Lilien im Sommerwind
Roman
Tory sucht nach dem Mörder ihrer besten Freundin. Doch deren Tod war nur der Auftakt einer Mordserie ...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Lilien im Sommerwind “
Tory sucht nach dem Mörder ihrer besten Freundin. Doch deren Tod war nur der Auftakt einer Mordserie ...
Klappentext zu „Lilien im Sommerwind “
Schatten der VergangenheitMit acht Jahren wird Tory Zeugin des gewaltsamen Todes ihrer besten Freundin. Achtzehn Jahre später kehrt die junge Frau in ihre Heimatstadt zurück, um den Mord an Hope aufzuklären. Mutig beginnt sie mit ihren Nachforschungen. Dabei verliebt sie sich in Hopes Bruder Cade, der ihr bei der Suche nach dem Mörder zur Seite steht. Bald stellt sich jedoch heraus, dass dieser Fall nur der Anfang einer ganzen Serie ähnlicher Morde war. Und diese Serie ist noch nicht zu Ende.
Lese-Probe zu „Lilien im Sommerwind “
Lilien im Sommerwind von Nora RobertsAus dem Amerikanischen von Margarethe van Pée
1
Sie erwachte im Körper einer toten Freundin. Sie war acht, groß für ihr Alter, mit leichten Knochen und zarten Gesichtszügen. Ihr seidiges Haar hatte die Farbe von reifem Weizen und fiel anmutig über ihren schmalen Rücken. Ihre Mutter kämmte es jeden Abend voller Liebe, einhundert Striche mit der weichen, silbergefassten Bürste, die auf dem zierlichen Kirschholzfrisiertisch des Kindes lag.
Der Körper der Kleinen erinnerte sich daran, sie spürte jeden langen, liebevollen Bürstenstrich. Sie kam sich dann immer vor wie eine Katze, die gestreichelt wurde. Sie erinnerte sich auch daran, wie das Licht über die Schachteln mit den Haarnadeln und über die Kristall-und Kobaltflaschen glitt und sich im silbernen Rücken der Bürste fing.
Sie erinnerte sich an den Duft im Zimmer und konnte ihn sogar jetzt riechen. Gardenien. Bei Mama waren es immer Gardenien.
Und im Spiegel konnte sie im Lampenlicht das blasse Oval ihres eigenen Gesichts sehen, so jung, so hübsch, mit nachdenklichen blauen Augen und einer glatten Haut. So lebendig.
Ihr Name war Hope.
Die Fenster und die Terrassentüren waren geschlossen, weil es Hochsommer war. Die Hitze presste ihre feuchten Finger gegen das Glas, aber innen war die Luft kühl, und ihr Baumwollnachthemd so gestärkt, dass es knisterte, wenn sie sich bewegte.
Sie selbst hatte nichts gegen die Hitze, und sie ersehnte das Abenteuer, aber sie behielt diese Gedanken für sich, als sie Mama einen Gutenachtkuss gab. Ihre Lippen streiften die parfümierte Wange nur.
... mehr
Mama ließ stets im Juni die Läufer im Flur zusammenrollen und auf den Speicher bringen. Die dicken Pinien- dielen mit ihrer Schicht aus Bohnerwachs fühlten sich unter den bloßen Füßen des Mädchens glatt und weich an. Hope ging den Flur mit den einfachen Zypressenpaneelen und den goldgerahmten Gemälden entlang und dann die Wendeltreppe hinauf in das Arbeitszimmer ihres Vaters.
Dort war der Duft des Vaters. Tabak, Leder, Old Spice und Bourbon.
Sie liebte diesen Raum mit den runden Wänden und den großen, schweren Ledersesseln, die die Farbe des Portweins hatten, den ihr Papa manchmal nach dem Abendessen trank. Die Regale an den Wänden waren mit Büchern und Schätzen vollgestopft. Sie liebte den Mann, der mit einer Zigarre und dem Whiskeyglas an seinem riesigen Schreibtisch über den Büchern saß.
Die Liebe verursachte der Frau in dem Kind Herzschmerzen, sehnsüchtige, neidische Stiche - wegen dieser unkomplizierten und allumfassenden Liebe.
Seine Stimme war laut, seine Arme waren stark und sein Bauch fühlte sich weich an, wenn er sie in eine Umarmung zog, die so ganz anders war als der sanfte, zurückhaltende Gutenachtkuss von Mama.
Da ist meine Prinzessin, sie geht jetzt ins Königreich der Träume. Wovon werde ich träumen, Papa? Von Rittern und weißen Rössern und Abenteuern über dem Meer.
Sie kicherte, ließ aber ihren Kopf noch ein bisschen länger als sonst an seiner Schulter liegen und schnurrte tief in der Kehle wie ein Kätzchen.
Wusste sie es? Wusste sie, dass sie niemals wieder sicher und geborgen auf seinem Schoß sitzen würde?
Dann wieder die Treppe hinunter, vorbei an Cades Zimmer. Für ihn war noch nicht Schlafenszeit, weil er vier Jahre älter und ein Junge war, der an Sommerabenden lange aufbleiben und fernsehen oder Bücher lesen durfte, solange er morgens pünktlich aufstand und seine Pflichten erledigte.
Eines Tages würde Cade der Herr von Beaux Reves sein und selbst an dem großen Schreibtisch im Turmzimmer mit den Büchern sitzen. Er würde der Herr über die Angestellten sein, die Plantage und die Ernte überwachen und auf Sitzungen Zigarren rauchen und sich über die Regierung und den Preis für die Baumwolle beklagen.
Weil er der Sohn war.
Für Hope war das in Ordnung. Sie wollte nicht an einem Schreibtisch sitzen und Zahlen addieren müssen.
Vor der Tür ihrer Schwester blieb sie stehen und zögerte. Für Faith war es nicht in Ordnung. Für Faith schien nie etwas in Ordnung zu sein. Lilah, die Haushälterin, sagte immer, Faith würde sich sogar mit Gott dem Allmächtigen streiten, einfach nur, um ihn zu erzürnen.
Hope vermutete, dass das stimmte, und obwohl Faith ihre Zwillingsschwester war, verstand sie nicht, warum sie ständig an allem herumnörgelte. Gerade erst heute Abend war sie in ihr Zimmer geschickt worden, weil sie eine freche Antwort gegeben hatte. Jetzt war die Tür fest verschlossen, und es schimmerte auch kein Licht unter dem Türspalt durch. Hope stellte sich vor, dass Faith schmollend zur Decke starrte und die Fäuste so fest geballt hatte, als wolle sie mit den Schatten boxen.
Hope berührte den Türgriff. Meistens gelang es ihr, Faith aus ihren düsteren Stimmungen herauszuschmeicheln. Sie konnte mit ihr im Dunkeln im Bett kuscheln und Geschichten erfinden, bis Faith lachen musste und ihre Augen wieder trocken waren.
Aber heute Abend ging es um andere Dinge. Heute Abend ging es um Abenteuer.
Es war alles geplant, aber Hope ließ die Erregung erst zu, als sie in ihrem Zimmer war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie machte das Licht erst gar nicht an und bewegte sich leise in der vom Mondlicht silbern schimmernden Dunkelheit. Sie zog ihr Baumwollnachthemd aus und schlüpfte in Shorts und T-Shirt. Als sie die Kissen auf dem Bett so hinlegte, dass sie für ihre Kinderaugen aussahen wie ein schlafender Körper, klopfte ihr Herz angenehm heftig.
Dann zog sie unter dem Bett ihre Abenteuerkiste hervor. Die alte Frühstücksdose mit dem gewölbten Deckel enthielt eine warm gewordene Flasche Coca-Cola, eine Packung Plätzchen, die sie aus dem Küchenschrank stiebitzt hatte, ein kleines, verrostetes Taschenmesser, Streichhölzer, einen Kompass, eine Wasserpistole - geladen - und eine rote Plastiktaschenlampe.
Hope setzte sich einen Moment lang auf den Fußboden. Sie konnte ihre Buntstifte riechen und das Puder, mit dem sie nach dem Baden eingepudert worden war. Sie konnte, ganz leise, die Musik aus dem Wohnzimmer ihrer Mutter hören.
Als sie ihr Fenster aufzog und vorsichtig das Mückengitter herausnahm, lächelte sie.
Geschickt und gelenkig schwang sie ein Bein über das Fensterbrett und fand Halt in der Pergola, an der sich die Glyzinie emporrankte.
Die Luft war dick wie Sirup, und ihr heißer, süßer Duft füllte Hopes Lungen. Sie kletterte die Pergola hinunter, zog sich dabei einen Splitter in den Finger und sog zischend die Luft ein. Aber sie kletterte unbeirrt weiter, die Augen fest auf die erleuchteten Fenster im Erdgeschoss gerichtet. Ich bin nur ein Schatten, dachte sie, und niemand wird mich sehen.
Sie war Hope Lavelle, die junge Spionin, und um Punkt zweiundzwanzig Uhr fünfunddreißig hatte sie ein Treffen mit ihrer Kontaktperson, ihrer Partnerin.
Sie musste ein Kichern unterdrücken. Atemlos sprang sie zu Boden.
Um ihre Erregung noch zu steigern schoss sie wie ein Pfeil hinter die dicken Stämme der großen alten Bäume, die das Haus beschatteten, und spähte von dort zu dem schwachen blauen Licht, das aus dem Fenster drang, wo ihr Bruder fernsah, und zu dem hellen gelben Schein der Fenster, hinter denen ihre Eltern den Abend verbrachten.
Wenn man mich jetzt entdeckt, ist das eine Katastrophe für meinen Auftrag, dachte sie, während sie gebückt durch den Garten lief, durch den süßen Duft der Rosen und des nachtblühenden Jasmins. Das musste sie um jeden Preis verhindern - schließlich ruhte das Schicksal der Welt auf ihren Schultern und denen ihrer tapferen Partnerin.
Die Frau in dem Kind schrie auf: Geh zurück, o bitte, geh zurück! Aber das Kind hörte sie nicht.
Hope holte ihr pinkfarbenes Fahrrad hinter den Kamelien hervor, wo sie es am Nachmittag versteckt hatte, legte ihre Kiste in den weißen Korb und schob das Rad über den Rasen neben der kiesbedeckten Auffahrt, bis das Haus und die Lichter verschwunden waren.
Dann radelte sie wie der Wind und stellte sich dabei vor, das hübsche kleine Fahrrad sei ein schnelles Motorrad. Die weißen Plastikwimpel an der Stange flatterten im Wind und schlugen fröhlich aneinander.
Sie flog durch die schwüle Luft, und der Chor der Grillen und Zikaden wurde zum brummenden Motorgeräusch ihrer schnellen Maschine.
An der Straßengabelung bog sie links ab und sprang dann vom Rad, um es von der Straße in den schmalen Graben zu schieben, wo die Büsche es verdeckten. Obwohl das Mondlicht hell genug war, nahm sie die Taschenlampe aus ihrer Kiste. Die lächelnde Prinzessin Leia auf ihrer Armbanduhr sagte ihr, dass sie eine Viertelstunde zu früh war. Ohne Angst und ohne nachzudenken bog sie auf den schmalen Pfad in den Sumpf ein.
Ins Ende des Sommers, ins Ende der Kindheit. Des Lebens.
Hier war alles voller Geräusche - von Wasser, Insekten und kleinen Nachttieren. Das Licht drang in schmalen Streifen durch das Dach der Schirmakazien und der Zypressen mit den tropfenden Moosflechten. Hier wurden die Magnolienblüten dick und fett und verströmten einen betörenden Duft. Der Weg zur Lichtung war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Dieser Treffpunkt, dieser geheime Ort, wurde gut gepflegt, behütet und geliebt.
Da Hope als Erste da war, nahm sie Zweige und knorrige Äste vom Holzstapel und entzündete ein Feuer. Der Rauch sollte die Moskitos fern halten, aber sie kratzte bereits an den Stichen, mit denen ihre Arme und Beine übersät waren.
Sie nahm sich ein Plätzchen und ihre Cola und setzte sich hin.
Nach einer Weile fielen ihr die Augen zu, und die Musik des Sumpfes lullte sie ein. Das Feuer fraß sich durch das Holz und wurde zu Glut. Schläfrig legte Hope den Kopf auf die hochgezogenen Knie.
Zuerst war das Rascheln nur Teil ihres Traums, in dem sie durch verwinkelte Pariser Straßen schlich, um dem bösen russischen Spion nicht in die Arme zu laufen. Als jedoch ein Zweig unter einem Schritt knackte, fuhr ihr Kopf hoch, und sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie grinste breit, verfiel dann aber rasch in das professionelle Verhalten einer Geheimagentin.
Passwort!
Außer dem monotonen Summen der Insekten und dem leisen Knistern des Feuers herrschte Stille im Sumpf.
Taumelnd sprang Hope auf und hielt die Taschenlampe wie eine Pistole in der Hand. »Passwort!«, rief sie wieder und richtete den kurzen Lichtstrahl vor sich.
Jetzt jedoch raschelte es hinter ihr, also fuhr sie herum, und ihr Herz machte einen nervösen Satz. Angst, etwas, das sie in ihren acht kurzen Lebensjahren so selten verspürt hatte, schnürte ihr heiß die Kehle zu.
Komm schon, sag es. Du jagst mir keine Angst ein.
Ein Geräusch von links, absichtlich, höhnisch. Wieder stieg die Angst in ihr auf, und sie trat einen Schritt zurück.
Und dann hörte sie das Lachen, leise, keuchend, dicht bei ihr.
Hope rannte los, rannte durch die Dunkelheit und die schmalen Lichtstreifen. Blankes Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu, schnitt ihre Schreie ab, bevor sie sie ausstoßen konnte.
Hinter ihr schwere Schritte. Schnell, zu schnell, und viel zu nah. Etwas trifft sie von hinten. Ein heftiger Schmerz im Rücken, der ihr bis in die Fußsohlen schießt. Schwer fällt sie zu Boden, und schluchzend entweicht die Luft ihren Lungen, als er sie mit seinem Gewicht niederdrückt. Sie riecht Schweiß und Whiskey.
Sie schreit jetzt, einen langen verzweifelten Schrei, und ruft nach ihrer Freundin.
Tory! Tory, hilf mir!
Und die Frau, die in dem toten Kind gefangen ist, weint.
Als Tory wieder zu sich kam, lag sie auf den Fliesen in ihrem Patio. Sie trug nur ein Nachthemd, das von dem feinen Frühlingsregen bereits ganz durchweicht war. Ihr Gesicht war nass, und sie schmeckte das Salz ihrer eigenen Tränen.
Schreie hallten in ihrem Kopf wider, aber sie wusste nicht, ob es ihre eigenen waren oder die des Kindes, das sie nicht vergessen konnte.
Zitternd rollte sie sich auf den Rücken, damit der Regen ihre Wangen kühlen und ihre Tränen wegwaschen konnte. Die Episoden - Anfälle nannte ihre Mutter sie immer - ließen sie oft schwach und zitterig zurück. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie sie unterdrücken können, bevor sie sie überfielen. Oder der stechende Schmerz vom Gürtel ihres Vaters hatte sie verdrängt.
Ich peitsche dir den Teufel aus dem Leib, Mädchen!
Für Hannibal Bodeen war der Teufel überall - in jeder Angst und jeder Versuchung lauerte die Hand des Satans. Und er hatte sein Bestes getan, um seinem einzigen Kind das Böse auszutreiben.
In diesem Moment, während ihr die Übelkeit den Magen umdrehte, wünschte Tory, es wäre ihm gelungen.
Es erstaunte sie, dass sie jahrelang das, was in ihr war, angenommen hatte, es erforscht, benutzt, ja sogar willkommen geheißen hatte. Ein Vermächtnis, hatte ihre Großmutter zu ihr gesagt. Das zweite Gesicht. Das dritte Auge. Ein Geschenk des Blutes durch das Blut.
Aber da war Hope. Immer häufiger war da Hope, und die aufblitzenden Kindheitserinnerungen ihrer Freundin taten Torys Herzen weh. Und jagten ihr Angst ein.
Nichts, was sie je erlebt hatte, wenn sie ihre Gabe entweder unterdrückte oder annahm, hatte sie so mitgenommen, so überwältigt. Es machte sie hilflos, obwohl sie sich gelobt hatte, nie wieder hilflos zu sein.
Und doch lag sie hier auf ihrer Terrasse im Regen, ohne auch nur im Geringsten zu wissen, wie sie nach draußen gekommen war. Sie war in der Küche gewesen und hatte sich Tee gekocht, Licht und Radio waren an, und Tory hatte an der Theke gestanden und einen Brief von ihrer Großmutter gelesen.
Das war der Auslöser, stellte Tory fest, während sie langsam aufstand. Ihre Großmutter war das Bindeglied zu ihrer Kindheit. Zu Hope.
In Hope hinein, dachte sie, während sie die Terrassentür schloss. In den Schmerz und die Angst und das Entsetzen in jener schrecklichen Nacht. Und sie wusste immer noch nicht, wer es getan hatte oder warum.
Zitternd ging Tory ins Badezimmer, zog sich aus und stellte sich unter die heiße Dusche.
»Ich kann dir nicht helfen«, murmelte sie und schloss die Augen. »Ich konnte dir damals nicht helfen, und ich kann es auch jetzt nicht.«
Ihre beste Freundin, ihre Herzensschwester, war in jener Nacht im Sumpf gestorben, während sie, in ihrem Zimmer eingeschlossen, heiße Tränen weinte wegen der Schläge, die sie bekommen hatte.
Und sie hatte es gewusst. Sie hatte es gesehen. Sie war hilflos gewesen.
Schuldgefühle, so frisch wie vor achtzehn Jahren, überfluteten sie. »Ich kann dir nicht helfen«, sagte sie noch einmal, »aber ich komme zurück.«
Wir waren acht Jahre alt in jenem Sommer. In jenem lange vergangenen Sommer, als die heißen Tage endlos schienen. Es war ein Sommer der Unschuld und der albernen Streiche und der Freundschaft, die Art von Sommer, die uns wie eine hübsche Glaskugel umhüllt. Doch eine Nacht hat alles verändert. Seitdem war für mich nichts mehr wie vorher. Wie hätte es das auch sein können?
Die meiste Zeit im Leben habe ich es vermieden, darüber zu sprechen. Die Erinnerungen oder die Bilder hat das jedoch nicht verhindert. Aber eine Zeit lang versuchte ich, sie zu begraben, so wie Hope begraben war. Dies jetzt laut auszusprechen, wenn auch nur für mich, ist eine Erleichterung. Als zöge ich einen Splitter aus meinem Herzen. Der Schmerz wird noch eine Weile anhalten.
Sie war meine beste Freundin. Unsere Bindung besaß eine Tiefe und Intensität, wie sie nur Kinder herstellen können. Vermutlich waren wir ein seltsames Paar, die blonde, privilegierte Hope Lavelle und die dunkelhaarige, schüchterne Tory Bodeen.
Mein Vater hatte ein kleines Stück Land gepachtet, eine winzige Ecke der großen Plantage, die ihrem Vater gehörte. Manchmal, wenn ihre Mama ein großes Gesellschaftsessen oder eine ihrer prächtigen Partys gab, dann half meine Mama beim Saubermachen und Servieren.
