Liebe und Marillenknödel
Roman. Originalausgabe
Gibt es ein Rezept für die Liebe?
Für das Leben gibt es kein Rezept. Oder hat Sophie es nur noch nicht gefunden? Jedenfalls geht bei der 33-jährigen Hamburgerin gerade alles schief: Beziehung kaputt, Job weg, und dann...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Liebe und Marillenknödel “
Gibt es ein Rezept für die Liebe?
Für das Leben gibt es kein Rezept. Oder hat Sophie es nur noch nicht gefunden? Jedenfalls geht bei der 33-jährigen Hamburgerin gerade alles schief: Beziehung kaputt, Job weg, und dann stirbt auch noch ihre geliebte Tante Johanna.
Immerhin: Sophie erbt Johannas Pension in den Südtiroler Alpen, Chance für einen Neubeginn. Nur: Statt Bergidylle findet sie eine Hütte ohne Gäste vor, und dann ist auch noch das Küchenpersonal weg. Wer soll nun die berühmten Marillenknödel machen? Fast will sie aufgeben, als ein neuer Koch anfängt - hat er auch ein Rezept für das Glück?
Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Liebe und Marillenknödel “
Liebe und Marillenknödel von Emma SternbergCopyright © 2012 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Diese Schlaglöcher! Diese Serpentinen! Oh, tut mir der Hintern weh. Ich schlage die Tür meines Allrad- Pandas zu, werfe einen Blick auf die gegenüberliegenden Gipfel, die heute bedrohlich nahe stehen, und hieve meine Einkäufe ins Haus. Natürlich ist es nicht bei den Zutaten fürs Gulasch geblieben - neben neuem Deo und einem Vorrat Fünf- Minuten- Terrinen habe ich mir sämtliche deutschsprachigen Zeitschriften in den Wagen gepackt, die ich finden konnte. Hätte ich auch nicht gedacht, aber kaum ist man mal vier Tage ohne Telefon, Internet oder Fernseher auf einem Berg, fühlt man sich in einem Supermarkt wie eine Verdurstende, die in der Wüste Sahara tatsächlich auf die Punica- Oase gestoßen ist.
In der Küche packe ich die Einkäufe aus und reihe sie auf der Arbeitsfläche aus Edelstahl auf. Mir wird fast ein bisschen schwindelig. Ausgerechnet ich soll daraus etwas kochen? Eigentlich hatte ich ja gehofft, dass Gianni mir dabei hilft, aber der ist spurlos verschwunden, genauso wie diese unberechenbaren Jirgls. Und das, wo doch jederzeit ein Gast kommen kann. Gut nur, dass ich Tante Johannas Kochbuch habe - in Zukunft bekommt hier niemand mehr Dosenfutter serviert. Ab sofort wird sich hier etwas ändern! Wagemutig schlage ich die Seite mit dem Rezept auf. Gadertaler Gulaschsuppe. Zubereitung, steht da, und: Als Erstes die Zwiebeln schälen und würfeln. Okay, es kann losgehen. Ich schiele noch einmal auf die Mengenangabe. 1500 Gramm. Dann schiele ich noch einmal auf die drei Netze, die vor mir liegen. Je 500 Gramm. Es sind extra kleine Zwiebelchen, ungefähr so groß wie Pingpongbälle. Ich hätte ein bisschen nachdenken sollen statt einfach die Sorte in den Wagen zu packen, die am niedlichsten aussieht. Bis ich diese blöden Minidinger geschält habe, ist Justin Bieber ein Bart gewachsen. Vielleicht fange ich doch lieber einfach mit dem zweiten Schritt an. Das Fleisch trocken tupfen. Meine leichteste Übung. Ich reiße das Päckchen mit dem Fleisch auf, breite die Würfel auf einem großen Holzbrett aus und sehe mich um. Die Wände hängen voller Pfannen, die Regale und Schränke sind mit riesigen Töpfen und Sieben gefüllt und jeder Menge anderem Profi- Bedarf. Und ausgerechnet Küchenrolle soll es hier nicht geben? Aber nein, ich finde keine. Na ja. Werde ich einfach etwas Klopapier benutzen. Ist am Ende doch dasselbe, nur dass die Blätter kleiner sind. Sag ich doch. Ganz einfach. Fleisch trocken tupfen. Tupf, Tupf, Tupf. Und es geht ganz schnell. Ich meine, es war vielleicht auch ein bisschen übertrieben, von mir zu behaupten, ich könne überhaupt nicht kochen. Ich kann zum Beispiel Nudeln mit Sahnesauce, mein Spezialgericht. Und Wokgemüse mit Sojasauce und Hühnchen. Außerdem kann ich Fünf-Minuten- Terrine und Ikea-Tiefkühl- Köttbullar. Die kann ich sogar so gut, dass sie genauso schmecken wie im Ikea-Restaurant.
Der Trick: Die Sauce gibt es im Schweden- Shop ebenfalls zu kaufen. Man muss das Pulver nur in Wasser einrühren, aufkochen lassen, Schuss Sahne dazu, umrühren - fertig! Oh. Was ist das? Das Klopapier löst sich ja auf! Da passt man ein paar Minuten nicht auf, und schon ist das ganze schöne Fleisch voller weißer Fetzen. Ich hätte ein OP-Besteck mit einpacken sollen, statt Nagelfeile und Wimpernzange. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis ich die Papierschnipsel weitgehend abgefieselt habe, deshalb beschließe ich, das Fleisch, das noch nicht klopapierkontaminiert ist, eben einfach feucht zu lassen. Am Ende wird es in der Pfanne ja sowieso erhitzt, da verdunstet doch das ganze Wasser. Und wenn nicht: Hinterher wird es ohnehin mit Rotwein abgelöscht. Da ist es doch grad egal. So, was kommt als Nächstes? Schmalz in einem gusseisernen Bräter erhitzen. Ich hole Tante Johannas Lieblingsschmortopf aus dem Regal und sehe mich in der Küche um ... Schmalz ... Schmalz ... Was meinen die jetzt wohl mit Schmalz? Wahrscheinlich Butter, oder? Ich meine, das Wort gibt es doch: Butterschmalz. Ist vermutlich dasselbe. Eben. Manchmal muss ich meinem Vater schon recht geben: Die Fähigkeit zu logischem Denken ersetzt so manchen Studiengang. Als ich die Butter aus dem Kühlschrank hole, fällt mein Blick auf die drei Netze mit den Zwiebeln. Die hätte ich fast vergessen. Hm. Aber na ja, seien wir doch mal ehrlich: In Tante Johannas Gulasch hatten sich die Zwiebeln doch stets vollständig aufgelöst, sodass man sie gar nicht mehr bemerkte. Und besonders stark danach geschmeckt hat die Suppe auch nicht, sondern eher würzig, nach viel Paprika. Ich werde die Zwiebeln einfach weglassen. Genau. Das merkt gar niemand. Gulasch portionsweise kräftig anbraten, dabei wenden. Ich drehe das Gas auf und gebe ein Stück Butter in den Bräter. Sie schmilzt wie nichts. Schnell eine Portion Fleisch hinein. Wie das spritzt!
