Kalt geht der Wind / Kommissarin Inka Luhmann Bd.1
Inka Luhmann ermittelt im Sauerland
Schockierender Fund im Sauerland: Im Garten des Schützenkönigs liegt eine Leiche - Augen, Mund und Ohren mit groben Stichen zugenäht. Kein leichter Fall für Neu-Kommissarin Inka Luhmann, zumal sich der Sauerländer gern wortkarg gibt. Bald wird die zweite Leiche entdeckt.
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Produktinformationen zu „Kalt geht der Wind / Kommissarin Inka Luhmann Bd.1 “
Schockierender Fund im Sauerland: Im Garten des Schützenkönigs liegt eine Leiche - Augen, Mund und Ohren mit groben Stichen zugenäht. Kein leichter Fall für Neu-Kommissarin Inka Luhmann, zumal sich der Sauerländer gern wortkarg gibt. Bald wird die zweite Leiche entdeckt.
Klappentext zu „Kalt geht der Wind / Kommissarin Inka Luhmann Bd.1 “
Die Botschaft der TotenMord mit Stichmuster: Kommissarin Inka Luhmanns erster Fall im Sauerland, der vielleicht uneitelsten Region Deutschlands
Schock im Sauerland: im Garten des örtlichen Ex-Schützenkönigs liegt eine Leiche - Augen, Ohren und Mund sind mit groben Stichen zugenäht. Neu-Kommissarin Inka Luhmann hat es nicht leicht bei nervösen Hotelbesitzern und misstrauischen Schützenbrüdern, denn nicht sie, sondern ihr Mann stammt aus der Gegend. Selbst Polizist, macht er im Rollentausch auf Elternzeit, schmeisst den Haushalt und berät Inka gern inoffiziell bei ihren Ermittlungen. Als eine weitere Leiche auftaucht, ebenso vernäht wie die erste, fragt sich Inka: Was bedeutet das? Und wie kann sie die Morde stoppen, bevor es noch ein Opfer gibt?
Lese-Probe zu „Kalt geht der Wind / Kommissarin Inka Luhmann Bd.1 “
Kalt geht der Wind von Oliver Welter und Michael Gantenberg Kapitel 1
Freitag, 2 : 24 Uhr
Kein Mond war der beste Mond. Zumindest, wenn man nicht gesehen werden wollte. Die beiden Männer saßen Seite an Seite auf dem Mittelsteg ihres Angelbootes und legten sich kräftig in die Riemen. Eine schweißtreibende Angelegenheit in hüfthohen Gummihosen mit angesetzten Stiefeln.
»Ich sag' dir, den ganzen Baumarktscheiß kannst du komplett in die Tonne treten.«
Wie bei jedem ihrer nächtlichen Ausflüge ließ der Größere der beiden seiner Abneigung gegen minderwertige Ausrüstungsgegenstände freien Lauf.
»Du sagst vielleicht, hey, es ist nur eine Verpackung. Aber ich sage: Wer keinen Wert aufs Detail legt, darf sich nicht wundern, wenn alles schiefgeht«, fuhr er fort.
Der Kleinere verdrehte die Augen und sah über den schwarzen Spiegel des Hennesees zum gegenüberliegenden Ufer. Die Lichter von Meschede brachen sich auf der Wasseroberfläche. Das leise diffuse Rauschen der Stadt wehte mit dem sanften Wind herüber. Tiefschwarzes Wasser gluckste träge gegen die Planken des Bootes.
Die beiden wussten, dass sie nur noch heute Nacht Beute machen konnten. Ab morgen würden drüben am Ufer, etwas außerhalb der Stadt, die Vorbereitungen für das alljährliche Schützenfest beginnen. Über eine Woche Ausnahmezustand. An nächtliche Ruhe war dann nicht zu denken.
»Und weil du Wert aufs Detail legst, hast du die Plane eigenhändig bei Vollmond von jungfräulichen Bergtrollmädchen flechten lassen«, seufzte er.
»Nee, bei Ikea geklaut.« Das hatte der Kleinere jetzt nicht erwartet, bekam aber umgehend die fällige Erklärung.
... mehr
»Fünfzehn Einkaufstüten, auseinandergeschnitten, zusammengenäht und fertig. Ich meine, die wollen schließlich nicht, dass den Kunden im Laden ihr ganzer Billigmist auf dem Boden zerdeppert. Also machen sie was? Richtig. Anständige Tüten bauen.«
Der Kleinere atmete durch. Es gab Diskussionen, auf die ließ man sich besser nicht ein. Vor allem, wenn man bis zur Morgendämmerung noch einiges vorhatte.
