Léon und Louise
Roman
Zwei junge Leute verlieben sich, aber der Krieg bringt sie auseinander: Das ist die Geschichte von Léon und Louise.
Sie beginnt mit ihrer Begegnung im Ersten Weltkrieg in Frankreich an der Atlantikküste, doch dann trennt sie ein...
Sie beginnt mit ihrer Begegnung im Ersten Weltkrieg in Frankreich an der Atlantikküste, doch dann trennt sie ein...
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Produktinformationen zu „Léon und Louise “
Zwei junge Leute verlieben sich, aber der Krieg bringt sie auseinander: Das ist die Geschichte von Léon und Louise.
Sie beginnt mit ihrer Begegnung im Ersten Weltkrieg in Frankreich an der Atlantikküste, doch dann trennt sie ein Fliegerangriff mit Gewalt. Sie halten einander für tot, Léon heiratet, Louise geht ihren eigenen Weg - bis sie sich 1928 zufällig in der Pariser Métro wiederbegegnen.
Alex Capus erzählt mit wunderbarer Leichtigkeit und grosser Intensität von der Liebe in einem Jahrhundert der Kriege, von diesem Paar, das gegen alle Konventionen an seiner Liebe festhält und ein eigensinniges, manchmal unerhört komisches Doppelleben führt.
Die Geschichte einer grosse Liebe, gelebt gegen die ganze Welt.
Sie beginnt mit ihrer Begegnung im Ersten Weltkrieg in Frankreich an der Atlantikküste, doch dann trennt sie ein Fliegerangriff mit Gewalt. Sie halten einander für tot, Léon heiratet, Louise geht ihren eigenen Weg - bis sie sich 1928 zufällig in der Pariser Métro wiederbegegnen.
Alex Capus erzählt mit wunderbarer Leichtigkeit und grosser Intensität von der Liebe in einem Jahrhundert der Kriege, von diesem Paar, das gegen alle Konventionen an seiner Liebe festhält und ein eigensinniges, manchmal unerhört komisches Doppelleben führt.
Die Geschichte einer grosse Liebe, gelebt gegen die ganze Welt.
Mit Lesebändchen
Lese-Probe zu „Léon und Louise “
Léon und Louise von Alex Capus 2. Kapitel
Zu der Zeit, da mein Großvater Louise Janvier kennenlernte,
war er siebzehn Jahre alt. Ich stelle ihn mir gern
als ganz jungen Mann vor, wie er im Frühling 1918 in Cherbourg
seinen Koffer aus verstärkter Pappe aufs Fahrrad
band und das Haus seines Vaters für immer verließ.
Was ich über ihn als jungen Mann weiß, ist nicht sehr viel.
Auf der einen Familienfotografie, die es aus jener Zeit gibt,
ist er ein kräftiger Bursche mit hoher Stirn und unbändig
blondem Haar, der das Treiben des Studiofotografen neugierig
und mit spöttisch zur Seite geneigtem Kopf beobachtet.
Weiter weiß ich aus seinen eigenen Erzählungen, die er
im Alter wortkarg und mit gespieltem Widerwillen vortrug,
dass er am Gymnasium oft fehlte, weil er lieber mit seinen
besten Freunden, die Patrice und Joël hießen, an den Stränden
von Cherbourg unterwegs war.
Zu dritt hatten sie an einem stürmischen Januarsonntag
1918, als kein vernünftiger Mensch sich dem Ozean auf
Sichtweite nähern wollte, im Schneegestöber an der Ginsterböschung
das angeschwemmte Wrack einer kleinen Segeljolle
gefunden, die mittschiffs ein Loch hatte und auf
ganzer Länge ein bisschen angesengt war. Sie hatten das
Boot hinters nächste Gebüsch geschleppt und es in den folgenden
Wochen, da der rechtmäßige Besitzer sich partout
nicht bei ihnen melden wollte, eigenhändig mit großem
Eifer repariert und geschrubbt und knallbunt angemalt, bis
es aussah wie neu und nicht mehr wiederzuerkennen war.
... mehr
Von da an fuhren sie in jeder freien Stunde hinaus auf den
Ärmelkanal, um zu fischen, zu dösen und getrockneten
Seetang zu rauchen in Tabakpfeifen, die sie aus Maiskolben
geschnitzt hatten; wenn etwas Interessantes im Wasser
dümpelte - eine Planke, das Sturmlicht eines versenkten
Schiffes oder ein Rettungsring -, nahmen sie es mit. Manchmal
fuhren Kriegsschiffe so nah an ihnen vorbei, dass ihr
kleiner Kahn auf und ab hüpfte wie ein Kalb am ersten
Frühlingstag auf der Weide. Oft blieben sie den ganzen Tag
draußen, umrundeten das Kap und fuhren westwärts, bis
am Horizont die britischen Kanalinseln auftauchten, und
kehrten erst im letzten Licht der Abenddämmerung an Land
zurück. An den Wochenenden verbrachten sie die Nächte
in einer Fischerhütte, deren Besitzer am Tag seiner Einberufung
nicht mehr die Zeit gehabt hatte, das rückseitige
kleine Fenster ordentlich zu verbarrikadieren.
Léon Le Galls Vater - also mein Urgroßvater - wusste nichts
von der Segeljolle seines Sohnes, nahm aber dessen Streunerei
am Strand mit einiger Besorgnis zur Kenntnis. Er
war ein zigarettenverschlingender, vor der Zeit gealterter
Lateinlehrer, der sich in jungen Jahren nur deswegen fürs
Lateinstudium entschieden hatte, weil er damit seinem Vater
den größtmöglichen Verdruss hatte bereiten können;
dieses Vergnügen hatte er in der Folge mit jahrzehntelangem
Schuldienst bezahlt und war darob kleinlich, engherzig
und bitter geworden. Um sein Latein vor sich selbst zu
rechtfertigen und sich weiterhin lebendig zu fühlen, hatte
er sich ein enzyklopädisches Wissen über die Zeugnisse römischer
Zivilisation in der Bretagne angeeignet und betrieb
dieses Steckenpferd mit einer Leidenschaft, die in groteskem
Gegensatz zur Geringfügigkeit des Themas stand. Seine
endlosen, quälend eintönigen und von Kettenrauch begleiteten
Referate über Tonscherben, Thermalbäder und Heeresstraßen
waren am Gymnasium legendär und gefürchtet.
Die Schüler hielten sich schadlos, indem sie seine Zigarette
beobachteten und darauf warteten, dass er damit an die
Wandtafel schrieb und die Kreide rauchte.
Dass er am Tag der Generalmobilmachung wegen seines
Asthmas zurückgestellt worden war, empfand er einerseits
als Glück, andrerseits als Schande, da er im Lehrerzimmer
der einzige Mann unter lauter jungen Frauen war. Fürchterlich
war sein Zorn gewesen, als er von den Kolleginnen
hatte erfahren müssen, dass sein einziger Sohn seit Wochen
kaum mehr an der Schule gesehen worden war, und endlos
waren seine Vorträge am Küchentisch gewesen, mit denen
er den Jüngling vom Wert klassischer Bildung zu überzeugen
versuchte. Dieser hatte über den Wert klassischer
Bildung nur gelächelt und seinerseits dem Alten darzulegen
versucht, weshalb seine Anwesenheit am Strand gerade
jetzt unabdingbar nötig sei: weil die Deutschen in den
letzten Wochen dazu übergegangen seien, ihre U-Boote
mit hölzernen Aufbauten und bunter Lackfarbe, mit behelfsmäßigen
Segeln und falschen Netzen als Fischerboote zu verkleiden.
Darauf wünschte der Vater zu erfahren, worin bitte der
kausale Zusammenhang zwischen deutschen U-Booten und
Léons Präsenz am Gymnasium liege.
Die verkleideten U-Boote, erklärte der Sohn geduldig, würden
sich unerkannt französischen Fischkuttern nähern und
diese gnadenlos versenken, um die Versorgungslage des
französischen Volkes zu verschlechtern.
»Und?«, fragte der Vater, hustete und versuchte sich zu be-
ruhigen. Jede Aufregung konnte ihn in eine asthmatische Krise stürzen.
Tag für Tag werde wertvollstes Treibgut an Land gespült -
Teakholz, Messing, Stahl, Segeltuch, fassweise Petroleum ...
»Und?«, fragte der Vater.
Diese kostbaren Rohstoffe müsse man bergen, bevor das
Meer sie wieder mitnehme, sagte Léon.
Während ihre Auseinandersetzung unaufhaltsam dem dramaturgischen
Höhepunkt zustrebte, saßen Vater und Sohn
in jener scheinbar lässig-entspannten Haltung am Küchentisch,
die allen Le Galls eigen ist; sie hatten die Beine lang
unter dem Tisch ausgestreckt und lehnten sich weit über
die Stuhllehne hinaus nach hinten, sodass ihr Hintern nur
noch knapp auf der Stuhlkante auflag. Da sie beide große
und schwere Männer waren, hatten sie ein feines Empfinden
für die Schwerkraft und wussten, dass die horizontale
Lage dem Zustand des Schwebens am nächsten kommt,
weil in ihr jedes Körperglied nur sein Eigengewicht zu tragen
hat und von der Masse des restlichen Leibs befreit ist,
während im Sitzen oder Stehen ein Glied sich auf das andere
türmt und sich in der Summe eine zentnerschwere
Last ergibt. Jetzt aber waren sie wütend, und ihre Stimmen,
die kaum voneinander zu unterscheiden waren, seit
der Sohn den Stimmbruch hinter sich hatte, bebten vor
mühsam im Zaum gehaltenem Zorn.