Aber diese Kluft zwischen den gesellschaftlichen Schichten berührte unsere Freundschaft nie. Das kam uns einfach nie in den Sinn.
Hope lebte in einem prächtigen Haus, das einer ihrer exzentrischen Vorfahren so gebaut hatte, dass es eher einem Schloss glich als den georgianischen Villen, die damals so beliebt waren. Es war aus Stein, mit Türmen und Türmchen und Zinnen. Aber Hope hatte nichts von einer Prinzessin.
Sie lebte für Abenteuer. Und wenn ich mit ihr zusammen war, tat ich das auch. Ich floh aus dem Elend und dem Aufruhr in meinem Zuhause und meinem Leben und wurde ihre Partnerin. Wir waren Spione, Detektive, Ritter auf dem Kreuzzug, Piraten oder Raumfahrer. Wir waren tapfer und aufrichtig, kühn und wagemutig.
Im Frühling vor jenem Sommer ritzten wir uns mit ihrem Taschenmesser die Handgelenke auf. Feierlich tauschten wir unser Blut aus. Wir hatten wahrscheinlich Glück, dass wir keinen Wundstarrkrampf bekamen. Stattdessen wurden wir Blutsschwestern.
Sie hatte eine Zwillingsschwester. Aber Faith nahm selten an unseren Spielen teil. Sie fand sie zu albern oder zu rau und schmutzig. Irgendetwas hatte Faith immer daran auszusetzen.
Wir vermissten ihre Wutausbrüche oder ihre Klagen nicht. In jenem Sommer waren Hope und ich die Zwillinge.
Wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich sie liebe, wäre ich verlegen geworden. Ich hätte die Frage nicht verstanden. Aber ich habe sie seit jener schrecklichen Augustnacht jeden Tag vermisst. Sie hat mir gefehlt wie jener Teil von mir, der mit ihr gestorben ist.
Wir wollten uns im Sumpf, an unserem geheimen Ort, treffen. Vermutlich war er gar nicht besonders geheim, aber er gehörte uns. Wir spielten oft dort, in der feuchten grünen Luft, und erlebten unsere Abenteuer zwischen Moos, wilden Azaleen und dem Gesang der Vögel.
Man hatte uns verboten, nach Sonnenuntergang dort hinzugehen, aber wenn man acht Jahre alt ist, ist es aufregend, Verbote zu missachten.
Ich wollte Marshmallows und Limonade mitbringen - zum Teil aus purem Stolz. Meine Eltern waren arm, und ich war noch ärmer, aber ich musste etwas dazu beitragen, und so hatte ich das Geld gezählt, das ich in dem Steinkrug unter meinem Bett versteckte. Ich besaß in jener Augustnacht noch zwei Dollar und sechsundachtzig Cents - nachdem ich die Sachen bei Hanson gekauft hatte -, und hatte mein restliches Vermögen, das nur noch aus Pennies, Nickels und einigen hart verdienten Vierteldollarmünzen bestand, in einem Einmachglas versteckt.
Zum Abendessen gab es Hühnchen und Reis. Im Haus war es, obwohl der Ventilator auf Hochtouren lief, so heiß, dass das Essen eine Qual war. Aber wenn man auch nur ein Reiskorn auf dem Teller hatte, erwartete mein Vater, dass man es aß und dankbar dafür war. Vor dem Abendessen wurde gebetet. Je nach Daddys Stimmung dauerte das zwischen fünf und zwanzig Minuten, und in der Zwischenzeit wurde das Essen kalt, und der Magen knurrte und der Schweiß rann einem in Bächen den Rücken hinunter.
Meine Großmama pflegte immer zu sagen: »Als Hannibal Bodeen zu Gott fand, versuchte der, ein anderes Versteck zu finden.«
Er war ein großer Mann, mein Vater, mit einer breiten Brust und kräftigen Armen. Ich habe gehört, dass er früher einmal als gut aussehend galt. Die Jahre prägen einen Mann auf unterschiedliche Art, und meinen Vater hatten die Jahre bitter gemacht. Bitter und streng, mit einer unterschwelligen Gemeinheit. Er trug sein dunkles Haar zurückgekämmt, und unter dieser Haube wirkte sein Gesicht wie ein scharfkantiger Fels im Gebirge. Ein Fels, der dir die Haut von den Knochen reißen konnte, wenn du einmal nicht aufgepasst hattest. Auch seine Augen waren dunkel, ein flammendes Dunkel, das ich heute in den Augen einiger Fernsehprediger oder Obdachloser wiedererkenne.
Meine Mutter hatte Angst vor ihm. Ich versuche, ihr zu verzeihen, dass sie so viel Angst vor ihm hatte, dass sie mir nie beistand, wenn er mir mit seinem Gürtel seinen rachsüchtigen Gott einbläute.
An jenem Abend war ich still beim Abendessen. Wenn ich still war und meinen Teller leer aß, bestand vielleicht die Chance, dass er keine Notiz von mir nahm. Die Vorfreude auf die Nacht bebte in mir wie etwas Lebendiges. Ich hielt meine Augen gesenkt und versuchte, so zu essen, dass er mir weder vorwerfen konnte zu trödeln noch mein Essen herunterzuschlingen. Alles war bei Daddy immer ein schmaler Grat.
Ich erinnere mich noch genau an das Surren der Ventilatoren und an das Kratzen der Gabeln auf den Tellern. Ich erinnere mich an das Schweigen, an das Schweigen der Seelen, die sich furchtsam versteckten.
Als meine Mutter meinem Vater noch etwas Hühnchen anbot, dankte er ihr höflich und nahm sich ein zweites Mal. Alle im Zimmer atmeten erleichtert auf. Das war ein gutes Zeichen. Ermutigt machte meine Mutter eine Bemerkung darüber, wie gut die Tomaten und der Mais wuchsen und dass sie in den nächsten zwei Wochen einmachen würde. Drüben in Beaux Reves würden sie auch einmachen, und ob er es nicht auch für eine gute Idee hielte, wenn sie dabei helfen würde, weil man sie darum gebeten hatte.
Sie erwähnte nicht, dass sie dafür auch Geld bekommen würde. Selbst wenn Daddy gute Laune hatte, war es nicht gut, von dem Geld zu reden, das die Lavelles für einen Dienst bezahlten. Er war der Ernährer in diesem Haus, und diesen überaus wichtigen Punkt durften wir keinesfalls vergessen.
Alle im Zimmer hielten erneut den Atem an. Manchmal brachte allein schon die Erwähnung des Namens Lavelle Daddy in Rage. An jenem Abend jedoch erlaubte er es. Es sei eine ganz vernünftige Angelegenheit. Jedenfalls, solange sie darüber nicht ihre Pflichten vernachlässigte, die sie unter seinem Dach hatte.
Diese relativ freundliche Antwort brachte Mutter zum Lächeln. Ich erinnere mich noch, wie ihr Gesicht ganz weich wurde und wie sie fast wieder hübsch aussah. Ab und zu, wenn ich es ganz angestrengt versuche, kann ich mich erinnern, dass Mama einmal hübsch war.
Han, sagte sie lächelnd zu ihm, Tory und ich kümmern uns um alles hier, mach dir keine Sorgen. Ich gehe morgen zu Miss Lilah und rede mit ihr und sehe zu, dass wir alles schaffen. Von den Beeren mache ich auch Gelee. Ich weiß, dass ich hier irgendwo noch Paraffin habe, aber ich kann mich nicht entsinnen, wo es hingekommen ist.
Und das, diese rein zufällige Bemerkung über Gelee und Wachs und Vergesslichkeit, änderte alles. Vermutlich waren meine Gedanken während ihres Gesprächs abgeschweift, und ich war im Geiste bereits bei den Abenteuern, die wir erleben wollten. Und ohne nachzudenken, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, sagte ich die Worte, die mich verdammten.
Die Schachtel mit dem Paraffin steht auf dem obersten Brett im Schrank über dem Herd, hinter der Melasse und dem Maismehl.
Ich sagte einfach, was ich in meinem Kopf sah, die viereckige Schachtel mit dem Wachsblock hinter der dunklen Flasche mit dem Sirup, und griff dann nach meinem kalten, süßen Tee, um die Reiskörner hinunterzuspülen.
Bevor ich den ersten Schluck trinken konnte, hörte ich, wie das Schweigen wieder einkehrte, die stumme Welle, die selbst das monotone Summen der Ventilatoren übertönte. Mein Herz begann heftig zu schlagen, und mein Kopf dröhnte vom angstvollen Rauschen meines Blutes.
Ganz sanft, wie er es vor seinen Tobsuchtsanfällen immer tat, fragte Vater mich, woher weißt du, wo das Wachs ist, Victoria? Woher weißt du, dass es da oben steht, wo du es gar nicht sehen kannst? Wo du es nicht erreichen kannst?
Ich log. Es war dumm, weil ich bereits dem Untergang geweiht war, aber die Lüge sprudelte als verzweifelte Verteidigung aus mir heraus. Ich sagte, ich hätte wahrscheinlich gesehen, wie Mama es dort hinstellte. Mir sei gerade eingefallen, dass ich gesehen hätte, wie sie es dort hinstellte.
Er zerriss die Lüge in winzige Fetzen. Er hatte eine ganz bestimmte Art, Lügen zu durchschauen und sie in der Luft zu zerreißen. Wann wollte ich das gesehen haben? Warum ich denn nicht besser in der Schule sei, wenn ich so ein hervorragendes Gedächtnis hätte, dass ich noch ein Jahr nach der letzten Einmachzeit wüsste, wo das Paraffin war? Und woher wollte ich wissen, dass es hinter der Melasse und dem Maismehl stand und nicht davor oder daneben?
Oh, er war ein kluger Mann, mein Vater, und ihm entging nicht das kleinste Detail.
Mama sagte nichts, während er mit dieser sanften Stimme sprach und wie mit seidenumwickelten Fäusten mit den Wörtern auf mich einschlug. Sie faltete die Hände, und diese Hände zitterten. Zitterte sie um mich? Ich nehme an, mir gefiel der Gedanke. Aber sie sagte auch nichts, als seine Stimme lauter wurde, nichts, als er den Stuhl zurückschob. Nichts, als mir das Glas aus der Hand glitt und auf dem Boden zerschellte. Eine Scherbe schnitt mir in den Knöchel, und in dem wachsenden Entsetzen verspürte ich auch diesen kleinen Schmerz.
Vater prüfte es natürlich erst nach. Das tat er immer, wobei er sich einredete, dass das nur gerecht und richtig war. Als er den Schrank öffnete, die Flaschen beiseite schob und langsam die viereckige, blaue Schachtel mit dem Paraffin hinter der dunklen Melasse hervorholte, weinte ich. Damals hatte ich noch Tränen, weil ich noch Hoffnung hatte. Selbst als er mich hochzerrte, hatte ich die Hoffnung, dass die Strafe dieses Mal nur aus Gebeten bestehen würde, stundenlange Gebete, bis meine Knie taub wurden. Manchmal, zumindest manchmal in jenem Sommer, reichte ihm das aus.
Hatte er mich nicht gewarnt, den Teufel nicht mehr einzulassen? Aber ich brachte immer wieder das Böse in dieses Haus und beschämte ihn vor Gott. Ich sagte, es täte mir Leid, ich hätte es nicht gewollt. Bitte, Daddy, bitte, ich werde es nie wieder tun. Ich werde brav sein.
Ich flehte ihn an. Er schrie Bibelsprüche und zerrte mich mit seinen großen, harten Händen in mein Zimmer, und immer noch flehte ich ihn an. Es war das letzte Mal, dass ich es tat.
Ich wehrte mich nicht gegen ihn. Wenn man sich wehrte, wurde es noch schlimmer. Das vierte Gebot war heilig, man musste seinen Vater in seinem Haus ehren, auch wenn er einen blutig schlug.
Sein Gesicht war hochrot vor Selbstgerechtigkeit, die so groß und blendend war wie die Sonne. Er schlug mir nur einmal ins Gesicht. Das brachte mich zum Verstummen. Und es tötete meine Hoffnung.
Ich lag bäuchlings auf meinem Bett, wehrlos wie ein Opferlamm. Als er seinen Gürtel aus den Schlaufen seiner Arbeitshose zog, klang es wie das Zischen einer Schlange. Dann, als er ihn durch die Luft knallen ließ, gab es ein kurzes, scharfes, sausendes Geräusch.
Er ließ ihn immer dreimal knallen. Die heilige Dreieinigkeit der Grausamkeit.
Der erste Schlag ist immer der Schlimmste. Ganz gleich, wie oft es ein erstes Mal gibt, der Schock und der Schmerz sind qualvoll und dir entweicht ein Schrei. Dein Körper bäumt sich abwehrend auf. Nein, nicht abwehrend, eher ungläubig, und dann hageln der zweite und der dritte Schlag auf dich hernieder.
Bald klingen deine Schreie mehr wie die eines Tieres als wie die eines Menschen. Deine Menschlichkeit ist untergegangen in einer Woge von Schmerz und Demütigung.
Vater betete immer, während er mich schlug, und seine Stimme dröhnte. Und unter diesem Dröhnen schwelte eine verborgene Erregung, eine gemeine Art von Lust, die ich nicht verstand, nicht kannte. Kein Kind sollte etwas über diese schlüpfrigen Untertöne wissen, und eine Zeit lang zumindest blieb auch ich davon verschont.
Als er mich das erste Mal schlug, war ich fünf. Meine Mutter versuchte, ihn aufzuhalten, und er verpasste ihr dafür ein blaues Auge. Sie versuchte es nie wieder. Ich weiß nicht, was sie an jenem Abend tat, während er den Teufel aus mir herausprügelte, der mir die Visionen eingab. Vor meinen Augen und in meinem Kopf war nur ein blutroter Schleier.
Der Schleier war Hass, aber das wusste ich ebenfalls nicht.
Als er ging und die Tür von außen abschloss, weinte ich. Nach einer Weile schlief ich über den Schmerzen ein.
Als ich erwachte, war es dunkel, und mir kam es so vor, als ob ein Feuer in mir brannte. Ich kann nicht sagen, der Schmerz sei unerträglich gewesen, weil ich ihn ja ertrug. Was blieb mir anderes übrig? Auch ich betete, ich betete darum, dass das, was in mir herrschte, nun endlich ausgetrieben worden war. Ich wollte nicht böse sein.
Und noch während ich betete, baute sich der Druck in meinem Magen auf, und das Prickeln erschien, wie scharfe, kleine Finger, die über meinen Nacken tanzten. Es war das erste Mal, dass es so zu mir kam, und ich glaubte, ich sei krank und habe Fieber.
Dann sah ich Hope, so lebendig, als ob ich auf unserer Lichtung im Sumpf neben ihr säße. Ich roch die Nacht, das Wasser, hörte das Sirren der Moskitos, das Summen der Insekten. Und wie Hope hörte ich das Rascheln im Gebüsch.
Wie Hope empfand ich Angst. Heiß stieg sie in mir auf. Als Hope wegrannte, rannte auch ich, und meine Brust schmerzte von meinem keuchenden Atem. Ich sah, wie sie fiel, weil jemand sie ansprang. Ein Schatten, ein Umriss. Ich konnte ihn nicht klar erkennen, aber ich konnte sie sehen.
Sie rief nach mir. Schrie nach mir.
Dann sah ich nur noch schwarz. Als ich erwachte, war die Sonne aufgegangen, und ich lag am Boden. Und Hope war fort.
2
Sie hatte beschlossen, sich in Charleston zu verlieren, und fast vier Jahre lang war es ihr auch gelungen. Die Stadt war für sie wie eine hübsche, großzügige Frau, bereit, sie an ihren weichen Busen zu drücken und die Nerven zu beruhigen, an denen die gnadenlosen Straßen New Yorks gezerrt hatten.
In Charleston waren die Stimmen langsamer, und in ihrem warmen, fließenden Strom konnte sie untertauchen. Sie konnte sich verstecken, so wie sie einst geglaubt hatte, sich im Menschengewühl des Nordens verbergen zu können.
Geld war kein Problem. Sie lebte sparsam und war immer bereit zu arbeiten. Sie hütete ihre Ersparnisse wie ein Falke, und als die Summe größer wurde, begann sie von einem eigenen Geschäft zu träumen. Sie wollte für sich selbst arbeiten und jenes ruhige, friedliche Leben führen, das ihr nie vergönnt gewesen war.
Sie blieb für sich. Echte Freundschaften bedeuteten auch echte Bindungen. Dem wollte sie sich noch nicht wieder aussetzen. Vielleicht war sie auch noch nicht stark genug dazu. Die Leute stellten Fragen. Sie wollten etwas über einen wissen, oder sie taten zumindest so.
Tory hatte keine Antworten zu geben und sie hatte nichts zu erzählen.
Sie fand ein kleines Haus - alt, heruntergekommen, perfekt - und verhandelte hart, um es kaufen zu können.
Die Leute unterschätzten Victoria Bodeen oft. Sie sahen eine junge Frau, klein und schmächtig. Sie sahen die weiche Haut und die zarten Gesichtszüge, einen ernsten Mund und klare graue Augen, die sie fälschlicherweise für arglos hielten. Eine kleine Nase, ganz leicht nach oben gebogen, verlieh dem Gesicht, das von glatten braunen Haaren umrahmt wurde, etwas Niedliches.
Die Leute sahen Zerbrechlichkeit und hörten sie auch in dem weichen südlichen Akzent ihrer Stimme. Aber die Härte in Tory sahen sie nie. Härte, gewachsen aus unzähligen Schlägen mit einem Sam-Browne-Gürtel.
Tory arbeitete für das, was sie wollte, und kämpfte mit aller Entschlossenheit darum. Sie hatte das alte Haus mit seinem zugewucherten Garten und der abblätternden Farbe gewollt, und sie hatte so lange darum gefeilscht und gehandelt, bis es ihr gehörte. Bei Wohnungen fiel ihr New York wieder ein und das Desaster, mit dem ihr Leben dort geendet hatte. Wohnungen kamen für Tory nicht mehr infrage.
Sie hatte ihre Investition gepflegt und viel Zeit und Mühe auf die Renovierung des Hauses verwendet, immer ein Zimmer nach dem anderen. Es hatte volle drei Jahre gedauert, und jetzt konnte sie sich durch den Verkauf und ihre Ersparnisse ihren Traum erfüllen.
Sie musste nur nach Progress zurückgehen.
Tory saß an ihrem Küchentisch und las zum dritten Mal den Mietvertrag über die Geschäftsräume in der Market Street. Sie fragte sich, ob Mr. Harlowe im Maklerbüro sich wohl an sie erinnerte.
Sie war gerade zehn gewesen, als ihre Familie von Progress nach Raleigh gezogen war, damit ihre Eltern die Chance auf eine feste Anstellung bekamen. Bessere Arbeit, hatte ihr Vater behauptet, als sich mühsam von dem ausgelaugten Stück Land zu ernähren, das den allmächtigen Lavelles gehörte.