Er sah zum Heck ihres Bootes. Auf den Planken lagen die zur Plane mutierten fünfzehn Ikea-Tüten und warteten auf ihren Einsatz. Der Inhalt, den sie diskret verbergen sollten, weilte noch direkt unter dem Boot am Grund des Sees. Die Männer waren jetzt in Ufernähe angekommen. Ihr Zielgebiet, in dessen schilfig schlammigem Schutz sich ihre Beute mit Vorliebe verbarg.
»Bist du sicher, dass das ein Waller ist?«, fragte der Größere.
»Und was für einer. Kann ein Echolot lügen?«, antwortete der Kleinere und sah von einer armbanduhrgroßen Apparatur um sein Handgelenk auf. Das grünliche Leuchten des Monochromdisplays ließ sein Grinsen unnatürlich strahlen. Er sah zum nahen Uferstreifen, der sich dunkel von der noch dunkleren Wasseroberfläche absetzte. Dahinter stiegen Luxusgärten schemenhaft und sanft zu den Villen der Besserverdienenden an. Bonzengegend. Sie durften nur nicht zu nah an die Grundstücke geraten. Wer wusste schon, welche Art Alarmanlagen die hier installiert hatten.
»Und warum bewegt der Waller sich nicht?«
»Weil er lauert.«
»Jau, auf uns ...«, freute sich der Größere und kalkulierte im Geiste schon mal etliche Kilos zu einem verdammt lukrativen Gesamtpreis zusammen. Den würde der Küchenchef eines Restaurants oben in Schmallenberg dafür schon berappen müssen.
»Biss!«
Der Kleinere sprang auf und riss den Größeren aus seinen Träumen. Die kompakte Raubfischrute bog sich mit einem Ruck zur Oberfläche des Sees. Die Multirolle spulte die dicke Hemingway- Schnur mit einem sonoren Sirren ab. Fünfzig Meter Schnur für eine Wassertiefe von nicht mehr als drei Metern, das musste reichen.
»Gibt's doch nicht, 'n echter Waller!«
Die anfängliche Skepsis des Größeren war purer Jagdleidenschaft gewichen.
»Leise! Willst du, dass die uns erwischen?«
Die Ermahnung war berechtigt. Die Wallerbestände waren in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen, weswegen die Obere Fischereibehörde in Meschede eine Schonzeit verhängt hatte. Und der Fischmeister der Behörde war ein harter Hund. Die Missachtung der Schonzeiten in seinem Gewässer nahm er persönlich. Nicht selten war er sogar bereit, seine Freizeit und seinen Schlaf dem Kampf gegen Wilddiebe und Schwarzangler zu opfern. Eine Gefahr, die die Männer im Boot aber bewusst einkalkulierten. Schließlich waren die Schwarzmarktpreise für den Fisch entsprechend hoch.
»Und?«
Der Größere hatte sich wieder unter Kontrolle. Mit geschickten Ruderbewegungen hielt er die Position des Bootes stabil, während der Kleinere einen Fuß auf die Seitenwand gestützt hatte. Im bevorstehenden Kampf mit dem Waller brauchte er Standfestigkeit und Würde. Erstaunt bemerkte er weitaus weniger Widerstand an der Rute als erwartet.
»Das Mistvieh wehrt sich nicht mal, das faule Stück.«
»Typisch Waller, fett und träge«, grinste der Größere.
Der Kleinere zog die Schnur Meter für Meter ein. »Hast du das Gaff?«
Der Größere ließ die Ruder sinken und winkte mit einer Art Stock, an dessen Ende matt ein Haken schmimmerte. Sein Blick wanderte an die Stelle, wo die Angelschnur des Kleineren im nassen Dunkel des Sees verschwand. Noch Sekunden, dann würde der Große den Haken des Gaffs unter den Kiemendeckel des Wallers schieben. Die Augen des Kleineren sprühten vor Beutegier. Er rollte die Schnur immer schneller auf. Schon schimmerte ihnen ein verschwommener Körper aus dem Dunkel des Sees entgegen. Ein ziemlich großer Körper.
»Wow, das ist ja ein echtes Monster.«
Der Größere merkte es in der Sekunde, in der er seinen Gaffhaken in etwas trieb, was ihm zu teigig für Wallerkiemen erschien und gleichzeitig zu knochig für einen Fisch. Der Kleinere reagierte, als sein Komplize ihre Beute an das Boot heranzog.
