Kommissarin Lund Band 1: Das Verbrechen
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Erstes Kapitel
Freitag, 31. Oktober
Durch den dunklen Wald, dessen kahle Bäume keinen Schutz bieten, rennt Nanna Birk Larsen. Neunzehn, atemlos, zitternd in ihrem kurzen, zerrissenen Hemd, barfuß, in dem zähen Matsch strauchelnd. Harte Wurzeln haken sich um ihre Knöchel, dichtes Gestrüpp zerkratzt ihre wild rudernden weißen Arme. Sie stürzt, fängt sich wieder, kämpft sich aus stinkenden Tümpeln hoch, versucht das Zähneklappern zu stoppen, versucht zu denken, zu hoffen, sich zu verstecken.
Ein gleißendes Auge verfolgt sie, wie ein Jäger das angeschossene Wild. Im Zickzack, langsam näher rückend, bewegt es sich durch den Pinseskoven, den Pfingstwald. Kahle silberne Stämme ragen aus dem kargen Boden wie Gliedmaßen uralter, versteinerter Leichen. Wieder ein Sturz, der schlimmste. Der Boden unter ihr verschwindet und mit ihm ihre Beine. Um sich schlagend, aufschreiend vor Schmerz und Verzweiflung, stürzt das Mädchen in den sumpfigen, eiskalten Graben, prallt gegen Steine und Holz, paddelt durch scharfkantigen Schotter, spürt, wie ihr Kopf und ihre Hände, ihre Ellbogen, ihre Knie über den harten Untergrund schrammen.
Das kalte Wasser, die Angst, und er, nicht mehr weit ...
Sie kämpft sich aus dem Schlamm hoch, keuchend, klettert die Böschung hinauf, stemmt ihre aufgerissenen, blutenden Füße in den Morast, spreizt die Zehen, um darin Halt zu finden. Oben ein Baum. Dürre Blätter streifen ihr Gesicht. Der Stamm ist dicker als die anderen, sie wirft die Arme um ihn und denkt an ihren Vater Theis, einen Schrank von einem Mann, schweigsam, brummig, ein unerschütterliches Bollwerk gegen die Welt draußen. Sie klammert sich an den Baum, wie sie sich früher an ihren Vater geklammert hat. Seine Stärke bei ihr, ihre bei ihm. Nichts sonst brauchte sie, würde sie je brauchen.
Vom unendlichen Himmel kommt ein dumpfes Heulen. Die strahlenden, alles sehenden Lichter eines Flugzeugs fliehen die Grenzen der Schwerkraft, fliehen Kastrup, fliehen Dänemark. Der flüchtige Schein verwirrt und blendet. In dem unerbittlichen Gleißen tasten Nannas Finger über ihr Gesicht. Fühlen die Wunde, die vom linken Auge zur Wange läuft, bösartig, offen, blutend.
Sie riecht ihn, spürt ihn. An ihr. In ihr.
Durch all die Schmerzen, inmitten der Angst, schießt eine heiße Flamme der Wut empor.
Du bist Theis Birk Larsens Tochter.
Alle sagten das, wenn sie ihnen Grund dazu gab.
Du bist Nanna Birk Larsen, Theis' Kind und Pernilles Kind, du wirst dem Ungeheuer entkommen, das in der Nacht durch den Pfingstwald jagt, draußen am Rand der Stadt, in der es, nur wenige Kilometer und doch so weit entfernt, jenen warmen sicheren Ort namens Zuhause gibt.
Sie steht an den Stamm geschmiegt, wie sie sich früher an ihren Vater geschmiegt hat, die Arme um die rissige silberne Rinde geschlungen, ihr seidig glänzendes Hemd verdreckt und blutverschmiert, zitternd, stumm, redet sich ein, dass Rettung nahe ist, jenseits des dunklen Waldes und der toten Bäume, die keinen Schutz bieten. Wieder streicht ein weißer Strahl über sie. Es ist nicht die Lichtflut aus dem Bauch eines Flugzeugs, das über dem Ödland dahinfliegt wie ein riesiger Maschinenengel, der müßig nach einer verlorenen Seele Ausschau hält, um sie zu retten.
Lauf, Nanna, lauf, ruft eine Stimme.
Lauf, Nanna, lauf, denkt sie.