»Du gehst morgen wieder zur Schule«, sagte der Vater und
unterdrückte einen Hustenreiz, der aus der Tiefe seiner
Brust die Kehle hochstieg.
Die nationale Kriegswirtschaft sei dringend auf Rohstoffe
angewiesen, erwiderte der Sohn.
»Du gehst morgen wieder zur Schule«, sagte der Vater.
Der Vater solle an die nationale Kriegswirtschaft denken,
sagte der Sohn und registrierte beunruhigt, wie schwer der
väterliche Atem ging.
»Die nationale Kriegswirtschaft kann mich am Arsch lecken«,
keuchte der Vater. Dann hatte er einen Hustenanfall,
der das Gespräch für eine Minute unterbrach.
Und ein hübsches Taschengeld lasse sich damit auch verdienen,
sagte der Sohn.
»Erstens ist das kriminelles Geld«, keuchte der Vater. »Und
zweitens gilt das Absenzenreglement des Gymnasiums für
alle, also auch für dich und deine Freunde. Es gefällt mir
nicht, dass ihr euch jede Freiheit herausnehmt.«
Was der Vater gegen Freiheit einzuwenden habe, fragte der
Sohn, und ob er jemals bedacht habe, dass jedes Gesetz, um
Beachtung zu verdienen, Ausdruck einer Sinngebung sein müsse.
»Ihr nehmt euch jede Freiheit allein schon deshalb heraus,
weil sie eine Freiheit ist«, ächzte der Vater.
»Und?«
»Es ist aber gerade das Wesen eines Reglements, dass es für
jeden ohne Ansehen der Person gilt - auch und gerade für
jene, die sich für schlauer halten als andere.«
»Es ist doch aber eine nicht zu leugnende Tatsache, dass
manche Menschen schlauer sind als andere«, wandte der
Sohn vorsichtig ein.
»Erstens tut das nichts zur Sache«, sagte der Vater, »und
zweitens hast gerade du dich bisher, soweit ich orientiert
bin, im Unterricht keineswegs überragender geistiger Kräfte
verdächtig gemacht. Du gehst morgen wieder zur Schule.«
»Nein«, sagte der Sohn.
»Du gehst morgen wieder zur Schule!«, brüllte der Vater.
»Ich gehe überhaupt nie wieder zur Schule!«, brüllte der Sohn.
»Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, tust
du, was ich sage!«
»Du hast mir gar nichts zu befehlen!«
Nach diesem geradezu klassischen Wortwechsel artete die
Auseinandersetzung in eine Prügelei aus, bei der die beiden
sich auf dem Küchenboden wälzten wie Schulbuben und
nur deshalb kein Blut vergossen, weil die Mutter rasch und
beherzt eingriff.
»Jetzt ist Schluss«, sagte sie und hob ihre zwei Männer, von
denen der eine weinte und der andere zu ersticken drohte,
an den Ohrläppchen hoch. »Du, Chéri, nimmst jetzt dein
Laudanum und gehst zu Bett, ich komme gleich nach. Und
du, Léon, gehst morgen früh zum Bürgermeister und meldest
dich zum Arbeitsdienst. Wo dir doch die nationale
Kriegswirtschaft so sehr am Herzen liegt.«
Wie sich am nächsten Morgen herausstellte, konnte die nationale
Kriegswirtschaft den Gymnasiasten Le Gall aus Cherbourg
tatsächlich gebrauchen - aber nicht am Strand,
wie er gehofft hatte. Der Bürgermeister drohte ihm im Gegenteil
drei Monate Gefängnis an für den Fall, dass er sich
noch einmal widerrechtlich Strandgut aneigne, und befragte
ihn eingehend nach seinen anderweitigen kriegswirtschaftlich
relevanten Kenntnissen und Fähigkeiten.
Dabei erwies es sich, dass Léon zwar kräftig gebaut war,
aber keinerlei Neigung zum Einsatz seiner Muskelkraft
hatte. Er wollte kein Bauernknecht sein und auch kein
Fließbandarbeiter, und den Handlanger für einen Schmied
oder Zimmermann machen wollte er auch nicht. Ähnlich
war's mit seinen geistigen Kräften: Zwar war er nicht
eigentlich dumm, aber am Gymnasium hatte er für kein
Fach eine Vorliebe erkennen lassen und in keinem sonderlich
dicke Stricke zerrissen, weshalb er auch für seine berufliche
Zukunft keine festen Pläne oder Wünsche hatte.
Natürlich wäre er gern im Dienst des Vaterlands mit seiner
Segeljolle auf Spionagefahrt in die Nordsee gefahren und
hätte gefälschte Reichsmark an der deutschen Küste in
Umlauf gebracht, um die feindliche Währung zu destabilisieren;
aber weil das keine realistische Berufsperspektive
war, zuckte er nur mit den Schultern, als der Bürgermeister
ihn nach seinen Plänen fragte. Das Interesse an der nationalen
Kriegswirtschaft war ihm schon gänzlich abhandengekommen.
Erschwerend kam hinzu, dass der Bürgermeister
einen Hals wie ein Truthahn und eine rotblau geäderte
Nase hatte. Wie die meisten jungen Leute hatte Léon ein
starkes ästhetisches Empfinden und konnte sich nicht vorstellen,
dass man einen Menschen mit so einem Hals und so
einer Nase ernst nehmen konnte. Der Bürgermeister ging
mürrisch die Liste der offenen Stellen durch, die der Kriegsminister
ihm geschickt hatte.
»Na, mal sehen. Ah, hier. Kannst du Traktor fahren?«
»Nein, Monsieur.«
»Und hier - Lichtbogenschweißer gesucht. Kannst du
schweißen?«
»Nein, Monsieur.«
»Verstehe. Optische Linsen schleifen kannst du wohl auch
nicht, wie?«
»Nein, Monsieur.«
»Und Spulen für Elektromotoren wickeln? Eine Straßenbahn
lenken? Pistolenläufe drehen?« Der Bürgermeister
lachte ein wenig, die Sache begann ihm Spaß zu machen.
»Nein, Monsieur.«
»Bist du vielleicht Facharzt für innere Medizin? Experte für
internationales Handelsrecht? Elektroingenieur? Tiefbauzeichner?
Sattler oder Wagner?«
»Nein, Monsieur.«
»Dachte ich mir. Von Ledergerberei und doppelter Buchhaltung
verstehst du auch nichts, wie? Und Kisuaheli -
sprichst du Kisuaheli? Kannst du stepptanzen? Morsen?
Die Zugkraft von Hängebrückenstahlseilen berechnen?«
»Jawohl, Monsieur.«
»Wie ... Kisuaheli? Hängebrückenstahlseile?«
»Morsen, Monsieur. Ich kann morsen.«
Tatsächlich hatte die Jugendzeitschrift Le Petit Inventeur, auf
die Léon abonniert war, wenige Wochen zuvor das Morsealphabet
abgedruckt, und Léon hatte es aus einer Laune
heraus auswendig gelernt an einem regnerischen Sonntagnachmittag.
»Stimmt das denn auch, Kleiner? Schwindelst du mich nicht an?«
»Nein, Monsieur.«
»Dann wäre das doch etwas! Der Bahnhof von Saint-Lucsur-
Marne sucht einen Morseassistenten als Stellvertreter
des ordentlichen Stelleninhabers. Frachtbriefe ausstellen,
Ankunft und Abfahrt der Züge vermelden, aushilfsweise
Fahrkarten verkaufen. Traust du dir das zu?«
»Jawohl, Monsieur.«
»Mindestalter sechzehn, männlich, Homosexuelle, Geschlechtskranke
und Kommunisten unerwünscht. Du bist
doch nicht etwa - Kommunist?«
»Nein, Monsieur.«
»Na, dann morse mir mal was. Morse mir, mal sehen, ah ja:
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Na los, gleich hier auf
dem Schreibtisch!«
Léon hielt die Luft an, schaute kurz zur Decke hoch und
begann mit dem Mittelfinger der rechten Hand zu trommeln.
Kurz-kurz-lang, kurz-lang-kurz, kurz-kurz-kurz ...
»Das reicht«, sagte der Bürgermeister, der das Morsealphabet
nicht beherrschte und außerstande war, Léons Fingerfertigkeit
zu bewerten.
»Ich kann morsen, Monsieur. Wo bitte liegt Saint-Luc-sur-
Marne?«
»An der Marne, du Holzkopf, irgendwo zwischen Schnittlauch
und Stangenbohnen. Keine Angst, die Front verläuft
jetzt woanders. Dringliche Ausschreibung, du kannst sofort
anfangen. Bekommst sogar Lohn, hundertzwanzig Franc.