»Ja, aber es ist kein Waller!«
Der schwere Angelhaken hatte sich in die Schulter eines leblosen Frauenkörpers gebohrt. Im schwachen Licht der Stadt in der Ferne erkannten die beiden, dass es sich kaum um einen Unfall handeln konnte. Augen, Ohren und Mund der jungen Frau waren mit akkuraten Stichen zugenäht.
»Scheiße.«
Der Kleinere schaltete entsetzt sein Echolot aus, während der Größere sich auf der Stelle übergab.
Kapitel 2
Samstag, 9 : 20 Uhr
»Herzlichen Glückwunsch!«
Inka Luhmann blickte auf den nagelneu glänzenden Autoschlüssel, der unmittelbar vor ihrer Nase baumelte. In seiner lächerlichen Vollkommenheit wurde er nur übertroffen von dem breiten Verkäufergrinsen des Autohändlers dahinter. Wäre jetzt ein Sonnenstrahl auf seine extraweißen Zähne gefallen, ein leises »Pling« hätte Inka nicht gewundert.
Umso enttäuschter war der Mann über ihre Reaktion.
»Den geben Sie besser meinem Mann. Ist sein Auto«, sagte sie und schob den ausgestreckten Arm samt Schlüssel einen halben Meter nach rechts. Zu Henne.
»Oh, verstehe.« Der Verkäufer war ein wenig irritiert, aber Profi genug, seine Fahrzeugauslieferungsprozedur auf Anfang zu spulen und für Henne zu wiederholen.
»Herzlichen Glückwunsch zum neuen Auto, Herr Luhmann.« Und diesmal war er ungleich erleichterter, weil Henne sein strahlendes Lächeln eins zu eins erwiderte. Stolz wie ein Erstklässler, dem man gerade seine Schultüte in die Hand drückte.
Was bei einem Kerl wie Henne schon etwas befremdlich aussah, dachte Inka. Denn Hendrik, wie Henne eigentlich hieß, war eher der Typ »Kerl wie ein Baum«. Eins neunzig groß und ein klassischer »Triple B«, wie Inkas Freundinnen ihn bei ihrer ersten Begegnung mit vielsagendem Grinsen eingestuft hatten. Blond, breite Schultern, Bart. Genau die Art Holzfäller mit Hirn, die Inka schon immer weiche Knie bereitet hatte. Auch wenn das, womit Henne, einige Dates später, nach Inkas Knien auch ihr Herz erobert hatte, natürlich nicht nur sein Aussehen war, sondern seine weiche Stimme, sein trockener Humor und vor allem seine Grübchen, wenn er lächelte.
Und das tat er oft. Gut, nicht mehr so oft wie früher, als Tom und Mia noch nicht da waren, aber immer noch oft genug, um Inka das Gefühl zu geben, in ihrer Beziehung sei das in Ordnung, was in Ordnung sein musste. Die Basis, ihre Liebe zueinander. Den Rest holte sich nun mal gerne der Alltag.
Heute allerdings nicht. Heute war ein echter Feiertag. Jedenfalls wenn man nach Hennes Grübchen ging. Die hatten sich mittlerweile zu wahren Gruben ausgewachsen. Der Autoschlüssel war in seiner Pranke verschwunden, und der Verkäufer setzte zum Höhepunkt seiner Show an.
»Wenn Sie mir dann bitte in den Präsentationsbereich folgen würden.«
»Zur Übergabe«, flüsterte Henne aufgeregt. Inka lächelte nachsichtig.
»Danke, wäre ich nicht drauf gekommen ...«
Sie folgten dem Verkäufer in Richtung des gleißend hellen Zentrums des Autohauses. In dessen Mitte verdeckte, angestrahlt von gefühlten zehntausend Watt, eine edle Fließplane einen großen Gegenstand. Der sah in Abmessung und Form verdächtig genau nach dem Auto aus, das Inka und Henne wochenlang geplant, konfiguriert, durchgerechnet und dann umgeplant, umkonfiguriert und umfinanziert hatten.
»Der Kerl schwenkt jetzt aber nicht noch Weihrauch, oder?«, fragt Inka.
Henne sah sie gespielt tadelnd an.