Der Schein einer Taschenlampe ist jetzt auf ihr, das gleißende Auge. Es ist da.
Zweites Kapitel
Montag, 3. November
»Es ist im Hinterhaus«, sagte der Polizist. »Ein Obdachloser hat sie gefunden. «
Halb acht Uhr morgens, noch dunkel. Es regnete eisige Bindfäden. Vicekriminalkommissær Sarah Lund stand im Windschatten des schmutzigen Backsteinbaus in der Nähe der Docks und sah den Uniformierten zu, die das Gelände absperrten. Der letzte Tatort, den sie in Kopenhagen sehen würde. Ein Mord natürlich. Eine Frau noch dazu.
»Das Gebäude steht leer. Wir überprüfen den Wohnblock gegenüber.«
»Wie alt ist sie?«, fragte Lund.
Der Polizist, ein Mann, den sie kaum kannte, zuckte die Schultern und wischte sich mit dem Arm den Regen vom Gesicht.
»Warum fragen Sie?«
Ein Albtraum, wollte sie sagen. Einer, aus dem sie um halb sieben mit einem Schrei hochgefahren war. Als sie aufstand, tappte Bengt, der liebe, fürsorgliche, ruhige Bengt, in der Wohnung umher und packte die letzten Sachen. Mark, ihr Sohn, lag in tiefem Schlaf vor dem Fernseher in seinem Zimmer und regte sich nicht, als sie leise hineinspähte. Am Abend würden sie ins Flugzeug nach Stockholm steigen. Ein neues Leben in einem anderen Land. Neue Ufer. Abgebrochene Brücken.
Sarah Lund war achtunddreißig, eine ernste Frau, die unablässig die Welt um sich herum betrachtete, nie sich selbst. Es war ihr letzter Tag bei der Kopenhagener Polizei. Frauen wie sie kannten keine Albträume, keine Ängste im Dunkeln, kein Aufblitzen eines erschrockenen jungen Gesichts, das vielleicht einmal ihres gewesen war.
Das waren die Phantasien anderer.
»Keine Antwort?«, sagte der Polizist und sah sie missmutig an. Er zog das Absperrband hoch und führte sie zu der eisernen Schiebetür. »Wissen Sie was? So was hab ich überhaupt noch nicht gesehen.«
Er gab ihr ein Paar blaue Schutzhandschuhe und wartete, bis sie sie übergestreift hatte, dann stemmte er die Schulter gegen das rostige Metall. Kreischend wie eine misshandelte Katze ging die Tür auf.
»Bin gleich wieder da«, sagte er.
Sie wartete nicht, ging einfach los, wie sie es immer tat, allein, schaute, erst in die eine Richtung, dann in die andere, die hellen Augen weit geöffnet, schaute nur. Aus irgendeinem Grund schob der Polizist, kaum war sie drin, die Tür zu, so schnell, dass die Katze eine Oktave höher kreischte als zuvor. Und dann verstummte, als die schwere Eisentür sich dröhnend schloss und den grauen Tag aussperrte.
Vor ihr ein Gang in der Mitte eines Raums wie ein Fleischerladen, Träger mit Haken daran. An der Decke eine einzelne Reihe Glühbirnen. Der Betonboden glänzte feucht. Ganz hinten bewegte sich etwas im Halbdunkel, schwang wie ein riesiges Pendel langsam hin und her. Irgendwo klackte ein Lichtschalter, dann war es finster, so finster wie am Morgen in ihrem Schlafzimmer, als ein wüster, unerwünschter Traum sie wachgerüttelt hatte.
»Licht!«, rief Lund.
Ihre Stimme hallte im schwarzen, leeren Bauch des Gebäudes wider.
»Licht, bitte.«
Kein Laut. Sie war eine erfahrene Polizistin, dachte stets an alles, was sie mit sich führen musste, bis auf die Pistole, die ihr immer erst später einfiel. Aber sie hatte die Taschenlampe, wohlverwahrt in ihrer rechten Tasche. Holte sie heraus und hielt sie nach Polizistenart: rechte Hand erhoben, Handgelenk nach hinten abgewinkelt, Lichtstrahl geradeaus, suchend, in Winkel spähend, in die andere nicht schauten.