Wir können es ja versuchen.«
So kam es, dass Léon Le Gall an einem Frühlingstag des Jahres
1918 seinen Pappkoffer aufs Fahrrad band, innig seine
Mutter küsste und nach kurzem Zögern auch den Vater umarmte,
aufs Rad stieg und in die Pedale trat. Er beschleunigte,
als müsste er am Ende der Rue des Fossées vom Boden abheben
wie Louis Blériot, der kürzlich mit seinem aus Eschenholz und Fahrradrädern
selbstgebastelten Flugzeug den Ärmelkanal
überquert hatte. Er raste vorbei an den armseligen,
tapfer wohlanständigen Kleinbürgerhäusern, in denen
seine Freunde Patrice und Joël gerade sägemehlhaltiges
Kriegsbrot vom Vortag in ihren Milchkaffee tunkten, vorbei
an der Bäckerei, aus der fast jeder Bissen Brot stammte, den
er in seinem Leben gegessen hatte, und vorbei am Gymnasium,
an dem sein Vater noch vierzehn Jahre, drei Monate
und zwei Wochen sein täglich Brot verdienen würde. Er
fuhr vorbei am großen Hafenbecken, in dem ein amerikanischer
Getreidetanker friedlich neben britischen und französischen
Kriegsschiffen lag, überquerte die Brücke und bog
rechts in die Avenue de Paris ein, glücklich und ohne jeden
Gedanken daran, dass er das alles möglicherweise nie wiedersehen
würde, fuhr vorbei an Lagerhäusern, Hebekränen
und Trockendocks, hinaus aus der Stadt und hinein in die
endlosen Wiesen und Weiden der Normandie. Nach zehn
Minuten Fahrt versperrte eine Herde Kühe die Straße, er
musste halten; danach fuhr er langsamer.
In der Nacht zuvor hatte es geregnet, die Straße war angenehm
feucht und staubfrei. Auf dampfenden Wiesen standen
blühende Apfelbäume und weidende Kühe. Léon fuhr
der Sonne entgegen. Er hatte leichten Westwind im Rücken
und kam rasch voran. Nach einer Stunde zog er die
Jacke aus und band sie auf den Koffer. Er überholte ein
Fuhrwerk, das von einem Maulesel gezogen wurde. Dann
kreuzte er eine Bäuerin mit einer Schubkarre und fuhr an
einem Lastwagen vorbei, der mit rauchendem Motor am
Straßenrand stand. Pferde sah er keine; Léon hatte im Petit
Inventeur gelesen, dass nahezu sämtliche Pferde Frankreichs
an der Front Dienst taten.
Am Mittag aß er das Schinkenbrot, das ihm die Mutter eingepackt
hatte, und trank Wasser aus einem Dorfbrunnen.
Nachmittags legte er sich unter einen Apfelbaum, blinzelte
hoch in die weißrosa Blüten und zartgrünen Blätter und
stellte fest, dass der Baum seit Jahren nicht mehr geschnitten
worden war.
Am Abend traf er in Caen ein, wo er bei Tante Simone übernachten
sollte. Sie war die jüngste Schwester jenes Serge
Le Gall, dem ein Gefängnisinsasse mit einer Axt den Schä-
del gespalten hatte. Es war ein paar Jahre her, dass Léon sie
zum letzten Mal gesehen hatte; er erinnerte sich an die vollen
Brüste unter ihrer Bluse, an ihr Gelächter und ihren
großen roten Frauenmund und dass ihr Drachen am Strand
höher gestiegen war als alle anderen. Aber dann waren
kurz nacheinander ihr Mann und ihre beiden Söhne in
den Krieg gezogen, und seither schrieb Tante Simone, fast
wahnsinnig vor Kummer und Sorge, jeden Tag drei Briefe nach Verdun.
»Da bist du also«, sagte sie und ließ ihn eintreten. Das Haus
roch nach Kampfer und toten Fliegen. Ihr Haar war wirr,
der Mund fahl und rissig. In der rechten Hand hielt sie einen Rosenkranz.
Léon küsste sie auf beide Wangen und richtete die Grüße seiner Eltern aus.
»Auf dem Küchentisch stehen Brot und Käse«, sagte sie.
»Und eine Flasche Cidre, wenn du willst.«
Er überreichte ihr die gebrannten Mandeln, die seine Mutter
ihm als Gastgeschenk mitgegeben hatte.
»Danke. Geh jetzt in die Küche und iss. Du schläfst neben
mir heute Nacht, das Bett ist breit genug.«
Léon machte große Augen.
»Das Bubenzimmer kannst du nicht haben, das habe ich
zusammen mit dem Schlafzimmer vermieten müssen an
Flüchtlinge aus dem Norden. Und das Sofa im Salon habe
ich verkauft, weil ich Platz für das Bett brauchte.«
Léon machte den Mund auf und wollte etwas sagen.
»Das Bett ist breit genug, stell dich nicht so an«, sagte sie
und fuhr sich mit der Hand durchs matte Haar. »Ich bin
müde vom langen Tag und habe nicht die Kraft, mich mit
dir herumzuschlagen.«
Ohne ein weiteres Wort ging sie hinüber in den Salon und
schlüpfte mit all ihren Röcken, Blusen, Schlüpfern und
Strümpfen unter die Decke, drehte sich zur Wand und
rührte sich nicht mehr.
Léon ging in die Küche. Er aß Brot und Käse, schaute
durchs Fenster auf die Straße und trank, während er auf
die Dunkelheit wartete, die ganze Flasche Cidre leer. Erst
als er Tante Simone schnarchen hörte, ging er hinüber in
den Salon und legte sich neben sie, atmete den süßsauren
Duft ihres weiblichen Schweißes und wartete darauf, dass
ihn die Zauberkraft des Cidre hinübertrug in die andere Welt.
Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, lag
Tante Simone in unveränderter Haltung neben ihm, aber
sie schnarchte nicht mehr. Léon fühlte, dass sie sich schlafend
stellte und darauf wartete, dass er aus ihrem Haus verschwand.
Er nahm seine Schuhe in die rechte Hand und
den Koffer in die linke und schlich leise die Treppe hinunter.
Es war ein windstiller, sonniger Morgen. Léon nahm die
Küstenstraße über Houlgate und Honfleur; weil gerade
Ebbe war, hievte er sein Fahrrad über die Mauer hinunter
zum Strand und fuhr einige Kilometer auf dem nassen,
harten Sand der Wasserlinie entlang. Der Sand war gelb,
das Meer war grün und wurde zum Himmel hin blau; die
wenigen Kinder, die im Sand spielten, trugen rote Badeanzüge,
ihre Mütter weiße Röcke; manchmal standen alte
Männer in schwarzen Jacketts im Sand und stocherten mit
ihren Stöcken in vertrocknetem Algengewirr.
Weil sein Vater und der Bürgermeister von Cherbourg weit
weg waren und ihn unmöglich sehen konnten, hielt Léon
ein wenig Ausschau nach Strandgut. Er fand ein ziemlich
langes, nicht sehr zerfranstes Stück Seil, ein paar Flaschen,
ein Fensterkreuz samt Verschlussgestänge und einen halbvollen
Kanister Petroleum.
Mittags traf er in Deauville ein und abends in Rouen, wo er
bei Tante Sophie übernachten sollte; zuvor aber, das hatte
ihm der Vater dringend ans Herz gelegt, sollte er die Kathedrale
besichtigen, weil sie eines der schönsten Zeugnisse
gotischer Baukunst sei. Léon zog in Erwägung, sowohl die
Tante als auch das Zeugnis gotischer Baukunst fahren zu
lassen und irgendwo auf freiem Feld zu übernachten. Dann
bedachte er, dass die Tage im Juni zwar lang, die Nächte
aber immer noch feucht und kühl waren und dass Tante
Sophie weder Mann noch Söhne in Verdun haben konnte,
weil sie zeitlebens ledig geblieben war; zudem war sie berühmt
für ihren Apfelkuchen. Als er bei ihr eintraf, stand
sie in ihrer weiß gestärkten Schürze im Vorgarten und winkte ihm zu.
Am dritten Tag stellte er beim Aufstehen fest, dass er fürchterlichen
Muskelkater hatte. Das Treppensteigen war eine
Qual, die erste Stunde auf dem Rad eine Tortur; danach
ging es besser. Der Wind hatte auf Norden gedreht, Nieselregen
setzte ein. Von Süden her kreuzten lange Kolonnen
von Armeelastwagen seinen Weg; unter den Planen
saßen Soldaten mit mürrischen Gesichtern, die Zigaretten
rauchten und ihre Gewehre zwischen den Knien hielten.
Mittags kam er an einem abgebrannten Bauernhof vorbei.
Grüne Wicken rankten sich an schwarzen Balken empor,
im Schweinekoben wuchsen junge Birken, aus den schwarzen
Fensterlöchern drang modriger Kohlegeruch; im Mist-
stock steckte eine rostige Mistgabel ohne Stiel. Er nahm sie
an sich und steckte sie zu den anderen Fundsachen auf dem
Gepäckträger.