Natürlich waren sie in Raleigh genauso arm gewesen wie in Progress. Sie hatten zudem noch weniger Platz gehabt.
Aber das spielt keine Rolle, dachte Tory. Sie würde nicht wieder arm werden. Sie war nicht mehr das ängstliche, dünne Mädchen von einst, sondern eine Geschäftsfrau, die in ihrer Heimatstadt einen neuen Laden aufmachte.
Und warum zittern Ihre Hände dann so?, würde die Therapeutin fragen.
Vor Freude, beschloss Tory. Vor Aufregung. Und Nervosität. Na gut, nervös war sie auch, aber das war nur menschlich. Sie hatte ein Recht darauf. Sie war normal. Sie war, was immer sie sein wollte.
»Verdammt!«
Mit zusammengebissenen Zähnen ergriff sie den Füller und unterschrieb den Vertrag.
Es war nur für ein Jahr. Ein Jahr. Wenn es nicht funktionierte, konnte sie wieder weggehen. Das hatte sie früher auch schon gemacht. Irgendwie kam es ihr so vor, als sei sie immer wieder weggegangen.
Doch bevor sie dieses Mal weggehen konnte, musste sie noch eine Menge erledigen. Der Mietvertrag war nur ein winziger Bestandteil des Papierberges, der vor ihr lag. Das meiste - die Lizenzen und Kontrakte für den Laden, den sie aufmachen wollte, war unterschrieben und besiegelt. Sie betrachtete den Staat South Carolina mittlerweile als Wegelagerer, aber sie hatte die Gebühren bezahlt. Als Nächstes kam der Kaufvertrag für das Haus, und die Anwälte, mit denen sie dabei zu tun hatte, waren noch schlimmer als Wegelagerer.
Aber am Ende des Tages würde sie ihren Scheck in der Hand halten und sich auf den Weg machen.
Mit dem Packen war sie beinahe fertig. Es ist gar nicht so viel, dachte sie jetzt. Sie hatte fast alles verkauft, was sie seit ihrem Umzug nach Charleston erworben hatte. Leichtes Reisegepäck vereinfachte die Dinge, und Tory hatte früh gelernt, ihr Herz nie an etwas zu hängen, was man ihr wegnehmen konnte.
Sie erhob sich, spülte ihre Tasse aus, trocknete sie ab und wickelte sie in Zeitungspapier, um sie in die kleine Kiste mit Küchenutensilien zu legen, die sie mitnehmen wollte. Sie blickte aus dem Fenster über der Spüle in ihren winzigen Garten.
Die kleine Terrasse war sauber geschrubbt. Tory wollte die Tontöpfe mit Verbenen und weißen Petunien für die neuen Besitzer dalassen. Sie hoffte, sie würden den Garten pflegen, aber wenn sie ihn umgruben, nun, dann war das ihre Sache.
Tory hatte das Haus geprägt. Die neuen Besitzer konnten tapezieren und neu anstreichen, fliesen und neue Fußböden verlegen, aber was sie gemacht hatte, war zuerst da gewesen, und es würde für alle Zeit unter dem Neuen bewahrt bleiben.
Man konnte die Vergangenheit nicht ausradieren, nicht ungeschehen machen. Genauso wenig wie man die Gegenwart und zukünftige Veränderungen beeinflussen konnte. Alle Menschen waren in einem Kreis der Zeit gefangen, der sich um den Kern des Vergangenen drehte. Und manchmal war das Vergangene so stark und beherrschend, dass es einen wieder zurückzog, ganz gleich, wie sehr man sich dagegen wehrte.
Noch deprimierter kann ich wohl kaum werden, dachte Tory seufzend.
Sie verschloss die Kiste, hob sie hoch, um sie zu ihrem Auto zu tragen, und verließ die Küche, ohne sich noch einmal umzublicken.
Drei Stunden später war der Scheck vom Verkauf des Hauses ihrem Konto gutgeschrieben. Tory schüttelte den neuen Eigentümern die Hand, lauschte höflich ihrer überschwänglichen Begeisterung über den Erwerb ihres ersten Hauses und verließ das Bankgebäude.
Das Haus und die Leute, die es nun bewohnten, gehörten nicht mehr zu ihrer Welt.
»Tory, warten Sie eine Sekunde!«
Tory drehte sich um, eine Hand an der Autotür und in Gedanken bereits auf der Fahrt. Aber sie wartete, während ihre Anwältin über den Parkplatz der Bank auf sie zukam. Sich durchschlängelte trifft eher zu, korrigierte sich Tory. Abigail Lawrence bewegte sich nie sonderlich schnell. Das erklärte wahrscheinlich, warum sie immer so aussah, als sei sie gerade anmutig der Vogue entstiegen.
Für den heutigen Termin hatte sie ein blassblaues Kostüm gewählt, dazu Perlen, die ihr wahrscheinlich von ihrer Urgroßmutter vermacht worden waren, und hochhackige Pumps, bei deren Anblick sich Torys Zehen schon verkrampften.
»Huh!« Abigail wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, als sei sie gerade zwei Meilen gelaufen. »Diese Hitze, und dabei ist es erst April.« Sie blickte an Tory vorbei in den Kombi und musterte die Kisten. »Das ist alles?«
»Ja. Danke, Abigail, dass Sie sich um alles gekümmert haben.«
»Sie haben das meiste ja selbst erledigt. Ich weiß nicht, wann ich jemals einen Klienten hatte, der auch nur die Hälfte der Zeit wusste, wovon ich redete, geschweige denn einen, der mir etwas beibringen konnte.«
Sie spähte noch einmal in den Kombi hinein und schien leicht überrascht zu sein, dass das, was eine Frau zum Leben brauchte, so wenig Platz einnehmen konnte. »Ich habe nicht geglaubt, dass Sie es ernst meinten, als sie sagten, sie wollten noch heute Nachmittag aufbrechen. Ich hätte es besser wissen müssen.« Ihr Blick glitt wieder zu Tory. »Sie meinen es immer ernst, Victoria.«
»Ich habe keinen Grund zu bleiben.«
Abigail öffnete den Mund, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Ich wollte gerade sagen, dass ich Sie beneide. Sie nehmen nur das mit, was in Ihr Auto passt, und brechen auf an einen neuen Ort, in ein neues Leben, einen neuen Anfang. Und ich, ich tue gar nichts. Nicht ein kleines bisschen. Du meine Güte, wie viel Energie man dafür braucht, und wie viel Mut! Aber Sie sind ja auch noch jung genug, um beides im Überfluss zu haben.«
»Vielleicht ist es ein Neubeginn, aber ich kehre eigentlich zu meinen Wurzeln zurück. Ich habe schließlich noch Familie in Progress.«
»Wenn Sie mich fragen, braucht man mehr Mut, um zu seinen Wurzeln zurückzukehren, als irgendwo anders hinzugehen. Ich hoffe, Sie sind glücklich, Tory.«
»Mir geht es gut.«
»Wenn es einem gut geht, ist das eine Sache.« Zu Torys Überraschung ergriff Abigail ihre Hand und hauchte einen leichten Kuss auf ihre Wange. »Glücklichsein ist das andere. Seien Sie glücklich.«
»Das habe ich vor.« Tory wich zurück. Die Art, wie Abigail ihre Hand hielt, die Sorge in ihren Augen beunruhigte sie. »Sie wussten es«, murmelte Tory.
»Natürlich wusste ich es.« Abigail drückte Torys Finger leicht, bevor sie sie losließ. »Auch Nachrichten aus New York finden ihren Weg hier herunter, und ab und zu finden sie sogar Beachtung. Sie haben Ihre Frisur und Ihren Namen verändert, aber ich habe Sie erkannt. Ich erinnere mich gut an Gesichter.«
»Warum haben Sie nichts gesagt? Mich nichts gefragt?«
»Sie haben mich engagiert, damit ich mich um ihre Geschäfte kümmere, und nicht, damit ich darin herumschnüffele. Ich habe mir gedacht, wenn Sie gewollt hätten, dass die Leute wissen, dass Sie die Victoria Mooney sind, die vor ein paar Jahren in New York Aufsehen erregt hat, dann hätten Sie schon etwas gesagt.«
»Ich danke Ihnen.«
Torys Zurückhaltung und die förmliche Antwort brachten Abigail zum Grinsen. »Um Himmels willen, Schätzchen, glauben Sie, ich werde Sie fragen, ob mein Sohn jemals heiratet oder wo, zum Teufel, ich den Diamantverlobungsring meiner Mutter verloren habe? Ich weiß, dass Sie schwere Zeiten durchgemacht haben, und ich hoffe, dass es jetzt für Sie leichter wird. Also, wenn Sie da oben in Progress Probleme haben sollten, rufen Sie mich einfach an.«
Reine Freundlichkeit machte Tory immer verlegen. Sie tastete nach der Autotür. »Danke. Vielen Dank. Ich fahre jetzt besser. Ich muss noch ein paar Zwischenstopps einlegen. « Sie streckte der anderen Frau erneut die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen für alles.«
»Fahren Sie vorsichtig.«
Tory schlüpfte auf den Fahrersitz, zögerte und öffnete dann das Fenster, während sie bereits den Wagen startete. »In der mittleren Schublade Ihres Aktenschranks in Ihrem Arbeitszimmer zu Hause, zwischen D und E.«
»Was ist da?«
»Der Ring Ihrer Mutter. Er ist Ihnen ein bisschen zu weit und ist Ihnen vom Finger gerutscht. Sie hätten ihn kleiner machen lassen müssen«, erwiderte Tory rasch und fuhr aus der Parklücke, während Abigail ihr verwirrt nachblinzelte.
Tory fuhr in westlicher Richtung aus Charleston hinaus und bog dann nach Süden ab, um ihre geplante Route hinter sich zu bringen, bevor sie schließlich nach Progress fuhr. Die Liste der Künstler und Handwerker, die sie besuchen wollte, lag sauber getippt in ihrer neuen Aktentasche. Hinter jedem Namen stand eine Wegbeschreibung, und das bedeutete unzählige Nebenstraßen. Zeitraubend, aber notwendig.
Sie hatte bereits mit einigen Künstlern aus dem Süden die Vereinbarung getroffen, ihre Werke in dem Laden, den sie in der Market Street eröffnen wollte, auszustellen und zu verkaufen, aber sie brauchte noch mehr. Klein anzufangen bedeutete nicht unbedingt, schlecht anzufangen.
Die Anfangskosten, die Ausrüstung und eine annehmbare Wohnung würden beinahe all ihre Ersparnisse verschlingen. Tory wollte, dass es sich lohnte, und sie wollte noch mehr.
Wenn alles so lief, wie sie es geplant hatte, würde sie in einer Woche mit der Einrichtung des Ladens anfangen. Ende Mai würde sie eröffnen. Und dann musste man weitersehen.
Mit dem Übrigen würde sie fertig werden, wenn es auf sie zukam. Und wenn die Zeit gekommen war, würde sie die lange, schattige Straße nach Beaux Reves fahren und den Lavelles entgegentreten.
Sie würde Hope entgegentreten.
Am Ende der Woche war Tory erschöpft, um einige hundert Dollar ärmer wegen eines kaputten Kühlers und wollte ihre Reise am liebsten beenden. Der Einbau des neuen Kühlers bedeutete, dass sie erst am folgenden Morgen in Florence ankommen würde und sich auf eine Nacht in einem drittklassigen Motel abseits der Route 9 einrichten musste.
Das Zimmer stank nach abgestandenem Rauch, und sein Komfort erschöpfte sich in einem Stück Seife und Videofilmen, die den sexuellen Appetit der Stundenkundschaft anregen sollten, die das Etablissement vor dem Ruin bewahrte.
Auf dem Teppich waren Flecken, über deren Ursprung Tory sich lieber keine Gedanken machen wollte.
Sie hatte für die eine Nacht bar bezahlt, weil ihr die Vorstellung nicht gefiel, dem schmuddeligen Angestellten, der wie der Gin roch, den er clever in einer Kaffeetasse versteckte, ihre Kreditkarte in die Hand zu drücken.
Das Zimmer war genauso wenig verlockend wie die Aussicht, sich eine weitere Stunde hinter das Lenkrad zu klemmen, aber sie hatte keine Wahl. Tory trug den einzigen, wackeligen Stuhl zur Tür und klemmte ihn unter die Klinke. Er bot wahrscheinlich genauso wenig Sicherheit wie die dünne, rostige Kette, aber beides zusammen vermittelte ihr zumindest die Illusion, dass niemand hereinkommen konnte.
Sie wusste, dass es ein Fehler war, zuzulassen, dass sie sich derart verausgabte. Ihre Widerstandskraft ließ dann für gewöhnlich nach. Aber alles hatte sich gegen sie verschworen. Der Töpfer in Greenville hatte sich als aufbrausend und schwierig herausgestellt. Wenn er nicht so brillant gewesen wäre, hätte Tory sein Atelier schon nach zwanzig Minuten wieder verlassen, statt zwei Stunden lang auf ihn einzureden, ihn zu loben und zu besänftigen.
Die Autoreparatur hatte weitere vier Stunden gedauert. Der Wagen war abgeschleppt worden, und Tory hatte auf dem Schrottplatz um einen gebrauchten Kühler gefeilscht und den Mechaniker überredet, ihn sofort einzubauen.
Nun musste sie zugeben, dass sie aus eigener Dummheit in diesem Motel gelandet war. Sie hätte einfach ein Zimmer in Greenville nehmen oder an einem der achtbaren Rasthäuser an der Autobahn halten können.
Nur eine Nacht, rief sie sich ins Gedächtnis, während sie misstrauisch die schmierige grüne Überdecke auf dem Bett beäugte. Es gab hier bestimmt Ungeziefer.
Tory beschloss, darüber hinwegzusehen.
Nur ein paar Stunden Schlaf, und dann war sie auf dem Weg nach Florence, wo ihre Großmutter das Gästezimmer sicher schon vorbereitet hatte - saubere Bettwäsche, ein heißes Bad ...
Ohne die Schuhe auszuziehen, legte sie sich auf den Überwurf und schloss die Augen.
Körper, die sich bewegten, schweißbedeckt.
Baby, ja, Baby. Zeig's mir! Fester!
Eine weinende Frau, die der Schmerz durchströmte wie glühende Lava.
O Gott, Gott, was soll ich nur tun? Wo kann ich hingehen? Überallhin, nur nicht zurück. Bitte, lass ihn mich nicht finden.
Gedankenfetzen und tastende Hände, Erregung und Schuldgefühle.
Und wenn ich jetzt schwanger werde? Meine Mutter bringt mich um. Ob es wohl wehtut? Liebt er mich wirklich?
Bilder, Gedanken und Stimmen überfluteten sie.
Lasst mich in Ruhe, verlangte sie. Lasst mich einfach in Ruhe. Mit geschlossenen Augen stellte Tory sich eine dicke, hohe, weiße Wand vor. Sie baute sie Stein für Stein auf, bis sie zwischen ihr und den Erinnerungen stand, die den Raum wie Rauch erfüllten. Hinter der Mauer war nur kühles, klares Blau. Wasser, in dem sie sich treiben lassen konnte. Und in dem sie endlich einschlafen konnte.
Über dem blauen Pool strahlte die Sonne weiß und warm. Tory hörte Vögel singen, und das Wasser plätscherte, als sie mit den Händen hindurchfuhr. Ihr Körper war gewichtslos, und sie war von einer tiefen Ruhe erfüllt. Am Rand des Pools standen prächtige Korkeichen und eine Weide tauchte ihre Zweige in die klare Wasseroberfläche.
Lächelnd schloss Tory die Augen und ließ sich treiben.
Das Lachen war hoch und hell, die sorglose Fröhlichkeit eines Mädchens. Träge öffnete Tory die Augen.
Dort, bei der Weide, stand Hope und winkte.
Hey, Tory! Hey, ich habe dich gesucht!
Freudig winkte Tory zurück. Komm her! Das Wasser ist toll.
Sie werden uns wegen Nacktbadens verhaften. Dennoch schleuderte Hope kichernd die Schuhe von den Füßen und schlüpfte aus Short und Bluse. Ich dachte, du seist weggegangen.
Sei nicht blöd. Wohin sollte ich denn gehen?
Ich habe so lange nach dir gesucht! Langsam glitt Hope ins Wasser. Gertenschlank und marmorweiß. Ihr Haar breitete sich wie ein Schleier auf der Oberfläche aus. Gold auf Blau. Eine Ewigkeit.
Das Wasser wurde trübe und begann sich zu kräuseln. Die anmutigen Zweige der Weide schlugen wie Peitschen. Und das Wasser war auf einmal so kalt, dass Tory zu zittern begann.
Ein Sturm kommt auf. Wir gehen besser.
Es schlägt über mir zusammen. Ich kann nicht stehen. Du musst mir helfen!
Die Wellen wurden immer höher und Hope schlug wild mit den Armen um sich. Wie ein Vorhang drang Wasser aus ihrem Mund und es war so schlammig braun wie der Sumpf.
Tory schwamm voller Panik auf sie zu, aber mit jedem Zug entfernte sie sich mehr von der Stelle, an der das Mädchen um sein Leben kämpfte. Das Wasser brannte Tory in den Lungen, zog an ihren Füßen. Sie spürte, wie sie selbst unterging, spürte, wie sie ertrank, mit Hopes Stimme im Kopf.
Du musst kommen! Du musst dich beeilen!
Sie erwachte im Dunkeln, im Mund den Geschmack des Sumpfes. Da sie weder den Mut noch die Energie hatte, die Mauer wieder aufzubauen, stand sie auf. Im Badezimmer spritzte sie sich rostiges Wasser ins Gesicht, dann hob sie den Kopf, um in den Spiegel zu blicken.
Ihr Blick war noch glasig von dem Traum, und sie hatte Schatten unter den Augen. Zu spät, um umzukehren, dachte sie. Es war immer zu spät.
Tory ergriff ihre Tasche und das noch unbenutzte Reisenecessaire.
Die Dunkelheit war jetzt beruhigend, und der Schokoriegel und der Saft, die sie sich aus dem Automaten vor ihrem Zimmer gezogen hatte, hielten sie wach. Sie schaltete das Radio ein, um sich abzulenken. Sie wollte nur noch an die Fahrt denken.
Als sie die Autobahn erreicht hatte, war die Sonne aufgegangen, und der Verkehr wurde dicht. Bevor sie nach Osten abbog, tankte sie den Wagen auf. Als sie an der Ausfahrt vorbeifuhr, die dort hinführte, wo sich ihre Eltern wieder niedergelassen hatten, krampfte sich ihr Magen zusammen, und das blieb die nächsten dreißig Meilen so.
Tory dachte an ihre Großmutter, an die Sachen, die sie hinten im Auto hatte oder die nach Progress geliefert wurden. Sie dachte an ihr Budget für das nächste halbe Jahr und an die Arbeit, die es sie kosten würde, bis sie ihr Geschäft aufgebaut hatte.
Sie dachte an alles Mögliche, nur nicht an den wahren Grund, warum sie nach Progress zurückkehrte.