»Wie oft zieht jemand für dich die Plane von deinem Neuwagen? Das ist so was wie die Geburtsstunde. Das muss zelebriert werden.«
Männer, dachte Inka. Ein neues Spielzeug und die Sonne ging nicht mehr unter. Dumm nur, dass dieses Spielzeug gut und gerne ihr halbes Jahresgehalt auffraß. Und zwar nicht ihr altes, das der Kriminaloberkommissarin aus Dortmund. Sondern das neue. Das der Dezernatsleiterin Abteilung Kapitalverbrechen der Kriminalpolizei Brilon.
Andererseits musste Inka sich eingestehen, ein neues Auto war wirklich keine so schlechte Idee. Nüchtern betrachtet - und Inka betrachtete Dinge beruflich bedingt gerne nüchtern -, war eine Familie nun mal auch eine logistische Herausforderung. Sie selbst, Henne, Tom, Mia und »Böse«, Inkas großer, ewig haarender und schlechterzogener Hund, hatten so ihre Bedürfnisse an Schul-, Kindergarten-, Einkaufs- und Freizeittouren. Und die waren mit Inkas alter Möhre einfach nicht mehr zu bewerkstelligen gewesen.
Noch entscheidender als alle Vernunfterwägungen war allerdings etwas anderes. Eine Art unausgesprochene Übereinkunft zwischen Inka und Henne. Denn das neue Auto war mehr als ein fahrbarer Untersatz mit genügend Stauraum. Es war ein Versprechen. Ein Versprechen darauf, dass Inkas und Hennes Plan funktionierte. Und der beinhaltete nichts weniger als die Umkehrung aller sauerländischen Familientraditionen. Auch wenn so ziemlich alle, denen Inka davon erzählt hatte, eindringlich davor gewarnt hatten. Der Tenor: »Okay, super, dass du arbeiten gehst, Inka. Und dazu noch in Vollzeit. Aber Henne und Hausmann ...?!«
Die sauerländische Phantasie schaltete sich ein und entwickelte schnell Untergangsszenarien von kartenspielenden Männern, verwahrlosten Haushalten und Kindern, die von Haustieren erzogen wurden. Und wenn Inka ehrlich war, auch sie selbst konnte sich nicht ganz frei von allen Befürchtungen machen. Aber weniger, weil sie den Übertreibungen von Familie und Freundinnen glaubte, sondern eher, weil sie ihren Mann kannte. Henne war für alles schnell zu begeistern, aber genauso schnell langweilten ihn die Dinge wieder. Sie hatte einen Sprinter auf eine Marathonstrecke geschickt.
Umso überraschender war Inkas erstes Zwischenfazit nach den ersten Wochen »Henne allein zu Haus«. Die Kinder beherrschten noch ihre Muttersprache, die Wohnung war stets aufgeräumt, und alle, inklusive Böse, machten einen entspannten Eindruck. Mit Ausnahme vielleicht von Inkas vormals weißen Unterwäschegarnituren, die sich einen leichten Stich ins Rosa eingefangen hatten. Kollateralschäden, meinte Henne. Und Inka war fast froh darüber, denn der Bulle in ihr wusste: Wenn etwas zu perfekt lief, lief etwas falsch. Aber so war alles bestens. Henne hatte die Sache im Griff. Oder »alles auf seinem Home- Radar«, wie er es ausdrückte.
»Mama, guck mal!« Mia, Inkas und Hennes sechsjährige Tochter, riss sie mit gewohnt erstklassigem Timing aus ihren Überlegungen. Gut, so schlecht war ihr Timing auch nicht, denn sie hing kopfüber nur an den Kniekehlen über der ziemlich wackeligen Fensterbank eines zweistöckigen Plastikhauses in der Kinderspielecke. Und noch schlimmer, Tom, Mias zwei Jahre jüngerer Bruder, war wie immer drauf und dran, es seiner großen Schwester nachzutun. Zehn Sekunden später und beide würden unten liegen, zwischen Buntstiften, Ausmalheften und den Bauklotzruinen der letzten Kunden mit Familie. Was offenbar unter Hennes »Home-Radar« geblieben war, wie ein Blick in sein verklärtes Gesicht bestätigte.
»Komme!«, rief Inka in Richtung der Kinder und entschuldigte sich bei Henne und dem Verkäufer. »Macht mal ohne mich weiter. « Aber das hätte sie genauso gut den sorgfältig gestapel- ten Winterreifen-Sonderangeboten neben ihr erzählen können. Keine Reaktion, die Männer folgten gebannt einem scheinbar geschlechtsspezifischen Initiationsritus des 21. Jahrhunderts.