Léon wusste, dass er seinem Ziel nun nahe war; hinter dem
nächsten oder übernächsten Hügel musste der Kirchturm
von Saint-Luc-sur-Marne auftauchen. Tatsächlich lag hinter
der nächsten Anhöhe ein Dorf mit einer Kirche, aber es
war nicht Saint-Luc. Léon durchquerte das Dorf und erklomm
den nächsten Hügel, fuhr hinunter ins nächste Dorf
und hinauf auf den nächsten Hügel, hinter dem wiederum
ein Dorf lag und hinter diesem wiederum ein Hügel. Er
beugte sich tief über den Lenker, versuchte seine Schmerzen
zu ignorieren und stellte sich vor, er sei eine fest mit
dem Rad verbundene Maschine, der es gleichgültig war,
wie viele Hügel hinter dem nächsten Hügel noch folgen mochten.
Es war später Nachmittag, als es mit den Hügeln endlich ein
Ende hatte. Vor Léon lag eine Allee, die schnurgerade über
eine endlose Ebene führte. Die Fahrt in der Waagrechten
war eine Wohltat, zudem schien es ihm, als schützten ihn
die Platanen ein wenig vor dem Seitenwind. Da hörte er in
seinem Rücken ein Geräusch - ein kurzes Quietschen, das
sich in hastiger Folge gleichmäßig wiederholte und stetig
lauter wurde. Léon drehte sich um.
Was er sah, war eine junge Frau auf einem alten, ziemlich
rostigen Herrenfahrrad, die locker aufrecht auf dem Sattel
saß und rasch näher kam; das Quietschen wurde offenbar
durch das rechte Pedal verursacht, das bei jeder Umdrehung
das Blech des Kettenschutzes streifte. Sie kam sehr
rasch näher, gleich würde sie ihn überholen; um das zu
verhindern, stieg er aus dem Sattel. Aber nach wenigen Se-
kunden war sie heran, winkte ihm zu, rief »Bonjour!« und
zog leichthin vorbei, als würde er am Straßenrand stillstehen.
Léon schaute ihr hinterher, wie sie in der weiten Ebene unter
leiser werdendem Quietschen klein und immer kleiner
wurde und schließlich an jenem Punkt verschwand, an dem
die Doppelreihe der Platanen an den Horizont stieß. Ein
sonderbares Mädchen war das gewesen. Sommersprossen
und dichtes dunkles Haar, das sie, womöglich eigenhändig,
am Hinterkopf von einem Ohrläppchen zum anderen
durchgehend auf gleicher Höhe abgesäbelt hatte. Ungefähr
in seinem Alter, vielleicht etwas jünger oder älter, das war
schwer zu sagen. Großer Mund und zartes Kinn. Ein nettes
Lächeln. Kleine weiße Zähne und eine lustige Lücke zwischen
den oberen Schneidezähnen. Die Augen - grün?
Eine weiße Bluse mit roten Punkten, die sie zehn Jahre älter
gemacht hätte, wenn nicht der blaue Schülerinnenrock
sie wieder zehn Jahre jünger gemacht hätte. Hübsche
Beine, soweit er das in der Kürze der Zeit hatte beurteilen
können. Und verdammt schnell gefahren war sie.
Léon fühlte seine Müdigkeit nicht mehr, die Beine taten
wieder ihren Dienst. Ein sensationelles Mädchen war das
gewesen. Er versuchte sich ihr Bild vor Augen zu halten
und wunderte sich, dass es ihm schon nicht mehr gelingen
wollte. Wohl sah er die rotweiß gepunktete Bluse, die
strampelnden Beine, die ausgetretenen Schnürschuhe und
das Lächeln, das übrigens nicht nur nett, sondern hinreißend,
umwerfend, beglückend, atemberaubend, herzzerreißend
gewesen war in seiner Mischung aus Freundlichkeit,
Klugheit, Spott und Scheu. Aber die einzelnen Teile
wollten sich, sosehr er sich bemühte, nicht zu einem Gan-
zen fügen, immer sah er nur Glieder, Farben, Formen - die
Erscheinung als Ganzes verweigerte sich ihm.
Deutlich im Ohr hatte er immerhin das Quietschen der Pedale
auf dem Kettenschutz, ebenso ihr helles »Bonjour!« -
da fiel ihm ein, dass er nicht zurückgegrüßt hatte. Verärgert
schlug er mit der rechten Hand auf die Lenkstange, dass
das Rad einen Schlenker machte und er beinahe gestürzt
wäre. »Bonjour, Mademoiselle!«, sagte er leise, als ob er
üben würde, dann kräftiger, entschiedener: »Bonjour!«,
und dann noch eine Nuance männlicher, selbstbewusster:
»Bonjour!«
Léon erneuerte seinen vor der Abreise gefassten Vorsatz, in
Saint-Luc ein neues Leben zu beginnen. Er würde ab sofort
seinen Kaffee nicht mehr zu Hause, sondern im Bistro trinken
und immer fünfzehn Prozent Trinkgeld auf den Tresen
legen, und er würde nicht mehr den Petit Inventeur lesen,
sondern den Figaro und den Parisien, und er würde auf dem
Trottoir nicht mehr rennen, sondern schlendern. Und wenn
eine junge Frau ihn grüßte, würde er nicht mit offenem
Mund gaffen, sondern ihr einen kurzen, scharfen Blick zuwerfen
und dann lässig zurückgrüßen.
Bleischwer war die Müdigkeit in seine Beine zurückgekehrt.
Jetzt verwünschte er die uferlose Ebene. Die Hügellandschaft
vorhin hatte immerhin ein Wechselspiel von
Hoffnung und Enttäuschung geboten, jetzt gab es nur mehr
illusionslose Klarheit, dass das Ziel noch fern war. Um die
Weite nicht mehr sehen zu müssen, legte er seine Unterarme
auf die Lenkstange und ließ den Kopf zwischen die
Schultern fallen, beobachtete das Auf und Ab seiner Füße
und behielt, damit er nicht vom Weg abkam, den Straßengraben im Auge.
So bemerkte er nicht, dass weit vor ihm die Wolkendecke
aufriss und ein Bündel schräger Sonnenstrahlen auf die
grünen Weizenfelder fiel und dass am Horizont zwischen
den Platanen ein Punkt auftauchte, der rasch größer wurde
und eine rotweiß gepunktete Bluse trug. Léon bemerkte
auch nicht, dass die junge Frau diesmal freihändig fuhr,
und als er das vertraute Quietschen hörte, war sie schon
heran, zeigte ihm ihre Zähne mit der hübschen Lücke in
der Mitte, winkte ihm zu und fuhr vorbei.
»Bonjour!«, rief Léon und ärgerte sich, dass er aufs Neue zu
spät gekommen war. Fehlte nur noch, dass sie ihn, da sie
nun wieder in seinem Rücken war, ein zweites Mal überholte;
diese Demütigung wollte er sich ersparen. Er beugte
sich über den Lenker, versuchte zu beschleunigen und
schaute schon nach wenigen hundert Metern besorgt nach
hinten, ob sie wieder am Horizont auftauche; bald aber
richtete er sich auf und zwang sich, langsamer zu fahren.
Schließlich war es sehr unwahrscheinlich, dass die rasante
Person binnen weniger Minuten ein drittes Mal über dieselbe
Straße fahren würde. Und falls doch, würde er das
Rennen - das für sie ja noch nicht mal eines war - sowieso
verlieren. Er hielt an und legte sein Rad in den Kies, sprang
über den Straßengraben und streckte sich lang im Gras aus.
Nun konnte sie ruhig kommen. Er würde im Gras liegen
und an einem Grashalm kauen wie einer, der gerade Lust
auf eine kleine Rast hatte, und er würde mit dem Zeigefinger
an den Mützenrand tippen und laut und deutlich »Bonjour!« rufen.
Léon aß das letzte der drei Käsebrote, die Tante Sophie ihm
mitgegeben hatte. Er zog die Schuhe aus und rieb seine
brennenden Füße, und ab und zu schielte er nach links
über die einsame Straße. Ein Windstoß brachte etwas Nieselregen,
der aber rasch wieder aufhörte. Ein nachtblauer
Lastwagen fuhr vorbei, an dessen Seitenwänden in goldener
Schrift »L'Espoir« stand, etwas später trottete ein
schwarzweißer Hund querfeldein. Plötzlich wurde ihm
klar, wie sehr er sich gerade zum Affen machte mit seinem
Grashalm und der ostentativen Entspanntheit; selbstverständlich
würde das Mädchen, falls es nochmal vorbeikäme,
die Komödie auf den ersten Blick durchschauen. Er
spuckte den Grashalm aus und zog seine Schuhe wieder
an, sprang über den Wassergraben zurück auf die Straße
und stieg aufs Rad.