Ich nehme einen Kochlöffel und versuche, das Fleisch zu wenden. Aber es bäckt binnen Sekunden so kräftig an, dass ich es beim Versuch, es vom Boden des Bräters zu lösen, in Fetzen reiße. Mist. Wenn ich nicht aufpasse, verbrennt mir hier alles. Vielleicht tue ich einfach die nächste Portion rein. Bevor alles schwarz wird, zum Abkühlen quasi. Wieder spritzt es, inzwischen steigt schwarzer Rauch auf. Ich versuche, das Fleisch in der Pfanne umzurühren, und bemerke, dass es am Boden schon ganz schwarz ist. Schnell schmeiße ich die restlichen Fleischstücke dazu. Das hilft, denn plötzlich tritt eine helle Flüssigkeit aus dem Fleisch aus, in der sich die verbrannten Stellen lösen. Ich rühre schnell um und lese weiter: Wenn es schön gebräunt ist, herausnehmen. Schön ist relativ, denke ich, und kippe das Fleisch in eine Schüssel. Es sind lauter schwarze Stückchen dazwischen, aber wenn ich jetzt anfange, die herauszupicken, werd ich ja blöde, und außerdem bleibt dann nichts mehr übrig. Zwiebeln im Bratfett goldbraun anbraten. Das überspringe ich angesichts der Variation des Rezeptes. Gesamtes Fleisch zu den Zwiebeln geben und weiterbraten, bis sich am Topfboden eine braune Kruste bildet. Äääh, ja. Also das Fleisch wieder hinein in den Bräter. Als Kruste muss die von vorhin gelten. Mit Rotwein und Essig ablöschen, etwas einkochen lassen. Ich öffne eine Flasche Vernatsch und gieße einen großen Schluck davon in die Pfanne - ablöschen kann sogar ich.
Dann gieße ich einen zweiten großen Schluck in die Köchin, denn der steht ganz schön der Schweiß auf der Stirn. Ich würze mit Salz und ordentlich viel Paprika - ich habe extra das besonders edle Rosenpaprika gekauft, das wird bestimmt lecker. Ich gieße Wasser an und lasse das Ganze schmoren, lang, mindestens eineinhalb Stunden lang. Währenddessen bleibe ich nervös neben dem Topf sitzen und trinke noch ein bisschen mehr Vernatsch.
Wie das Gulasch wohl wird? Als die Zeit vorbei ist, öffne ich den Deckel und warte, bis sich der Dampf, der mir entgegenkommt, verzogen hat. Hm. Bei Tante Johanna sah das Ganze immer ein bisschen anders aus. Ich hole die Zitrone und eine Reibe und rühre die geraspelte Schale gründlich unter. Ich schnuppere. Es riecht nicht unbedingt schlecht ... nur ein klein wenig nach altem Ofen. Aber wie hat Tante Johanna immer gesagt? Erst probieren, dann meckern. Ich hole einen großen Holzlöffel, fische ein Stück Fleisch und ein bisschen Sauce heraus und schiebe ihn mir in den Mund. Dann gehe ich zum Mülleimer, spucke das Brikett wieder aus, gehe mit brennendem Rachen zum Kühlschrank und trinke in großen Schlucken einen halben Liter Milch. Dann sehe ich mir die Gewürzdose, die ich verwendet habe, noch einmal an. Rosenpaprika, steht da. Und, ganz klein darunter, so winzig, dass man doch wohl nun wirklich nicht ernsthaft erwarten kann, dass jemand darauf aufmerksam wird: Extrascharf. »Hallo? « Oh nein. Das kam aus dem Flur. »Ist da jemand? « Ausgerechnet jetzt - Kundschaft!
Zwei Wochen zuvor ...
1
Ich wache auf, weil das Telefon klingelt. Es klingelt fast lautlos, denn ich habe es irgendwann mal leise gestellt und kann seitdem den Menüpunkt nicht mehr finden, unter dem man den Befehl rückgängig macht. Kein Problem, ich verpasse nie einen Anruf - selbst, wenn ich in der Badewanne liege, dauert es selten länger als drei Sekunden, dann bin ich auch schon dran. Leider ruft außer meinem Bankberater, der mir einen Gesprächstermin über kreditfinanzierte Rentenversicherungen aufschwatzen will, kaum jemand an. Das Telefon klingelt weiter. Ich drehe mich auf die andere Seite - mein Kopf dröhnt wie eine leere Öltonne. Tut das weh! Ich blinzele, kratze mich stöhnend am Hintern und stelle überrascht fest, dass ich nackt bin! Nackt bin ich normalerweise nie, zumindest nicht morgens beim Aufwachen - ich gehöre zu den Menschen, die nicht einmal daran denken können einzuschlafen, wenn sie nicht wenigstens ein T-Shirt anhaben. Aber ich bin nackt, das ist sicher, denn da vorne neben dem Fernseher liegt es, klein und hellblau und verschrumpelt: mein Unterhöschen. Wer auch immer da versucht, mich anzurufen, er gibt nicht auf.