Inka eilte mit Böse zur Spielecke und pflückte Tom und Mia routiniert aus der Gefahrenzone.
»Mama, wann gehen wir wieder?!«, wollte Mia wissen.
»Sobald wir unser neues Auto haben, Schatz.«
»Aber das steht doch schon da«, meinte Tom nicht ganz zu Unrecht.
»Ich weiß, Tom. Aber aus irgendeinem Grund kann man damit nicht einfach wegfahren. Ich glaube, wir müssen es irgendwie vorher ... kennenlernen.«
Was Tom zu Inkas Überraschung verstand, und was im selben Moment von dramatischer Musik bestätigt wurde. Der Verkäufer trat vor das Auto, zog die Plane von der blitzenden Karosse und sorgte für ein andächtiges »Aaah« aus Hennes Mund. Eine Reaktion, die Inka so bei ihm auch noch nicht gesehen hatte. Sie, die Kinder und der Hund kamen gerade noch rechtzeitig zurück, um ihn sagen zu hören:
»Inka, Mia, Tom, Böse. Darf ich vorstellen: unser neues Auto ...«
Begeisterung bei den Kindern, Umarmungen, Hundegebell. Sofort wollten alle das neue Auto erkunden. Anfassen, reinklettern, kennenlernen eben.
Bis Henne sie jäh innehalten ließ.
»Halt!«
Totenstille. Inka sah in ratlose Gesichter und sprachlos offene Münder. Die des Verkäufers, Mias, Toms, Böses und ihr eigenes, das sie im spiegelnden Lack des Autos erkannte.
»Familie, ich sagte neues Auto. Mit Betonung auf neu!«, ergänzte Henne.
Inka fing sich als Erste. »Und das heißt?«, fragte sie irritiert.
»Dass es auch behandelt wird wie ein Neuwagen. Wir setzen uns anständig rein, passen auf, dass wir dabei keine Kratzer machen und halten uns an ein paar Regeln. Kein Essen, kein Trinken, weder während der Fahrt noch davor oder danach. Und ich will erst recht keine Schuhabdrücke kleiner als Größe 35 auf der Rückseite der Vordersitze.«
Inka glaubte es nicht. »Aber atmen dürfen wir noch?«
»Klar. Nur nicht gegen die Fensterscheibe und dann abrubbeln. Das gibt Schlieren.«
Und auch wenn Henne dabei lächelte, etwas fehlte. Seine Grübchen. Für Inka ein untrügliches Zeichen für eine böse Vorahnung. Wenn dieses Auto so etwas wie ein Versprechen auf das Funktionieren ihres Planes war, dann war Hennes plötzlicher Patriarchenanfall ein Versprechen auf dessen grandioses Scheitern. Inka war klar, mit Männern in diesem Modus kann man nicht reden. Man kann sie nur überzeugen. Und zwar mit einem »So nicht!«, das keine Fragen offenließ.
Inka sah sich um. Und fand, was sie suchte. Neben den Reifenangeboten stand ein Hochglanzregal mit frisch gespülten Tassen, Gläsern und Servietten neben einer Thermoskanne, einer Karaffe Wasser und einer kleinen Schale mit Müsliriegeln. Sie wandte sich an den Verkäufer.
»Darf ich?«
Ein überfreundliches Nicken.
»Selbstverständlich. Wir haben aber auch noch andere Erfrischungen. «
»Danke, aber es ist nicht für mich.« Die irritierten Blicke des Verkäufers und ihrer Familie folgten Inka zu dem Display. Inka nahm sich die Wasserkaraffe, packte einen Müsliriegel aus und stellte sich damit vor Böse.
»Bereit, alle zerkauten Schuhe dieser Welt wiedergutzumachen? « Ein Bellen signalisierte Zustimmung. Inka verteilte ein paar Handvoll Wasser auf dem Rücken des Hundes. Dann warf sie den Müsliriegel mit einer geschickten Bewegung mitten in den geöffneten Kofferraum des Wagens.
»Hol ihn dir!« Böse gehorchte zum ersten Mal in seinem Leben aufs Wort, machte einen Satz in den Kofferraum und schnappte sich den Riegel. Dann tat er, was nasse Hunde nun mal nicht lassen können. Wie in Zeitlupe streckte er sich, und keine Sekunde später wanderte eine Welle wilden Fellschüttelns von seiner Nasenspitze über den Kopf, den Hals, den großen haarigen Körper bis hin zum Ende seines Schwanzes. Ein Wirbel aus Hundehaaren und Wassertropfen verteilte sich auf Sitzen, Scheiben und Armaturen im Inneren des Autos, wie die Reste einer pürierten Frucht im Küchenmixer.