© Carl Hanser Verlag, München
Von da an fuhren sie in jeder freien Stunde hinaus auf den
Ärmelkanal, um zu fischen, zu dösen und getrockneten
Seetang zu rauchen in Tabakpfeifen, die sie aus Maiskolben
geschnitzt hatten; wenn etwas Interessantes im Wasser
dümpelte - eine Planke, das Sturmlicht eines versenkten
Schiffes oder ein Rettungsring -, nahmen sie es mit. Manchmal
fuhren Kriegsschiffe so nah an ihnen vorbei, dass ihr
kleiner Kahn auf und ab hüpfte wie ein Kalb am ersten
Frühlingstag auf der Weide. Oft blieben sie den ganzen Tag
draußen, umrundeten das Kap und fuhren westwärts, bis
am Horizont die britischen Kanalinseln auftauchten, und
kehrten erst im letzten Licht der Abenddämmerung an Land
zurück. An den Wochenenden verbrachten sie die Nächte
in einer Fischerhütte, deren Besitzer am Tag seiner Einberufung
nicht mehr die Zeit gehabt hatte, das rückseitige
kleine Fenster ordentlich zu verbarrikadieren.
Léon Le Galls Vater - also mein Urgroßvater - wusste nichts
von der Segeljolle seines Sohnes, nahm aber dessen Streunerei
am Strand mit einiger Besorgnis zur Kenntnis. Er
war ein zigarettenverschlingender, vor der Zeit gealterter
Lateinlehrer, der sich in jungen Jahren nur deswegen fürs
Lateinstudium entschieden hatte, weil er damit seinem Vater
den größtmöglichen Verdruss hatte bereiten können;
dieses Vergnügen hatte er in der Folge mit jahrzehntelangem
Schuldienst bezahlt und war darob kleinlich, engherzig
und bitter geworden. Um sein Latein vor sich selbst zu
rechtfertigen und sich weiterhin lebendig zu fühlen, hatte
er sich ein enzyklopädisches Wissen über die Zeugnisse römischer
Zivilisation in der Bretagne angeeignet und betrieb
dieses Steckenpferd mit einer Leidenschaft, die in groteskem
Gegensatz zur Geringfügigkeit des Themas stand. Seine
endlosen, quälend eintönigen und von Kettenrauch begleiteten
Referate über Tonscherben, Thermalbäder und Heeresstraßen
waren am Gymnasium legendär und gefürchtet.
Die Schüler hielten sich schadlos, indem sie seine Zigarette
beobachteten und darauf warteten, dass er damit an die
Wandtafel schrieb und die Kreide rauchte.
Dass er am Tag der Generalmobilmachung wegen seines
Asthmas zurückgestellt worden war, empfand er einerseits
als Glück, andrerseits als Schande, da er im Lehrerzimmer
der einzige Mann unter lauter jungen Frauen war. Fürchterlich
war sein Zorn gewesen, als er von den Kolleginnen
hatte erfahren müssen, dass sein einziger Sohn seit Wochen
kaum mehr an der Schule gesehen worden war, und endlos
waren seine Vorträge am Küchentisch gewesen, mit denen
er den Jüngling vom Wert klassischer Bildung zu überzeugen
versuchte. Dieser hatte über den Wert klassischer
Bildung nur gelächelt und seinerseits dem Alten darzulegen
versucht, weshalb seine Anwesenheit am Strand gerade
jetzt unabdingbar nötig sei: weil die Deutschen in den
letzten Wochen dazu übergegangen seien, ihre U-Boote
mit hölzernen Aufbauten und bunter Lackfarbe, mit behelfsmäßigen
Segeln und falschen Netzen als Fischerboote zu verkleiden.
Darauf wünschte der Vater zu erfahren, worin bitte der
kausale Zusammenhang zwischen deutschen U-Booten und
Léons Präsenz am Gymnasium liege.
Die verkleideten U-Boote, erklärte der Sohn geduldig, würden
sich unerkannt französischen Fischkuttern nähern und
diese gnadenlos versenken, um die Versorgungslage des
französischen Volkes zu verschlechtern.
»Und?«, fragte der Vater, hustete und versuchte sich zu be-
ruhigen. Jede Aufregung konnte ihn in eine asthmatische Krise stürzen.
Tag für Tag werde wertvollstes Treibgut an Land gespült -
Teakholz, Messing, Stahl, Segeltuch, fassweise Petroleum ...
»Und?«, fragte der Vater.
Diese kostbaren Rohstoffe müsse man bergen, bevor das
Meer sie wieder mitnehme, sagte Léon.
Während ihre Auseinandersetzung unaufhaltsam dem dramaturgischen
Höhepunkt zustrebte, saßen Vater und Sohn
in jener scheinbar lässig-entspannten Haltung am Küchentisch,
die allen Le Galls eigen ist; sie hatten die Beine lang
unter dem Tisch ausgestreckt und lehnten sich weit über
die Stuhllehne hinaus nach hinten, sodass ihr Hintern nur
noch knapp auf der Stuhlkante auflag. Da sie beide große
und schwere Männer waren, hatten sie ein feines Empfinden
für die Schwerkraft und wussten, dass die horizontale
Lage dem Zustand des Schwebens am nächsten kommt,
weil in ihr jedes Körperglied nur sein Eigengewicht zu tragen
hat und von der Masse des restlichen Leibs befreit ist,
während im Sitzen oder Stehen ein Glied sich auf das andere
türmt und sich in der Summe eine zentnerschwere
Last ergibt. Jetzt aber waren sie wütend, und ihre Stimmen,
die kaum voneinander zu unterscheiden waren, seit
der Sohn den Stimmbruch hinter sich hatte, bebten vor
mühsam im Zaum gehaltenem Zorn.
»Du gehst morgen wieder zur Schule«, sagte der Vater und
unterdrückte einen Hustenreiz, der aus der Tiefe seiner
Brust die Kehle hochstieg.
Die nationale Kriegswirtschaft sei dringend auf Rohstoffe
angewiesen, erwiderte der Sohn.
»Du gehst morgen wieder zur Schule«, sagte der Vater.
Der Vater solle an die nationale Kriegswirtschaft denken,
sagte der Sohn und registrierte beunruhigt, wie schwer der
väterliche Atem ging.
»Die nationale Kriegswirtschaft kann mich am Arsch lecken«,
keuchte der Vater. Dann hatte er einen Hustenanfall,
der das Gespräch für eine Minute unterbrach.
Und ein hübsches Taschengeld lasse sich damit auch verdienen,
sagte der Sohn.
»Erstens ist das kriminelles Geld«, keuchte der Vater. »Und
zweitens gilt das Absenzenreglement des Gymnasiums für
alle, also auch für dich und deine Freunde. Es gefällt mir
nicht, dass ihr euch jede Freiheit herausnehmt.«
Was der Vater gegen Freiheit einzuwenden habe, fragte der
Sohn, und ob er jemals bedacht habe, dass jedes Gesetz, um
Beachtung zu verdienen, Ausdruck einer Sinngebung sein müsse.
»Ihr nehmt euch jede Freiheit allein schon deshalb heraus,
weil sie eine Freiheit ist«, ächzte der Vater.
»Und?«
»Es ist aber gerade das Wesen eines Reglements, dass es für
jeden ohne Ansehen der Person gilt - auch und gerade für
jene, die sich für schlauer halten als andere.«
»Es ist doch aber eine nicht zu leugnende Tatsache, dass
manche Menschen schlauer sind als andere«, wandte der
Sohn vorsichtig ein.
»Erstens tut das nichts zur Sache«, sagte der Vater, »und
zweitens hast gerade du dich bisher, soweit ich orientiert
bin, im Unterricht keineswegs überragender geistiger Kräfte
verdächtig gemacht. Du gehst morgen wieder zur Schule.«
»Nein«, sagte der Sohn.
»Du gehst morgen wieder zur Schule!«, brüllte der Vater.
»Ich gehe überhaupt nie wieder zur Schule!«, brüllte der Sohn.
»Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, tust
du, was ich sage!«
»Du hast mir gar nichts zu befehlen!«
Nach diesem geradezu klassischen Wortwechsel artete die
Auseinandersetzung in eine Prügelei aus, bei der die beiden
sich auf dem Küchenboden wälzten wie Schulbuben und
nur deshalb kein Blut vergossen, weil die Mutter rasch und
beherzt eingriff.
»Jetzt ist Schluss«, sagte sie und hob ihre zwei Männer, von
denen der eine weinte und der andere zu ersticken drohte,
an den Ohrläppchen hoch. »Du, Chéri, nimmst jetzt dein
Laudanum und gehst zu Bett, ich komme gleich nach. Und
du, Léon, gehst morgen früh zum Bürgermeister und meldest
dich zum Arbeitsdienst. Wo dir doch die nationale
Kriegswirtschaft so sehr am Herzen liegt.«
Wie sich am nächsten Morgen herausstellte, konnte die nationale
Kriegswirtschaft den Gymnasiasten Le Gall aus Cherbourg
tatsächlich gebrauchen - aber nicht am Strand,
wie er gehofft hatte. Der Bürgermeister drohte ihm im Gegenteil
drei Monate Gefängnis an für den Fall, dass er sich
noch einmal widerrechtlich Strandgut aneigne, und befragte
ihn eingehend nach seinen anderweitigen kriegswirtschaftlich
relevanten Kenntnissen und Fähigkeiten.
