bin eine Frau, die macht, dass sich die kleine Seilbahn von Morschach auf den Stoos hinauf bewegt. Das grenzt aus Leas Sicht wohl an Zauberei oder zumindest an höhere Wissenschaften. Und offenbar klingt es für sie wie ein Traumjob. Ihr Papa, Mario, ist Zahnarzt und verdient sicher zehnmal so viel wie ich, aber er flickt halt nur Zähne. Während ich in Leas Augen auf einer Stufe mit Raumfahrerinnen und Superwoman stehe. Ha! Es ist ein gutes Gefühl, so angehimmelt zu werden. Im Allgemeinen genießt man ja als Seilbahnangestellte kein besonders hohes Ansehen.
»Soll ich mich jetzt noch mal kurz hinlegen und die Augen schließen, damit du in Ruhe alles ausmalen und mich dann mit dem Bild überraschen kannst?«, frage ich vorsichtig optimistisch meine Enkelin. Sie schaut mich mit ihren großen blauen Augen an und wickelt sich eine Locke um den Zeigefinger. Fragt sie sich gerade, ob ich sie vielleicht austricksen will?
»Gut«, willigt Lea schließlich ein und nickt bedächtig. Ich lege mich schnell wieder auf das Sofa, bevor sie es sich anders überlegt. In der vergangenen Nacht hatte ich schlecht geschlafen, mich endlos hin und her gewälzt, und ich muss heute noch bis Mitternacht arbeiten. Da freue ich mich über jede Minute Ruhe. Ich höre Leas Buntstifte übers Papier kratzen. An meinem Hals kratzt meine selbst gehäkelte Decke und erinnert mich daran, wie oft ich in letzter Zeit ganz allein vor dem Fernseher gesessen bin und gehäkelt habe. Ich verhalte mich tatsächlich wie eine Oma, dabei bin ich doch erst knackige fünfzig und ziemlich gut erhalten.
Aber ich bin auch kindisch. Ich sage nur: der Brief! Er liegt seit vorgestern in der obersten, rechten Schublade meiner alten Kommode. Seit vorgestern! Leider fehlt mir der Mut, ihn zu öffnen. Kein Wunder, dass ich nachts nicht schlafen kann. Jedenfalls kann ich meine Schlaflosigkeit derzeit nicht mit den Wechseljahren begründen. Sie ist selbst verschuldet.
Obwohl ich den Brief gut in der Kommode versteckt habe, ist er mir gedanklich ständig präsent, versetzt mir Stöße vor die Brust, kichert höhnisch und verfolgt mich bis in meine Träume. Ich kann ihn einfach nicht ignorieren. Ich werde ihn öffnen müssen, irgendwann, aber ich tue mich schwer damit. Der Brief trägt einen mallorquinischen Poststempel und einen Adressaufkleber mit meiner Anschrift, aber keinen Absender. Er wird wohl von meiner Schwester Mona sein. Vor Jahren hätte ich mich über ein Lebenszeichen von ihr riesig gefreut. Aber wieso schreibt sie jetzt, nachdem sie sich seit fast vierzig Jahren nicht mehr gemeldet hat und nichts mehr von der Familie wissen will? Ich befürchte, dass der Brief alte Wunden aufreißen wird. Wahrscheinlich ist es eh schon passiert, daher meine Schlaflosigkeit. Ich setze mich wieder auf. Es hat keinen Sinn. Ich werde heute nicht zur Ruhe kommen.
»Fertig!«, ruft Lea stolz und laut und präsentiert mir ihr Bild.
Diesmal hat sie nicht nur alles schön ausgemalt, sondern auch noch Schneeflocken, eine Sonne, ein paar Sterne und den Mond um die Bahn herum gezeichnet. Mein schulterlanges schwarzes Haar hat sie verlängert, sodass es auf dem Bild fast bis zum Boden reicht. Ich sehe aus wie ein freches Seilbahn-Rapunzel und muss lachen. Das freut Lea. Sie ist begabt, hat Fantasie und Ausdauer. »Das ist richtig gut, Lea. Du bist eine kleine Künstlerin«, sage ich mit Großmutterstolz und umarme das Mädchen.
Lea schmiegt sich an mich. Seit ihre Eltern einen Scheidungskrieg ausfechten, sucht sie immer mehr meine Nähe. Es tut mir weh, dass die Ehe meiner Tochter gescheitert ist, genauso wie meine damals. Ich dachte und hoffte, Fränzi würde alles besser und vielleicht sogar richtig machen. Stattdessen hat sie wie ich viel zu früh geheiratet und wurde zu schnell Mutter. Schade, dass sie nicht aus meinen Fehlern lernen konnte. Sollte man als Scheidungskind nicht ein Gefühl für Fallstricke in einer Beziehung entwickeln können? Aber das ist wohl ein Denkfehler. Leider. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens Lea nicht in unsere Fußstapfen tritt.