Die Fassungslosigkeit in Hennes Blick hatte Inka in diesem Ausmaß bislang nur ein einziges Mal gesehen. Das war Jahre her und hatte mit einem Schnelltest zu tun, den sie heimlich im Bad gemacht hatte.
»Inka ... Was hast du getan?!«, stammelte Henne.
Die Männer fingen sich und eilten zum Kofferraum, als müssten sie einen Komapatienten wiederbeleben. Böse sprang heraus und setzte sich neben Inka, die den Arm um Tom und Mia legte und ihren Mann mit einem ernsten Blick bedachte.
»Ich habe unser Familienleben gerettet«, antwortete Inka entspannt. »Und zwar davor, dass wir uns zu Sklaven eines Neuwagens machen.« Sie lächelte. »Ist der erste Fleck mal im Polster, geht man gleich viel entspannter damit um, nicht wahr?«
Den Blicken der Männer nach zu urteilen würde es noch dauern, bis sich diese Erkenntnis durchsetzte. Henne und der Verkäufer betrachteten fassungslos den Kofferraum, als wollten sie ihn durch Handauflegen wieder in seinen jungfräulichen Urzustand versetzen.
Das Klingeln eines Handys durchbrach die Stille. Inkas Handy. Im Display die Nummer ihrer Dienststelle. Sie ging ran, horchte einige Sekunde und legte auf.
»Tut mir leid, Mama muss los.«
Während Henne und der Verkäufer die Sprache anscheinend noch immer nicht wiedergefunden hatten, setzten sich Tom und Mia samt Böse mit routinierter Enttäuschung auf den Rücksitz. Inka selbst schwang sich auf den Fahrersitz des Neuwagens und stellte Sitz und Rückspiegel ein, bevor sie sich an die Männer am Kofferraum wandte.
»Was ist jetzt? Kann man damit auch fahren?«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Fünfzehn Einkaufstüten, auseinandergeschnitten, zusammengenäht und fertig. Ich meine, die wollen schließlich nicht, dass den Kunden im Laden ihr ganzer Billigmist auf dem Boden zerdeppert. Also machen sie was? Richtig. Anständige Tüten bauen.«
Der Kleinere atmete durch. Es gab Diskussionen, auf die ließ man sich besser nicht ein. Vor allem, wenn man bis zur Morgendämmerung noch einiges vorhatte.
Er sah zum Heck ihres Bootes. Auf den Planken lagen die zur Plane mutierten fünfzehn Ikea-Tüten und warteten auf ihren Einsatz. Der Inhalt, den sie diskret verbergen sollten, weilte noch direkt unter dem Boot am Grund des Sees. Die Männer waren jetzt in Ufernähe angekommen. Ihr Zielgebiet, in dessen schilfig schlammigem Schutz sich ihre Beute mit Vorliebe verbarg.
»Bist du sicher, dass das ein Waller ist?«, fragte der Größere.
»Und was für einer. Kann ein Echolot lügen?«, antwortete der Kleinere und sah von einer armbanduhrgroßen Apparatur um sein Handgelenk auf. Das grünliche Leuchten des Monochromdisplays ließ sein Grinsen unnatürlich strahlen. Er sah zum nahen Uferstreifen, der sich dunkel von der noch dunkleren Wasseroberfläche absetzte. Dahinter stiegen Luxusgärten schemenhaft und sanft zu den Villen der Besserverdienenden an. Bonzengegend. Sie durften nur nicht zu nah an die Grundstücke geraten. Wer wusste schon, welche Art Alarmanlagen die hier installiert hatten.
»Und warum bewegt der Waller sich nicht?«
»Weil er lauert.«
»Jau, auf uns ...«, freute sich der Größere und kalkulierte im Geiste schon mal etliche Kilos zu einem verdammt lukrativen Gesamtpreis zusammen. Den würde der Küchenchef eines Restaurants oben in Schmallenberg dafür schon berappen müssen.
»Biss!«
Der Kleinere sprang auf und riss den Größeren aus seinen Träumen. Die kompakte Raubfischrute bog sich mit einem Ruck zur Oberfläche des Sees. Die Multirolle spulte die dicke Hemingway- Schnur mit einem sonoren Sirren ab. Fünfzig Meter Schnur für eine Wassertiefe von nicht mehr als drei Metern, das musste reichen.