Das Büro! Ganz kurz durchzuckt mich ein Schreck - es ist offensichtlich schon ziemlich spät, aber dann fällt mir ein, dass es gar nicht das Büro sein kann. Ich bin arbeitslos, seit gestern. Und plötzlich weiß ich auch, woher ich die Kopfschmerzen habe. Ich habe mich so sehr betrunken, ich dürfte bis Ende der Woche Restalkohol haben. Aua. Das Telefon klingelt weiter. Ich lasse einen Arm aus dem Bett fallen und taste blind auf dem Fußboden herum - Buch, Haargummi, Kaffeelöffel, halb volle Packung Choco Crossies, zertretene Choco Crossies, leere Fünf-Minuten- Terrine, gebrauchtes Taschentuch. Dann stoße ich gegen eine Flasche, eine Flasche Whisky, wie ich bemerke, als sie über das Parkett kullert, eine Flasche Chivas Regal, die offensichtlich leer ist. Ganz leer. Kein Wunder, dass mein Kopf so dröhnt. Ich wusste gar nicht, dass ich Whisky im Haus hatte. Stifte, ein Blätterstapel mit Gummi drum herum, noch ein Buch, leere Wasserflasche, dann erreichen meine Fingerspitzen endlich das Telefon. Ich mache den Arm noch einmal ganz lang und kann es endlich greifen. Es klingelt immer noch, und ich sehe widerwillig nach, was auf dem Display steht: Eltern. Und weil mein Vater eigentlich nur anruft, wenn es um diesen Aktienfond geht, in den er jahrelang für mich eingezahlt hat (und dessen Wert inzwischen in den Negativbereich geht), kann Eltern nur heißen: meine Mutter. Das Letzte, was ein Mensch, der gerade seinen Job verloren hat, gebrauchen kann, ist meine Mutter. Ich weiß ganz genau, was passieren würde, wenn ich jetzt dranginge und ihr die Wahrheit sagte: Sie würde sich maßlos aufregen, mich mit vorwurfsvoller Stimme an ihre angeborene Herzschwäche erinnern und mir dann subtil zu verstehen geben, dass ich an meiner Situation ja offensichtlich selbst schuld sei, man sehe sich nur mein Magisterzeugnis an. Dann würde sie alle vier Stunden anrufen, um zu hören, ob es schon etwas Neues gibt. Manchmal frage ich mich wirklich, wie man so sadistisch und zugleich so masochistisch sein kann wie sie. Das Telefon klingelt ein allerletztes Mal, dann ist es endlich still. Ich lege mich wieder auf den Rücken und versuche zu rekonstruieren, was gestern geschehen ist. Keine leichte Übung.
Also, ganz langsam: Wie bei allen negativen Dingen im Leben sah am Anfang alles noch ganz positiv aus. Es begann gestern Vormittag, als ich mit dem Manuskript von Ziele verwirklichen durch visuelle Autosuggestion auf dem Weg in die Herstellung war. Auf dem Flur begegnete mir Olaf Schwarz, der Chef des Schwarz Verlags, in dem ich als Lektorin arbeite (na gut, arbeitete) - ein dicklicher Mann mit Halbglatze, viel Energie und schwachen Nerven. Im Vorbeigehen rief er mir zu, ich möge doch gleich mal in seinem Büro vorbeikommen, natürlich erst, wenn ich meinen Gang erledigt hätte. Ich schenkte ihm mein breitestes Mit-Vergnügen- Chef-Lächeln, legte den Papierstapel auf den Schreibtisch der zuständigen Herstellerin Nadine ab und hinterließ ihr, obwohl wir uns nicht ausstehen können, ein schleimiges Post-It mit einem dümmlichen Smiley und einem aufgesetzt fröhlichen Danke!!!
Dann schlenderte ich, ein stummes Pfeifen auf den Lippen, hinauf in den fünften Stock, wo Geschäftsführung und Buchhaltung ihre Büros haben. Ich arbeitete bereits seit fünf Jahren bei Schwarz, erst als Praktikantin, dann als Volontärin, dann noch einmal zwei Jahre als Assistentin. Seit fast einem Jahr war ich nun als Lektorin im Bereich Lebensberatung und Berufsstrategie tätig; jetzt endlich, da war ich mir sicher, würde mir Olaf Schwarz eine unbefristete Stelle anbieten. Als ich sein Zimmer betrat, fing er auch tatsächlich an, etwas von großartiger Arbeit und fantastischer Kollegin zu säuseln, von Zuverlässigkeit und unbestechlichem Urteil, doch dann fiel plötzlich das Wort Wirtschaftskrise, und mein Lächeln fror ein, vor allem, weil er mir nicht eine Sekunde lang in die Augen sah. Er nuschelte noch irgendetwas von betriebsbedingt und E-Book-Markt und begleitete mich, weitere Entschuldigungen sabbernd, zur Tür, die er hinter mir schloss, kaum, dass ich draußen war. Er hatte mich gerade entlassen. Ich saß immer noch wie vor den Kopf gestoßen an meinem Schreibtisch, als er zwei Stunden später eine blonde, langhaarige Mittzwanzigerin auf Elf-Zentimeter- Absätzen durch die Abteilungen führte.
Natürlich brachte er sie nicht direkt in mein Zimmer (so viel Feingefühl hat sogar ein Mann mit seinem Haaransatz), aber als ich mich aufs Klo schlich, um nach einem heimlichen Heulkrampf hinter verschlosse ner Bürotür mein verschmiertes Make-up zu richten, sah ich, wie sie mit unserem Hörbuch- Programmleiter Reinhold Feininger über ihre Lektoratserfahrung sprach. Reinhold Feininger - ein Mann mit Haartolle, dem seine Frau jeden Morgen eine Tupperware- Dose mit den Resten vom Abendessen mitgab - starrte mit glasigen Augen auf den dritten Knopf ihrer schwarzen Seidenbluse, während die Tussi von ihrer Tätigkeit bei Gloom & Cherubim Publishing erzählte, einem Verlag, der vor allem Hausfrauen mit Esoterik versorgt. Pendelanleitungen, Quantenheilung und so Quark.
Das war so demütigend! Ich presse meinen Kopf ins Kissen und versuche, mir nicht zu deutlich auszumalen, wie demütigend das war. Aber wenn ein Chef denkt, er könnte einen locker durch ein blondes Dummchen ersetzen, dann sollte man wirklich über seine Perspektiven nachdenken: Gas? Gift? Oder doch lieber springen?
Auf alle Fälle wollte ich auf gar keinen Fall irgendwelchen Kollegen begegnen - ich hatte einfach nicht den Mut, den anderen ins Gesicht zu sehen und ihnen, wenn sie Tschüss, bis morgen! sagen, die Wahrheit zu erzählen: Olaf Schwarz hat mich gegen etwas mit IQ 13 und Jeansgröße 25/34 ausgetauscht. Also verkroch ich mich in meinem Büro, bis die anderen gegangen waren, und richtete alle laufenden Vorgänge so her, dass man mir zumindest nicht vorwerfen konnte, meine Nachfolgerin hätte keine Chance gehabt, sich zurechtzufinden.
