Ladylike
Sich im Alter ladylike in sein Schicksal bescheiden? Von wegen. Lore und ihre Freundin Anneliese wollen mit 73 noch einmal etwas erleben. Jetzt, wo Männer und Kinder glücklich aus dem Haus sind, gründen sie eine Frauen-WG. Und sie brechen noch einmal aus...
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Sich im Alter ladylike in sein Schicksal bescheiden? Von wegen. Lore und ihre Freundin Anneliese wollen mit 73 noch einmal etwas erleben. Jetzt, wo Männer und Kinder glücklich aus dem Haus sind, gründen sie eine Frauen-WG. Und sie brechen noch einmal aus ihrem Alltag aus und begeben sich auf eine Reise durch Deutschland.
Ladylikevon Ingrid Noll
LESEPROBE
1
Ich hatte immer eine Nagelfeile imAuto liegen. Bei jedem Stau, vor jeder roten Ampel habe ich mir einen anderenFinger vorgeknöpft. Niemals habe ich Zeit vergeudet, immer war ich in Eile undbei allen meinen Tätigkeiten schneller als andere.
Heute ist es damit vorbei. Und wennes mir schon schwerfällt, meine diversenAlterserscheinungen gelassen hinzunehmen, so trifft mich der Verlust meinesTempos am härtesten. Meine Tage sind zu kurz, um alles zu erledigen, was ichmir vorgenommen habe. Meine Lebenszeit reicht nicht mehr aus, um alle Bücher zulesen, die in der Warteschleife liegen, um eine neue Sprache zu lernen oder umalle Leichen im Keller zu entsorgen. Und doch treibt mich so vieles um, selbstdie zartesten Düfte können an bittere Kränkungen erinnern.
Wahrscheinlich sind die prächtigblühenden Fliederbüsche gerade wegen ihrer vergänglichen Pracht so beliebt;kaum freut sich die wintermüde Seele an den weissen, lila oder violetten Dolden,am süsslichen Geruch, an Vasen voll üppiger Zweige, da beginnt es schon zurieseln. Erst sind es nur zarte blassblaue Sterne, dieauf die Gartenwege wehen, dann regnen sie massenweise herunter und kleben am Ende braun wie Teeblätter an unseren Schuhsohlen.Schliesslich lassen nur noch dunkle Samenstände an den stets zu kurzen Frühlingdenken.
Bis zu jenem verhängnisvollen Abendvor 24 Jahren liebte ich blühenden Flieder und hielt unsere Ehe für stabil;ich schmiedete gerade Pläne für eine grosse Feier zu unserer Silberhochzeit.
Naturgemäss hatten Udo und ich uns imLaufe der Jahre verändert, aber wie hatten sich erst die Zeiten gewandelt! Dieprüden Nachkriegsjahre, in denen wir uns kennengelernthatten, sind heute so gut wie vergessen, viele junge Leute leben ohneTrauschein zusammen. Als wir uns 1963 Das Schweigen von Bergman ansahen,waren wir schockiert. Nach und nach dachten wir über viele Dinge anders als infrüheren Jahren, trennten uns von Vorurteilen und besuchten im Urlaub sogarden Sylter Nacktbadestrand. Als die 68er revoltierten, fühlten wir uns schon zualt, um uns noch für die umstürzlerischen Ideen der Studenten, und sei es blossfür die freie Liebe, begeistern zu können. Erst viel später erkannte ich, wiegross der Sexualneid in Udos Generation auf die später Geborenen war, wie sehrdiese Männer darunter litten, dass sie in ihrer Jugendbereits zum Establishment gehört und mehr oder weniger stets mit derselbengepennt hatten.
Jener Sonntag im Mai, als ich denFliederduft zum letzten Mal mit leichtem Herzen einatmete, hat sich in meinGedächtnis eingebrannt. Wir sassen abends auf der Terrasse, denn es war nochhell und warm.