»Mama!« Lea rennt ihrer Mutter entgegen, die eben heimkommt. Fränzi sieht genauso müde aus wie ich. Ihr schmales Gesicht wirkt eingefallen, ihre blauen Augen strahlen nicht mehr. Sie hat sich heute Morgen mit ihrem Anwalt getroffen, und anschließend hatte sie noch ein inoffizielles Bewerbungsgespräch bei einem befreundeten Zahnarzt.
»Die Stellensuche wird schwierig«, berichtet sie mir, sobald Lea sich in ein Bilderbuch vertieft hat, und kuschelt sich unter meine Sofadecke. »Die Zahnärzte kennen sich alle, und obwohl sie sehr wohl abschätzen können, wie viel ich in Marios Praxis gearbeitet habe und wie wertvoll mein Hintergrundwissen zusätzlich zu meiner Ausbildung als Zahnarzthelferin ist, wird mich hier in der Gegend kaum einer einstellen.« Sie seufzt. »Ein Zahnarzt reißt dem anderen keinen Zahn aus, oder wie kann man das nennen?« Sie lacht, und es klingt ein bisschen hämisch. »Dann wird die Scheidung halt umso teurer für Mario.«
Ich enthalte mich jeglichen Kommentars, denn ich glaube noch immer an ein Happy End für die beiden, erhoffe es mir zumindest. Mario ist fremdgegangen, und wahrscheinlich nicht zum ersten Mal. Aber er wird wieder ankriechen und mit seinem zugegeben umwerfenden Charme meine Tochter erneut um seinen gepflegten Finger wickeln. Mein Wunschschwiegersohn war er ja nie. Aber jetzt ist er halt da, und Lea liebt ihn abgöttisch. Und Fränzi liebt ihn auch. Und er liebt sie alle beide. Ach, es könnte alles so einfach sein. Ist es aber nicht. Ist es doch nie.2
»Mama, du siehst schlecht aus. Stand etwas Schlimmes in dem Brief?«, fragt meine Tochter irgendwann fürsorglich.
Darauf antworte ich jetzt lieber nicht. Fränzi wird mein Zögern nicht verstehen.
»Du hast den Brief noch immer nicht geöffnet?«, fragt Fränzi prüfend weiter und liest mir die Antwort von den Augen ab, noch bevor ich zaghaft verneine. Sie schüttelt ungläubig den Kopf. So kenne ich meine mutige und starke Mama gar nicht!« Sie geht zu meiner alten Kommode und ruckelt geduldig an der Schublade herum, bis sie sich öffnen lässt und den Brief freigibt. Fränzi legt ihn vor mich hin. Gnadenlos.
»Ich gehe jetzt mit Lea spazieren und hole uns eine Pizza. Bis zum Mittagessen ist der Brief offen. Versprochen? Sonst mache ich ihn auf«, erklärt sie streng.
Da klingelt jemand an der Wohnungstür. Als ich öffne, hält mir ein Paketbote ein Schreiben unter die Nase, auf dem ich eine Lieferung quittieren soll.
»Ich habe nichts bestellt«, wehre ich mich.
»Ein Paket aus Spanien«, sagt er kurz und mit fremdländischem Akzent. »Steht unten. Sehr groß. Schwer. Mehr Kiste, nicht nur Paket. Ist vielleicht Geschenk? Kostet ja nichts«, setzt der junge Mann hinzu.
Ich unterschreibe kopfschüttelnd. Der Bote macht sich wieder davon und lässt mich verdattert mit seinem Lieferschein in der Hand zurück.
»Mama?« Fränzi, die das kurze Gespräch wortlos verfolgt hat, schaut mich an und ist ein einziges Fragezeichen. Ich verstehe schon: Ein Brief und ein Paket, und Mama freut sich nicht darüber. Gar nicht. Das ist doch merkwürdig. Bevor sie mich jetzt gleich mit ihren Fragen löchert, schlage ich vor: »Gut, dann holt die Pizza, und ich lese den Brief. Um das Paket kümmern wir uns nach dem Essen. Und dann reden wir auch.«
»Abgemacht«, willigt Fränzi ein. Die beiden sind schneller weg, als mir lieb ist, und lassen mich ganz und gar allein mit meinem Brief. Ich schlitze ihn nun zügig mit einem Buntstift auf. Eine fremde Handschrift, stelle ich sofort verwundert fest, dazu der in Gold gedruckte Briefkopf eines Carlos Sánchez. Mit Herzklopfen lese ich die magere Botschaft.