Das Licht und Lund gingen auf Suche. Decken, alte Kleider, zwei zerdrückte Coladosen, eine leere Kondompackung. Drei Schritte, dann blieb sie stehen. Rechts an der Wand, in Bodennähe, eine Pfütze, scharlachrot, klebrig, auf dem abblätternden Putz zwei waagerechte Streifen, wie verschmiertes Blut, von einer Leiche, die über den Boden geschleift wurde.
Lund holte ihre Nikotinkaugummis hervor und steckte sich einen in den Mund. Sie ließ nicht nur Kopenhagen hinter sich. Auch das Rauchen stand auf der Abschussliste. Sie bückte sich, tupfte einen blauen Latexfinger in die Pfütze, hob ihn an die Nase und schnupperte daran. Drei Schritte weiter stieß sie auf eine Axt, der Griff sauber und glänzend, als sei sie erst tags zuvor gekauft worden. Sie legte zwei Finger in die rote Flüssigkeit an der Schneide, rieb sie aneinander, roch daran, überlegte.
Lund würde sich nie mit dem Nicotinell-Geschmack anfreunden. Sie ging weiter. Das Ding dort vorn war jetzt deutlicher zu sehen. Eine Industrieplane, rot verschmiert. Wie das Leichentuch eines geschlachteten Tiers. Darunter menschliche Umrisse. Lund veränderte die Position der Taschenlampe, hielt sie dicht an der Taille, den Strahl aufwärts gerichtet, musterte die Plane, suchte eine Stelle, wo sie sie greifen konnte. Sie riss die Plane mit einem Ruck weg, und was dahinter war, pendelte im Schein der Lampe langsam hin und her. Das starre Gesicht männlich, der Mund zu einem immerwährenden O geöffnet. Schwarze Haare, rosa Haut, ein monströser Plastikphallus. Auf dem Kopf ein leuchtend blauer Wikingerhelm mit silbernen Hörnern und goldenen Zöpfen.
Lund legte den Kopf schräg und lächelte, der Zöpfe wegen.
Ein Zettel war an der Brust der Sexpuppe befestigt: Danke, Chefin, für sieben gute Jahre. Die Jungs.
Gelächter aus dem Dunkel.
Die Jungs.
Ein guter Scherz. Obwohl sie ruhig echtes Blut hätten nehmen können.
Das Polizeipräsidium war ein graues Labyrinth auf einem aufgeschütteten Stück Land nahe am Wasser. Von außen ein düsterer Kasten, öffnete sich das Gebäude auf einen runden Hof. Klassische Säulen säumten die schattigen Arkaden ringsum. Im Innern führten Wendeltreppen zu den gebogenen, mit gemasertem schwarzen Marmor ausgekleideten Gängen, die sich wie verkalkte Adern um das vollkommene Rund zogen. Lund hatte drei Monate gebraucht, um sich in dem Komplex zurechtzufinden. Auch jetzt noch musste sie manchmal überlegen, wo sie sich befand.
Das Morddezernat lag im zweiten Stock Nordost. Sie saß in Buchards Büro, den Wikingerhelm auf dem Kopf, hörte sich Witze an, packte Geschenke aus, lächelte und schwieg unter den Papphörnern und den goldenen Zöpfen. Dann bedankte sie sich, ging in ihr Büro und begann ihre Sachen zusammenzupacken. Keine Zeit für so viel Aufhebens. Lächelnd betrachtete sie das Foto von Mark auf dem Schreibtisch. Vor drei Jahren aufgenommen, er war neun gewesen, lange bevor er mit dem albernen Ohrring nach Hause kam. Vor - kurz vor - der Scheidung. Dann war Bengt gekommen, um sie nach Schweden zu locken, in ein Leben jenseits der trüben, kalten Fluten des Öresunds.
Ihr Sohn Mark, ernst, damals wie heute. In Schweden würde sich das ändern. Wie überhaupt alles.
Lund schob den Rest - ihren Dreimonatsvorrat Nicotinell, die Stifte, den Bleistiftspitzer in Form eines Londoner Busses - vom Schreibtisch in einen ramponierten Pappkarton und legte das Bild von Mark obendrauf. Die Tür ging auf, und ein Mann kam herein.