Kurz vor Florence hielt sie noch einmal an, kämmte sich auf der Toilette einer Tankstelle die Haare und legte ein wenig Make-up auf. Ihre Großmutter würde sich davon nicht täuschen lassen, aber einen Versuch war es immerhin wert.
Einem Impuls folgend hielt sie auch am Blumenladen noch einmal an. Der Garten ihrer Großmutter war jedes Jahr ein Ereignis, aber die zwölf rosafarbenen Tulpen waren ein weiterer Versuch, die Großmutter versöhnlich zu stimmen. Immerhin hatte sie nur knapp zwei Stunden von ihrer Großmutter entfernt gelebt, sich jedoch seit Weihnachten nicht mehr die Mühe gemacht, sie zu besuchen.
Als Tory in die hübsche Straße mit den blühenden Sträuchern einbog, fragte sie sich nach dem Grund dafür. Es war eine gute Gegend, wo die Kinder in den Gärten spielten und Hunde im Schatten dösten. Eine Gegend, in der die Leute über den Zaun hinweg ein Schwätzchen hielten, auf fremde Autos achteten und die Häuser der Nachbarn sowohl aus Vorsicht als auch aus Neugier im Auge behielten.
Iris Mooneys Haus lag inmitten der anderen Häuser. Es war äußerst gepflegt und von alten, riesigen Azaleenbüschen umgeben. Die Blütezeit neigte sich dem Ende zu, aber die blassen Rosa-und Rottöne schufen einen weichen Übergang zu dem kräftigen blauen Anstrich, den ihre Großmutter für das Haus gewählt hatte. Wie erwartet, war der Vorgarten üppig und gepflegt, der Rasen gemäht und die Treppe sauber.
Ein Lieferwagen mit der Aufschrift ›Installationsarbeiten aller Art‹ stand in der Auffahrt hinter dem alten Kleinwagen ihrer Großmutter. Tory hielt am Straßenrand. Die Spannung, die sie während der Fahrt zu ignorieren versucht hatte, löste sich, als sie auf das Haus zuging.
Sie klopfte nicht an. An dieser Tür brauchte sie nie anzuklopfen, Tory hatte immer gewusst, dass sie jederzeit für sie offen stand. Es hatte Zeiten gegeben, in denen das allein sie vor dem Zusammenbrechen bewahrt hatte.
Überraschenderweise war es im Haus vollkommen ruhig. Es war fast schon zehn Uhr, als sie eintrat. Tory hatte eigentlich erwartet, ihre Großmutter im Garten oder bei der Hausarbeit anzutreffen.
Das Wohnzimmer war wie immer etwas chaotisch, voller Möbel, Kleinkram und Bücher. Und in einer Vase stand ein Dutzend roter Rosen, gegen die sich Torys Tulpen wie arme Verwandte ausmachten. Sie stellte ihren Koffer und die Tasche ab und trat in den Flur.
»Gran? Bist du zu Hause?« Mit den Blumen in der Hand ging Tory auf das Schlafzimmer zu, blieb aber stehen und zog die Augenbrauen hoch, als sie hinter der verschlossenen Tür zum Schlafzimmer ihrer Großmutter Geräusche hörte.
»Tory? Liebes, ich komme sofort! Geh und ... nimm dir etwas Eistee.«
Achselzuckend ging Tory in die Küche. Sie warf jedoch einen Blick zurück, weil sie etwas hörte, das wie ein ersticktes Kichern klang.
Sie legte die Blumen auf die Arbeitsplatte, dann öffnete sie den Kühlschrank. Der Krug mit Tee stand bereit, und zwar so zubereitet, wie sie es am liebsten hatte, mit Zitronenscheiben und Minzeblättchen. Granny vergisst nie etwas, dachte Tory, und Tränen der Rührung und der Erschöpfung traten ihr in die Augen.
Sie drängte sie zurück, als sie die raschen Schritte ihrer Großmutter hörte. »Liebe Güte, du bist aber früh! Ich habe dich erst nach Mittag erwartet!« Klein, zierlich und behände kam Iris Mooney ins Zimmer geeilt und nahm Tory in die Arme.
»Ich bin früh losgefahren und habe kaum eine Pause gemacht. Habe ich dich aufgeweckt? Geht es dir nicht gut?«
»Wieso?«
»Du bist noch im Morgenmantel.«
»Oh. Ha!« Iris drückte Tory noch einmal fest an sich und trat dann einen Schritt zurück. »Mir geht es blendend. Sieh mich doch an. Aber du, Schätzchen, du siehst erschöpft aus.«
»Ich bin nur ein bisschen müde. Du siehst toll aus!«
Das war die reine Wahrheit. Siebenundsechzig Jahre hatten das Gesicht der Großmutter geprägt, aber sie hatten weder die magnolienfarbene Haut noch die tiefgrauen Augen beeinträchtigen können. In ihrer Jugend hatte sie rote Haare gehabt, und sie achtete darauf, dass es auch so blieb. Wenn Gott gewollt hätte, dass Frauen graue Haare bekamen, pflegte Iris zu sagen, dann hätte er die Haartönung nicht erfunden.
»Setz dich hierher. Ich mache dir Frühstück.«
»Mach dir keine Umstände, Gran.«
»Du weißt sehr wohl, dass du mir nicht widersprechen sollst, oder? Setz dich jetzt hin.« Iris wies auf einen Stuhl an dem kleinen Caféhaustisch. »Oh, die Blumen! Die sind wirklich schön!« Sie ergriff den Tulpenstrauß, und ihre Augen funkelten vor Entzücken. »Du bist richtig süß, Tory.«
»Du hast mir gefehlt, Gran. Es tut mir Leid, dass ich dich so lange nicht besucht habe.«
»Du führst eben dein eigenes Leben, und das habe ich auch immer für dich gewollt. Jetzt entspann dich einfach, und wenn du wieder ein bisschen zu dir gekommen bist, kannst du mir alles über deine Reise erzählen.«
»Sie war jede Meile wert. Ich habe ein paar wunderschöne Stücke gefunden.«
»Du hast mein Auge für hübsche Dinge geerbt.« Iris zwinkerte ihr zu, während ihre Enkelin mit offenem Mund den Mann anstarrte, der in der Küchentür aufgetaucht war.
Er war groß wie eine Eiche und hatte einen Brustkorb wie ein Buick. Seine krausen, grauen Haare sahen aus wie Stahlwolle. Seine Augen waren braun, und er hatte einen Blick wie ein Basset. Sein Gesicht war gebräunt. Er räusperte sich verlegen und nickte Tory zu.
»Guten Morgen«, sagte er. »Äh... Mrs. Mooney, ich habe den Abfluss repariert.«
»Cecil, hör auf, so dämliches Zeug zu reden, du hast ja noch nicht einmal eine Werkzeugkiste dabei.« Iris stellte die Packung mit den Eiern beiseite. »Du brauchst nicht rot zu werden«, erklärte sie ihm. »Meine Enkelin wird schon nicht in Ohnmacht fallen, nur weil ihre Großmutter einen Freund hat. Tory, das ist Cecil Axton, der Grund dafür, dass ich morgens um zehn noch nicht angezogen bin.«
»Iris!« Cecil wurde knallrot. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Tory. Ihre Großmutter hat sich schon sehr auf Ihren Besuch gefreut.«
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Tory, weil ihr nichts Besseres einfiel. Sie streckte ihm die Hand entgegen, und benommen ahnte sie plötzlich, warum ihre Großmutter hinter der verschlossenen Tür gekichert hatte.
Sie verdrängte den Gedanken rasch wieder, als sie Cecils verlegenem Blick begegnete. »Sie sind ... Sie sind Klempner, Mr. Axton?«
»Er kam vor einer Weile, um meinen Boiler zu reparieren «, warf Iris ein, »und seitdem hält er mich warm.«
»Iris!« Cecil zog den Kopf zwischen seine breiten Schultern, konnte jedoch ein Grinsen nicht unterdrücken. »Ich muss los. Ich hoffe, Sie verbringen hier eine schöne Zeit, Tory.«
»Denk bloß nicht, du könntest dich einfach davonstehlen, ohne mir einen Abschiedskuss zu geben.« Iris trat auf ihn zu, nahm sein wettergegerbtes Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn fest auf den Mund. »Siehst du, der Blitz ist nicht eingeschlagen, der Donner hat nicht gegrollt, und dieses Kind hier ist nicht vor Entsetzen zusammengebrochen. « Sie küsste ihn noch einmal, dann tätschelte sie ihm die Wange. »Und jetzt verschwinde, mein Schöner, und hab einen guten Tag.«
»Das werde ich schon. Ähm, wir sehen uns dann später. «
»Aber sicher. So haben wir es ja beschlossen, Cecil. Und jetzt sieh zu, dass du fortkommst. Ich will mit Tory reden.«
»Ich bin schon weg.« Mit einem zögernden Lächeln wandte Cecil sich an Tory. »Wenn man dieser Frau widerspricht, bekommt man Kopfschmerzen.« Er setzte sich eine blaue Kappe auf und eilte hinaus.
»Ist er nicht goldig? Ich habe ein bisschen mageren Speck. Wie möchtest du deine Eier?«
»Mit Schokoladenplätzchen.« Tory holte tief Luft und stand auf. »Es geht mich ja nichts an, aber ...«
»Natürlich geht es dich nichts an, es sei denn, ich rede mit dir darüber, was ich ja getan habe.« Iris legte den Speck in die alte, gusseiserne Pfanne. »Du würdest mich sehr enttäuschen, Tory, wenn dich die Vorstellung entsetzt, dass deine Großmutter ein Sexualleben hat.«
Tory zuckte zusammen. Es gelang ihr jedoch, Haltung zu bewahren, als ihre Großmutter sich zu ihr umdrehte. »Ich bin nicht entsetzt, ich fühle mich nur ein bisschen unbehaglich. Die Vorstellung, dass ich hier heute Morgen hineingeplatzt bin und fast in dein ... ähm ...«
»Na ja, du bist zu früh gekommen, Liebes. Ich brate dir jetzt die Eier, und dann genießen wir beide ein ausgedehntes, fettiges Frühstück.«
»Vermutlich hast du ordentlich Hunger bekommen.«
Iris zwinkerte, dann warf sie lachend den Kopf zurück. »Ja, so bist du wieder mein Mädchen! Ich mache mir Sorgen um dich, mein Zuckerstück, wenn du nicht lächelst.«
»Worüber soll ich schon lächeln? Du bist diejenige, die Sex hat.«
Amüsiert legte Iris den Kopf schräg. »Und wessen Schuld ist das?«
»Deine. Du hast Cecil zuerst gesehen.« Tory holte zwei Gläser aus dem Schrank und goss Tee hinein. Wie viele Frauen besitzen schon eine Großmutter, die eine heiße Affäre mit dem Klempner hat?, dachte sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie stolz oder erheitert sein sollte, und beschloss schließlich, dass eine Kombination von beidem der Lage wohl am ehesten gerecht wurde. »Er scheint sehr nett zu sein.«
»Das ist er. Mehr noch, er ist ein sehr guter Mann.« Iris stocherte im Speck herum und beschloss, alles auf einmal loszuwerden. »Tory, er wohnt hier.«
»Er wohnt hier? Du wohnst mit ihm zusammen?«
»Er möchte mich unbedingt heiraten, aber ich bin nicht sicher, ob ich das will. Deshalb mache ich mit ihm gerade eine Art Probefahrt.«
»Ich glaube, ich muss mich wieder hinsetzen. Du meine Güte, Gran. Hast du es Mama schon gesagt?«
»Nein, und das habe ich auch nicht vor. Ich kann ganz gut ohne eine Lektion darüber auskommen, dass ich in Sünde lebe und Gott mich mit ewiger Verdammnis strafen wird. Deine Mama ist das größte Ärgernis seit der Erfindung der Selbstbedienungstankstellen. Wie je eine meiner Töchter eine solche Maus von einer Frau werden konnte, begreife ich bis heute nicht.«
»Reine Überlebenstaktik«, murmelte Tory, aber Iris schnaubte nur.
»Sie hätte wunderbar überlebt, wenn sie diesen Hurensohn, den sie vor fünfundzwanzig Jahren geheiratet hat, einfach verlassen hätte. Sie hat es nicht anders gewollt, Tory. Wenn sie auch nur ein bisschen Mumm hätte, dann hätte sie sich anders entschieden. So wie du.«
»Wirklich? Ich weiß nicht, welche Entscheidungen ich getroffen habe oder welche für mich getroffen worden sind. Ich weiß nicht, was falsch oder richtig war. Und jetzt sitze ich hier, Gran, und kehre genau dorthin wieder zurück, wo ich angefangen habe. Ich sage mir, dass ich dafür selbst die Verantwortung übernehme. Dass es meine Entscheidung ist. Aber eigentlich weiß ich, dass ich es gar nicht ändern kann.«
»Möchtest du das denn?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann musst du so lange weitermachen, bis du es weißt. Du hast solch ein starkes Licht in dir, Tory! Du findest sicher deinen Weg.«
»Das hast du immer schon gesagt. Aber ich hatte immer nur schreckliche Angst davor, mich zu verirren.«
»Ich hätte dir mehr helfen sollen. Ich hätte mehr für dich da sein müssen.«
»Gran!« Tory stand auf, trat zu Iris und umarmte sie. »Du warst immer für mich da. Ohne dich wäre ich jetzt nicht hier.«
»Doch, das wärst du.« Iris tätschelte Tory die Hand und wendete dann rasch den Speck, der in der Pfanne brutzelte. »Du bist stärker als wir alle zusammen. Und wenn du mich fragst, hatte Hannibal Bodeen genau davor Angst. Er wollte dich brechen, um seine eigene Angst zu überwinden. Und am Ende hat er dich ja auch geprägt, oder? Dieser Idiot!« Iris schlug ein Ei am Pfannenrand auf und ließ es in die brutzelnde Masse gleiten. »Mach uns ein wenig Toast, Schätzchen.«
»Mama ist überhaupt nicht wie du«, sagte Tory, während sie das Brot in den Toaster steckte. »Kein bisschen.«
»Ich weiß nicht, wie Sarabeth ist. Ich habe sie vor Jahren schon verloren. Vermutlich schon damals, als dein Opa gestorben ist. Sie war erst zwölf. Ich selbst war ja gerade erst dreißig und stand mit zwei Kindern da, die ich allein großziehen musste. Das war das schlimmste Jahr meines Lebens. So schlimm ist es nie wieder gewesen. Du meine Güte, wie ich diesen Mann geliebt habe!«
Seufzend ließ Iris die Eier auf die Teller gleiten. »Er war meine Welt, mein Jimmy. In der einen Minute war diese Welt noch beständig, und in der nächsten war sie auf einmal weg. Und Sarabeth war zwölf und J. R. gerade sechzehn. Sie ist so aufsässig geworden! Vielleicht hätte ich mich mehr um sie kümmern müssen. Weiß Gott, das hätte ich wirklich tun sollen.«
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.«
»Das tue ich auch nicht. Aber man kann gewisse Dinge erst im Nachhinein besser verstehen. Man sieht einfach, dass alles anders verlaufen wäre, wenn man nur eine einzige Sache anders gemacht hätte. Wenn ich damals aus Progress weggezogen wäre, wenn ich auf Jimmys Versicherung zurückgegriffen hätte, statt mir einen Job bei der Bank zu suchen, wenn ich nicht so erpicht darauf gewesen wäre, den Kindern das College zu ermöglichen.«
»Du wolltest nur das Beste für sie.«
»Ja.« Iris stellte die Teller auf den Tisch und holte Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank. »J. R. hat seine College- Ausbildung gehabt und etwas daraus gemacht. Sarabeth hat Hannibal Bodeen bekommen. So sollte es eben sein. Und deshalb sitzen meine Enkelin und ich heute hier und haben ein üppiges Frühstück vor sich. Ich würde wahrscheinlich doch nichts anders machen, wenn ich jetzt noch einmal von vorn anfangen könnte. Weil ich nämlich dich dann nicht hätte.«
»Ich fange noch einmal von vorn an, Gran, und ich weiß genau, dass ich nichts anders machen kann.« Tory legte den Toast auf einen kleinen Teller und trug ihn zum Tisch. »Es macht mir Angst, dass ich so weit zurückgehen muss. Ich kenne diese Leute gar nicht mehr. Und ich habe Angst, mich selbst nicht mehr zu kennen, wenn ich erst einmal da bin.«
»Du kommst nicht zur Ruhe, bevor du das nicht in Ordnung gebracht hast, Tory. Seit du weggegangen bist, hast du eigentlich immer wieder nach Progress zurückgewollt. «
»Ich weiß.« Es half, dass jemand sie verstand. Lächelnd spießte Tory ein Stück Schinken auf. »So, und jetzt erzähl mir von deinem Klempner.«
»Oh, er ist ein solches Goldstück!« Mit Appetit machte sich Iris über ihr Frühstück her. »Er sieht aus wie großer alter Bär, nicht wahr? Und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie tüchtig er ist. Vor über vierzig Jahren hat er seine eigene Firma gegründet. Vor ungefähr fünf Jahren ist seine Frau gestorben, ich kannte sie flüchtig. Jetzt zieht er sich langsam aus dem Betrieb zurück. Zwei seiner Söhne führen die Firma. Er hat sechs Enkel.«
»Sechs?«
»Ja. Einer von ihnen ist übrigens Arzt. Gut aussehender junger Mann. Ich habe schon mal gedacht ...«
»Hör sofort auf.« Tory kniff die Augen zusammen und häufte sich Gelee auf ihren Toast. »Ich habe kein Interesse.«
»Woher willst du das wissen? Du kennst den Jungen ja noch nicht einmal.«
»Ich bin weder an Jungen noch an Männern interessiert. «
»Tory, du warst nicht mehr mit einem Mann zusammen, seit ...«
»Jack«, beendete Tory den Satz für sie. »Das stimmt, und ich habe auch nicht vor, jemals wieder eine Beziehung einzugehen. Eine hat mir gereicht.« Tory hatte immer noch einen bitteren Geschmack im Mund, wenn sie daran dachte. Sie griff nach ihrer Teetasse. »Nicht alle Menschen sind für eine Partnerschaft geeignet, Gran. Ich bin auch allein glücklich.«
Als Iris die Augenbrauen hochzog, zuckte Tory mit den Schultern. »Na gut, sagen wir, ich habe vor, allein glücklich zu sein. Und ich werde mein Möglichstes tun, um das zu erreichen.«
3
Es war schon viel zu lange her, seit sie im Schaukelstuhl auf einer Veranda gesessen, in den Himmel geblickt und dem Zirpen der Grillen gelauscht hatte. Tory war schon lange nicht mehr so entspannt gewesen, dass sie einfach dasitzen und die Luft genießen konnte.
Und es würde wahrscheinlich lange dauern, ehe sie es erneut tun konnte.
Morgen musste sie die letzten Meilen nach Progress fahren. Dort würde sie die einzelnen Stücke ihres Lebens zusammensuchen und endlich eine alte Freundin zur Ruhe tragen.
Aber heute Abend gab es nur die laue Luft und stille Gedanken.