»Liebe Antonia,
Meine Ehefrau und Ihre Schwester Mona ist vor einigen Tagen ihrem schweren Krebsleiden erlegen. Sie wusste, dass sie bald sterben würde, und hat daher einige Dinge, die ihr wichtig waren, vorher erledigt. So hat sie zum Beispiel eine Kiste gepackt, die ich Ihnen demnächst zuschicken werde. Eigentlich wollte sie in den letzten Wochen unbedingt selbst mit Ihnen reden, hat aber den Zeitpunkt verpasst. Es ging schneller zu Ende, als wir dachten.
Mona hat Sie sehr geliebt und immer wieder von Ihnen gesprochen. Sie hat Sie gegoogelt und so ein ganz klein wenig an Ihrem Leben teilhaben können. Mona hatte ein glückliches Leben und wünscht das auch Ihnen. Sie hat es bedauert, dass Sie nicht Malerin geworden sind, und will Ihnen mit ihrem Geschenk die Gelegenheit geben, das jetzt noch zu ändern. Es ist nie zu spät.
Mit freundlichem Gruß, Carlos Sánchez«
Volltreffer.
Genau wie ich befürchtet hatte: Die alten Wunden sind offen, bluten und schmerzen.
Ich weine leise vor mich hin, bin aber gleichzeitig auch wütend. Mona hätte mich gewiss nicht googeln müssen, um an meinem Leben teilzuhaben. Ein kurzer Anruf hätte genügt, irgendein mickriges Lebenszeichen hätte mir gereicht. Aber nein, sie gab mir das Gefühl, völlig unwichtig zu sein. Sie hatte die Familie verlassen, einen Schnitt gemacht, und es fühlte sich so an, als sei das für sie eine leichte Sache gewesen, als hätte ich überhaupt nie einen Platz in ihrem Herzen gehabt.
Spontan wähle ich die Nummer, die auf dem Briefkopf von Carlos Sánchez steht. Ich erreiche ihn nicht und bin irgendwie auch froh darüber, weil ich im Moment gar nicht in der Verfassung wäre, um mit ihm zu sprechen.
»Erzähl mir endlich von Mona«, fordert mich meine Tochter nach dem gemeinsamen Pizzaessen auf. Lea macht gerade einen Mittagsschlaf, und wir sitzen mit einer Tasse Kaffee am Wohnzimmertisch. Fränzi rückt näher zu mir, hält sogar meine Hand, was mich berührt. Ich muss mitgenommen aussehen, wenn sich meine Tochter so um mich sorgt.
Ja, ich denke, es ist Zeit, dass wenigstens ich einmal rede. Schlimm genug, dass meine Eltern eine Allianz des Schweigens bilden, wenn es um Mona geht.
»Ich war zwölf, als sich bei uns ein Familiendrama ereignete. Meine Schwester Mona wollte ihre Lehre abbrechen und nur noch malen oder zumindest eine künstlerische Ausbildung machen. Und ja, sie war eine Künstlerin. Mit ihren achtzehn Jahren hatte sie schon drei Preise gewonnen, überall als jüngste Teilnehmerin und als jüngste Preisträgerin sowieso. Sie malte, zeichnete, skizzierte, und ich bewunderte sie ohne Ende. Sie war meine Göttin. Ich wollte genau so sein wie Mona: selbstbewusst, unangepasst, kreativ. Ich malte mit ihr und lernte dabei von ihr. Die Malerei verband uns Schwestern. Ich dachte, das Band sei zwar unsichtbar, aber unzertrennbar. Falsch gedacht.«
Ich atme kurz durch und trinke einen Schluck Kaffee, bis Fränzi mich sachte anschubst und zum Weiterreden drängt. »Irgendwann gab es nur noch Streit und Knatsch zwischen meinen Eltern und Mona. Mona war kreuzunglücklich mit ihrer kaufmännischen Ausbildung in einer Großmetzgerei. Sie rebellierte. Und mein Vater machte alles falsch, was ein Vater in so einer Situation falsch machen kann. Irgendwann war sogar ich der ständigen Reibereien überdrüssig, aber Mona war nicht zu stoppen. Sie wollte die Lehre schmeißen und dafür irgendwo einen Job annehmen und malen. Ganz ehrlich: Das hätte ich dir auch nicht durchgehen lassen, Fränzi. Aber ich hätte mich mit dir zusammengesetzt, und wir hätten nach einer Lösung gesucht, die für alle akzeptabel ist. Für meinen Vater gab es aber nur seinen Weg, seine Ordnung, seine Erziehung, seine Macht. Du kennst ihn ja. Er war schon damals ein Sturkopf durch und durch: ohne Fantasie und ohne Verständnis für Menschen, die anders sind als er. Er realisierte gar nicht, wie sich die Lage zuspitzte. Am Ende nahm er uns beiden die Malutensilien weg und verbot uns das Malen. Die Auseinandersetzungen wurden nur noch schlimmer. Er schlug Mona sogar. Schließlich erklärte er ihr, wenn sie die Lehre abbreche, könne sie gehen und müsse nie mehr wiederkommen. Sicher dachte er in seiner Verzweiflung, das sei nun das beste, überzeugendste, allerletzte Mittel, um Mona zur Vernunft zu bringen. Aber Mona packte und ging.«
Ich kann nicht weiterreden und schluchze leise.