Dabei erwies es sich, dass Léon zwar kräftig gebaut war,
aber keinerlei Neigung zum Einsatz seiner Muskelkraft
hatte. Er wollte kein Bauernknecht sein und auch kein
Fließbandarbeiter, und den Handlanger für einen Schmied
oder Zimmermann machen wollte er auch nicht. Ähnlich
war's mit seinen geistigen Kräften: Zwar war er nicht
eigentlich dumm, aber am Gymnasium hatte er für kein
Fach eine Vorliebe erkennen lassen und in keinem sonderlich
dicke Stricke zerrissen, weshalb er auch für seine berufliche
Zukunft keine festen Pläne oder Wünsche hatte.
Natürlich wäre er gern im Dienst des Vaterlands mit seiner
Segeljolle auf Spionagefahrt in die Nordsee gefahren und
hätte gefälschte Reichsmark an der deutschen Küste in
Umlauf gebracht, um die feindliche Währung zu destabilisieren;
aber weil das keine realistische Berufsperspektive
war, zuckte er nur mit den Schultern, als der Bürgermeister
ihn nach seinen Plänen fragte. Das Interesse an der nationalen
Kriegswirtschaft war ihm schon gänzlich abhandengekommen.
Erschwerend kam hinzu, dass der Bürgermeister
einen Hals wie ein Truthahn und eine rotblau geäderte
Nase hatte. Wie die meisten jungen Leute hatte Léon ein
starkes ästhetisches Empfinden und konnte sich nicht vorstellen,
dass man einen Menschen mit so einem Hals und so
einer Nase ernst nehmen konnte. Der Bürgermeister ging
mürrisch die Liste der offenen Stellen durch, die der Kriegsminister
ihm geschickt hatte.
»Na, mal sehen. Ah, hier. Kannst du Traktor fahren?«
»Nein, Monsieur.«
»Und hier - Lichtbogenschweißer gesucht. Kannst du
schweißen?«
»Nein, Monsieur.«
»Verstehe. Optische Linsen schleifen kannst du wohl auch
nicht, wie?«
»Nein, Monsieur.«
»Und Spulen für Elektromotoren wickeln? Eine Straßenbahn
lenken? Pistolenläufe drehen?« Der Bürgermeister
lachte ein wenig, die Sache begann ihm Spaß zu machen.
»Nein, Monsieur.«
»Bist du vielleicht Facharzt für innere Medizin? Experte für
internationales Handelsrecht? Elektroingenieur? Tiefbauzeichner?
Sattler oder Wagner?«
»Nein, Monsieur.«
»Dachte ich mir. Von Ledergerberei und doppelter Buchhaltung
verstehst du auch nichts, wie? Und Kisuaheli -
sprichst du Kisuaheli? Kannst du stepptanzen? Morsen?
Die Zugkraft von Hängebrückenstahlseilen berechnen?«
»Jawohl, Monsieur.«
»Wie ... Kisuaheli? Hängebrückenstahlseile?«
»Morsen, Monsieur. Ich kann morsen.«
Tatsächlich hatte die Jugendzeitschrift Le Petit Inventeur, auf
die Léon abonniert war, wenige Wochen zuvor das Morsealphabet
abgedruckt, und Léon hatte es aus einer Laune
heraus auswendig gelernt an einem regnerischen Sonntagnachmittag.
»Stimmt das denn auch, Kleiner? Schwindelst du mich nicht an?«
»Nein, Monsieur.«
»Dann wäre das doch etwas! Der Bahnhof von Saint-Lucsur-
Marne sucht einen Morseassistenten als Stellvertreter
des ordentlichen Stelleninhabers. Frachtbriefe ausstellen,
Ankunft und Abfahrt der Züge vermelden, aushilfsweise
Fahrkarten verkaufen. Traust du dir das zu?«
»Jawohl, Monsieur.«
»Mindestalter sechzehn, männlich, Homosexuelle, Geschlechtskranke
und Kommunisten unerwünscht. Du bist
doch nicht etwa - Kommunist?«
»Nein, Monsieur.«
»Na, dann morse mir mal was. Morse mir, mal sehen, ah ja:
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Na los, gleich hier auf
dem Schreibtisch!«
Léon hielt die Luft an, schaute kurz zur Decke hoch und
begann mit dem Mittelfinger der rechten Hand zu trommeln.
Kurz-kurz-lang, kurz-lang-kurz, kurz-kurz-kurz ...
»Das reicht«, sagte der Bürgermeister, der das Morsealphabet
nicht beherrschte und außerstande war, Léons Fingerfertigkeit
zu bewerten.
»Ich kann morsen, Monsieur. Wo bitte liegt Saint-Luc-sur-
Marne?«
»An der Marne, du Holzkopf, irgendwo zwischen Schnittlauch
und Stangenbohnen. Keine Angst, die Front verläuft
jetzt woanders. Dringliche Ausschreibung, du kannst sofort
anfangen. Bekommst sogar Lohn, hundertzwanzig Franc.
Wir können es ja versuchen.«
So kam es, dass Léon Le Gall an einem Frühlingstag des Jahres
1918 seinen Pappkoffer aufs Fahrrad band, innig seine
Mutter küsste und nach kurzem Zögern auch den Vater umarmte,
aufs Rad stieg und in die Pedale trat. Er beschleunigte,
als müsste er am Ende der Rue des Fossées vom Boden abheben
wie Louis Blériot, der kürzlich mit seinem aus Eschenholz und Fahrradrädern
selbstgebastelten Flugzeug den Ärmelkanal
überquert hatte. Er raste vorbei an den armseligen,
tapfer wohlanständigen Kleinbürgerhäusern, in denen
seine Freunde Patrice und Joël gerade sägemehlhaltiges
Kriegsbrot vom Vortag in ihren Milchkaffee tunkten, vorbei
an der Bäckerei, aus der fast jeder Bissen Brot stammte, den
er in seinem Leben gegessen hatte, und vorbei am Gymnasium,
an dem sein Vater noch vierzehn Jahre, drei Monate
und zwei Wochen sein täglich Brot verdienen würde. Er
fuhr vorbei am großen Hafenbecken, in dem ein amerikanischer
Getreidetanker friedlich neben britischen und französischen
Kriegsschiffen lag, überquerte die Brücke und bog
rechts in die Avenue de Paris ein, glücklich und ohne jeden
Gedanken daran, dass er das alles möglicherweise nie wiedersehen
würde, fuhr vorbei an Lagerhäusern, Hebekränen
und Trockendocks, hinaus aus der Stadt und hinein in die
endlosen Wiesen und Weiden der Normandie. Nach zehn
Minuten Fahrt versperrte eine Herde Kühe die Straße, er
musste halten; danach fuhr er langsamer.
In der Nacht zuvor hatte es geregnet, die Straße war angenehm
feucht und staubfrei. Auf dampfenden Wiesen standen
blühende Apfelbäume und weidende Kühe. Léon fuhr
der Sonne entgegen. Er hatte leichten Westwind im Rücken
und kam rasch voran. Nach einer Stunde zog er die
Jacke aus und band sie auf den Koffer. Er überholte ein
Fuhrwerk, das von einem Maulesel gezogen wurde. Dann
kreuzte er eine Bäuerin mit einer Schubkarre und fuhr an
einem Lastwagen vorbei, der mit rauchendem Motor am
Straßenrand stand. Pferde sah er keine; Léon hatte im Petit
Inventeur gelesen, dass nahezu sämtliche Pferde Frankreichs
an der Front Dienst taten.
Am Mittag aß er das Schinkenbrot, das ihm die Mutter eingepackt
hatte, und trank Wasser aus einem Dorfbrunnen.
Nachmittags legte er sich unter einen Apfelbaum, blinzelte
hoch in die weißrosa Blüten und zartgrünen Blätter und
stellte fest, dass der Baum seit Jahren nicht mehr geschnitten
worden war.
Am Abend traf er in Caen ein, wo er bei Tante Simone übernachten
sollte. Sie war die jüngste Schwester jenes Serge
Le Gall, dem ein Gefängnisinsasse mit einer Axt den Schä-
del gespalten hatte. Es war ein paar Jahre her, dass Léon sie
zum letzten Mal gesehen hatte; er erinnerte sich an die vollen
Brüste unter ihrer Bluse, an ihr Gelächter und ihren
großen roten Frauenmund und dass ihr Drachen am Strand
höher gestiegen war als alle anderen. Aber dann waren
kurz nacheinander ihr Mann und ihre beiden Söhne in
den Krieg gezogen, und seither schrieb Tante Simone, fast
wahnsinnig vor Kummer und Sorge, jeden Tag drei Briefe nach Verdun.
»Da bist du also«, sagte sie und ließ ihn eintreten. Das Haus
roch nach Kampfer und toten Fliegen. Ihr Haar war wirr,
der Mund fahl und rissig. In der rechten Hand hielt sie einen Rosenkranz.