Dann packte ich sämtliche Bücher, die ich in den letzten Jahren lektoriert hatte und die noch nicht zu Hause in meinem Regal standen, in eine Kiste, rief mir ein Taxi und versuchte mich dazu zu zwingen, mich beim Verlassen des Verlags nicht noch einmal umzusehen. Der Pappkarton als Krisenaccessoire - jetzt auch in Hamburg- Harvestehude. Natürlich rammte ich draußen vor der Tür als Erstes Reinhold Feininger, der mit zwei Tengelmanntüten voller Manuskripte im Hauseingang stand und darauf wartete, dass seine Frau ihn abholen kam. Sein Blick wurde mitleidig, als er erkannte, wer der Rowdy mit dem Pappkarton war, aber schließlich erklärte er mir doch, dass man die Neue habe nehmen müssen - Mitarbeiter mit diesen Qualifikationen gebe es nicht oft auf dem Arbeitsmarkt. »Was für Qualifikationen? «, fragte ich gereizt und eigentlich nur, weil ich sehen wollte, wie Reinhold Feininger mit rotem Kopf zu stammeln beginnt, aber dann erzählte er, dass die Dame eine Urenkelin Max Plancks sei, in Oxford studiert habe und vorher Sachbuch- Programmleiterin beim berühmten Bloomsbury- Verlag in London gewesen sei. Bloomsbury Publishing. Nicht Gloom & Cherubim.
Es gibt nur eine Sache, die schlimmer ist, als durch ein blondes Dummchen ersetzt zu werden - wenn sie dich durch ein blondes Dummchen ersetzen, das dreimal so klug ist wie du und auf Elf-Zentimeter- Absätzen laufen kann. Zu Hause schüttete ich eine halbe Flasche Weißwein in mein Riesenrotweinglas und trank es noch im Stehen aus. Dann schenkte ich mir die andere Hälfte ein und machte einen SOS-Anruf bei meiner besten Freundin Sarah. Sarah und ich kennen uns noch aus meiner Studentenzeit, als sie in meinem Lieblingscafé kellnerte und immer einen guten Grund wusste, warum ich lieber noch einen Cappuccino bestellen und die Vorlesung sausen lassen sollte.
Eine Zeit lang gingen wir fast jeden Abend zusammen aus, denn durch ihre Kontakte in die Gastronomie wusste sie wirklich von jeder Party der Stadt. Sie stand entweder auf der Gästeliste oder wurde vom Türsteher vom Ende der Schlange nach vorne gewunken. Sie wusste, bei welchem Barkeeper man Freigetränke bekam und wer noch Zigaretten hatte, wenn alle Automaten leer gekauft waren. Inzwischen hat sie den Job, den sie sich immer gewünscht hat, und ist ein bisschen ruhiger geworden. Sie arbeitet als Köchin im Edelweiß, einem Blankeneser Nobelrestaurant, das so angesagt ist, dass es inzwischen sogar meine Eltern mitbekommen haben. Schon seit Monaten versucht meine Mutter mich dazu zu überreden, einmal mit ihnen dort hinzugehen - sie will einfach nicht kapieren, dass es mir irgendwie unangenehm wäre, mich mit meinen Eltern von meiner besten Freundin bewirten zu lassen. Wahrscheinlich fände sie es sogar schick, raushängen zu lassen, dass ich mit jemandem aus einer Zwei-Hauben- Küche befreundet bin.
Eine Stunde nach meinem Anruf saßen Sarah und ich im Roten Stern, einer Bar im Schanzenviertel, in der sich die Hamburger Gastroszene nach der Arbeit trifft, um sich mit unschlagbar billigen Drinks volllaufen zu lassen. Man kann sich dort eine Flasche Schnaps und Gläser auf den Tisch stellen lassen, hinterher wird der Füllstand abgemessen, und man bezahlt nach getrunkenen Zentimetern. Sarah bestellte eine Flasche Wodka und zwei Gläser und tat auch sonst alles, was man von einer besten Freundin in einer solchen Situation erwartet: Sie streichelte meine Hände und sprach mir Mut zu, machte dumme Witze über Olaf Schwarzens Halbglatze und erteilte mir zwischendrin die klügsten Ratschläge, die ich je bekommen hatte.
Leider kann ich mich an keinen einzigen mehr erinnern. Ich kann mich eigentlich an nichts von dem erinnern, was danach geschah, so sehr ich mein angeschlagenes Hirn auch bemühe. Nur so viel weiß ich noch: Irgendwann muss sich meine Laune verbessert haben, denn durch meinen Kopf geistern ein paar schemenhafte Bilder davon, wie plötzlich, als Sarah sich zu fortgeschrittener Stunde verabschiedete, ein paar ihrer Kollegen an meinem Tisch saßen und ich mich köstlich über die riesige Nase des einen amüsierte und es unglaublich witzig fand, dumme Anspielungen auf seinen Johannes zu machen. Wie beschämend. Mein ganzes Leben ist beschämend! Seit die Sache mit Jan passiert ist, geht es bergab. Was kommt denn bitte schön als Nächstes? Ich bin arbeitslos, und jetzt? Ich sehe es schon vor mir: wie Menschen, die einmal mit mir befreundet waren, nun wegsehen, wenn sie mir auf der Straße begegnen. Wie ich, statt wie bisher Grünen Veltliner bei Jacques' Weindepot zu holen, anfange, Wilthener Goldkrone bei Lidl zu klauen. Wie lange werde ich mir noch die Miete leisten können? Ich stelle mir vor, wie ich in dem nudefarbenen Kaschmirkleid, das ich mir neulich in den Alsterarkaden gekauft habe, auf dem PVC-Belag einer Sozialwohnung liege, der Boden hat Brandlöcher, das Kleid Branntweinflecken, und meine Augen - meine Augen sehen aus, als hätte jemand zwei Zigaretten darin ausgedrückt und die Stummel stecken lassen. Moment. Ich muss doch gar keine Miete zahlen. Die Wohnung, in der ich lebe, haben sich meine Eltern gekauft, aus Steuergründen.
Meine Gedanken müssen wirklich konstruktiver werden. Ich male mir aus, wie ich Olaf Schwarz eine Flasche Goldkrone über das rosa Käppchen auf seinem Schädel ziehe - ach, das war gar kein Käppchen, sondern Ihre Stirnglatze? Ooopsie! Schon besser. Mir gelingt ein erstes Grinsen. Das Telefon fängt schon wieder an zu klingeln. Meine Güte, wie kann man nur so penetrant sein! Ich bringe es immer noch nicht über mich dranzugehen. Ich fühle mich um Galaxien zu schwach, meiner Mutter vorzulügen, dass alles in Ordnung sei - und die Wahrheit kann ich ihr ja wohl schlecht sagen. Mama, in Wirklichkeit bin ich gar nicht mehr mit Jan zusammen, schon seit drei Monaten nicht mehr - und, übrigens: Arbeitslos bin ich auch! Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich immer von einer befristeten Stelle als Lektorin für Lebensberatung und Berufsstrategie geträumt hätte, ganz im Gegenteil.