Sie schaute, schätzte ab, wie sie es immer tat. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Die Haare kurzgeschnitten, die Miene streng. Große Augen, große Ohren. Die Kleider billig und etwas zu jugendlich für einen Mann, der nicht viel jünger sein konnte als sie. Er trug einen Karton, der ganz ähnlich aussah wie ihrer. Sie sah einen Stadtplan von Kopenhagen darin, ein Kinder-Basketballnetz, ein Spielzeug-Polizeiauto, Kopfhörer.
»Ich suche das Büro von Kommissarin Lund«, sagte er und starrte auf den Wikingerhelm, der an den neuen Skiern hing, einem Geschenk ihrer Kollegen.
»Das bin ich.«
»Jan Meyer. Gehört das hier zur Uniform?«
»Ich gehe nach Schweden.«
Lund nahm ihren Karton, und die beiden vollführten einen kleinen Tanz, als sie sich aneinander vorbeischlängelten.
»Warum denn das, um Himmels willen?«, fragte Meyer.
Sie stellte den Karton ab, strich ihre langen, widerspenstigen braunen Haare zurück und überlegte, ob sie irgendetwas Wichtiges vergessen hatte. Er nahm das Basketballnetz aus dem Karton, besah sich die Wand.
»Meine Schwester hat auch mal so was gemacht«, sagte er.
»Was?«
»Hat ihr Leben hier nicht auf die Reihe gekriegt und ist mit einem Typ nach Bornholm.« Meyer verstaute das Netz auf den Aktenschränken. »Netter Kerl. Hat aber nicht funktioniert.«
Genervt von ihren Haaren, holte Lund ein Gummiband aus der Tasche und fasste sie zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Warum nicht?«
»Zu weit weg. Den ganzen Tag nur Kühe furzen hören, das hat sie verrückt gemacht.« Er nahm einen Bierkrug aus Zinn heraus und drehte ihn hin und her. »Und wo genau ziehst du hin?«
»Nach Sigtuna.«
Meyer hielt inne und sah sie schweigend an.
»Das ist auch sehr weit weg«, fügte Lund hinzu.
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und holte einen kleinen Kinderfußball aus dem Karton. Dann stellte er das Polizeiauto auf den Schreibtisch und schob es hin und her. Das Blaulicht begann zu blinken, und die Sirene heulte. Er spielte noch damit, als Buchard mit einem Zettel in der Hand hereinkam.
»Ihr habt euch schon kennengelernt«, sagte der Chef. Es war keine Frage.
Die onkelhafte Ausstrahlung des Mannes, neben dem sie beim Frühstück gesessen hatte, war verschwunden.
»Ja, wir hatten bereits das Vergnügen ...«, begann Lund.
»Das ist eben reingekommen.« Buchard gab ihr die Notiz. »Aber wenn du jetzt packen musst ...«
»Ich hab noch Zeit«, sagte sie. »Den ganzen Tag ...«
»Gut. Du kannst Meyer ja mitnehmen.«
Der Mann mit dem Karton drückte seine Zigarette aus und zuckte die Schultern.
»Er packt gerade aus.«
Meyer ließ das Auto los, nahm den Fußball und ließ ihn in der Hand auf und ab hüpfen. Er grinste. Wirkte dadurch anders, menschlicher, runder.
»Die Arbeit geht vor.«
»Ein guter Anfang«, sagte Buchard. Ein scharfer Unterton. »Wäre mir lieb, Meyer. Und Ihnen auch.«
Lund saß auf dem Beifahrersitz, scannte durchs offene Fenster das Kalvebod Fælled. Dreizehn Kilometer südlich der Stadt, nicht weit vom Meer. Nach mehreren Regentagen ein strahlender Morgen. Würde wahrscheinlich nicht lange schön bleiben. Flaches Marschland, gelbes Gras, Gräben bis zum Horizont und rechts ein kahler, dunkler Wald. Schwacher Meergeruch, ringsum der Gestank verrottender Pflanzen. Die Luft feucht, nahe dem Gefrierpunkt. Ein harter, kalter Winter kündigte sich an.
»Du darfst dort keine Waffe tragen? Und keine Festnahmen durchführen? Was ist mit Strafzetteln?«
Jemand hatte, als er am frühen Morgen seinen Hund ausführte, Mädchenkleider gefunden, auf einem Stück Ödland nahe einem Birkenwäldchen namens Pinseskoven. Pfingstwald.