Léon küsste sie auf beide Wangen und richtete die Grüße seiner Eltern aus.
»Auf dem Küchentisch stehen Brot und Käse«, sagte sie.
»Und eine Flasche Cidre, wenn du willst.«
Er überreichte ihr die gebrannten Mandeln, die seine Mutter
ihm als Gastgeschenk mitgegeben hatte.
»Danke. Geh jetzt in die Küche und iss. Du schläfst neben
mir heute Nacht, das Bett ist breit genug.«
Léon machte große Augen.
»Das Bubenzimmer kannst du nicht haben, das habe ich
zusammen mit dem Schlafzimmer vermieten müssen an
Flüchtlinge aus dem Norden. Und das Sofa im Salon habe
ich verkauft, weil ich Platz für das Bett brauchte.«
Léon machte den Mund auf und wollte etwas sagen.
»Das Bett ist breit genug, stell dich nicht so an«, sagte sie
und fuhr sich mit der Hand durchs matte Haar. »Ich bin
müde vom langen Tag und habe nicht die Kraft, mich mit
dir herumzuschlagen.«
Ohne ein weiteres Wort ging sie hinüber in den Salon und
schlüpfte mit all ihren Röcken, Blusen, Schlüpfern und
Strümpfen unter die Decke, drehte sich zur Wand und
rührte sich nicht mehr.
Léon ging in die Küche. Er aß Brot und Käse, schaute
durchs Fenster auf die Straße und trank, während er auf
die Dunkelheit wartete, die ganze Flasche Cidre leer. Erst
als er Tante Simone schnarchen hörte, ging er hinüber in
den Salon und legte sich neben sie, atmete den süßsauren
Duft ihres weiblichen Schweißes und wartete darauf, dass
ihn die Zauberkraft des Cidre hinübertrug in die andere Welt.
Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, lag
Tante Simone in unveränderter Haltung neben ihm, aber
sie schnarchte nicht mehr. Léon fühlte, dass sie sich schlafend
stellte und darauf wartete, dass er aus ihrem Haus verschwand.
Er nahm seine Schuhe in die rechte Hand und
den Koffer in die linke und schlich leise die Treppe hinunter.
Es war ein windstiller, sonniger Morgen. Léon nahm die
Küstenstraße über Houlgate und Honfleur; weil gerade
Ebbe war, hievte er sein Fahrrad über die Mauer hinunter
zum Strand und fuhr einige Kilometer auf dem nassen,
harten Sand der Wasserlinie entlang. Der Sand war gelb,
das Meer war grün und wurde zum Himmel hin blau; die
wenigen Kinder, die im Sand spielten, trugen rote Badeanzüge,
ihre Mütter weiße Röcke; manchmal standen alte
Männer in schwarzen Jacketts im Sand und stocherten mit
ihren Stöcken in vertrocknetem Algengewirr.
Weil sein Vater und der Bürgermeister von Cherbourg weit
weg waren und ihn unmöglich sehen konnten, hielt Léon
ein wenig Ausschau nach Strandgut. Er fand ein ziemlich
langes, nicht sehr zerfranstes Stück Seil, ein paar Flaschen,
ein Fensterkreuz samt Verschlussgestänge und einen halbvollen
Kanister Petroleum.
Mittags traf er in Deauville ein und abends in Rouen, wo er
bei Tante Sophie übernachten sollte; zuvor aber, das hatte
ihm der Vater dringend ans Herz gelegt, sollte er die Kathedrale
besichtigen, weil sie eines der schönsten Zeugnisse
gotischer Baukunst sei. Léon zog in Erwägung, sowohl die
Tante als auch das Zeugnis gotischer Baukunst fahren zu
lassen und irgendwo auf freiem Feld zu übernachten. Dann
bedachte er, dass die Tage im Juni zwar lang, die Nächte
aber immer noch feucht und kühl waren und dass Tante
Sophie weder Mann noch Söhne in Verdun haben konnte,
weil sie zeitlebens ledig geblieben war; zudem war sie berühmt
für ihren Apfelkuchen. Als er bei ihr eintraf, stand
sie in ihrer weiß gestärkten Schürze im Vorgarten und winkte ihm zu.
Am dritten Tag stellte er beim Aufstehen fest, dass er fürchterlichen
Muskelkater hatte. Das Treppensteigen war eine
Qual, die erste Stunde auf dem Rad eine Tortur; danach
ging es besser. Der Wind hatte auf Norden gedreht, Nieselregen
setzte ein. Von Süden her kreuzten lange Kolonnen
von Armeelastwagen seinen Weg; unter den Planen
saßen Soldaten mit mürrischen Gesichtern, die Zigaretten
rauchten und ihre Gewehre zwischen den Knien hielten.
Mittags kam er an einem abgebrannten Bauernhof vorbei.
Grüne Wicken rankten sich an schwarzen Balken empor,
im Schweinekoben wuchsen junge Birken, aus den schwarzen
Fensterlöchern drang modriger Kohlegeruch; im Mist-
stock steckte eine rostige Mistgabel ohne Stiel. Er nahm sie
an sich und steckte sie zu den anderen Fundsachen auf dem
Gepäckträger.
Léon wusste, dass er seinem Ziel nun nahe war; hinter dem
nächsten oder übernächsten Hügel musste der Kirchturm
von Saint-Luc-sur-Marne auftauchen. Tatsächlich lag hinter
der nächsten Anhöhe ein Dorf mit einer Kirche, aber es
war nicht Saint-Luc. Léon durchquerte das Dorf und erklomm
den nächsten Hügel, fuhr hinunter ins nächste Dorf
und hinauf auf den nächsten Hügel, hinter dem wiederum
ein Dorf lag und hinter diesem wiederum ein Hügel. Er
beugte sich tief über den Lenker, versuchte seine Schmerzen
zu ignorieren und stellte sich vor, er sei eine fest mit
dem Rad verbundene Maschine, der es gleichgültig war,
wie viele Hügel hinter dem nächsten Hügel noch folgen mochten.
Es war später Nachmittag, als es mit den Hügeln endlich ein
Ende hatte. Vor Léon lag eine Allee, die schnurgerade über
eine endlose Ebene führte. Die Fahrt in der Waagrechten
war eine Wohltat, zudem schien es ihm, als schützten ihn
die Platanen ein wenig vor dem Seitenwind. Da hörte er in
seinem Rücken ein Geräusch - ein kurzes Quietschen, das
sich in hastiger Folge gleichmäßig wiederholte und stetig
lauter wurde. Léon drehte sich um.
Was er sah, war eine junge Frau auf einem alten, ziemlich
rostigen Herrenfahrrad, die locker aufrecht auf dem Sattel
saß und rasch näher kam; das Quietschen wurde offenbar
durch das rechte Pedal verursacht, das bei jeder Umdrehung
das Blech des Kettenschutzes streifte. Sie kam sehr
rasch näher, gleich würde sie ihn überholen; um das zu
verhindern, stieg er aus dem Sattel. Aber nach wenigen Se-
kunden war sie heran, winkte ihm zu, rief »Bonjour!« und
zog leichthin vorbei, als würde er am Straßenrand stillstehen.
Léon schaute ihr hinterher, wie sie in der weiten Ebene unter
leiser werdendem Quietschen klein und immer kleiner
wurde und schließlich an jenem Punkt verschwand, an dem
die Doppelreihe der Platanen an den Horizont stieß. Ein
sonderbares Mädchen war das gewesen. Sommersprossen
und dichtes dunkles Haar, das sie, womöglich eigenhändig,
am Hinterkopf von einem Ohrläppchen zum anderen
durchgehend auf gleicher Höhe abgesäbelt hatte. Ungefähr
in seinem Alter, vielleicht etwas jünger oder älter, das war
schwer zu sagen. Großer Mund und zartes Kinn. Ein nettes
Lächeln. Kleine weiße Zähne und eine lustige Lücke zwischen
den oberen Schneidezähnen. Die Augen - grün?
Eine weiße Bluse mit roten Punkten, die sie zehn Jahre älter
gemacht hätte, wenn nicht der blaue Schülerinnenrock
sie wieder zehn Jahre jünger gemacht hätte. Hübsche
Beine, soweit er das in der Kürze der Zeit hatte beurteilen
können. Und verdammt schnell gefahren war sie.
Léon fühlte seine Müdigkeit nicht mehr, die Beine taten
wieder ihren Dienst. Ein sensationelles Mädchen war das
gewesen. Er versuchte sich ihr Bild vor Augen zu halten
und wunderte sich, dass es ihm schon nicht mehr gelingen
wollte. Wohl sah er die rotweiß gepunktete Bluse, die
strampelnden Beine, die ausgetretenen Schnürschuhe und
das Lächeln, das übrigens nicht nur nett, sondern hinreißend,
umwerfend, beglückend, atemberaubend, herzzerreißend
gewesen war in seiner Mischung aus Freundlichkeit,
Klugheit, Spott und Scheu. Aber die einzelnen Teile
wollten sich, sosehr er sich bemühte, nicht zu einem Gan-
zen fügen, immer sah er nur Glieder, Farben, Formen - die
Erscheinung als Ganzes verweigerte sich ihm.