Fränzi schaut mich fassungslos an und streichelt meine Hand. »Und was tat Oma?«, fragt sie schließlich mit großen Augen.
»Meine Mutter? Sie saß da und strickte. Sie saß überhaupt immer nur daneben und strickte, während mein Vater tobte oder argumentierte. Heute frage ich mich, ob sie immer strickte, um sich an etwas festzuhalten, damit ihr nicht die Hand ausrutschte und sie nicht in Versuchung geriet, meinem Vater mal die Grenzen aufzuzeigen. Ich weiß es nicht.«
Ich halte inne. Das war ganz schön viel Text dafür, dass ich selbst bisher nie über Mona geredet habe.
»Was ist aus Mona geworden? Habt ihr je wieder etwas von ihr gehört?«, fragt Fränzi weiter.
»Man erzählte uns damals, Mona sei nach Zermatt gegangen. Dort wohnte sie wohl bei einer Brieffreundin, die im ›Zermatterhof‹ arbeitete. Jahre später hat mal jemand aus dem Dorf Mona auf Mallorca getroffen, wo sie ihre Bilder verkaufte. Das ist alles. Ich habe geweint und getrauert, ganz im Stillen, nur für mich. Ich hatte meine Schwester, meine Freundin, meine Vertraute verloren. Aber ich musste das mit mir selbst ausmachen, dabei war ich noch ein halbes Kind. Meine Eltern verschlossen sich, und Mona war ab sofort tabu. Sie waren wie eine Mauer und wehrten geschlossen jeden Versuch ab, über Mona zu reden. Mama strickte weiter, und Papa wurde sehr still und kümmerte sich nur noch um seine blöden preisgekrönten Kaninchen.«
»Warum hast du nie nach Mona gesucht?«, will Fränzi wissen.
»Ja, ich hätte Mona suchen können, suchen sollen, vielleicht, jedenfalls später, als ich erwachsen war. Aber ich war so verletzt und hatte fest das Gefühl, sie wolle auch von mir nichts mehr wissen. Monas Zerwürfnis mit unseren Eltern hat mir vollends meine Freude am Malen genommen, die Mona doch zuerst so liebevoll gefördert hatte. Und Monas Verschwinden hat unserer Familie die Leichtigkeit genommen, falls es die je gegeben hatte. Nachher wollte ich einfach nicht den ersten Schritt tun. Aber ich wäre sofort bereit gewesen, sie wieder in die Arme zu schließen, wäre sie plötzlich wieder aufgetaucht. Und ich habe es ihr nie schwer gemacht, mich zu finden.«
Jetzt, wo ich das meiner Tochter erzähle, kann ich mich selbst nicht mehr verstehen. Ich hätte den ersten Schritt tun sollen! Jetzt ist es zu spät.
Ich schaue auf die Uhr und stehe auf. Meine Schicht bei der Seilbahn beginnt bald, und ich muss mich noch umziehen, mit dem Wagen nach Morschach fahren und dort in die Seilbahn steigen, die mich auf 1300 Meter an meinen Arbeitsplatz auf dem Stoos bringt. Dort bediene ich die Bahn von der Kommandozentrale aus, überwache die Talstation über Video und mache die Kasse. »Geh nur«, sagt Fränzi. »Ich kümmere mich um die Kiste, die unten steht. Sie ist wirklich riesig und schwer. Die können wir nicht mal gemeinsam herauftragen! Ich werde sie öffnen und den Inhalt irgendwie nach oben bringen.«
»Ja, mach nur. Danke!«, entgegne ich schwach und umarme meine Tochter.
Ich höre noch, wie sie vor sich hin brummelt, dass ich ihr das alles wirklich längst hätte erzählen können. »Auch Mütter müssen doch nicht alles mit sich alleine ausmachen«, findet sie.
Dann höre ich nichts mehr, weil ich in meinem Schlafzimmer bin, dem einzigen Raum in meiner Wohnung, der noch mir allein gehört. Ich schlüpfe in meinen roten Fleecepullover, ziehe die dunkle Uniformjacke mit der gelben Stoos-Sonne auf dem Rücken an, binde mein Haar zusammen und eile davon.
»Soll ich mich jetzt noch mal kurz hinlegen und die Augen schließen, damit du in Ruhe alles ausmalen und mich dann mit dem Bild überraschen kannst?«, frage ich vorsichtig optimistisch meine Enkelin. Sie schaut mich mit ihren großen blauen Augen an und wickelt sich eine Locke um den Zeigefinger. Fragt sie sich gerade, ob ich sie vielleicht austricksen will?