»Um Leute festzunehmen, muss man schwedischer Staatsbürger sein. Das ist ein ...« Lund wünschte, sie hätte gar nicht erst geantwortet. »So ist das dort.«
Meyer schob sich eine Handvoll Kartoffelchips in den Mund, dann knüllte er die Tüte zusammen und warf sie in den Fußraum. Er fuhr wie ein Halbwüchsiger, zu schnell, ohne viel Rücksicht auf andere.
»Was sagt dein Sohn dazu?«
Sie stieg aus, achtete nicht darauf, ob er ihr folgte. Ein Zivilbeamter stand am Fundort, ein Polizist in Uniform ging auf dem Gelände umher, kickte gegen die welken Grasbüschel. Ein geblümtes Top, wie ein Teenager es tragen mochte, und ein Videothekausweis, das war alles, was sie hatten. Beides in Beweisbeuteln. Auf dem Top waren Blutflecken. Lund drehte sich um dreihundertsechzig Grad, wie sie es immer tat, ihre großen, glänzenden Augen suchend.
»Wer kommt hier so her?«
»Tagsüber hauptsächlich Kindergartengruppen, die einen Ausflug machen. Nachts auch mal Nutten aus der Stadt.«
»Tolle Location, um eine Nummer zu schieben«, sagte Meyer. »Wo bleibt heutzutage eigentlich die Romantik? Kannst du mir das einmal sagen?«
Lund drehte sich noch immer langsam um sich selbst.
»Seit wann liegt das Zeug hier?«
»Seit gestern. Jedenfalls nicht seit Freitag, da war eine Schulklasse hier. Die hätten's bestimmt gesehen.«
»Keine Vermisstenanzeige? Keine Meldung von einem Krankenhaus?«
»Nein, nichts.«
»Irgendeine Ahnung, wem das gehört?«
Der Kriminalbeamte zeigte ihr die Plastiktüte mit dem Top.
»Größe sechsunddreißig«, sagte er. »Mehr wissen wir nicht.«
Es sah billig aus, die Blumen so knallig und kindlich, dass es auch ironisch gemeint sein konnte. Ein Teenagerscherz: kindisch, aber sexy.
Lund nahm den zweiten Beutel und inspizierte die Ausweiskarte. Ein Name stand darauf: Theis Birk Larsen.
»Das haben wir nicht weit vom Weg gefunden«, sagte der Polizist. »Das Top lag hier. Vielleicht haben sie sich gestritten, und er hat sie aus dem Auto geschmissen. Und dann ...«
»Und dann«, sagte Meyer, »hat sie Schuhe, Mantel, Handtasche und Kondompackung genommen, ist den ganzen Weg zu Fuß zurückgegangen und hat sich zu Hause vor den Fernseher gesetzt.«
Lund konnte den Blick nicht von dem Wald lösen.
»Soll ich mal mit diesem Birk Larsen reden?«, fragte der Polizist.
»Ja, tun Sie das.« Sie schaute auf die Uhr.
Noch acht Stunden, dann war es vorbei. Kopenhagen und das Leben davor. Meyer kam heran und hüllte sie in eine Rauchwolke.
»Warum reden wir nicht selbst mit ihm, Lund? Eine Nutte hier auszusetzen. Die Frau zu verprügeln. Meine Sorte Kundschaft.«
»Aber nicht unsere Sorte Arbeit.«
Die Zigarette flog in den nächsten Graben.
»Ich weiß. Ich würde ...« Er holte eine Kaugummipackung hervor. Der Mann schien von Chips, Süßigkeiten und Zigaretten zu leben. »Ich würde mich nur gern ein bisschen mit ihm unterhalten.«
»Worüber? Es gibt keinen Fall. Die Prostituierte hat sich nicht beschwert. «
Meyer beugte sich vor. »Ich bin gut im Reden«, sagte er wie ein Lehrer, der zu einem Kind spricht.
Er hatte abstehende, fast schon komische Ohren und war unrasiert. Er könnte gut als verdeckter Ermittler arbeiten, dachte Lund. Vielleicht hatte er das ja auch getan. Sie erinnerte sich, wie Buchard mit ihm gesprochen hatte. Rowdy. Polizist. Meyer konnte beide Rollen spielen.
»Ich hab gesagt ...«
»Du solltest mich sehen, Lund. Echt. Bevor du gehst. Mein Geschenk an die Schweden.«
Er nahm ihr die Karte aus der Hand. Las den Namen.