»Eigentlich sollten wir wiedereinmal eine Waldmeisterbowle ansetzen«, überlegte ich, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich seit einerStunde die Alleinunterhalterin war. Mein Mann hatte die ganze Zeit ins Leeregestarrt. Das war allerdings nichts Besonderes, wenn er durch beruflicheProbleme stark in Anspruch genommen wurde.
Unvermutet begann er jedoch zusprechen, und mir dämmerte, dass ihn die Maibowlenicht im geringsten interessierte.
»Ich mussdir etwas sagen, Lore«, begann er.
»Der Flieder ist fast abgeblüht, wieschade«, unterbrach ich ihn, denn ich hatte die Gefahr durch den verändertenKlang seiner Stimme erkannt. Um den Lauf des Schicksals noch für ein paarMinuten anzuhalten, holte ich einen Handfeger aus der Küche und kehrte dieabgefallenen Blüten von der Wachsdecke des Gartentischs.
Doch dann gab es kein Entrinnenmehr, ich musste mir alles anhören. Udo forderte dieScheidung, weil er eine wesentlich jüngere Frau ehelichen wollte; sie warschwanger.
Nur nicht heulen, dachte ich. Alleswird wieder gut. Nur nicht provozieren und seinen Trotz hervorrufen.Vernünftig bleiben. Wir haben bis jetzt noch alle Krisen überstanden. Er wirdbald einsehen, dass er mich nicht einfach umtauschenkann. Sachlich bleiben, jetzt auf keinen Fall mit Porzellan herumschmeissen.Vielleicht sollte unser Christian seinem Papa mal die Leviten lesen!
»Ein Kind ist heutzutage keinHeiratsgrund mehr«, versuchte ich den ersten zaghaften Einwand.
Er schaute auf. »Für dich vielleichtnicht«, sagte er, »aber sie stammt aus einer erzkatholischen Bauernfamilie, daist ein uneheliches Kind nach wie vor eine Schande.«
In diesem Fall kam auch keineAbtreibung in Frage. Lange war ich still. Meine Wut auf die frommeBauerntochter, die sich einen Familienvater als Geliebten erkoren hatte,steigerte sich zusehends. Ich kannte Udo schon seit einer Ewigkeit, er war meinerMeinung nach alles andere als ein stürmischer Verführer, der sich anunschuldige Landpomeranzen heranmachte.
»Die hat dich reingelegt«, sagteich.
»Wie auch immer«, meinte mein Mannunbestimmt, aber er freue sich auf den Nachwuchs. Als unser Sohn geborenwurde, habe er so um die eigene Karriere kämpfen müssen, dasser gar nicht mitbekam, wie schnell ein kleines Kind heranwächst.
»Kann man das im Grossvateralter nochnachholen?« fragte ich.
»Bei einer Frau ist das anders«,belehrte er mich, »aber ein Mann ist mit fünfzig noch nicht alt.«
Diese Worte waren es wohl, die michausrasten liessen. Ich fegte ihm mit dem borstigen Handbesen die Brille von derNase, und rannte laut weinend ins Haus. Leider ging weder die Nase noch dieBrille zu Bruch.
Seitdem mag ich keinen Flieder mehr,ja der Frühling kommt mir von Grund auf verdächtig vor. In Annelieses Gartenhat der Fliederbusch zum Glück bereits seine braunen Nägelchen angesetzt; hierblühen schon die ersten Sommerblumen - Rittersporn, Akelei, Rosen undGlockenblumen. Bald wird auch der wuchernde Felberichin fröhlichem Dottergelb leuchten. Meine Freundin und ich kosten diesen Sommeraus: Im Moment essen wir tagtäglich auf der warmen Terrasse. Meine liebsteJahreszeit ist und bleibt jedoch der Herbst, obwohl der Winter besser zu meinemAlter und meinen weissen Haaren passen würde.
© 2006 by DiogenesVerlag AG Zürich
- Autor: Ingrid Noll
- 2007, 19. Aufl., 336 Seiten, Masse: 11,3 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257235968
- ISBN-13: 9783257235968
- Erscheinungsdatum: 19.06.2007
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