Als die Tür knarrte, blickte sie auf und lächelte Cecil entgegen. Großmutter hat Recht, dachte sie. Er sah wirklich wie ein großer alter Bär aus. Und im Moment wirkte er ziemlich nervös.
»Iris hat mich aus der Küche geworfen.« Er hielt eine dunkelbraune Bierflasche in der Hand und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Sie hat gemeint, ich soll Ihnen ein Weilchen Gesellschaft leisten.«
»Sie möchte, dass wir Freunde werden. Warum setzen Sie sich nicht einen Moment? Ich fände es schön, wenn Sie mir Gesellschaft leisteten.«
»Ich komme mir ein bisschen komisch vor.« Cecil setzte sich neben Tory und warf ihr einen verstohlenen Blick zu. »Ich weiß, was Ihr jungen Leute denkt. Ein alter Kerl wie ich macht einer Frau wie Iris den Hof.«
Er roch immer noch nach der Lavaseife, mit der er vor dem Abendessen den Abwasch gemacht hatte. Lavaseife und Coors, dachte Tory. Es war eine angenehm männliche Mischung. »Ist Ihre Familie nicht mit der Verbindung einverstanden? «
Copyright © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2013
Mama ließ stets im Juni die Läufer im Flur zusammenrollen und auf den Speicher bringen. Die dicken Pinien- dielen mit ihrer Schicht aus Bohnerwachs fühlten sich unter den bloßen Füßen des Mädchens glatt und weich an. Hope ging den Flur mit den einfachen Zypressenpaneelen und den goldgerahmten Gemälden entlang und dann die Wendeltreppe hinauf in das Arbeitszimmer ihres Vaters.
Dort war der Duft des Vaters. Tabak, Leder, Old Spice und Bourbon.
Sie liebte diesen Raum mit den runden Wänden und den großen, schweren Ledersesseln, die die Farbe des Portweins hatten, den ihr Papa manchmal nach dem Abendessen trank. Die Regale an den Wänden waren mit Büchern und Schätzen vollgestopft. Sie liebte den Mann, der mit einer Zigarre und dem Whiskeyglas an seinem riesigen Schreibtisch über den Büchern saß.
Die Liebe verursachte der Frau in dem Kind Herzschmerzen, sehnsüchtige, neidische Stiche - wegen dieser unkomplizierten und allumfassenden Liebe.
Seine Stimme war laut, seine Arme waren stark und sein Bauch fühlte sich weich an, wenn er sie in eine Umarmung zog, die so ganz anders war als der sanfte, zurückhaltende Gutenachtkuss von Mama.
Da ist meine Prinzessin, sie geht jetzt ins Königreich der Träume. Wovon werde ich träumen, Papa? Von Rittern und weißen Rössern und Abenteuern über dem Meer.
Sie kicherte, ließ aber ihren Kopf noch ein bisschen länger als sonst an seiner Schulter liegen und schnurrte tief in der Kehle wie ein Kätzchen.
Wusste sie es? Wusste sie, dass sie niemals wieder sicher und geborgen auf seinem Schoß sitzen würde?
Dann wieder die Treppe hinunter, vorbei an Cades Zimmer. Für ihn war noch nicht Schlafenszeit, weil er vier Jahre älter und ein Junge war, der an Sommerabenden lange aufbleiben und fernsehen oder Bücher lesen durfte, solange er morgens pünktlich aufstand und seine Pflichten erledigte.
Eines Tages würde Cade der Herr von Beaux Reves sein und selbst an dem großen Schreibtisch im Turmzimmer mit den Büchern sitzen. Er würde der Herr über die Angestellten sein, die Plantage und die Ernte überwachen und auf Sitzungen Zigarren rauchen und sich über die Regierung und den Preis für die Baumwolle beklagen.
Weil er der Sohn war.
Für Hope war das in Ordnung. Sie wollte nicht an einem Schreibtisch sitzen und Zahlen addieren müssen.
Vor der Tür ihrer Schwester blieb sie stehen und zögerte. Für Faith war es nicht in Ordnung. Für Faith schien nie etwas in Ordnung zu sein. Lilah, die Haushälterin, sagte immer, Faith würde sich sogar mit Gott dem Allmächtigen streiten, einfach nur, um ihn zu erzürnen.
Hope vermutete, dass das stimmte, und obwohl Faith ihre Zwillingsschwester war, verstand sie nicht, warum sie ständig an allem herumnörgelte. Gerade erst heute Abend war sie in ihr Zimmer geschickt worden, weil sie eine freche Antwort gegeben hatte. Jetzt war die Tür fest verschlossen, und es schimmerte auch kein Licht unter dem Türspalt durch. Hope stellte sich vor, dass Faith schmollend zur Decke starrte und die Fäuste so fest geballt hatte, als wolle sie mit den Schatten boxen.
Hope berührte den Türgriff. Meistens gelang es ihr, Faith aus ihren düsteren Stimmungen herauszuschmeicheln. Sie konnte mit ihr im Dunkeln im Bett kuscheln und Geschichten erfinden, bis Faith lachen musste und ihre Augen wieder trocken waren.
Aber heute Abend ging es um andere Dinge. Heute Abend ging es um Abenteuer.
Es war alles geplant, aber Hope ließ die Erregung erst zu, als sie in ihrem Zimmer war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie machte das Licht erst gar nicht an und bewegte sich leise in der vom Mondlicht silbern schimmernden Dunkelheit. Sie zog ihr Baumwollnachthemd aus und schlüpfte in Shorts und T-Shirt. Als sie die Kissen auf dem Bett so hinlegte, dass sie für ihre Kinderaugen aussahen wie ein schlafender Körper, klopfte ihr Herz angenehm heftig.
Dann zog sie unter dem Bett ihre Abenteuerkiste hervor. Die alte Frühstücksdose mit dem gewölbten Deckel enthielt eine warm gewordene Flasche Coca-Cola, eine Packung Plätzchen, die sie aus dem Küchenschrank stiebitzt hatte, ein kleines, verrostetes Taschenmesser, Streichhölzer, einen Kompass, eine Wasserpistole - geladen - und eine rote Plastiktaschenlampe.
Hope setzte sich einen Moment lang auf den Fußboden. Sie konnte ihre Buntstifte riechen und das Puder, mit dem sie nach dem Baden eingepudert worden war. Sie konnte, ganz leise, die Musik aus dem Wohnzimmer ihrer Mutter hören.
Als sie ihr Fenster aufzog und vorsichtig das Mückengitter herausnahm, lächelte sie.
Geschickt und gelenkig schwang sie ein Bein über das Fensterbrett und fand Halt in der Pergola, an der sich die Glyzinie emporrankte.
Die Luft war dick wie Sirup, und ihr heißer, süßer Duft füllte Hopes Lungen. Sie kletterte die Pergola hinunter, zog sich dabei einen Splitter in den Finger und sog zischend die Luft ein. Aber sie kletterte unbeirrt weiter, die Augen fest auf die erleuchteten Fenster im Erdgeschoss gerichtet. Ich bin nur ein Schatten, dachte sie, und niemand wird mich sehen.
Sie war Hope Lavelle, die junge Spionin, und um Punkt zweiundzwanzig Uhr fünfunddreißig hatte sie ein Treffen mit ihrer Kontaktperson, ihrer Partnerin.
Sie musste ein Kichern unterdrücken. Atemlos sprang sie zu Boden.
Um ihre Erregung noch zu steigern schoss sie wie ein Pfeil hinter die dicken Stämme der großen alten Bäume, die das Haus beschatteten, und spähte von dort zu dem schwachen blauen Licht, das aus dem Fenster drang, wo ihr Bruder fernsah, und zu dem hellen gelben Schein der Fenster, hinter denen ihre Eltern den Abend verbrachten.
Wenn man mich jetzt entdeckt, ist das eine Katastrophe für meinen Auftrag, dachte sie, während sie gebückt durch den Garten lief, durch den süßen Duft der Rosen und des nachtblühenden Jasmins. Das musste sie um jeden Preis verhindern - schließlich ruhte das Schicksal der Welt auf ihren Schultern und denen ihrer tapferen Partnerin.
Die Frau in dem Kind schrie auf: Geh zurück, o bitte, geh zurück! Aber das Kind hörte sie nicht.
Hope holte ihr pinkfarbenes Fahrrad hinter den Kamelien hervor, wo sie es am Nachmittag versteckt hatte, legte ihre Kiste in den weißen Korb und schob das Rad über den Rasen neben der kiesbedeckten Auffahrt, bis das Haus und die Lichter verschwunden waren.
Dann radelte sie wie der Wind und stellte sich dabei vor, das hübsche kleine Fahrrad sei ein schnelles Motorrad. Die weißen Plastikwimpel an der Stange flatterten im Wind und schlugen fröhlich aneinander.
Sie flog durch die schwüle Luft, und der Chor der Grillen und Zikaden wurde zum brummenden Motorgeräusch ihrer schnellen Maschine.
An der Straßengabelung bog sie links ab und sprang dann vom Rad, um es von der Straße in den schmalen Graben zu schieben, wo die Büsche es verdeckten. Obwohl das Mondlicht hell genug war, nahm sie die Taschenlampe aus ihrer Kiste. Die lächelnde Prinzessin Leia auf ihrer Armbanduhr sagte ihr, dass sie eine Viertelstunde zu früh war. Ohne Angst und ohne nachzudenken bog sie auf den schmalen Pfad in den Sumpf ein.
Ins Ende des Sommers, ins Ende der Kindheit. Des Lebens.
Hier war alles voller Geräusche - von Wasser, Insekten und kleinen Nachttieren. Das Licht drang in schmalen Streifen durch das Dach der Schirmakazien und der Zypressen mit den tropfenden Moosflechten. Hier wurden die Magnolienblüten dick und fett und verströmten einen betörenden Duft. Der Weg zur Lichtung war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Dieser Treffpunkt, dieser geheime Ort, wurde gut gepflegt, behütet und geliebt.
Da Hope als Erste da war, nahm sie Zweige und knorrige Äste vom Holzstapel und entzündete ein Feuer. Der Rauch sollte die Moskitos fern halten, aber sie kratzte bereits an den Stichen, mit denen ihre Arme und Beine übersät waren.
Sie nahm sich ein Plätzchen und ihre Cola und setzte sich hin.
Nach einer Weile fielen ihr die Augen zu, und die Musik des Sumpfes lullte sie ein. Das Feuer fraß sich durch das Holz und wurde zu Glut. Schläfrig legte Hope den Kopf auf die hochgezogenen Knie.
Zuerst war das Rascheln nur Teil ihres Traums, in dem sie durch verwinkelte Pariser Straßen schlich, um dem bösen russischen Spion nicht in die Arme zu laufen. Als jedoch ein Zweig unter einem Schritt knackte, fuhr ihr Kopf hoch, und sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie grinste breit, verfiel dann aber rasch in das professionelle Verhalten einer Geheimagentin.
Passwort!
Außer dem monotonen Summen der Insekten und dem leisen Knistern des Feuers herrschte Stille im Sumpf.
Taumelnd sprang Hope auf und hielt die Taschenlampe wie eine Pistole in der Hand. »Passwort!«, rief sie wieder und richtete den kurzen Lichtstrahl vor sich.
Jetzt jedoch raschelte es hinter ihr, also fuhr sie herum, und ihr Herz machte einen nervösen Satz. Angst, etwas, das sie in ihren acht kurzen Lebensjahren so selten verspürt hatte, schnürte ihr heiß die Kehle zu.
Komm schon, sag es. Du jagst mir keine Angst ein.
Ein Geräusch von links, absichtlich, höhnisch. Wieder stieg die Angst in ihr auf, und sie trat einen Schritt zurück.
Und dann hörte sie das Lachen, leise, keuchend, dicht bei ihr.
Hope rannte los, rannte durch die Dunkelheit und die schmalen Lichtstreifen. Blankes Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu, schnitt ihre Schreie ab, bevor sie sie ausstoßen konnte.
Hinter ihr schwere Schritte. Schnell, zu schnell, und viel zu nah. Etwas trifft sie von hinten. Ein heftiger Schmerz im Rücken, der ihr bis in die Fußsohlen schießt. Schwer fällt sie zu Boden, und schluchzend entweicht die Luft ihren Lungen, als er sie mit seinem Gewicht niederdrückt. Sie riecht Schweiß und Whiskey.
Sie schreit jetzt, einen langen verzweifelten Schrei, und ruft nach ihrer Freundin.
Tory! Tory, hilf mir!
Und die Frau, die in dem toten Kind gefangen ist, weint.
Als Tory wieder zu sich kam, lag sie auf den Fliesen in ihrem Patio. Sie trug nur ein Nachthemd, das von dem feinen Frühlingsregen bereits ganz durchweicht war. Ihr Gesicht war nass, und sie schmeckte das Salz ihrer eigenen Tränen.
Schreie hallten in ihrem Kopf wider, aber sie wusste nicht, ob es ihre eigenen waren oder die des Kindes, das sie nicht vergessen konnte.
Zitternd rollte sie sich auf den Rücken, damit der Regen ihre Wangen kühlen und ihre Tränen wegwaschen konnte. Die Episoden - Anfälle nannte ihre Mutter sie immer - ließen sie oft schwach und zitterig zurück. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie sie unterdrücken können, bevor sie sie überfielen. Oder der stechende Schmerz vom Gürtel ihres Vaters hatte sie verdrängt.
Ich peitsche dir den Teufel aus dem Leib, Mädchen!
Für Hannibal Bodeen war der Teufel überall - in jeder Angst und jeder Versuchung lauerte die Hand des Satans. Und er hatte sein Bestes getan, um seinem einzigen Kind das Böse auszutreiben.
In diesem Moment, während ihr die Übelkeit den Magen umdrehte, wünschte Tory, es wäre ihm gelungen.
Es erstaunte sie, dass sie jahrelang das, was in ihr war, angenommen hatte, es erforscht, benutzt, ja sogar willkommen geheißen hatte. Ein Vermächtnis, hatte ihre Großmutter zu ihr gesagt. Das zweite Gesicht. Das dritte Auge. Ein Geschenk des Blutes durch das Blut.
Aber da war Hope. Immer häufiger war da Hope, und die aufblitzenden Kindheitserinnerungen ihrer Freundin taten Torys Herzen weh. Und jagten ihr Angst ein.
Nichts, was sie je erlebt hatte, wenn sie ihre Gabe entweder unterdrückte oder annahm, hatte sie so mitgenommen, so überwältigt. Es machte sie hilflos, obwohl sie sich gelobt hatte, nie wieder hilflos zu sein.
Und doch lag sie hier auf ihrer Terrasse im Regen, ohne auch nur im Geringsten zu wissen, wie sie nach draußen gekommen war. Sie war in der Küche gewesen und hatte sich Tee gekocht, Licht und Radio waren an, und Tory hatte an der Theke gestanden und einen Brief von ihrer Großmutter gelesen.
Das war der Auslöser, stellte Tory fest, während sie langsam aufstand. Ihre Großmutter war das Bindeglied zu ihrer Kindheit. Zu Hope.
In Hope hinein, dachte sie, während sie die Terrassentür schloss. In den Schmerz und die Angst und das Entsetzen in jener schrecklichen Nacht. Und sie wusste immer noch nicht, wer es getan hatte oder warum.
Zitternd ging Tory ins Badezimmer, zog sich aus und stellte sich unter die heiße Dusche.
»Ich kann dir nicht helfen«, murmelte sie und schloss die Augen. »Ich konnte dir damals nicht helfen, und ich kann es auch jetzt nicht.«
Ihre beste Freundin, ihre Herzensschwester, war in jener Nacht im Sumpf gestorben, während sie, in ihrem Zimmer eingeschlossen, heiße Tränen weinte wegen der Schläge, die sie bekommen hatte.
Und sie hatte es gewusst. Sie hatte es gesehen. Sie war hilflos gewesen.
Schuldgefühle, so frisch wie vor achtzehn Jahren, überfluteten sie. »Ich kann dir nicht helfen«, sagte sie noch einmal, »aber ich komme zurück.«
Wir waren acht Jahre alt in jenem Sommer. In jenem lange vergangenen Sommer, als die heißen Tage endlos schienen. Es war ein Sommer der Unschuld und der albernen Streiche und der Freundschaft, die Art von Sommer, die uns wie eine hübsche Glaskugel umhüllt. Doch eine Nacht hat alles verändert. Seitdem war für mich nichts mehr wie vorher. Wie hätte es das auch sein können?
Die meiste Zeit im Leben habe ich es vermieden, darüber zu sprechen. Die Erinnerungen oder die Bilder hat das jedoch nicht verhindert. Aber eine Zeit lang versuchte ich, sie zu begraben, so wie Hope begraben war. Dies jetzt laut auszusprechen, wenn auch nur für mich, ist eine Erleichterung. Als zöge ich einen Splitter aus meinem Herzen. Der Schmerz wird noch eine Weile anhalten.
Sie war meine beste Freundin. Unsere Bindung besaß eine Tiefe und Intensität, wie sie nur Kinder herstellen können. Vermutlich waren wir ein seltsames Paar, die blonde, privilegierte Hope Lavelle und die dunkelhaarige, schüchterne Tory Bodeen.
Mein Vater hatte ein kleines Stück Land gepachtet, eine winzige Ecke der großen Plantage, die ihrem Vater gehörte. Manchmal, wenn ihre Mama ein großes Gesellschaftsessen oder eine ihrer prächtigen Partys gab, dann half meine Mama beim Saubermachen und Servieren.
Aber diese Kluft zwischen den gesellschaftlichen Schichten berührte unsere Freundschaft nie. Das kam uns einfach nie in den Sinn.
Hope lebte in einem prächtigen Haus, das einer ihrer exzentrischen Vorfahren so gebaut hatte, dass es eher einem Schloss glich als den georgianischen Villen, die damals so beliebt waren. Es war aus Stein, mit Türmen und Türmchen und Zinnen. Aber Hope hatte nichts von einer Prinzessin.
Sie lebte für Abenteuer. Und wenn ich mit ihr zusammen war, tat ich das auch. Ich floh aus dem Elend und dem Aufruhr in meinem Zuhause und meinem Leben und wurde ihre Partnerin. Wir waren Spione, Detektive, Ritter auf dem Kreuzzug, Piraten oder Raumfahrer. Wir waren tapfer und aufrichtig, kühn und wagemutig.
Im Frühling vor jenem Sommer ritzten wir uns mit ihrem Taschenmesser die Handgelenke auf. Feierlich tauschten wir unser Blut aus. Wir hatten wahrscheinlich Glück, dass wir keinen Wundstarrkrampf bekamen. Stattdessen wurden wir Blutsschwestern.
Sie hatte eine Zwillingsschwester. Aber Faith nahm selten an unseren Spielen teil. Sie fand sie zu albern oder zu rau und schmutzig. Irgendetwas hatte Faith immer daran auszusetzen.
Wir vermissten ihre Wutausbrüche oder ihre Klagen nicht. In jenem Sommer waren Hope und ich die Zwillinge.
Wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich sie liebe, wäre ich verlegen geworden. Ich hätte die Frage nicht verstanden. Aber ich habe sie seit jener schrecklichen Augustnacht jeden Tag vermisst. Sie hat mir gefehlt wie jener Teil von mir, der mit ihr gestorben ist.
Wir wollten uns im Sumpf, an unserem geheimen Ort, treffen. Vermutlich war er gar nicht besonders geheim, aber er gehörte uns. Wir spielten oft dort, in der feuchten grünen Luft, und erlebten unsere Abenteuer zwischen Moos, wilden Azaleen und dem Gesang der Vögel.
Man hatte uns verboten, nach Sonnenuntergang dort hinzugehen, aber wenn man acht Jahre alt ist, ist es aufregend, Verbote zu missachten.
Ich wollte Marshmallows und Limonade mitbringen - zum Teil aus purem Stolz. Meine Eltern waren arm, und ich war noch ärmer, aber ich musste etwas dazu beitragen, und so hatte ich das Geld gezählt, das ich in dem Steinkrug unter meinem Bett versteckte. Ich besaß in jener Augustnacht noch zwei Dollar und sechsundachtzig Cents - nachdem ich die Sachen bei Hanson gekauft hatte -, und hatte mein restliches Vermögen, das nur noch aus Pennies, Nickels und einigen hart verdienten Vierteldollarmünzen bestand, in einem Einmachglas versteckt.
Zum Abendessen gab es Hühnchen und Reis. Im Haus war es, obwohl der Ventilator auf Hochtouren lief, so heiß, dass das Essen eine Qual war. Aber wenn man auch nur ein Reiskorn auf dem Teller hatte, erwartete mein Vater, dass man es aß und dankbar dafür war. Vor dem Abendessen wurde gebetet. Je nach Daddys Stimmung dauerte das zwischen fünf und zwanzig Minuten, und in der Zwischenzeit wurde das Essen kalt, und der Magen knurrte und der Schweiß rann einem in Bächen den Rücken hinunter.
Meine Großmama pflegte immer zu sagen: »Als Hannibal Bodeen zu Gott fand, versuchte der, ein anderes Versteck zu finden.«
Er war ein großer Mann, mein Vater, mit einer breiten Brust und kräftigen Armen. Ich habe gehört, dass er früher einmal als gut aussehend galt. Die Jahre prägen einen Mann auf unterschiedliche Art, und meinen Vater hatten die Jahre bitter gemacht. Bitter und streng, mit einer unterschwelligen Gemeinheit. Er trug sein dunkles Haar zurückgekämmt, und unter dieser Haube wirkte sein Gesicht wie ein scharfkantiger Fels im Gebirge. Ein Fels, der dir die Haut von den Knochen reißen konnte, wenn du einmal nicht aufgepasst hattest. Auch seine Augen waren dunkel, ein flammendes Dunkel, das ich heute in den Augen einiger Fernsehprediger oder Obdachloser wiedererkenne.
Meine Mutter hatte Angst vor ihm. Ich versuche, ihr zu verzeihen, dass sie so viel Angst vor ihm hatte, dass sie mir nie beistand, wenn er mir mit seinem Gürtel seinen rachsüchtigen Gott einbläute.
An jenem Abend war ich still beim Abendessen. Wenn ich still war und meinen Teller leer aß, bestand vielleicht die Chance, dass er keine Notiz von mir nahm. Die Vorfreude auf die Nacht bebte in mir wie etwas Lebendiges. Ich hielt meine Augen gesenkt und versuchte, so zu essen, dass er mir weder vorwerfen konnte zu trödeln noch mein Essen herunterzuschlingen. Alles war bei Daddy immer ein schmaler Grat.
Ich erinnere mich noch genau an das Surren der Ventilatoren und an das Kratzen der Gabeln auf den Tellern. Ich erinnere mich an das Schweigen, an das Schweigen der Seelen, die sich furchtsam versteckten.
Als meine Mutter meinem Vater noch etwas Hühnchen anbot, dankte er ihr höflich und nahm sich ein zweites Mal. Alle im Zimmer atmeten erleichtert auf. Das war ein gutes Zeichen. Ermutigt machte meine Mutter eine Bemerkung darüber, wie gut die Tomaten und der Mais wuchsen und dass sie in den nächsten zwei Wochen einmachen würde. Drüben in Beaux Reves würden sie auch einmachen, und ob er es nicht auch für eine gute Idee hielte, wenn sie dabei helfen würde, weil man sie darum gebeten hatte.
Sie erwähnte nicht, dass sie dafür auch Geld bekommen würde. Selbst wenn Daddy gute Laune hatte, war es nicht gut, von dem Geld zu reden, das die Lavelles für einen Dienst bezahlten. Er war der Ernährer in diesem Haus, und diesen überaus wichtigen Punkt durften wir keinesfalls vergessen.
Alle im Zimmer hielten erneut den Atem an. Manchmal brachte allein schon die Erwähnung des Namens Lavelle Daddy in Rage. An jenem Abend jedoch erlaubte er es. Es sei eine ganz vernünftige Angelegenheit. Jedenfalls, solange sie darüber nicht ihre Pflichten vernachlässigte, die sie unter seinem Dach hatte.
Diese relativ freundliche Antwort brachte Mutter zum Lächeln. Ich erinnere mich noch, wie ihr Gesicht ganz weich wurde und wie sie fast wieder hübsch aussah. Ab und zu, wenn ich es ganz angestrengt versuche, kann ich mich erinnern, dass Mama einmal hübsch war.
Han, sagte sie lächelnd zu ihm, Tory und ich kümmern uns um alles hier, mach dir keine Sorgen. Ich gehe morgen zu Miss Lilah und rede mit ihr und sehe zu, dass wir alles schaffen. Von den Beeren mache ich auch Gelee. Ich weiß, dass ich hier irgendwo noch Paraffin habe, aber ich kann mich nicht entsinnen, wo es hingekommen ist.
Und das, diese rein zufällige Bemerkung über Gelee und Wachs und Vergesslichkeit, änderte alles. Vermutlich waren meine Gedanken während ihres Gesprächs abgeschweift, und ich war im Geiste bereits bei den Abenteuern, die wir erleben wollten. Und ohne nachzudenken, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, sagte ich die Worte, die mich verdammten.
Die Schachtel mit dem Paraffin steht auf dem obersten Brett im Schrank über dem Herd, hinter der Melasse und dem Maismehl.
Ich sagte einfach, was ich in meinem Kopf sah, die viereckige Schachtel mit dem Wachsblock hinter der dunklen Flasche mit dem Sirup, und griff dann nach meinem kalten, süßen Tee, um die Reiskörner hinunterzuspülen.
Bevor ich den ersten Schluck trinken konnte, hörte ich, wie das Schweigen wieder einkehrte, die stumme Welle, die selbst das monotone Summen der Ventilatoren übertönte. Mein Herz begann heftig zu schlagen, und mein Kopf dröhnte vom angstvollen Rauschen meines Blutes.
Ganz sanft, wie er es vor seinen Tobsuchtsanfällen immer tat, fragte Vater mich, woher weißt du, wo das Wachs ist, Victoria? Woher weißt du, dass es da oben steht, wo du es gar nicht sehen kannst? Wo du es nicht erreichen kannst?
Ich log. Es war dumm, weil ich bereits dem Untergang geweiht war, aber die Lüge sprudelte als verzweifelte Verteidigung aus mir heraus. Ich sagte, ich hätte wahrscheinlich gesehen, wie Mama es dort hinstellte. Mir sei gerade eingefallen, dass ich gesehen hätte, wie sie es dort hinstellte.
Er zerriss die Lüge in winzige Fetzen. Er hatte eine ganz bestimmte Art, Lügen zu durchschauen und sie in der Luft zu zerreißen. Wann wollte ich das gesehen haben? Warum ich denn nicht besser in der Schule sei, wenn ich so ein hervorragendes Gedächtnis hätte, dass ich noch ein Jahr nach der letzten Einmachzeit wüsste, wo das Paraffin war? Und woher wollte ich wissen, dass es hinter der Melasse und dem Maismehl stand und nicht davor oder daneben?
Oh, er war ein kluger Mann, mein Vater, und ihm entging nicht das kleinste Detail.
Mama sagte nichts, während er mit dieser sanften Stimme sprach und wie mit seidenumwickelten Fäusten mit den Wörtern auf mich einschlug. Sie faltete die Hände, und diese Hände zitterten. Zitterte sie um mich? Ich nehme an, mir gefiel der Gedanke. Aber sie sagte auch nichts, als seine Stimme lauter wurde, nichts, als er den Stuhl zurückschob. Nichts, als mir das Glas aus der Hand glitt und auf dem Boden zerschellte. Eine Scherbe schnitt mir in den Knöchel, und in dem wachsenden Entsetzen verspürte ich auch diesen kleinen Schmerz.
Vater prüfte es natürlich erst nach. Das tat er immer, wobei er sich einredete, dass das nur gerecht und richtig war. Als er den Schrank öffnete, die Flaschen beiseite schob und langsam die viereckige, blaue Schachtel mit dem Paraffin hinter der dunklen Melasse hervorholte, weinte ich. Damals hatte ich noch Tränen, weil ich noch Hoffnung hatte. Selbst als er mich hochzerrte, hatte ich die Hoffnung, dass die Strafe dieses Mal nur aus Gebeten bestehen würde, stundenlange Gebete, bis meine Knie taub wurden. Manchmal, zumindest manchmal in jenem Sommer, reichte ihm das aus.
Hatte er mich nicht gewarnt, den Teufel nicht mehr einzulassen? Aber ich brachte immer wieder das Böse in dieses Haus und beschämte ihn vor Gott. Ich sagte, es täte mir Leid, ich hätte es nicht gewollt. Bitte, Daddy, bitte, ich werde es nie wieder tun. Ich werde brav sein.
Ich flehte ihn an. Er schrie Bibelsprüche und zerrte mich mit seinen großen, harten Händen in mein Zimmer, und immer noch flehte ich ihn an. Es war das letzte Mal, dass ich es tat.
Ich wehrte mich nicht gegen ihn. Wenn man sich wehrte, wurde es noch schlimmer. Das vierte Gebot war heilig, man musste seinen Vater in seinem Haus ehren, auch wenn er einen blutig schlug.
Sein Gesicht war hochrot vor Selbstgerechtigkeit, die so groß und blendend war wie die Sonne. Er schlug mir nur einmal ins Gesicht. Das brachte mich zum Verstummen. Und es tötete meine Hoffnung.
Ich lag bäuchlings auf meinem Bett, wehrlos wie ein Opferlamm. Als er seinen Gürtel aus den Schlaufen seiner Arbeitshose zog, klang es wie das Zischen einer Schlange. Dann, als er ihn durch die Luft knallen ließ, gab es ein kurzes, scharfes, sausendes Geräusch.
Er ließ ihn immer dreimal knallen. Die heilige Dreieinigkeit der Grausamkeit.
Der erste Schlag ist immer der Schlimmste. Ganz gleich, wie oft es ein erstes Mal gibt, der Schock und der Schmerz sind qualvoll und dir entweicht ein Schrei. Dein Körper bäumt sich abwehrend auf. Nein, nicht abwehrend, eher ungläubig, und dann hageln der zweite und der dritte Schlag auf dich hernieder.
Bald klingen deine Schreie mehr wie die eines Tieres als wie die eines Menschen. Deine Menschlichkeit ist untergegangen in einer Woge von Schmerz und Demütigung.
Vater betete immer, während er mich schlug, und seine Stimme dröhnte. Und unter diesem Dröhnen schwelte eine verborgene Erregung, eine gemeine Art von Lust, die ich nicht verstand, nicht kannte. Kein Kind sollte etwas über diese schlüpfrigen Untertöne wissen, und eine Zeit lang zumindest blieb auch ich davon verschont.
Als er mich das erste Mal schlug, war ich fünf. Meine Mutter versuchte, ihn aufzuhalten, und er verpasste ihr dafür ein blaues Auge. Sie versuchte es nie wieder. Ich weiß nicht, was sie an jenem Abend tat, während er den Teufel aus mir herausprügelte, der mir die Visionen eingab. Vor meinen Augen und in meinem Kopf war nur ein blutroter Schleier.
Der Schleier war Hass, aber das wusste ich ebenfalls nicht.
Als er ging und die Tür von außen abschloss, weinte ich. Nach einer Weile schlief ich über den Schmerzen ein.
Als ich erwachte, war es dunkel, und mir kam es so vor, als ob ein Feuer in mir brannte. Ich kann nicht sagen, der Schmerz sei unerträglich gewesen, weil ich ihn ja ertrug. Was blieb mir anderes übrig? Auch ich betete, ich betete darum, dass das, was in mir herrschte, nun endlich ausgetrieben worden war. Ich wollte nicht böse sein.
Und noch während ich betete, baute sich der Druck in meinem Magen auf, und das Prickeln erschien, wie scharfe, kleine Finger, die über meinen Nacken tanzten. Es war das erste Mal, dass es so zu mir kam, und ich glaubte, ich sei krank und habe Fieber.
Dann sah ich Hope, so lebendig, als ob ich auf unserer Lichtung im Sumpf neben ihr säße. Ich roch die Nacht, das Wasser, hörte das Sirren der Moskitos, das Summen der Insekten. Und wie Hope hörte ich das Rascheln im Gebüsch.
Wie Hope empfand ich Angst. Heiß stieg sie in mir auf. Als Hope wegrannte, rannte auch ich, und meine Brust schmerzte von meinem keuchenden Atem. Ich sah, wie sie fiel, weil jemand sie ansprang. Ein Schatten, ein Umriss. Ich konnte ihn nicht klar erkennen, aber ich konnte sie sehen.
Sie rief nach mir. Schrie nach mir.
Dann sah ich nur noch schwarz. Als ich erwachte, war die Sonne aufgegangen, und ich lag am Boden. Und Hope war fort.
2
Sie hatte beschlossen, sich in Charleston zu verlieren, und fast vier Jahre lang war es ihr auch gelungen. Die Stadt war für sie wie eine hübsche, großzügige Frau, bereit, sie an ihren weichen Busen zu drücken und die Nerven zu beruhigen, an denen die gnadenlosen Straßen New Yorks gezerrt hatten.
In Charleston waren die Stimmen langsamer, und in ihrem warmen, fließenden Strom konnte sie untertauchen. Sie konnte sich verstecken, so wie sie einst geglaubt hatte, sich im Menschengewühl des Nordens verbergen zu können.
Geld war kein Problem. Sie lebte sparsam und war immer bereit zu arbeiten. Sie hütete ihre Ersparnisse wie ein Falke, und als die Summe größer wurde, begann sie von einem eigenen Geschäft zu träumen. Sie wollte für sich selbst arbeiten und jenes ruhige, friedliche Leben führen, das ihr nie vergönnt gewesen war.
Sie blieb für sich. Echte Freundschaften bedeuteten auch echte Bindungen. Dem wollte sie sich noch nicht wieder aussetzen. Vielleicht war sie auch noch nicht stark genug dazu. Die Leute stellten Fragen. Sie wollten etwas über einen wissen, oder sie taten zumindest so.
Tory hatte keine Antworten zu geben und sie hatte nichts zu erzählen.
Sie fand ein kleines Haus - alt, heruntergekommen, perfekt - und verhandelte hart, um es kaufen zu können.
Die Leute unterschätzten Victoria Bodeen oft. Sie sahen eine junge Frau, klein und schmächtig. Sie sahen die weiche Haut und die zarten Gesichtszüge, einen ernsten Mund und klare graue Augen, die sie fälschlicherweise für arglos hielten. Eine kleine Nase, ganz leicht nach oben gebogen, verlieh dem Gesicht, das von glatten braunen Haaren umrahmt wurde, etwas Niedliches.
Die Leute sahen Zerbrechlichkeit und hörten sie auch in dem weichen südlichen Akzent ihrer Stimme. Aber die Härte in Tory sahen sie nie. Härte, gewachsen aus unzähligen Schlägen mit einem Sam-Browne-Gürtel.
Tory arbeitete für das, was sie wollte, und kämpfte mit aller Entschlossenheit darum. Sie hatte das alte Haus mit seinem zugewucherten Garten und der abblätternden Farbe gewollt, und sie hatte so lange darum gefeilscht und gehandelt, bis es ihr gehörte. Bei Wohnungen fiel ihr New York wieder ein und das Desaster, mit dem ihr Leben dort geendet hatte. Wohnungen kamen für Tory nicht mehr infrage.
Sie hatte ihre Investition gepflegt und viel Zeit und Mühe auf die Renovierung des Hauses verwendet, immer ein Zimmer nach dem anderen. Es hatte volle drei Jahre gedauert, und jetzt konnte sie sich durch den Verkauf und ihre Ersparnisse ihren Traum erfüllen.
Sie musste nur nach Progress zurückgehen.
Tory saß an ihrem Küchentisch und las zum dritten Mal den Mietvertrag über die Geschäftsräume in der Market Street. Sie fragte sich, ob Mr. Harlowe im Maklerbüro sich wohl an sie erinnerte.
Sie war gerade zehn gewesen, als ihre Familie von Progress nach Raleigh gezogen war, damit ihre Eltern die Chance auf eine feste Anstellung bekamen. Bessere Arbeit, hatte ihr Vater behauptet, als sich mühsam von dem ausgelaugten Stück Land zu ernähren, das den allmächtigen Lavelles gehörte.
Natürlich waren sie in Raleigh genauso arm gewesen wie in Progress. Sie hatten zudem noch weniger Platz gehabt.
Aber das spielt keine Rolle, dachte Tory. Sie würde nicht wieder arm werden. Sie war nicht mehr das ängstliche, dünne Mädchen von einst, sondern eine Geschäftsfrau, die in ihrer Heimatstadt einen neuen Laden aufmachte.
Und warum zittern Ihre Hände dann so?, würde die Therapeutin fragen.
Vor Freude, beschloss Tory. Vor Aufregung. Und Nervosität. Na gut, nervös war sie auch, aber das war nur menschlich. Sie hatte ein Recht darauf. Sie war normal. Sie war, was immer sie sein wollte.
»Verdammt!«
Mit zusammengebissenen Zähnen ergriff sie den Füller und unterschrieb den Vertrag.
Es war nur für ein Jahr. Ein Jahr. Wenn es nicht funktionierte, konnte sie wieder weggehen. Das hatte sie früher auch schon gemacht. Irgendwie kam es ihr so vor, als sei sie immer wieder weggegangen.
Doch bevor sie dieses Mal weggehen konnte, musste sie noch eine Menge erledigen. Der Mietvertrag war nur ein winziger Bestandteil des Papierberges, der vor ihr lag. Das meiste - die Lizenzen und Kontrakte für den Laden, den sie aufmachen wollte, war unterschrieben und besiegelt. Sie betrachtete den Staat South Carolina mittlerweile als Wegelagerer, aber sie hatte die Gebühren bezahlt. Als Nächstes kam der Kaufvertrag für das Haus, und die Anwälte, mit denen sie dabei zu tun hatte, waren noch schlimmer als Wegelagerer.
Aber am Ende des Tages würde sie ihren Scheck in der Hand halten und sich auf den Weg machen.