»Theis Birk Larsen.«
Sarah Lund drehte sich ein letztes Mal um die eigene Achse und betrachtete das gelbe Gras, die Gräben, den Wald.
»Ich fahre«, sagte sie.
© Paul Zsolnay Verlag, Wien
David Hewson wurde 1953 in Yorkshire geboren, brach im Alter von siebzehn Jahren die Schule ab und arbeitete später bei der Times und The Independent. Auf Deutsch erschien 2009 der Krimi Das zweite Leben. 2013 erschien Das Verbrechen. Kommissarin Lunds 1. Fall und 2014 der zweite Teil der Trilogie. 2015 erschien im Zsolnay Verlag der dritte und letzte Band der Trilogie rund um Kommissarin Lund.
Sveistrup, Soren
Søren Sveistrup, geboren 1968 in Kastrup bei Kopenhagen, ist ein dänischer Drehbuchautor. Er wurde durch seine Drehbücher für die Serie "Nikolaj und Julie" (2002/2003) und den mehrteiligen Thriller "Forbrydelsen / Kommissarin Lund: Das Verbrechen" (2007) bekannt.
Hermstein, Rudolf
Rudolf Hermstein, geboren 1940, ist der Übersetzer von u.a. Wiliam Faulkner, Doris Lessing, Gore Vidal und Richard Stark.
David Hewson im Interview Haben Sie „Kommissarin Lund - Das Verbrechen" im Fernsehen gesehen?
Als die Serie in Großbritannien ausgestrahlt wurde, war ich in Florenz und arbeitete an einem Buch, aber ich habe gehört, wie gut sie sei. Dann rief mich der Verleger an und meinte, sie hätten entschieden, dass ich der Beste sei, aus Søren Sveistrups Drehbuch ein richtiges Buch zu machen. Also habe ich mich hingesetzt und mir alle DVDs angesehen, Sekunde für Sekunde, alle zwanzig Stunden. Ein ordentlicher Brocken!
Was hat Sie an der Serie am meisten beeindruckt? Was macht sie Ihrer Meinung nach so herausragend?
Am meisten ist mir aufgefallen, wie ambitioniert das ganze Unternehmen war. Auf einer Ebene ist es ein spannender Krimi, aber es ist noch viel mehr. Eine epische menschliche Tragödie, ein aufrichtiger und erschütternder Einblick in das Wesen der Trauer, zudem die Erkundung eines sehr modernen Themas: Was geschieht, wenn eine Gesellschaft den menschlichen Zusammenhalt vergisst? Sarah Lunds Suche nach der Wahrheit über Nannas Mörder wird eben dadurch so erschwert - für mich ist das der Schlüssel der ganzen Geschichte.
Was war Ihre Motivation, Autor dieses Romans bzw. dieser Romane (auch Teil 2 wird bei Zsolnay erscheinen) zu werden?
Ich liebe Herausforderungen, ich mag es, an ganz Unterschiedlichem zu arbeiten. Man bot mir die Chance, das tollste Stück, das es im TV zu sehen gab, zu nehmen und daraus einen Roman zu machen, ganz wie ich wollte - da wäre es verrückt gewesen, nein zu sagen. Mich interessierte auch die Frage, wie unterschiedlich das Fernsehen - verglichen mit einem Buch - mit einem Erzählstoff umgeht.
Wir haben nicht gemeinsam gearbeitet, denn das war keine wirkliche Zusammenarbeit. Søren war sehr mit „The Killing 3" beschäftigt, zudem ist er Fernsehautor, kein Romancier. Wenn meine eigenen Sachen fürs Fernsehen oder sonstige Verfilmungen gekauft werden, halte ich mich bewusst fern, denn das sind sehr unterschiedliche Fertigkeiten. Ich habe also einige Zeit mit Søren verbracht, um über seine Vorstellungen und einige Fragen, die ich hatte, zu sprechen, und dann besuchte ich die wichtigsten Schauplätze in Kopenhagen - die Polizeistation, das Rathaus, die Gegend in Vesterbro, den Wald, wo Nanna gefunden wird. Danach habe ich mich mit den DVDs hingesetzt, zugeschaut und geschrieben, zugeschaut und geschrieben. Die Dialoge sind mehr oder minder alle meine Erfindung, auch sonst noch etliche Sachen.