Diese Schlaglöcher! Diese Serpentinen! Oh, tut mir der Hintern weh. Ich schlage die Tür meines Allrad- Pandas zu, werfe einen Blick auf die gegenüberliegenden Gipfel, die heute bedrohlich nahe stehen, und hieve meine Einkäufe ins Haus. Natürlich ist es nicht bei den Zutaten fürs Gulasch geblieben - neben neuem Deo und einem Vorrat Fünf- Minuten- Terrinen habe ich mir sämtliche deutschsprachigen Zeitschriften in den Wagen gepackt, die ich finden konnte. Hätte ich auch nicht gedacht, aber kaum ist man mal vier Tage ohne Telefon, Internet oder Fernseher auf einem Berg, fühlt man sich in einem Supermarkt wie eine Verdurstende, die in der Wüste Sahara tatsächlich auf die Punica- Oase gestoßen ist.
In der Küche packe ich die Einkäufe aus und reihe sie auf der Arbeitsfläche aus Edelstahl auf. Mir wird fast ein bisschen schwindelig. Ausgerechnet ich soll daraus etwas kochen? Eigentlich hatte ich ja gehofft, dass Gianni mir dabei hilft, aber der ist spurlos verschwunden, genauso wie diese unberechenbaren Jirgls. Und das, wo doch jederzeit ein Gast kommen kann. Gut nur, dass ich Tante Johannas Kochbuch habe - in Zukunft bekommt hier niemand mehr Dosenfutter serviert. Ab sofort wird sich hier etwas ändern! Wagemutig schlage ich die Seite mit dem Rezept auf. Gadertaler Gulaschsuppe. Zubereitung, steht da, und: Als Erstes die Zwiebeln schälen und würfeln. Okay, es kann losgehen. Ich schiele noch einmal auf die Mengenangabe. 1500 Gramm. Dann schiele ich noch einmal auf die drei Netze, die vor mir liegen. Je 500 Gramm. Es sind extra kleine Zwiebelchen, ungefähr so groß wie Pingpongbälle. Ich hätte ein bisschen nachdenken sollen statt einfach die Sorte in den Wagen zu packen, die am niedlichsten aussieht. Bis ich diese blöden Minidinger geschält habe, ist Justin Bieber ein Bart gewachsen. Vielleicht fange ich doch lieber einfach mit dem zweiten Schritt an. Das Fleisch trocken tupfen. Meine leichteste Übung. Ich reiße das Päckchen mit dem Fleisch auf, breite die Würfel auf einem großen Holzbrett aus und sehe mich um. Die Wände hängen voller Pfannen, die Regale und Schränke sind mit riesigen Töpfen und Sieben gefüllt und jeder Menge anderem Profi- Bedarf. Und ausgerechnet Küchenrolle soll es hier nicht geben? Aber nein, ich finde keine. Na ja. Werde ich einfach etwas Klopapier benutzen. Ist am Ende doch dasselbe, nur dass die Blätter kleiner sind. Sag ich doch. Ganz einfach. Fleisch trocken tupfen. Tupf, Tupf, Tupf. Und es geht ganz schnell. Ich meine, es war vielleicht auch ein bisschen übertrieben, von mir zu behaupten, ich könne überhaupt nicht kochen. Ich kann zum Beispiel Nudeln mit Sahnesauce, mein Spezialgericht. Und Wokgemüse mit Sojasauce und Hühnchen. Außerdem kann ich Fünf-Minuten- Terrine und Ikea-Tiefkühl- Köttbullar. Die kann ich sogar so gut, dass sie genauso schmecken wie im Ikea-Restaurant.
Der Trick: Die Sauce gibt es im Schweden- Shop ebenfalls zu kaufen. Man muss das Pulver nur in Wasser einrühren, aufkochen lassen, Schuss Sahne dazu, umrühren - fertig! Oh. Was ist das? Das Klopapier löst sich ja auf! Da passt man ein paar Minuten nicht auf, und schon ist das ganze schöne Fleisch voller weißer Fetzen. Ich hätte ein OP-Besteck mit einpacken sollen, statt Nagelfeile und Wimpernzange. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis ich die Papierschnipsel weitgehend abgefieselt habe, deshalb beschließe ich, das Fleisch, das noch nicht klopapierkontaminiert ist, eben einfach feucht zu lassen. Am Ende wird es in der Pfanne ja sowieso erhitzt, da verdunstet doch das ganze Wasser. Und wenn nicht: Hinterher wird es ohnehin mit Rotwein abgelöscht. Da ist es doch grad egal. So, was kommt als Nächstes? Schmalz in einem gusseisernen Bräter erhitzen. Ich hole Tante Johannas Lieblingsschmortopf aus dem Regal und sehe mich in der Küche um ... Schmalz ... Schmalz ... Was meinen die jetzt wohl mit Schmalz? Wahrscheinlich Butter, oder? Ich meine, das Wort gibt es doch: Butterschmalz. Ist vermutlich dasselbe. Eben. Manchmal muss ich meinem Vater schon recht geben: Die Fähigkeit zu logischem Denken ersetzt so manchen Studiengang. Als ich die Butter aus dem Kühlschrank hole, fällt mein Blick auf die drei Netze mit den Zwiebeln. Die hätte ich fast vergessen. Hm. Aber na ja, seien wir doch mal ehrlich: In Tante Johannas Gulasch hatten sich die Zwiebeln doch stets vollständig aufgelöst, sodass man sie gar nicht mehr bemerkte. Und besonders stark danach geschmeckt hat die Suppe auch nicht, sondern eher würzig, nach viel Paprika. Ich werde die Zwiebeln einfach weglassen. Genau. Das merkt gar niemand. Gulasch portionsweise kräftig anbraten, dabei wenden. Ich drehe das Gas auf und gebe ein Stück Butter in den Bräter. Sie schmilzt wie nichts. Schnell eine Portion Fleisch hinein. Wie das spritzt!