»Gut«, willigt Lea schließlich ein und nickt bedächtig. Ich lege mich schnell wieder auf das Sofa, bevor sie es sich anders überlegt. In der vergangenen Nacht hatte ich schlecht geschlafen, mich endlos hin und her gewälzt, und ich muss heute noch bis Mitternacht arbeiten. Da freue ich mich über jede Minute Ruhe. Ich höre Leas Buntstifte übers Papier kratzen. An meinem Hals kratzt meine selbst gehäkelte Decke und erinnert mich daran, wie oft ich in letzter Zeit ganz allein vor dem Fernseher gesessen bin und gehäkelt habe. Ich verhalte mich tatsächlich wie eine Oma, dabei bin ich doch erst knackige fünfzig und ziemlich gut erhalten.
Aber ich bin auch kindisch. Ich sage nur: der Brief! Er liegt seit vorgestern in der obersten, rechten Schublade meiner alten Kommode. Seit vorgestern! Leider fehlt mir der Mut, ihn zu öffnen. Kein Wunder, dass ich nachts nicht schlafen kann. Jedenfalls kann ich meine Schlaflosigkeit derzeit nicht mit den Wechseljahren begründen. Sie ist selbst verschuldet.
Obwohl ich den Brief gut in der Kommode versteckt habe, ist er mir gedanklich ständig präsent, versetzt mir Stöße vor die Brust, kichert höhnisch und verfolgt mich bis in meine Träume. Ich kann ihn einfach nicht ignorieren. Ich werde ihn öffnen müssen, irgendwann, aber ich tue mich schwer damit. Der Brief trägt einen mallorquinischen Poststempel und einen Adressaufkleber mit meiner Anschrift, aber keinen Absender. Er wird wohl von meiner Schwester Mona sein. Vor Jahren hätte ich mich über ein Lebenszeichen von ihr riesig gefreut. Aber wieso schreibt sie jetzt, nachdem sie sich seit fast vierzig Jahren nicht mehr gemeldet hat und nichts mehr von der Familie wissen will? Ich befürchte, dass der Brief alte Wunden aufreißen wird. Wahrscheinlich ist es eh schon passiert, daher meine Schlaflosigkeit. Ich setze mich wieder auf. Es hat keinen Sinn. Ich werde heute nicht zur Ruhe kommen.
»Fertig!«, ruft Lea stolz und laut und präsentiert mir ihr Bild.
Diesmal hat sie nicht nur alles schön ausgemalt, sondern auch noch Schneeflocken, eine Sonne, ein paar Sterne und den Mond um die Bahn herum gezeichnet. Mein schulterlanges schwarzes Haar hat sie verlängert, sodass es auf dem Bild fast bis zum Boden reicht. Ich sehe aus wie ein freches Seilbahn-Rapunzel und muss lachen. Das freut Lea. Sie ist begabt, hat Fantasie und Ausdauer. »Das ist richtig gut, Lea. Du bist eine kleine Künstlerin«, sage ich mit Großmutterstolz und umarme das Mädchen.
Lea schmiegt sich an mich. Seit ihre Eltern einen Scheidungskrieg ausfechten, sucht sie immer mehr meine Nähe. Es tut mir weh, dass die Ehe meiner Tochter gescheitert ist, genauso wie meine damals. Ich dachte und hoffte, Fränzi würde alles besser und vielleicht sogar richtig machen. Stattdessen hat sie wie ich viel zu früh geheiratet und wurde zu schnell Mutter. Schade, dass sie nicht aus meinen Fehlern lernen konnte. Sollte man als Scheidungskind nicht ein Gefühl für Fallstricke in einer Beziehung entwickeln können? Aber das ist wohl ein Denkfehler. Leider. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens Lea nicht in unsere Fußstapfen tritt.
»Mama!« Lea rennt ihrer Mutter entgegen, die eben heimkommt. Fränzi sieht genauso müde aus wie ich. Ihr schmales Gesicht wirkt eingefallen, ihre blauen Augen strahlen nicht mehr. Sie hat sich heute Morgen mit ihrem Anwalt getroffen, und anschließend hatte sie noch ein inoffizielles Bewerbungsgespräch bei einem befreundeten Zahnarzt.