»Gibt's doch nicht, 'n echter Waller!«
Die anfängliche Skepsis des Größeren war purer Jagdleidenschaft gewichen.
»Leise! Willst du, dass die uns erwischen?«
Die Ermahnung war berechtigt. Die Wallerbestände waren in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen, weswegen die Obere Fischereibehörde in Meschede eine Schonzeit verhängt hatte. Und der Fischmeister der Behörde war ein harter Hund. Die Missachtung der Schonzeiten in seinem Gewässer nahm er persönlich. Nicht selten war er sogar bereit, seine Freizeit und seinen Schlaf dem Kampf gegen Wilddiebe und Schwarzangler zu opfern. Eine Gefahr, die die Männer im Boot aber bewusst einkalkulierten. Schließlich waren die Schwarzmarktpreise für den Fisch entsprechend hoch.
»Und?«
Der Größere hatte sich wieder unter Kontrolle. Mit geschickten Ruderbewegungen hielt er die Position des Bootes stabil, während der Kleinere einen Fuß auf die Seitenwand gestützt hatte. Im bevorstehenden Kampf mit dem Waller brauchte er Standfestigkeit und Würde. Erstaunt bemerkte er weitaus weniger Widerstand an der Rute als erwartet.
»Das Mistvieh wehrt sich nicht mal, das faule Stück.«
»Typisch Waller, fett und träge«, grinste der Größere.
Der Kleinere zog die Schnur Meter für Meter ein. »Hast du das Gaff?«
Der Größere ließ die Ruder sinken und winkte mit einer Art Stock, an dessen Ende matt ein Haken schmimmerte. Sein Blick wanderte an die Stelle, wo die Angelschnur des Kleineren im nassen Dunkel des Sees verschwand. Noch Sekunden, dann würde der Große den Haken des Gaffs unter den Kiemendeckel des Wallers schieben. Die Augen des Kleineren sprühten vor Beutegier. Er rollte die Schnur immer schneller auf. Schon schimmerte ihnen ein verschwommener Körper aus dem Dunkel des Sees entgegen. Ein ziemlich großer Körper.
»Wow, das ist ja ein echtes Monster.«
Der Größere merkte es in der Sekunde, in der er seinen Gaffhaken in etwas trieb, was ihm zu teigig für Wallerkiemen erschien und gleichzeitig zu knochig für einen Fisch. Der Kleinere reagierte, als sein Komplize ihre Beute an das Boot heranzog.
»Ja, aber es ist kein Waller!«
Der schwere Angelhaken hatte sich in die Schulter eines leblosen Frauenkörpers gebohrt. Im schwachen Licht der Stadt in der Ferne erkannten die beiden, dass es sich kaum um einen Unfall handeln konnte. Augen, Ohren und Mund der jungen Frau waren mit akkuraten Stichen zugenäht.
»Scheiße.«
Der Kleinere schaltete entsetzt sein Echolot aus, während der Größere sich auf der Stelle übergab.
Kapitel 2
Samstag, 9 : 20 Uhr
»Herzlichen Glückwunsch!«
Inka Luhmann blickte auf den nagelneu glänzenden Autoschlüssel, der unmittelbar vor ihrer Nase baumelte. In seiner lächerlichen Vollkommenheit wurde er nur übertroffen von dem breiten Verkäufergrinsen des Autohändlers dahinter. Wäre jetzt ein Sonnenstrahl auf seine extraweißen Zähne gefallen, ein leises »Pling« hätte Inka nicht gewundert.
Umso enttäuschter war der Mann über ihre Reaktion.
»Den geben Sie besser meinem Mann. Ist sein Auto«, sagte sie und schob den ausgestreckten Arm samt Schlüssel einen halben Meter nach rechts. Zu Henne.
»Oh, verstehe.« Der Verkäufer war ein wenig irritiert, aber Profi genug, seine Fahrzeugauslieferungsprozedur auf Anfang zu spulen und für Henne zu wiederholen.
»Herzlichen Glückwunsch zum neuen Auto, Herr Luhmann.« Und diesmal war er ungleich erleichterter, weil Henne sein strahlendes Lächeln eins zu eins erwiderte. Stolz wie ein Erstklässler, dem man gerade seine Schultüte in die Hand drückte.