Ich nehme einen Kochlöffel und versuche, das Fleisch zu wenden. Aber es bäckt binnen Sekunden so kräftig an, dass ich es beim Versuch, es vom Boden des Bräters zu lösen, in Fetzen reiße. Mist. Wenn ich nicht aufpasse, verbrennt mir hier alles. Vielleicht tue ich einfach die nächste Portion rein. Bevor alles schwarz wird, zum Abkühlen quasi. Wieder spritzt es, inzwischen steigt schwarzer Rauch auf. Ich versuche, das Fleisch in der Pfanne umzurühren, und bemerke, dass es am Boden schon ganz schwarz ist. Schnell schmeiße ich die restlichen Fleischstücke dazu. Das hilft, denn plötzlich tritt eine helle Flüssigkeit aus dem Fleisch aus, in der sich die verbrannten Stellen lösen. Ich rühre schnell um und lese weiter: Wenn es schön gebräunt ist, herausnehmen. Schön ist relativ, denke ich, und kippe das Fleisch in eine Schüssel. Es sind lauter schwarze Stückchen dazwischen, aber wenn ich jetzt anfange, die herauszupicken, werd ich ja blöde, und außerdem bleibt dann nichts mehr übrig. Zwiebeln im Bratfett goldbraun anbraten. Das überspringe ich angesichts der Variation des Rezeptes. Gesamtes Fleisch zu den Zwiebeln geben und weiterbraten, bis sich am Topfboden eine braune Kruste bildet. Äääh, ja. Also das Fleisch wieder hinein in den Bräter. Als Kruste muss die von vorhin gelten. Mit Rotwein und Essig ablöschen, etwas einkochen lassen. Ich öffne eine Flasche Vernatsch und gieße einen großen Schluck davon in die Pfanne - ablöschen kann sogar ich.
Dann gieße ich einen zweiten großen Schluck in die Köchin, denn der steht ganz schön der Schweiß auf der Stirn. Ich würze mit Salz und ordentlich viel Paprika - ich habe extra das besonders edle Rosenpaprika gekauft, das wird bestimmt lecker. Ich gieße Wasser an und lasse das Ganze schmoren, lang, mindestens eineinhalb Stunden lang. Währenddessen bleibe ich nervös neben dem Topf sitzen und trinke noch ein bisschen mehr Vernatsch.
Wie das Gulasch wohl wird? Als die Zeit vorbei ist, öffne ich den Deckel und warte, bis sich der Dampf, der mir entgegenkommt, verzogen hat. Hm. Bei Tante Johanna sah das Ganze immer ein bisschen anders aus. Ich hole die Zitrone und eine Reibe und rühre die geraspelte Schale gründlich unter. Ich schnuppere. Es riecht nicht unbedingt schlecht ... nur ein klein wenig nach altem Ofen. Aber wie hat Tante Johanna immer gesagt? Erst probieren, dann meckern. Ich hole einen großen Holzlöffel, fische ein Stück Fleisch und ein bisschen Sauce heraus und schiebe ihn mir in den Mund. Dann gehe ich zum Mülleimer, spucke das Brikett wieder aus, gehe mit brennendem Rachen zum Kühlschrank und trinke in großen Schlucken einen halben Liter Milch. Dann sehe ich mir die Gewürzdose, die ich verwendet habe, noch einmal an. Rosenpaprika, steht da. Und, ganz klein darunter, so winzig, dass man doch wohl nun wirklich nicht ernsthaft erwarten kann, dass jemand darauf aufmerksam wird: Extrascharf. »Hallo? « Oh nein. Das kam aus dem Flur. »Ist da jemand? « Ausgerechnet jetzt - Kundschaft!
Zwei Wochen zuvor ...
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Ich wache auf, weil das Telefon klingelt. Es klingelt fast lautlos, denn ich habe es irgendwann mal leise gestellt und kann seitdem den Menüpunkt nicht mehr finden, unter dem man den Befehl rückgängig macht. Kein Problem, ich verpasse nie einen Anruf - selbst, wenn ich in der Badewanne liege, dauert es selten länger als drei Sekunden, dann bin ich auch schon dran. Leider ruft außer meinem Bankberater, der mir einen Gesprächstermin über kreditfinanzierte Rentenversicherungen aufschwatzen will, kaum jemand an. Das Telefon klingelt weiter. Ich drehe mich auf die andere Seite - mein Kopf dröhnt wie eine leere Öltonne. Tut das weh! Ich blinzele, kratze mich stöhnend am Hintern und stelle überrascht fest, dass ich nackt bin! Nackt bin ich normalerweise nie, zumindest nicht morgens beim Aufwachen - ich gehöre zu den Menschen, die nicht einmal daran denken können einzuschlafen, wenn sie nicht wenigstens ein T-Shirt anhaben. Aber ich bin nackt, das ist sicher, denn da vorne neben dem Fernseher liegt es, klein und hellblau und verschrumpelt: mein Unterhöschen. Wer auch immer da versucht, mich anzurufen, er gibt nicht auf.
Das Büro! Ganz kurz durchzuckt mich ein Schreck - es ist offensichtlich schon ziemlich spät, aber dann fällt mir ein, dass es gar nicht das Büro sein kann. Ich bin arbeitslos, seit gestern. Und plötzlich weiß ich auch, woher ich die Kopfschmerzen habe. Ich habe mich so sehr betrunken, ich dürfte bis Ende der Woche Restalkohol haben. Aua. Das Telefon klingelt weiter. Ich lasse einen Arm aus dem Bett fallen und taste blind auf dem Fußboden herum - Buch, Haargummi, Kaffeelöffel, halb volle Packung Choco Crossies, zertretene Choco Crossies, leere Fünf-Minuten- Terrine, gebrauchtes Taschentuch. Dann stoße ich gegen eine Flasche, eine Flasche Whisky, wie ich bemerke, als sie über das Parkett kullert, eine Flasche Chivas Regal, die offensichtlich leer ist. Ganz leer. Kein Wunder, dass mein Kopf so dröhnt. Ich wusste gar nicht, dass ich Whisky im Haus hatte. Stifte, ein Blätterstapel mit Gummi drum herum, noch ein Buch, leere Wasserflasche, dann erreichen meine Fingerspitzen endlich das Telefon. Ich mache den Arm noch einmal ganz lang und kann es endlich greifen. Es klingelt immer noch, und ich sehe widerwillig nach, was auf dem Display steht: Eltern. Und weil mein Vater eigentlich nur anruft, wenn es um diesen Aktienfond geht, in den er jahrelang für mich eingezahlt hat (und dessen Wert inzwischen in den Negativbereich geht), kann Eltern nur heißen: meine Mutter. Das Letzte, was ein Mensch, der gerade seinen Job verloren hat, gebrauchen kann, ist meine Mutter. Ich weiß ganz genau, was passieren würde, wenn ich jetzt dranginge und ihr die Wahrheit sagte: Sie würde sich maßlos aufregen, mich mit vorwurfsvoller Stimme an ihre angeborene Herzschwäche erinnern und mir dann subtil zu verstehen geben, dass ich an meiner Situation ja offensichtlich selbst schuld sei, man sehe sich nur mein Magisterzeugnis an. Dann würde sie alle vier Stunden anrufen, um zu hören, ob es schon etwas Neues gibt. Manchmal frage ich mich wirklich, wie man so sadistisch und zugleich so masochistisch sein kann wie sie. Das Telefon klingelt ein allerletztes Mal, dann ist es endlich still. Ich lege mich wieder auf den Rücken und versuche zu rekonstruieren, was gestern geschehen ist. Keine leichte Übung.