»Die Stellensuche wird schwierig«, berichtet sie mir, sobald Lea sich in ein Bilderbuch vertieft hat, und kuschelt sich unter meine Sofadecke. »Die Zahnärzte kennen sich alle, und obwohl sie sehr wohl abschätzen können, wie viel ich in Marios Praxis gearbeitet habe und wie wertvoll mein Hintergrundwissen zusätzlich zu meiner Ausbildung als Zahnarzthelferin ist, wird mich hier in der Gegend kaum einer einstellen.« Sie seufzt. »Ein Zahnarzt reißt dem anderen keinen Zahn aus, oder wie kann man das nennen?« Sie lacht, und es klingt ein bisschen hämisch. »Dann wird die Scheidung halt umso teurer für Mario.«
Ich enthalte mich jeglichen Kommentars, denn ich glaube noch immer an ein Happy End für die beiden, erhoffe es mir zumindest. Mario ist fremdgegangen, und wahrscheinlich nicht zum ersten Mal. Aber er wird wieder ankriechen und mit seinem zugegeben umwerfenden Charme meine Tochter erneut um seinen gepflegten Finger wickeln. Mein Wunschschwiegersohn war er ja nie. Aber jetzt ist er halt da, und Lea liebt ihn abgöttisch. Und Fränzi liebt ihn auch. Und er liebt sie alle beide. Ach, es könnte alles so einfach sein. Ist es aber nicht. Ist es doch nie.2
»Mama, du siehst schlecht aus. Stand etwas Schlimmes in dem Brief?«, fragt meine Tochter irgendwann fürsorglich.
Darauf antworte ich jetzt lieber nicht. Fränzi wird mein Zögern nicht verstehen.
»Du hast den Brief noch immer nicht geöffnet?«, fragt Fränzi prüfend weiter und liest mir die Antwort von den Augen ab, noch bevor ich zaghaft verneine. Sie schüttelt ungläubig den Kopf. So kenne ich meine mutige und starke Mama gar nicht!« Sie geht zu meiner alten Kommode und ruckelt geduldig an der Schublade herum, bis sie sich öffnen lässt und den Brief freigibt. Fränzi legt ihn vor mich hin. Gnadenlos.
»Ich gehe jetzt mit Lea spazieren und hole uns eine Pizza. Bis zum Mittagessen ist der Brief offen. Versprochen? Sonst mache ich ihn auf«, erklärt sie streng.
Da klingelt jemand an der Wohnungstür. Als ich öffne, hält mir ein Paketbote ein Schreiben unter die Nase, auf dem ich eine Lieferung quittieren soll.
»Ich habe nichts bestellt«, wehre ich mich.
»Ein Paket aus Spanien«, sagt er kurz und mit fremdländischem Akzent. »Steht unten. Sehr groß. Schwer. Mehr Kiste, nicht nur Paket. Ist vielleicht Geschenk? Kostet ja nichts«, setzt der junge Mann hinzu.
Ich unterschreibe kopfschüttelnd. Der Bote macht sich wieder davon und lässt mich verdattert mit seinem Lieferschein in der Hand zurück.
»Mama?« Fränzi, die das kurze Gespräch wortlos verfolgt hat, schaut mich an und ist ein einziges Fragezeichen. Ich verstehe schon: Ein Brief und ein Paket, und Mama freut sich nicht darüber. Gar nicht. Das ist doch merkwürdig. Bevor sie mich jetzt gleich mit ihren Fragen löchert, schlage ich vor: »Gut, dann holt die Pizza, und ich lese den Brief. Um das Paket kümmern wir uns nach dem Essen. Und dann reden wir auch.«
»Abgemacht«, willigt Fränzi ein. Die beiden sind schneller weg, als mir lieb ist, und lassen mich ganz und gar allein mit meinem Brief. Ich schlitze ihn nun zügig mit einem Buntstift auf. Eine fremde Handschrift, stelle ich sofort verwundert fest, dazu der in Gold gedruckte Briefkopf eines Carlos Sánchez. Mit Herzklopfen lese ich die magere Botschaft.
»Liebe Antonia,
Meine Ehefrau und Ihre Schwester Mona ist vor einigen Tagen ihrem schweren Krebsleiden erlegen. Sie wusste, dass sie bald sterben würde, und hat daher einige Dinge, die ihr wichtig waren, vorher erledigt. So hat sie zum Beispiel eine Kiste gepackt, die ich Ihnen demnächst zuschicken werde. Eigentlich wollte sie in den letzten Wochen unbedingt selbst mit Ihnen reden, hat aber den Zeitpunkt verpasst. Es ging schneller zu Ende, als wir dachten.
Mona hat Sie sehr geliebt und immer wieder von Ihnen gesprochen. Sie hat Sie gegoogelt und so ein ganz klein wenig an Ihrem Leben teilhaben können. Mona hatte ein glückliches Leben und wünscht das auch Ihnen. Sie hat es bedauert, dass Sie nicht Malerin geworden sind, und will Ihnen mit ihrem Geschenk die Gelegenheit geben, das jetzt noch zu ändern. Es ist nie zu spät.
Mit freundlichem Gruß, Carlos Sánchez«
Volltreffer.
Genau wie ich befürchtet hatte: Die alten Wunden sind offen, bluten und schmerzen.