Worin besteht der Hauptunterschied zwischen dem Verfassen eines Drehbuchs und eines Romans?
Ein Film ist für ein passives Publikum bestimmt, das auf dem Sofa sitzt und sich berieseln lässt. Fiktion aber spielt sich im Kopf des Lesers ab, je nachdem, wie er oder sie die Geschichte empfindet. Ein Buch kennt keine Schauspieler, keine Musik oder Kameraführung, es muss also die Leser von Anfang an sehr direkt ansprechen und aus ihrer Phantasie eine Bühne in ihrem Kopf erschaffen.
Wer hatte die Idee, manche Teile der Fernsehversion zu ändern (vor allem den Schluss!), und warum haben Sie sich entschlossen, das zu tun?
Ich habe von Anfang an gesagt, ich würde Sachen ändern müssen, auch wenn ich noch nicht wusste, was. Das ist einfach der Fall, wenn Bücher verfilmt oder fürs Fernsehen aufbereitet werden, da wir es ja mit verschiedenen Medien und verschiedenen Erwartungen zu tun haben. Im Fernsehen mag es genügen, wenn man weiß, wer Nanna Birk Larsen umgebracht hat. In einem Buch müssen wir auch verstehen, warum. Ich musste also Gründe und Motive erfinden, die zu einem anderen Schluss passen, auch wenn es einer ist - das möchte ich betonen -, der sich aus existierendem Material innerhalb der Geschichte ergibt. Wenn Sie wollen, dann habe ich ein paar Stränge umgearbeitet und die Erzählung auf andere Art zu einem Ende gebracht.
Warum sollte jemand, der die Fernsehserie gesehen hat, das Buch lesen?
Viele Fans der Serie haben mir gesagt, dass ihnen das Buch so gut gefallen hat, weil es etwas gemacht hat, das das Fernsehen nicht konnte - es hat sie in den Kopf von faszinierenden Charakteren wie Sarah Lund, Troels Hartmann und Nannas Eltern, Theis und Pernille, versetzt. Man erhält also einen anderen Blickwinkel auf etwas Vertrautes und sieht diese Menschen auf neue Weise. Und wenn sie geglaubt haben, sie wüssten, wer Nanna getötet hat ... nun, dann haben sie eine Überraschung vor sich.
Was zeichnet das Buch aus?
Es ist eine bewegende, spannende Geschichte mit einem schockierenden neuen Höhepunkt.
- Autoren: David Hewson , Søren Sveistrup
- 2013, 798 Seiten, Masse: 15 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Heller, Barbara; Hermstein, Rudolf
- Übersetzer: Rudolf Hermstein, Barbara Heller
- Verlag: Zsolnay
- ISBN-10: 3552055983
- ISBN-13: 9783552055988
"Mit fast 800 Seiten ist der Roman sehr lang geraten, aber keine Seite ist zu viel. Hewson widmet jeder Figur genug Raum, um sie plastisch werden zu lassen, und gibt den Lesern zudem Gelegenheit, die Entwicklung jeder Szene nachzuvollziehen. Zudem bleibt die Suche nach dem Mörder bis zum Schluss spannend." Axel Knönagel, dpa, 29.01.13
"David Hewson schafft es trotz des immensen Umfangs, die Spannung bis zur letzten Seite zu halten. (...) Und er erzählt eine Geschichte, die weit über einen simplen Kriminalfall hinausgeht und ohne moralischen Zeigefinger vom zutiefst menschlichen Makel erzählt." Martin Becker, Deutschlandradio, 21.02.13
"Bis zur letzten Seite ist der 1. Fall von Kommissarin Lund hoch spannend, voller verwirrender Wendungen. 800 Seiten, die sich lohnen- mit einem ganz überraschenden Ende." Ulrike Bieritz, rbb, 26.02.13
"Kriminalliteratur vom Feinsten. Ein "Police procedural", das die Ermittlungsarbeit fast minutiös beschreibt, ohne auch nur einen Augenblick langweilig zu sein. (...) Ein Klassiker des Genres, der sowohl Freunde des Whodunnits, als auch Thrillerfans ansprechen wird." Jürgen Priester, krimi-couch.de, 01.03.2013
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