Mit dem Packen war sie beinahe fertig. Es ist gar nicht so viel, dachte sie jetzt. Sie hatte fast alles verkauft, was sie seit ihrem Umzug nach Charleston erworben hatte. Leichtes Reisegepäck vereinfachte die Dinge, und Tory hatte früh gelernt, ihr Herz nie an etwas zu hängen, was man ihr wegnehmen konnte.
Sie erhob sich, spülte ihre Tasse aus, trocknete sie ab und wickelte sie in Zeitungspapier, um sie in die kleine Kiste mit Küchenutensilien zu legen, die sie mitnehmen wollte. Sie blickte aus dem Fenster über der Spüle in ihren winzigen Garten.
Die kleine Terrasse war sauber geschrubbt. Tory wollte die Tontöpfe mit Verbenen und weißen Petunien für die neuen Besitzer dalassen. Sie hoffte, sie würden den Garten pflegen, aber wenn sie ihn umgruben, nun, dann war das ihre Sache.
Tory hatte das Haus geprägt. Die neuen Besitzer konnten tapezieren und neu anstreichen, fliesen und neue Fußböden verlegen, aber was sie gemacht hatte, war zuerst da gewesen, und es würde für alle Zeit unter dem Neuen bewahrt bleiben.
Man konnte die Vergangenheit nicht ausradieren, nicht ungeschehen machen. Genauso wenig wie man die Gegenwart und zukünftige Veränderungen beeinflussen konnte. Alle Menschen waren in einem Kreis der Zeit gefangen, der sich um den Kern des Vergangenen drehte. Und manchmal war das Vergangene so stark und beherrschend, dass es einen wieder zurückzog, ganz gleich, wie sehr man sich dagegen wehrte.
Noch deprimierter kann ich wohl kaum werden, dachte Tory seufzend.
Sie verschloss die Kiste, hob sie hoch, um sie zu ihrem Auto zu tragen, und verließ die Küche, ohne sich noch einmal umzublicken.
Drei Stunden später war der Scheck vom Verkauf des Hauses ihrem Konto gutgeschrieben. Tory schüttelte den neuen Eigentümern die Hand, lauschte höflich ihrer überschwänglichen Begeisterung über den Erwerb ihres ersten Hauses und verließ das Bankgebäude.
Das Haus und die Leute, die es nun bewohnten, gehörten nicht mehr zu ihrer Welt.
»Tory, warten Sie eine Sekunde!«
Tory drehte sich um, eine Hand an der Autotür und in Gedanken bereits auf der Fahrt. Aber sie wartete, während ihre Anwältin über den Parkplatz der Bank auf sie zukam. Sich durchschlängelte trifft eher zu, korrigierte sich Tory. Abigail Lawrence bewegte sich nie sonderlich schnell. Das erklärte wahrscheinlich, warum sie immer so aussah, als sei sie gerade anmutig der Vogue entstiegen.
Für den heutigen Termin hatte sie ein blassblaues Kostüm gewählt, dazu Perlen, die ihr wahrscheinlich von ihrer Urgroßmutter vermacht worden waren, und hochhackige Pumps, bei deren Anblick sich Torys Zehen schon verkrampften.
»Huh!« Abigail wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, als sei sie gerade zwei Meilen gelaufen. »Diese Hitze, und dabei ist es erst April.« Sie blickte an Tory vorbei in den Kombi und musterte die Kisten. »Das ist alles?«
»Ja. Danke, Abigail, dass Sie sich um alles gekümmert haben.«
»Sie haben das meiste ja selbst erledigt. Ich weiß nicht, wann ich jemals einen Klienten hatte, der auch nur die Hälfte der Zeit wusste, wovon ich redete, geschweige denn einen, der mir etwas beibringen konnte.«
Sie spähte noch einmal in den Kombi hinein und schien leicht überrascht zu sein, dass das, was eine Frau zum Leben brauchte, so wenig Platz einnehmen konnte. »Ich habe nicht geglaubt, dass Sie es ernst meinten, als sie sagten, sie wollten noch heute Nachmittag aufbrechen. Ich hätte es besser wissen müssen.« Ihr Blick glitt wieder zu Tory. »Sie meinen es immer ernst, Victoria.«
»Ich habe keinen Grund zu bleiben.«
Abigail öffnete den Mund, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Ich wollte gerade sagen, dass ich Sie beneide. Sie nehmen nur das mit, was in Ihr Auto passt, und brechen auf an einen neuen Ort, in ein neues Leben, einen neuen Anfang. Und ich, ich tue gar nichts. Nicht ein kleines bisschen. Du meine Güte, wie viel Energie man dafür braucht, und wie viel Mut! Aber Sie sind ja auch noch jung genug, um beides im Überfluss zu haben.«
»Vielleicht ist es ein Neubeginn, aber ich kehre eigentlich zu meinen Wurzeln zurück. Ich habe schließlich noch Familie in Progress.«
»Wenn Sie mich fragen, braucht man mehr Mut, um zu seinen Wurzeln zurückzukehren, als irgendwo anders hinzugehen. Ich hoffe, Sie sind glücklich, Tory.«
»Mir geht es gut.«
»Wenn es einem gut geht, ist das eine Sache.« Zu Torys Überraschung ergriff Abigail ihre Hand und hauchte einen leichten Kuss auf ihre Wange. »Glücklichsein ist das andere. Seien Sie glücklich.«
»Das habe ich vor.« Tory wich zurück. Die Art, wie Abigail ihre Hand hielt, die Sorge in ihren Augen beunruhigte sie. »Sie wussten es«, murmelte Tory.
»Natürlich wusste ich es.« Abigail drückte Torys Finger leicht, bevor sie sie losließ. »Auch Nachrichten aus New York finden ihren Weg hier herunter, und ab und zu finden sie sogar Beachtung. Sie haben Ihre Frisur und Ihren Namen verändert, aber ich habe Sie erkannt. Ich erinnere mich gut an Gesichter.«
»Warum haben Sie nichts gesagt? Mich nichts gefragt?«
»Sie haben mich engagiert, damit ich mich um ihre Geschäfte kümmere, und nicht, damit ich darin herumschnüffele. Ich habe mir gedacht, wenn Sie gewollt hätten, dass die Leute wissen, dass Sie die Victoria Mooney sind, die vor ein paar Jahren in New York Aufsehen erregt hat, dann hätten Sie schon etwas gesagt.«
»Ich danke Ihnen.«
Torys Zurückhaltung und die förmliche Antwort brachten Abigail zum Grinsen. »Um Himmels willen, Schätzchen, glauben Sie, ich werde Sie fragen, ob mein Sohn jemals heiratet oder wo, zum Teufel, ich den Diamantverlobungsring meiner Mutter verloren habe? Ich weiß, dass Sie schwere Zeiten durchgemacht haben, und ich hoffe, dass es jetzt für Sie leichter wird. Also, wenn Sie da oben in Progress Probleme haben sollten, rufen Sie mich einfach an.«
Reine Freundlichkeit machte Tory immer verlegen. Sie tastete nach der Autotür. »Danke. Vielen Dank. Ich fahre jetzt besser. Ich muss noch ein paar Zwischenstopps einlegen. « Sie streckte der anderen Frau erneut die Hand entgegen. »Ich danke Ihnen für alles.«
»Fahren Sie vorsichtig.«
Tory schlüpfte auf den Fahrersitz, zögerte und öffnete dann das Fenster, während sie bereits den Wagen startete. »In der mittleren Schublade Ihres Aktenschranks in Ihrem Arbeitszimmer zu Hause, zwischen D und E.«
»Was ist da?«
»Der Ring Ihrer Mutter. Er ist Ihnen ein bisschen zu weit und ist Ihnen vom Finger gerutscht. Sie hätten ihn kleiner machen lassen müssen«, erwiderte Tory rasch und fuhr aus der Parklücke, während Abigail ihr verwirrt nachblinzelte.
Tory fuhr in westlicher Richtung aus Charleston hinaus und bog dann nach Süden ab, um ihre geplante Route hinter sich zu bringen, bevor sie schließlich nach Progress fuhr. Die Liste der Künstler und Handwerker, die sie besuchen wollte, lag sauber getippt in ihrer neuen Aktentasche. Hinter jedem Namen stand eine Wegbeschreibung, und das bedeutete unzählige Nebenstraßen. Zeitraubend, aber notwendig.
Sie hatte bereits mit einigen Künstlern aus dem Süden die Vereinbarung getroffen, ihre Werke in dem Laden, den sie in der Market Street eröffnen wollte, auszustellen und zu verkaufen, aber sie brauchte noch mehr. Klein anzufangen bedeutete nicht unbedingt, schlecht anzufangen.
Die Anfangskosten, die Ausrüstung und eine annehmbare Wohnung würden beinahe all ihre Ersparnisse verschlingen. Tory wollte, dass es sich lohnte, und sie wollte noch mehr.
Wenn alles so lief, wie sie es geplant hatte, würde sie in einer Woche mit der Einrichtung des Ladens anfangen. Ende Mai würde sie eröffnen. Und dann musste man weitersehen.
Mit dem Übrigen würde sie fertig werden, wenn es auf sie zukam. Und wenn die Zeit gekommen war, würde sie die lange, schattige Straße nach Beaux Reves fahren und den Lavelles entgegentreten.
Sie würde Hope entgegentreten.
Am Ende der Woche war Tory erschöpft, um einige hundert Dollar ärmer wegen eines kaputten Kühlers und wollte ihre Reise am liebsten beenden. Der Einbau des neuen Kühlers bedeutete, dass sie erst am folgenden Morgen in Florence ankommen würde und sich auf eine Nacht in einem drittklassigen Motel abseits der Route 9 einrichten musste.
Das Zimmer stank nach abgestandenem Rauch, und sein Komfort erschöpfte sich in einem Stück Seife und Videofilmen, die den sexuellen Appetit der Stundenkundschaft anregen sollten, die das Etablissement vor dem Ruin bewahrte.
Auf dem Teppich waren Flecken, über deren Ursprung Tory sich lieber keine Gedanken machen wollte.
Sie hatte für die eine Nacht bar bezahlt, weil ihr die Vorstellung nicht gefiel, dem schmuddeligen Angestellten, der wie der Gin roch, den er clever in einer Kaffeetasse versteckte, ihre Kreditkarte in die Hand zu drücken.
Das Zimmer war genauso wenig verlockend wie die Aussicht, sich eine weitere Stunde hinter das Lenkrad zu klemmen, aber sie hatte keine Wahl. Tory trug den einzigen, wackeligen Stuhl zur Tür und klemmte ihn unter die Klinke. Er bot wahrscheinlich genauso wenig Sicherheit wie die dünne, rostige Kette, aber beides zusammen vermittelte ihr zumindest die Illusion, dass niemand hereinkommen konnte.
Sie wusste, dass es ein Fehler war, zuzulassen, dass sie sich derart verausgabte. Ihre Widerstandskraft ließ dann für gewöhnlich nach. Aber alles hatte sich gegen sie verschworen. Der Töpfer in Greenville hatte sich als aufbrausend und schwierig herausgestellt. Wenn er nicht so brillant gewesen wäre, hätte Tory sein Atelier schon nach zwanzig Minuten wieder verlassen, statt zwei Stunden lang auf ihn einzureden, ihn zu loben und zu besänftigen.
Die Autoreparatur hatte weitere vier Stunden gedauert. Der Wagen war abgeschleppt worden, und Tory hatte auf dem Schrottplatz um einen gebrauchten Kühler gefeilscht und den Mechaniker überredet, ihn sofort einzubauen.
Nun musste sie zugeben, dass sie aus eigener Dummheit in diesem Motel gelandet war. Sie hätte einfach ein Zimmer in Greenville nehmen oder an einem der achtbaren Rasthäuser an der Autobahn halten können.
Nur eine Nacht, rief sie sich ins Gedächtnis, während sie misstrauisch die schmierige grüne Überdecke auf dem Bett beäugte. Es gab hier bestimmt Ungeziefer.
Tory beschloss, darüber hinwegzusehen.
Nur ein paar Stunden Schlaf, und dann war sie auf dem Weg nach Florence, wo ihre Großmutter das Gästezimmer sicher schon vorbereitet hatte - saubere Bettwäsche, ein heißes Bad ...
Ohne die Schuhe auszuziehen, legte sie sich auf den Überwurf und schloss die Augen.
Körper, die sich bewegten, schweißbedeckt.
Baby, ja, Baby. Zeig's mir! Fester!
Eine weinende Frau, die der Schmerz durchströmte wie glühende Lava.
O Gott, Gott, was soll ich nur tun? Wo kann ich hingehen? Überallhin, nur nicht zurück. Bitte, lass ihn mich nicht finden.
Gedankenfetzen und tastende Hände, Erregung und Schuldgefühle.
Und wenn ich jetzt schwanger werde? Meine Mutter bringt mich um. Ob es wohl wehtut? Liebt er mich wirklich?
Bilder, Gedanken und Stimmen überfluteten sie.
Lasst mich in Ruhe, verlangte sie. Lasst mich einfach in Ruhe. Mit geschlossenen Augen stellte Tory sich eine dicke, hohe, weiße Wand vor. Sie baute sie Stein für Stein auf, bis sie zwischen ihr und den Erinnerungen stand, die den Raum wie Rauch erfüllten. Hinter der Mauer war nur kühles, klares Blau. Wasser, in dem sie sich treiben lassen konnte. Und in dem sie endlich einschlafen konnte.
Über dem blauen Pool strahlte die Sonne weiß und warm. Tory hörte Vögel singen, und das Wasser plätscherte, als sie mit den Händen hindurchfuhr. Ihr Körper war gewichtslos, und sie war von einer tiefen Ruhe erfüllt. Am Rand des Pools standen prächtige Korkeichen und eine Weide tauchte ihre Zweige in die klare Wasseroberfläche.
Lächelnd schloss Tory die Augen und ließ sich treiben.
Das Lachen war hoch und hell, die sorglose Fröhlichkeit eines Mädchens. Träge öffnete Tory die Augen.
Dort, bei der Weide, stand Hope und winkte.
Hey, Tory! Hey, ich habe dich gesucht!
Freudig winkte Tory zurück. Komm her! Das Wasser ist toll.
Sie werden uns wegen Nacktbadens verhaften. Dennoch schleuderte Hope kichernd die Schuhe von den Füßen und schlüpfte aus Short und Bluse. Ich dachte, du seist weggegangen.
Sei nicht blöd. Wohin sollte ich denn gehen?
Ich habe so lange nach dir gesucht! Langsam glitt Hope ins Wasser. Gertenschlank und marmorweiß. Ihr Haar breitete sich wie ein Schleier auf der Oberfläche aus. Gold auf Blau. Eine Ewigkeit.
Das Wasser wurde trübe und begann sich zu kräuseln. Die anmutigen Zweige der Weide schlugen wie Peitschen. Und das Wasser war auf einmal so kalt, dass Tory zu zittern begann.
Ein Sturm kommt auf. Wir gehen besser.
Es schlägt über mir zusammen. Ich kann nicht stehen. Du musst mir helfen!
Die Wellen wurden immer höher und Hope schlug wild mit den Armen um sich. Wie ein Vorhang drang Wasser aus ihrem Mund und es war so schlammig braun wie der Sumpf.
Tory schwamm voller Panik auf sie zu, aber mit jedem Zug entfernte sie sich mehr von der Stelle, an der das Mädchen um sein Leben kämpfte. Das Wasser brannte Tory in den Lungen, zog an ihren Füßen. Sie spürte, wie sie selbst unterging, spürte, wie sie ertrank, mit Hopes Stimme im Kopf.
Du musst kommen! Du musst dich beeilen!
Sie erwachte im Dunkeln, im Mund den Geschmack des Sumpfes. Da sie weder den Mut noch die Energie hatte, die Mauer wieder aufzubauen, stand sie auf. Im Badezimmer spritzte sie sich rostiges Wasser ins Gesicht, dann hob sie den Kopf, um in den Spiegel zu blicken.
Ihr Blick war noch glasig von dem Traum, und sie hatte Schatten unter den Augen. Zu spät, um umzukehren, dachte sie. Es war immer zu spät.
Tory ergriff ihre Tasche und das noch unbenutzte Reisenecessaire.
Die Dunkelheit war jetzt beruhigend, und der Schokoriegel und der Saft, die sie sich aus dem Automaten vor ihrem Zimmer gezogen hatte, hielten sie wach. Sie schaltete das Radio ein, um sich abzulenken. Sie wollte nur noch an die Fahrt denken.
Als sie die Autobahn erreicht hatte, war die Sonne aufgegangen, und der Verkehr wurde dicht. Bevor sie nach Osten abbog, tankte sie den Wagen auf. Als sie an der Ausfahrt vorbeifuhr, die dort hinführte, wo sich ihre Eltern wieder niedergelassen hatten, krampfte sich ihr Magen zusammen, und das blieb die nächsten dreißig Meilen so.
Tory dachte an ihre Großmutter, an die Sachen, die sie hinten im Auto hatte oder die nach Progress geliefert wurden. Sie dachte an ihr Budget für das nächste halbe Jahr und an die Arbeit, die es sie kosten würde, bis sie ihr Geschäft aufgebaut hatte.
Sie dachte an alles Mögliche, nur nicht an den wahren Grund, warum sie nach Progress zurückkehrte.
Kurz vor Florence hielt sie noch einmal an, kämmte sich auf der Toilette einer Tankstelle die Haare und legte ein wenig Make-up auf. Ihre Großmutter würde sich davon nicht täuschen lassen, aber einen Versuch war es immerhin wert.
Einem Impuls folgend hielt sie auch am Blumenladen noch einmal an. Der Garten ihrer Großmutter war jedes Jahr ein Ereignis, aber die zwölf rosafarbenen Tulpen waren ein weiterer Versuch, die Großmutter versöhnlich zu stimmen. Immerhin hatte sie nur knapp zwei Stunden von ihrer Großmutter entfernt gelebt, sich jedoch seit Weihnachten nicht mehr die Mühe gemacht, sie zu besuchen.
Als Tory in die hübsche Straße mit den blühenden Sträuchern einbog, fragte sie sich nach dem Grund dafür. Es war eine gute Gegend, wo die Kinder in den Gärten spielten und Hunde im Schatten dösten. Eine Gegend, in der die Leute über den Zaun hinweg ein Schwätzchen hielten, auf fremde Autos achteten und die Häuser der Nachbarn sowohl aus Vorsicht als auch aus Neugier im Auge behielten.
Iris Mooneys Haus lag inmitten der anderen Häuser. Es war äußerst gepflegt und von alten, riesigen Azaleenbüschen umgeben. Die Blütezeit neigte sich dem Ende zu, aber die blassen Rosa-und Rottöne schufen einen weichen Übergang zu dem kräftigen blauen Anstrich, den ihre Großmutter für das Haus gewählt hatte. Wie erwartet, war der Vorgarten üppig und gepflegt, der Rasen gemäht und die Treppe sauber.