Ich weine leise vor mich hin, bin aber gleichzeitig auch wütend. Mona hätte mich gewiss nicht googeln müssen, um an meinem Leben teilzuhaben. Ein kurzer Anruf hätte genügt, irgendein mickriges Lebenszeichen hätte mir gereicht. Aber nein, sie gab mir das Gefühl, völlig unwichtig zu sein. Sie hatte die Familie verlassen, einen Schnitt gemacht, und es fühlte sich so an, als sei das für sie eine leichte Sache gewesen, als hätte ich überhaupt nie einen Platz in ihrem Herzen gehabt.
Spontan wähle ich die Nummer, die auf dem Briefkopf von Carlos Sánchez steht. Ich erreiche ihn nicht und bin irgendwie auch froh darüber, weil ich im Moment gar nicht in der Verfassung wäre, um mit ihm zu sprechen.
»Erzähl mir endlich von Mona«, fordert mich meine Tochter nach dem gemeinsamen Pizzaessen auf. Lea macht gerade einen Mittagsschlaf, und wir sitzen mit einer Tasse Kaffee am Wohnzimmertisch. Fränzi rückt näher zu mir, hält sogar meine Hand, was mich berührt. Ich muss mitgenommen aussehen, wenn sich meine Tochter so um mich sorgt.
Ja, ich denke, es ist Zeit, dass wenigstens ich einmal rede. Schlimm genug, dass meine Eltern eine Allianz des Schweigens bilden, wenn es um Mona geht.
»Ich war zwölf, als sich bei uns ein Familiendrama ereignete. Meine Schwester Mona wollte ihre Lehre abbrechen und nur noch malen oder zumindest eine künstlerische Ausbildung machen. Und ja, sie war eine Künstlerin. Mit ihren achtzehn Jahren hatte sie schon drei Preise gewonnen, überall als jüngste Teilnehmerin und als jüngste Preisträgerin sowieso. Sie malte, zeichnete, skizzierte, und ich bewunderte sie ohne Ende. Sie war meine Göttin. Ich wollte genau so sein wie Mona: selbstbewusst, unangepasst, kreativ. Ich malte mit ihr und lernte dabei von ihr. Die Malerei verband uns Schwestern. Ich dachte, das Band sei zwar unsichtbar, aber unzertrennbar. Falsch gedacht.«
Ich atme kurz durch und trinke einen Schluck Kaffee, bis Fränzi mich sachte anschubst und zum Weiterreden drängt. »Irgendwann gab es nur noch Streit und Knatsch zwischen meinen Eltern und Mona. Mona war kreuzunglücklich mit ihrer kaufmännischen Ausbildung in einer Großmetzgerei. Sie rebellierte. Und mein Vater machte alles falsch, was ein Vater in so einer Situation falsch machen kann. Irgendwann war sogar ich der ständigen Reibereien überdrüssig, aber Mona war nicht zu stoppen. Sie wollte die Lehre schmeißen und dafür irgendwo einen Job annehmen und malen. Ganz ehrlich: Das hätte ich dir auch nicht durchgehen lassen, Fränzi. Aber ich hätte mich mit dir zusammengesetzt, und wir hätten nach einer Lösung gesucht, die für alle akzeptabel ist. Für meinen Vater gab es aber nur seinen Weg, seine Ordnung, seine Erziehung, seine Macht. Du kennst ihn ja. Er war schon damals ein Sturkopf durch und durch: ohne Fantasie und ohne Verständnis für Menschen, die anders sind als er. Er realisierte gar nicht, wie sich die Lage zuspitzte. Am Ende nahm er uns beiden die Malutensilien weg und verbot uns das Malen. Die Auseinandersetzungen wurden nur noch schlimmer. Er schlug Mona sogar. Schließlich erklärte er ihr, wenn sie die Lehre abbreche, könne sie gehen und müsse nie mehr wiederkommen. Sicher dachte er in seiner Verzweiflung, das sei nun das beste, überzeugendste, allerletzte Mittel, um Mona zur Vernunft zu bringen. Aber Mona packte und ging.«
Ich kann nicht weiterreden und schluchze leise.
Fränzi schaut mich fassungslos an und streichelt meine Hand. »Und was tat Oma?«, fragt sie schließlich mit großen Augen.
»Meine Mutter? Sie saß da und strickte. Sie saß überhaupt immer nur daneben und strickte, während mein Vater tobte oder argumentierte. Heute frage ich mich, ob sie immer strickte, um sich an etwas festzuhalten, damit ihr nicht die Hand ausrutschte und sie nicht in Versuchung geriet, meinem Vater mal die Grenzen aufzuzeigen. Ich weiß es nicht.«
Ich halte inne. Das war ganz schön viel Text dafür, dass ich selbst bisher nie über Mona geredet habe.