Also, ganz langsam: Wie bei allen negativen Dingen im Leben sah am Anfang alles noch ganz positiv aus. Es begann gestern Vormittag, als ich mit dem Manuskript von Ziele verwirklichen durch visuelle Autosuggestion auf dem Weg in die Herstellung war. Auf dem Flur begegnete mir Olaf Schwarz, der Chef des Schwarz Verlags, in dem ich als Lektorin arbeite (na gut, arbeitete) - ein dicklicher Mann mit Halbglatze, viel Energie und schwachen Nerven. Im Vorbeigehen rief er mir zu, ich möge doch gleich mal in seinem Büro vorbeikommen, natürlich erst, wenn ich meinen Gang erledigt hätte. Ich schenkte ihm mein breitestes Mit-Vergnügen- Chef-Lächeln, legte den Papierstapel auf den Schreibtisch der zuständigen Herstellerin Nadine ab und hinterließ ihr, obwohl wir uns nicht ausstehen können, ein schleimiges Post-It mit einem dümmlichen Smiley und einem aufgesetzt fröhlichen Danke!!!
Dann schlenderte ich, ein stummes Pfeifen auf den Lippen, hinauf in den fünften Stock, wo Geschäftsführung und Buchhaltung ihre Büros haben. Ich arbeitete bereits seit fünf Jahren bei Schwarz, erst als Praktikantin, dann als Volontärin, dann noch einmal zwei Jahre als Assistentin. Seit fast einem Jahr war ich nun als Lektorin im Bereich Lebensberatung und Berufsstrategie tätig; jetzt endlich, da war ich mir sicher, würde mir Olaf Schwarz eine unbefristete Stelle anbieten. Als ich sein Zimmer betrat, fing er auch tatsächlich an, etwas von großartiger Arbeit und fantastischer Kollegin zu säuseln, von Zuverlässigkeit und unbestechlichem Urteil, doch dann fiel plötzlich das Wort Wirtschaftskrise, und mein Lächeln fror ein, vor allem, weil er mir nicht eine Sekunde lang in die Augen sah. Er nuschelte noch irgendetwas von betriebsbedingt und E-Book-Markt und begleitete mich, weitere Entschuldigungen sabbernd, zur Tür, die er hinter mir schloss, kaum, dass ich draußen war. Er hatte mich gerade entlassen. Ich saß immer noch wie vor den Kopf gestoßen an meinem Schreibtisch, als er zwei Stunden später eine blonde, langhaarige Mittzwanzigerin auf Elf-Zentimeter- Absätzen durch die Abteilungen führte.
Natürlich brachte er sie nicht direkt in mein Zimmer (so viel Feingefühl hat sogar ein Mann mit seinem Haaransatz), aber als ich mich aufs Klo schlich, um nach einem heimlichen Heulkrampf hinter verschlosse ner Bürotür mein verschmiertes Make-up zu richten, sah ich, wie sie mit unserem Hörbuch- Programmleiter Reinhold Feininger über ihre Lektoratserfahrung sprach. Reinhold Feininger - ein Mann mit Haartolle, dem seine Frau jeden Morgen eine Tupperware- Dose mit den Resten vom Abendessen mitgab - starrte mit glasigen Augen auf den dritten Knopf ihrer schwarzen Seidenbluse, während die Tussi von ihrer Tätigkeit bei Gloom & Cherubim Publishing erzählte, einem Verlag, der vor allem Hausfrauen mit Esoterik versorgt. Pendelanleitungen, Quantenheilung und so Quark.
Das war so demütigend! Ich presse meinen Kopf ins Kissen und versuche, mir nicht zu deutlich auszumalen, wie demütigend das war. Aber wenn ein Chef denkt, er könnte einen locker durch ein blondes Dummchen ersetzen, dann sollte man wirklich über seine Perspektiven nachdenken: Gas? Gift? Oder doch lieber springen?
Auf alle Fälle wollte ich auf gar keinen Fall irgendwelchen Kollegen begegnen - ich hatte einfach nicht den Mut, den anderen ins Gesicht zu sehen und ihnen, wenn sie Tschüss, bis morgen! sagen, die Wahrheit zu erzählen: Olaf Schwarz hat mich gegen etwas mit IQ 13 und Jeansgröße 25/34 ausgetauscht. Also verkroch ich mich in meinem Büro, bis die anderen gegangen waren, und richtete alle laufenden Vorgänge so her, dass man mir zumindest nicht vorwerfen konnte, meine Nachfolgerin hätte keine Chance gehabt, sich zurechtzufinden.
Dann packte ich sämtliche Bücher, die ich in den letzten Jahren lektoriert hatte und die noch nicht zu Hause in meinem Regal standen, in eine Kiste, rief mir ein Taxi und versuchte mich dazu zu zwingen, mich beim Verlassen des Verlags nicht noch einmal umzusehen. Der Pappkarton als Krisenaccessoire - jetzt auch in Hamburg- Harvestehude. Natürlich rammte ich draußen vor der Tür als Erstes Reinhold Feininger, der mit zwei Tengelmanntüten voller Manuskripte im Hauseingang stand und darauf wartete, dass seine Frau ihn abholen kam. Sein Blick wurde mitleidig, als er erkannte, wer der Rowdy mit dem Pappkarton war, aber schließlich erklärte er mir doch, dass man die Neue habe nehmen müssen - Mitarbeiter mit diesen Qualifikationen gebe es nicht oft auf dem Arbeitsmarkt. »Was für Qualifikationen? «, fragte ich gereizt und eigentlich nur, weil ich sehen wollte, wie Reinhold Feininger mit rotem Kopf zu stammeln beginnt, aber dann erzählte er, dass die Dame eine Urenkelin Max Plancks sei, in Oxford studiert habe und vorher Sachbuch- Programmleiterin beim berühmten Bloomsbury- Verlag in London gewesen sei. Bloomsbury Publishing. Nicht Gloom & Cherubim.