Deutlich im Ohr hatte er immerhin das Quietschen der Pedale
auf dem Kettenschutz, ebenso ihr helles »Bonjour!« -
da fiel ihm ein, dass er nicht zurückgegrüßt hatte. Verärgert
schlug er mit der rechten Hand auf die Lenkstange, dass
das Rad einen Schlenker machte und er beinahe gestürzt
wäre. »Bonjour, Mademoiselle!«, sagte er leise, als ob er
üben würde, dann kräftiger, entschiedener: »Bonjour!«,
und dann noch eine Nuance männlicher, selbstbewusster:
»Bonjour!«
Léon erneuerte seinen vor der Abreise gefassten Vorsatz, in
Saint-Luc ein neues Leben zu beginnen. Er würde ab sofort
seinen Kaffee nicht mehr zu Hause, sondern im Bistro trinken
und immer fünfzehn Prozent Trinkgeld auf den Tresen
legen, und er würde nicht mehr den Petit Inventeur lesen,
sondern den Figaro und den Parisien, und er würde auf dem
Trottoir nicht mehr rennen, sondern schlendern. Und wenn
eine junge Frau ihn grüßte, würde er nicht mit offenem
Mund gaffen, sondern ihr einen kurzen, scharfen Blick zuwerfen
und dann lässig zurückgrüßen.
Bleischwer war die Müdigkeit in seine Beine zurückgekehrt.
Jetzt verwünschte er die uferlose Ebene. Die Hügellandschaft
vorhin hatte immerhin ein Wechselspiel von
Hoffnung und Enttäuschung geboten, jetzt gab es nur mehr
illusionslose Klarheit, dass das Ziel noch fern war. Um die
Weite nicht mehr sehen zu müssen, legte er seine Unterarme
auf die Lenkstange und ließ den Kopf zwischen die
Schultern fallen, beobachtete das Auf und Ab seiner Füße
und behielt, damit er nicht vom Weg abkam, den Straßengraben im Auge.
So bemerkte er nicht, dass weit vor ihm die Wolkendecke
aufriss und ein Bündel schräger Sonnenstrahlen auf die
grünen Weizenfelder fiel und dass am Horizont zwischen
den Platanen ein Punkt auftauchte, der rasch größer wurde
und eine rotweiß gepunktete Bluse trug. Léon bemerkte
auch nicht, dass die junge Frau diesmal freihändig fuhr,
und als er das vertraute Quietschen hörte, war sie schon
heran, zeigte ihm ihre Zähne mit der hübschen Lücke in
der Mitte, winkte ihm zu und fuhr vorbei.
»Bonjour!«, rief Léon und ärgerte sich, dass er aufs Neue zu
spät gekommen war. Fehlte nur noch, dass sie ihn, da sie
nun wieder in seinem Rücken war, ein zweites Mal überholte;
diese Demütigung wollte er sich ersparen. Er beugte
sich über den Lenker, versuchte zu beschleunigen und
schaute schon nach wenigen hundert Metern besorgt nach
hinten, ob sie wieder am Horizont auftauche; bald aber
richtete er sich auf und zwang sich, langsamer zu fahren.
Schließlich war es sehr unwahrscheinlich, dass die rasante
Person binnen weniger Minuten ein drittes Mal über dieselbe
Straße fahren würde. Und falls doch, würde er das
Rennen - das für sie ja noch nicht mal eines war - sowieso
verlieren. Er hielt an und legte sein Rad in den Kies, sprang
über den Straßengraben und streckte sich lang im Gras aus.
Nun konnte sie ruhig kommen. Er würde im Gras liegen
und an einem Grashalm kauen wie einer, der gerade Lust
auf eine kleine Rast hatte, und er würde mit dem Zeigefinger
an den Mützenrand tippen und laut und deutlich »Bonjour!« rufen.
Léon aß das letzte der drei Käsebrote, die Tante Sophie ihm
mitgegeben hatte. Er zog die Schuhe aus und rieb seine
brennenden Füße, und ab und zu schielte er nach links
über die einsame Straße. Ein Windstoß brachte etwas Nieselregen,
der aber rasch wieder aufhörte. Ein nachtblauer
Lastwagen fuhr vorbei, an dessen Seitenwänden in goldener
Schrift »L'Espoir« stand, etwas später trottete ein
schwarzweißer Hund querfeldein. Plötzlich wurde ihm
klar, wie sehr er sich gerade zum Affen machte mit seinem
Grashalm und der ostentativen Entspanntheit; selbstverständlich
würde das Mädchen, falls es nochmal vorbeikäme,
die Komödie auf den ersten Blick durchschauen. Er
spuckte den Grashalm aus und zog seine Schuhe wieder
an, sprang über den Wassergraben zurück auf die Straße
und stieg aufs Rad.
© Carl Hanser Verlag, München
... weniger
Autoren-Porträt von Alex Capus
Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Für sein literarisches Schaffen wurde er u.a. mit dem Solothurner Kunstpreis 2020 ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen Léon und Louise (Roman, 2011), Fast ein bisschen Frühling (Roman, 2012), Skidoo (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer (Roman, 2013), Mein Nachbar Urs (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), Seiltänzer (Hanser Box, 2015), Reisen im Licht der Sterne (Roman, 2015), Das Leben ist gut (Roman, 2016), Königskinder (Roman, 2018) und Susanna (Roman, 2022).
Bibliographische Angaben
- Autor: Alex Capus
- 2011, 26. Aufl., 314 Seiten, Masse: 29,3 x 24 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446236309
- ISBN-13: 9783446236301
- Erscheinungsdatum: 02.02.2011
Rezension zu „Léon und Louise “
"Das Buch des Frühjahrs: Eine wunderschöne Geschichte, bei der man zutiefst bedauert, dass sie schon zu Ende ist. Und sich heimlich wünscht, dass einem im nächsten Leben einer wie Léon begegnen möge. Oder eine wie Louise." Christine Westermann, WDR, 27.02.11"Die Geschichte einer Liebe, die sich gegen die Weltgeschichte durchsetzen muss. ... Ein fein gearbeitetes Stück Literatur über Glücksverlangen, Sich-Bescheiden und Davonkommen." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 22.02.11
"Dieses Buch wählt sich seine Leser aus: Alex Capus hat mit "Léon und Louise" die bezaubernde Geschichte einer Liebe über die Zeiten hin geschrieben. ... Es geht um viel mehr als eine Liebe im besetzten Paris. ... Eine wunderschöne Geschichte, deren Kraft in ihrer Sprache liegt, zugleich jedoch in all den Dingen, die nicht in die Sprache gezerrt sind." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.11
"Alex Capus schildert diese ebenso tragischen wie komischen Begebenheiten vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte ... Es gelingen ihm fabelhafte Charakterzeichnungen, und mit Feingefühl erkundet sein Roman die traurige Geometrie einer Dreiecksgeschichte, die sogar Léons zart-robuster Ehefrau ein kleines Glücksgefühl beschert." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 19.03.11
"Ein Paar zum Verlieben." Angela Wittmann, Brigitte, 11/2011
"Unter allen Liebespaaren, glücklichen und unglücklichen, die uns die Literatur je ans Herz gelegt hat, sind Léon und Louise eines der originellsten und überzeugendsten Exemplare." Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung, 07.09.11
Pressezitat
"Das Buch des Frühjahrs: Eine wunderschöne Geschichte, bei der man zutiefst bedauert, dass sie schon zu Ende ist. Und sich heimlich wünscht, dass einem im nächsten Leben einer wie Léon begegnen möge. Oder eine wie Louise." Christine Westermann, WDR, 27.02.11"Die Geschichte einer Liebe, die sich gegen die Weltgeschichte durchsetzen muss. ... Ein fein gearbeitetes Stück Literatur über Glücksverlangen, Sich-Bescheiden und Davonkommen." Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 22.02.11
"Dieses Buch wählt sich seine Leser aus: Alex Capus hat mit "Léon und Louise" die bezaubernde Geschichte einer Liebe über die Zeiten hin geschrieben. ... Es geht um viel mehr als eine Liebe im besetzten Paris. ... Eine wunderschöne Geschichte, deren Kraft in ihrer Sprache liegt, zugleich jedoch in all den Dingen, die nicht in die Sprache gezerrt sind." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.11
"Alex Capus schildert diese ebenso tragischen wie komischen Begebenheiten vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte ... Es gelingen ihm fabelhafte Charakterzeichnungen, und mit Feingefühl erkundet sein Roman die traurige Geometrie einer Dreiecksgeschichte, die sogar Léons zart-robuster Ehefrau ein kleines Glücksgefühl beschert." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 19.03.11
"Ein Paar zum Verlieben." Angela Wittmann, Brigitte, 11/2011
"Unter allen Liebespaaren, glücklichen und unglücklichen, die uns die Literatur je ans Herz gelegt hat, sind Léon und Louise eines der originellsten und überzeugendsten Exemplare." Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung, 07.09.11
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