»Was ist aus Mona geworden? Habt ihr je wieder etwas von ihr gehört?«, fragt Fränzi weiter.
»Man erzählte uns damals, Mona sei nach Zermatt gegangen. Dort wohnte sie wohl bei einer Brieffreundin, die im ›Zermatterhof‹ arbeitete. Jahre später hat mal jemand aus dem Dorf Mona auf Mallorca getroffen, wo sie ihre Bilder verkaufte. Das ist alles. Ich habe geweint und getrauert, ganz im Stillen, nur für mich. Ich hatte meine Schwester, meine Freundin, meine Vertraute verloren. Aber ich musste das mit mir selbst ausmachen, dabei war ich noch ein halbes Kind. Meine Eltern verschlossen sich, und Mona war ab sofort tabu. Sie waren wie eine Mauer und wehrten geschlossen jeden Versuch ab, über Mona zu reden. Mama strickte weiter, und Papa wurde sehr still und kümmerte sich nur noch um seine blöden preisgekrönten Kaninchen.«
»Warum hast du nie nach Mona gesucht?«, will Fränzi wissen.
»Ja, ich hätte Mona suchen können, suchen sollen, vielleicht, jedenfalls später, als ich erwachsen war. Aber ich war so verletzt und hatte fest das Gefühl, sie wolle auch von mir nichts mehr wissen. Monas Zerwürfnis mit unseren Eltern hat mir vollends meine Freude am Malen genommen, die Mona doch zuerst so liebevoll gefördert hatte. Und Monas Verschwinden hat unserer Familie die Leichtigkeit genommen, falls es die je gegeben hatte. Nachher wollte ich einfach nicht den ersten Schritt tun. Aber ich wäre sofort bereit gewesen, sie wieder in die Arme zu schließen, wäre sie plötzlich wieder aufgetaucht. Und ich habe es ihr nie schwer gemacht, mich zu finden.«
Jetzt, wo ich das meiner Tochter erzähle, kann ich mich selbst nicht mehr verstehen. Ich hätte den ersten Schritt tun sollen! Jetzt ist es zu spät.
Ich schaue auf die Uhr und stehe auf. Meine Schicht bei der Seilbahn beginnt bald, und ich muss mich noch umziehen, mit dem Wagen nach Morschach fahren und dort in die Seilbahn steigen, die mich auf 1300 Meter an meinen Arbeitsplatz auf dem Stoos bringt. Dort bediene ich die Bahn von der Kommandozentrale aus, überwache die Talstation über Video und mache die Kasse. »Geh nur«, sagt Fränzi. »Ich kümmere mich um die Kiste, die unten steht. Sie ist wirklich riesig und schwer. Die können wir nicht mal gemeinsam herauftragen! Ich werde sie öffnen und den Inhalt irgendwie nach oben bringen.«
»Ja, mach nur. Danke!«, entgegne ich schwach und umarme meine Tochter.
Ich höre noch, wie sie vor sich hin brummelt, dass ich ihr das alles wirklich längst hätte erzählen können. »Auch Mütter müssen doch nicht alles mit sich alleine ausmachen«, findet sie.
Dann höre ich nichts mehr, weil ich in meinem Schlafzimmer bin, dem einzigen Raum in meiner Wohnung, der noch mir allein gehört. Ich schlüpfe in meinen roten Fleecepullover, ziehe die dunkle Uniformjacke mit der gelben Stoos-Sonne auf dem Rücken an, binde mein Haar zusammen und eile davon.
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Autoren-Porträt von Blanca Imboden
Imboden, BlancaBlanca Imboden, geb. 1962, schrieb schon in der Primarschule Fortsetzungsromane. Schreiben blieb ihre erste Leidenschaft, die zweite war die Musik. Als Tanzmusikerin reiste sie während dreizehn Jahren durch die Schweiz und Deutschland. Später arbeitete sie als Redaktionssekretärin und Kolumnistin jahrelang bei einer Lokalzeitung. Als diese Ende 2013 wegrationalisiert wurde, fand sie ihren neuen Teilzeitjob dort, wo ihre dritte Leidenschaft liegt: in den Bergen, wo sie die Seilbahn Morschach-Stoos bedient. 'Matterhörner' ist ihr vierter Roman, den sie für den Wörterseh Verlag schrieb, die Vorgänger 'Wandern ist doof', 'Drei Frauen im Schnee' und 'Anna & Otto' standen alle wochenlang auf der Bestsellerliste. Blanca Imboden lebt in Ibach SZ.
Bibliographische Angaben
- Autor: Blanca Imboden
- 2015, 208 Seiten, Masse: 13,7 x 21,1 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: WÖRTERSEH VERLAG
- ISBN-10: 3037630566
- ISBN-13: 9783037630563
- Erscheinungsdatum: 07.05.2015
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