Es gibt nur eine Sache, die schlimmer ist, als durch ein blondes Dummchen ersetzt zu werden - wenn sie dich durch ein blondes Dummchen ersetzen, das dreimal so klug ist wie du und auf Elf-Zentimeter- Absätzen laufen kann. Zu Hause schüttete ich eine halbe Flasche Weißwein in mein Riesenrotweinglas und trank es noch im Stehen aus. Dann schenkte ich mir die andere Hälfte ein und machte einen SOS-Anruf bei meiner besten Freundin Sarah. Sarah und ich kennen uns noch aus meiner Studentenzeit, als sie in meinem Lieblingscafé kellnerte und immer einen guten Grund wusste, warum ich lieber noch einen Cappuccino bestellen und die Vorlesung sausen lassen sollte.
Eine Zeit lang gingen wir fast jeden Abend zusammen aus, denn durch ihre Kontakte in die Gastronomie wusste sie wirklich von jeder Party der Stadt. Sie stand entweder auf der Gästeliste oder wurde vom Türsteher vom Ende der Schlange nach vorne gewunken. Sie wusste, bei welchem Barkeeper man Freigetränke bekam und wer noch Zigaretten hatte, wenn alle Automaten leer gekauft waren. Inzwischen hat sie den Job, den sie sich immer gewünscht hat, und ist ein bisschen ruhiger geworden. Sie arbeitet als Köchin im Edelweiß, einem Blankeneser Nobelrestaurant, das so angesagt ist, dass es inzwischen sogar meine Eltern mitbekommen haben. Schon seit Monaten versucht meine Mutter mich dazu zu überreden, einmal mit ihnen dort hinzugehen - sie will einfach nicht kapieren, dass es mir irgendwie unangenehm wäre, mich mit meinen Eltern von meiner besten Freundin bewirten zu lassen. Wahrscheinlich fände sie es sogar schick, raushängen zu lassen, dass ich mit jemandem aus einer Zwei-Hauben- Küche befreundet bin.
Eine Stunde nach meinem Anruf saßen Sarah und ich im Roten Stern, einer Bar im Schanzenviertel, in der sich die Hamburger Gastroszene nach der Arbeit trifft, um sich mit unschlagbar billigen Drinks volllaufen zu lassen. Man kann sich dort eine Flasche Schnaps und Gläser auf den Tisch stellen lassen, hinterher wird der Füllstand abgemessen, und man bezahlt nach getrunkenen Zentimetern. Sarah bestellte eine Flasche Wodka und zwei Gläser und tat auch sonst alles, was man von einer besten Freundin in einer solchen Situation erwartet: Sie streichelte meine Hände und sprach mir Mut zu, machte dumme Witze über Olaf Schwarzens Halbglatze und erteilte mir zwischendrin die klügsten Ratschläge, die ich je bekommen hatte.
Leider kann ich mich an keinen einzigen mehr erinnern. Ich kann mich eigentlich an nichts von dem erinnern, was danach geschah, so sehr ich mein angeschlagenes Hirn auch bemühe. Nur so viel weiß ich noch: Irgendwann muss sich meine Laune verbessert haben, denn durch meinen Kopf geistern ein paar schemenhafte Bilder davon, wie plötzlich, als Sarah sich zu fortgeschrittener Stunde verabschiedete, ein paar ihrer Kollegen an meinem Tisch saßen und ich mich köstlich über die riesige Nase des einen amüsierte und es unglaublich witzig fand, dumme Anspielungen auf seinen Johannes zu machen. Wie beschämend. Mein ganzes Leben ist beschämend! Seit die Sache mit Jan passiert ist, geht es bergab. Was kommt denn bitte schön als Nächstes? Ich bin arbeitslos, und jetzt? Ich sehe es schon vor mir: wie Menschen, die einmal mit mir befreundet waren, nun wegsehen, wenn sie mir auf der Straße begegnen. Wie ich, statt wie bisher Grünen Veltliner bei Jacques' Weindepot zu holen, anfange, Wilthener Goldkrone bei Lidl zu klauen. Wie lange werde ich mir noch die Miete leisten können? Ich stelle mir vor, wie ich in dem nudefarbenen Kaschmirkleid, das ich mir neulich in den Alsterarkaden gekauft habe, auf dem PVC-Belag einer Sozialwohnung liege, der Boden hat Brandlöcher, das Kleid Branntweinflecken, und meine Augen - meine Augen sehen aus, als hätte jemand zwei Zigaretten darin ausgedrückt und die Stummel stecken lassen. Moment. Ich muss doch gar keine Miete zahlen. Die Wohnung, in der ich lebe, haben sich meine Eltern gekauft, aus Steuergründen.
Meine Gedanken müssen wirklich konstruktiver werden. Ich male mir aus, wie ich Olaf Schwarz eine Flasche Goldkrone über das rosa Käppchen auf seinem Schädel ziehe - ach, das war gar kein Käppchen, sondern Ihre Stirnglatze? Ooopsie! Schon besser. Mir gelingt ein erstes Grinsen. Das Telefon fängt schon wieder an zu klingeln. Meine Güte, wie kann man nur so penetrant sein! Ich bringe es immer noch nicht über mich dranzugehen. Ich fühle mich um Galaxien zu schwach, meiner Mutter vorzulügen, dass alles in Ordnung sei - und die Wahrheit kann ich ihr ja wohl schlecht sagen. Mama, in Wirklichkeit bin ich gar nicht mehr mit Jan zusammen, schon seit drei Monaten nicht mehr - und, übrigens: Arbeitslos bin ich auch! Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich immer von einer befristeten Stelle als Lektorin für Lebensberatung und Berufsstrategie geträumt hätte, ganz im Gegenteil.
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Autoren-Porträt von Emma Sternberg
Emma Sternberg ist die Autorin zahlreicher Bestseller, darunter FÜNF AM MEER. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin und einer windschiefen Datsche in Brandenburg, wo sie Ohrwürmer rettet, alte Apfelsorten pflanzt und gerade versucht, eine Wildblumenwiese anzulegen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Emma Sternberg
- 2012, Originalausgabe, 400 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453409108
- ISBN-13: 9783453409101
- Erscheinungsdatum: 04.04.2012
Rezension zu „Liebe und Marillenknödel “
"Mit einer guten Prise Humor und Charme beweist Emma Sternberg, dass das Leben wie ein Rezept ist. Auch wenn man scheinbar alles richtig macht: Wenn man ohne Liebe am Werk ist, ist das Ergebnis meist ungeniessbar."
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