Ein Lieferwagen mit der Aufschrift ›Installationsarbeiten aller Art‹ stand in der Auffahrt hinter dem alten Kleinwagen ihrer Großmutter. Tory hielt am Straßenrand. Die Spannung, die sie während der Fahrt zu ignorieren versucht hatte, löste sich, als sie auf das Haus zuging.
Sie klopfte nicht an. An dieser Tür brauchte sie nie anzuklopfen, Tory hatte immer gewusst, dass sie jederzeit für sie offen stand. Es hatte Zeiten gegeben, in denen das allein sie vor dem Zusammenbrechen bewahrt hatte.
Überraschenderweise war es im Haus vollkommen ruhig. Es war fast schon zehn Uhr, als sie eintrat. Tory hatte eigentlich erwartet, ihre Großmutter im Garten oder bei der Hausarbeit anzutreffen.
Das Wohnzimmer war wie immer etwas chaotisch, voller Möbel, Kleinkram und Bücher. Und in einer Vase stand ein Dutzend roter Rosen, gegen die sich Torys Tulpen wie arme Verwandte ausmachten. Sie stellte ihren Koffer und die Tasche ab und trat in den Flur.
»Gran? Bist du zu Hause?« Mit den Blumen in der Hand ging Tory auf das Schlafzimmer zu, blieb aber stehen und zog die Augenbrauen hoch, als sie hinter der verschlossenen Tür zum Schlafzimmer ihrer Großmutter Geräusche hörte.
»Tory? Liebes, ich komme sofort! Geh und ... nimm dir etwas Eistee.«
Achselzuckend ging Tory in die Küche. Sie warf jedoch einen Blick zurück, weil sie etwas hörte, das wie ein ersticktes Kichern klang.
Sie legte die Blumen auf die Arbeitsplatte, dann öffnete sie den Kühlschrank. Der Krug mit Tee stand bereit, und zwar so zubereitet, wie sie es am liebsten hatte, mit Zitronenscheiben und Minzeblättchen. Granny vergisst nie etwas, dachte Tory, und Tränen der Rührung und der Erschöpfung traten ihr in die Augen.
Sie drängte sie zurück, als sie die raschen Schritte ihrer Großmutter hörte. »Liebe Güte, du bist aber früh! Ich habe dich erst nach Mittag erwartet!« Klein, zierlich und behände kam Iris Mooney ins Zimmer geeilt und nahm Tory in die Arme.
»Ich bin früh losgefahren und habe kaum eine Pause gemacht. Habe ich dich aufgeweckt? Geht es dir nicht gut?«
»Wieso?«
»Du bist noch im Morgenmantel.«
»Oh. Ha!« Iris drückte Tory noch einmal fest an sich und trat dann einen Schritt zurück. »Mir geht es blendend. Sieh mich doch an. Aber du, Schätzchen, du siehst erschöpft aus.«
»Ich bin nur ein bisschen müde. Du siehst toll aus!«
Das war die reine Wahrheit. Siebenundsechzig Jahre hatten das Gesicht der Großmutter geprägt, aber sie hatten weder die magnolienfarbene Haut noch die tiefgrauen Augen beeinträchtigen können. In ihrer Jugend hatte sie rote Haare gehabt, und sie achtete darauf, dass es auch so blieb. Wenn Gott gewollt hätte, dass Frauen graue Haare bekamen, pflegte Iris zu sagen, dann hätte er die Haartönung nicht erfunden.
»Setz dich hierher. Ich mache dir Frühstück.«
»Mach dir keine Umstände, Gran.«
»Du weißt sehr wohl, dass du mir nicht widersprechen sollst, oder? Setz dich jetzt hin.« Iris wies auf einen Stuhl an dem kleinen Caféhaustisch. »Oh, die Blumen! Die sind wirklich schön!« Sie ergriff den Tulpenstrauß, und ihre Augen funkelten vor Entzücken. »Du bist richtig süß, Tory.«
»Du hast mir gefehlt, Gran. Es tut mir Leid, dass ich dich so lange nicht besucht habe.«
»Du führst eben dein eigenes Leben, und das habe ich auch immer für dich gewollt. Jetzt entspann dich einfach, und wenn du wieder ein bisschen zu dir gekommen bist, kannst du mir alles über deine Reise erzählen.«
»Sie war jede Meile wert. Ich habe ein paar wunderschöne Stücke gefunden.«
»Du hast mein Auge für hübsche Dinge geerbt.« Iris zwinkerte ihr zu, während ihre Enkelin mit offenem Mund den Mann anstarrte, der in der Küchentür aufgetaucht war.
Er war groß wie eine Eiche und hatte einen Brustkorb wie ein Buick. Seine krausen, grauen Haare sahen aus wie Stahlwolle. Seine Augen waren braun, und er hatte einen Blick wie ein Basset. Sein Gesicht war gebräunt. Er räusperte sich verlegen und nickte Tory zu.
»Guten Morgen«, sagte er. »Äh... Mrs. Mooney, ich habe den Abfluss repariert.«
»Cecil, hör auf, so dämliches Zeug zu reden, du hast ja noch nicht einmal eine Werkzeugkiste dabei.« Iris stellte die Packung mit den Eiern beiseite. »Du brauchst nicht rot zu werden«, erklärte sie ihm. »Meine Enkelin wird schon nicht in Ohnmacht fallen, nur weil ihre Großmutter einen Freund hat. Tory, das ist Cecil Axton, der Grund dafür, dass ich morgens um zehn noch nicht angezogen bin.«
»Iris!« Cecil wurde knallrot. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Tory. Ihre Großmutter hat sich schon sehr auf Ihren Besuch gefreut.«
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Tory, weil ihr nichts Besseres einfiel. Sie streckte ihm die Hand entgegen, und benommen ahnte sie plötzlich, warum ihre Großmutter hinter der verschlossenen Tür gekichert hatte.
Sie verdrängte den Gedanken rasch wieder, als sie Cecils verlegenem Blick begegnete. »Sie sind ... Sie sind Klempner, Mr. Axton?«
»Er kam vor einer Weile, um meinen Boiler zu reparieren «, warf Iris ein, »und seitdem hält er mich warm.«
»Iris!« Cecil zog den Kopf zwischen seine breiten Schultern, konnte jedoch ein Grinsen nicht unterdrücken. »Ich muss los. Ich hoffe, Sie verbringen hier eine schöne Zeit, Tory.«
»Denk bloß nicht, du könntest dich einfach davonstehlen, ohne mir einen Abschiedskuss zu geben.« Iris trat auf ihn zu, nahm sein wettergegerbtes Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn fest auf den Mund. »Siehst du, der Blitz ist nicht eingeschlagen, der Donner hat nicht gegrollt, und dieses Kind hier ist nicht vor Entsetzen zusammengebrochen. « Sie küsste ihn noch einmal, dann tätschelte sie ihm die Wange. »Und jetzt verschwinde, mein Schöner, und hab einen guten Tag.«
»Das werde ich schon. Ähm, wir sehen uns dann später. «
»Aber sicher. So haben wir es ja beschlossen, Cecil. Und jetzt sieh zu, dass du fortkommst. Ich will mit Tory reden.«
»Ich bin schon weg.« Mit einem zögernden Lächeln wandte Cecil sich an Tory. »Wenn man dieser Frau widerspricht, bekommt man Kopfschmerzen.« Er setzte sich eine blaue Kappe auf und eilte hinaus.
»Ist er nicht goldig? Ich habe ein bisschen mageren Speck. Wie möchtest du deine Eier?«
»Mit Schokoladenplätzchen.« Tory holte tief Luft und stand auf. »Es geht mich ja nichts an, aber ...«
»Natürlich geht es dich nichts an, es sei denn, ich rede mit dir darüber, was ich ja getan habe.« Iris legte den Speck in die alte, gusseiserne Pfanne. »Du würdest mich sehr enttäuschen, Tory, wenn dich die Vorstellung entsetzt, dass deine Großmutter ein Sexualleben hat.«
Tory zuckte zusammen. Es gelang ihr jedoch, Haltung zu bewahren, als ihre Großmutter sich zu ihr umdrehte. »Ich bin nicht entsetzt, ich fühle mich nur ein bisschen unbehaglich. Die Vorstellung, dass ich hier heute Morgen hineingeplatzt bin und fast in dein ... ähm ...«
»Na ja, du bist zu früh gekommen, Liebes. Ich brate dir jetzt die Eier, und dann genießen wir beide ein ausgedehntes, fettiges Frühstück.«
»Vermutlich hast du ordentlich Hunger bekommen.«
Iris zwinkerte, dann warf sie lachend den Kopf zurück. »Ja, so bist du wieder mein Mädchen! Ich mache mir Sorgen um dich, mein Zuckerstück, wenn du nicht lächelst.«
»Worüber soll ich schon lächeln? Du bist diejenige, die Sex hat.«
Amüsiert legte Iris den Kopf schräg. »Und wessen Schuld ist das?«
»Deine. Du hast Cecil zuerst gesehen.« Tory holte zwei Gläser aus dem Schrank und goss Tee hinein. Wie viele Frauen besitzen schon eine Großmutter, die eine heiße Affäre mit dem Klempner hat?, dachte sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie stolz oder erheitert sein sollte, und beschloss schließlich, dass eine Kombination von beidem der Lage wohl am ehesten gerecht wurde. »Er scheint sehr nett zu sein.«
»Das ist er. Mehr noch, er ist ein sehr guter Mann.« Iris stocherte im Speck herum und beschloss, alles auf einmal loszuwerden. »Tory, er wohnt hier.«
»Er wohnt hier? Du wohnst mit ihm zusammen?«
»Er möchte mich unbedingt heiraten, aber ich bin nicht sicher, ob ich das will. Deshalb mache ich mit ihm gerade eine Art Probefahrt.«
»Ich glaube, ich muss mich wieder hinsetzen. Du meine Güte, Gran. Hast du es Mama schon gesagt?«
»Nein, und das habe ich auch nicht vor. Ich kann ganz gut ohne eine Lektion darüber auskommen, dass ich in Sünde lebe und Gott mich mit ewiger Verdammnis strafen wird. Deine Mama ist das größte Ärgernis seit der Erfindung der Selbstbedienungstankstellen. Wie je eine meiner Töchter eine solche Maus von einer Frau werden konnte, begreife ich bis heute nicht.«
»Reine Überlebenstaktik«, murmelte Tory, aber Iris schnaubte nur.
»Sie hätte wunderbar überlebt, wenn sie diesen Hurensohn, den sie vor fünfundzwanzig Jahren geheiratet hat, einfach verlassen hätte. Sie hat es nicht anders gewollt, Tory. Wenn sie auch nur ein bisschen Mumm hätte, dann hätte sie sich anders entschieden. So wie du.«
»Wirklich? Ich weiß nicht, welche Entscheidungen ich getroffen habe oder welche für mich getroffen worden sind. Ich weiß nicht, was falsch oder richtig war. Und jetzt sitze ich hier, Gran, und kehre genau dorthin wieder zurück, wo ich angefangen habe. Ich sage mir, dass ich dafür selbst die Verantwortung übernehme. Dass es meine Entscheidung ist. Aber eigentlich weiß ich, dass ich es gar nicht ändern kann.«
»Möchtest du das denn?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann musst du so lange weitermachen, bis du es weißt. Du hast solch ein starkes Licht in dir, Tory! Du findest sicher deinen Weg.«
»Das hast du immer schon gesagt. Aber ich hatte immer nur schreckliche Angst davor, mich zu verirren.«
»Ich hätte dir mehr helfen sollen. Ich hätte mehr für dich da sein müssen.«
»Gran!« Tory stand auf, trat zu Iris und umarmte sie. »Du warst immer für mich da. Ohne dich wäre ich jetzt nicht hier.«
»Doch, das wärst du.« Iris tätschelte Tory die Hand und wendete dann rasch den Speck, der in der Pfanne brutzelte. »Du bist stärker als wir alle zusammen. Und wenn du mich fragst, hatte Hannibal Bodeen genau davor Angst. Er wollte dich brechen, um seine eigene Angst zu überwinden. Und am Ende hat er dich ja auch geprägt, oder? Dieser Idiot!« Iris schlug ein Ei am Pfannenrand auf und ließ es in die brutzelnde Masse gleiten. »Mach uns ein wenig Toast, Schätzchen.«
»Mama ist überhaupt nicht wie du«, sagte Tory, während sie das Brot in den Toaster steckte. »Kein bisschen.«
»Ich weiß nicht, wie Sarabeth ist. Ich habe sie vor Jahren schon verloren. Vermutlich schon damals, als dein Opa gestorben ist. Sie war erst zwölf. Ich selbst war ja gerade erst dreißig und stand mit zwei Kindern da, die ich allein großziehen musste. Das war das schlimmste Jahr meines Lebens. So schlimm ist es nie wieder gewesen. Du meine Güte, wie ich diesen Mann geliebt habe!«
Seufzend ließ Iris die Eier auf die Teller gleiten. »Er war meine Welt, mein Jimmy. In der einen Minute war diese Welt noch beständig, und in der nächsten war sie auf einmal weg. Und Sarabeth war zwölf und J. R. gerade sechzehn. Sie ist so aufsässig geworden! Vielleicht hätte ich mich mehr um sie kümmern müssen. Weiß Gott, das hätte ich wirklich tun sollen.«
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.«
»Das tue ich auch nicht. Aber man kann gewisse Dinge erst im Nachhinein besser verstehen. Man sieht einfach, dass alles anders verlaufen wäre, wenn man nur eine einzige Sache anders gemacht hätte. Wenn ich damals aus Progress weggezogen wäre, wenn ich auf Jimmys Versicherung zurückgegriffen hätte, statt mir einen Job bei der Bank zu suchen, wenn ich nicht so erpicht darauf gewesen wäre, den Kindern das College zu ermöglichen.«
»Du wolltest nur das Beste für sie.«
»Ja.« Iris stellte die Teller auf den Tisch und holte Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank. »J. R. hat seine College- Ausbildung gehabt und etwas daraus gemacht. Sarabeth hat Hannibal Bodeen bekommen. So sollte es eben sein. Und deshalb sitzen meine Enkelin und ich heute hier und haben ein üppiges Frühstück vor sich. Ich würde wahrscheinlich doch nichts anders machen, wenn ich jetzt noch einmal von vorn anfangen könnte. Weil ich nämlich dich dann nicht hätte.«
»Ich fange noch einmal von vorn an, Gran, und ich weiß genau, dass ich nichts anders machen kann.« Tory legte den Toast auf einen kleinen Teller und trug ihn zum Tisch. »Es macht mir Angst, dass ich so weit zurückgehen muss. Ich kenne diese Leute gar nicht mehr. Und ich habe Angst, mich selbst nicht mehr zu kennen, wenn ich erst einmal da bin.«
»Du kommst nicht zur Ruhe, bevor du das nicht in Ordnung gebracht hast, Tory. Seit du weggegangen bist, hast du eigentlich immer wieder nach Progress zurückgewollt. «
»Ich weiß.« Es half, dass jemand sie verstand. Lächelnd spießte Tory ein Stück Schinken auf. »So, und jetzt erzähl mir von deinem Klempner.«
»Oh, er ist ein solches Goldstück!« Mit Appetit machte sich Iris über ihr Frühstück her. »Er sieht aus wie großer alter Bär, nicht wahr? Und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie tüchtig er ist. Vor über vierzig Jahren hat er seine eigene Firma gegründet. Vor ungefähr fünf Jahren ist seine Frau gestorben, ich kannte sie flüchtig. Jetzt zieht er sich langsam aus dem Betrieb zurück. Zwei seiner Söhne führen die Firma. Er hat sechs Enkel.«
»Sechs?«
»Ja. Einer von ihnen ist übrigens Arzt. Gut aussehender junger Mann. Ich habe schon mal gedacht ...«
»Hör sofort auf.« Tory kniff die Augen zusammen und häufte sich Gelee auf ihren Toast. »Ich habe kein Interesse.«
»Woher willst du das wissen? Du kennst den Jungen ja noch nicht einmal.«
»Ich bin weder an Jungen noch an Männern interessiert. «
»Tory, du warst nicht mehr mit einem Mann zusammen, seit ...«
»Jack«, beendete Tory den Satz für sie. »Das stimmt, und ich habe auch nicht vor, jemals wieder eine Beziehung einzugehen. Eine hat mir gereicht.« Tory hatte immer noch einen bitteren Geschmack im Mund, wenn sie daran dachte. Sie griff nach ihrer Teetasse. »Nicht alle Menschen sind für eine Partnerschaft geeignet, Gran. Ich bin auch allein glücklich.«
Als Iris die Augenbrauen hochzog, zuckte Tory mit den Schultern. »Na gut, sagen wir, ich habe vor, allein glücklich zu sein. Und ich werde mein Möglichstes tun, um das zu erreichen.«
3
Es war schon viel zu lange her, seit sie im Schaukelstuhl auf einer Veranda gesessen, in den Himmel geblickt und dem Zirpen der Grillen gelauscht hatte. Tory war schon lange nicht mehr so entspannt gewesen, dass sie einfach dasitzen und die Luft genießen konnte.
Und es würde wahrscheinlich lange dauern, ehe sie es erneut tun konnte.
Morgen musste sie die letzten Meilen nach Progress fahren. Dort würde sie die einzelnen Stücke ihres Lebens zusammensuchen und endlich eine alte Freundin zur Ruhe tragen.
Aber heute Abend gab es nur die laue Luft und stille Gedanken.
Als die Tür knarrte, blickte sie auf und lächelte Cecil entgegen. Großmutter hat Recht, dachte sie. Er sah wirklich wie ein großer alter Bär aus. Und im Moment wirkte er ziemlich nervös.
»Iris hat mich aus der Küche geworfen.« Er hielt eine dunkelbraune Bierflasche in der Hand und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Sie hat gemeint, ich soll Ihnen ein Weilchen Gesellschaft leisten.«
»Sie möchte, dass wir Freunde werden. Warum setzen Sie sich nicht einen Moment? Ich fände es schön, wenn Sie mir Gesellschaft leisteten.«
»Ich komme mir ein bisschen komisch vor.« Cecil setzte sich neben Tory und warf ihr einen verstohlenen Blick zu. »Ich weiß, was Ihr jungen Leute denkt. Ein alter Kerl wie ich macht einer Frau wie Iris den Hof.«
Er roch immer noch nach der Lavaseife, mit der er vor dem Abendessen den Abwasch gemacht hatte. Lavaseife und Coors, dachte Tory. Es war eine angenehm männliche Mischung. »Ist Ihre Familie nicht mit der Verbindung einverstanden? «
Copyright © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2013
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Autoren-Porträt von Nora Roberts
Nora Roberts, geb. 1950 in Maryland. Als sie 1979 in ihrem Landhaus eingeschneit wurde, griff sie zu Stift und Papier und begann zu schreiben. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Seitdem hat Nora Roberts über 100 Bücher geschrieben. Mit einer Gesamtauflage von mehr als 100 Millionen Exemplaren ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen weltweit. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Keedsville, Maryland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Roberts
- 2012, 528 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Pée, Margarethe van
- Übersetzer: Margarethe van Pée
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453409930
- ISBN-13: 9783453409934
- Erscheinungsdatum: 10.12.2012
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