Was bei einem Kerl wie Henne schon etwas befremdlich aussah, dachte Inka. Denn Hendrik, wie Henne eigentlich hieß, war eher der Typ »Kerl wie ein Baum«. Eins neunzig groß und ein klassischer »Triple B«, wie Inkas Freundinnen ihn bei ihrer ersten Begegnung mit vielsagendem Grinsen eingestuft hatten. Blond, breite Schultern, Bart. Genau die Art Holzfäller mit Hirn, die Inka schon immer weiche Knie bereitet hatte. Auch wenn das, womit Henne, einige Dates später, nach Inkas Knien auch ihr Herz erobert hatte, natürlich nicht nur sein Aussehen war, sondern seine weiche Stimme, sein trockener Humor und vor allem seine Grübchen, wenn er lächelte.
Und das tat er oft. Gut, nicht mehr so oft wie früher, als Tom und Mia noch nicht da waren, aber immer noch oft genug, um Inka das Gefühl zu geben, in ihrer Beziehung sei das in Ordnung, was in Ordnung sein musste. Die Basis, ihre Liebe zueinander. Den Rest holte sich nun mal gerne der Alltag.
Heute allerdings nicht. Heute war ein echter Feiertag. Jedenfalls wenn man nach Hennes Grübchen ging. Die hatten sich mittlerweile zu wahren Gruben ausgewachsen. Der Autoschlüssel war in seiner Pranke verschwunden, und der Verkäufer setzte zum Höhepunkt seiner Show an.
»Wenn Sie mir dann bitte in den Präsentationsbereich folgen würden.«
»Zur Übergabe«, flüsterte Henne aufgeregt. Inka lächelte nachsichtig.
»Danke, wäre ich nicht drauf gekommen ...«
Sie folgten dem Verkäufer in Richtung des gleißend hellen Zentrums des Autohauses. In dessen Mitte verdeckte, angestrahlt von gefühlten zehntausend Watt, eine edle Fließplane einen großen Gegenstand. Der sah in Abmessung und Form verdächtig genau nach dem Auto aus, das Inka und Henne wochenlang geplant, konfiguriert, durchgerechnet und dann umgeplant, umkonfiguriert und umfinanziert hatten.
»Der Kerl schwenkt jetzt aber nicht noch Weihrauch, oder?«, fragt Inka.
Henne sah sie gespielt tadelnd an.
»Wie oft zieht jemand für dich die Plane von deinem Neuwagen? Das ist so was wie die Geburtsstunde. Das muss zelebriert werden.«
Männer, dachte Inka. Ein neues Spielzeug und die Sonne ging nicht mehr unter. Dumm nur, dass dieses Spielzeug gut und gerne ihr halbes Jahresgehalt auffraß. Und zwar nicht ihr altes, das der Kriminaloberkommissarin aus Dortmund. Sondern das neue. Das der Dezernatsleiterin Abteilung Kapitalverbrechen der Kriminalpolizei Brilon.
Andererseits musste Inka sich eingestehen, ein neues Auto war wirklich keine so schlechte Idee. Nüchtern betrachtet - und Inka betrachtete Dinge beruflich bedingt gerne nüchtern -, war eine Familie nun mal auch eine logistische Herausforderung. Sie selbst, Henne, Tom, Mia und »Böse«, Inkas großer, ewig haarender und schlechterzogener Hund, hatten so ihre Bedürfnisse an Schul-, Kindergarten-, Einkaufs- und Freizeittouren. Und die waren mit Inkas alter Möhre einfach nicht mehr zu bewerkstelligen gewesen.
Noch entscheidender als alle Vernunfterwägungen war allerdings etwas anderes. Eine Art unausgesprochene Übereinkunft zwischen Inka und Henne. Denn das neue Auto war mehr als ein fahrbarer Untersatz mit genügend Stauraum. Es war ein Versprechen. Ein Versprechen darauf, dass Inkas und Hennes Plan funktionierte. Und der beinhaltete nichts weniger als die Umkehrung aller sauerländischen Familientraditionen. Auch wenn so ziemlich alle, denen Inka davon erzählt hatte, eindringlich davor gewarnt hatten. Der Tenor: »Okay, super, dass du arbeiten gehst, Inka. Und dazu noch in Vollzeit. Aber Henne und Hausmann ...?!«
Die sauerländische Phantasie schaltete sich ein und entwickelte schnell Untergangsszenarien von kartenspielenden Männern, verwahrlosten Haushalten und Kindern, die von Haustieren erzogen wurden. Und wenn Inka ehrlich war, auch sie selbst konnte sich nicht ganz frei von allen Befürchtungen machen. Aber weniger, weil sie den Übertreibungen von Familie und Freundinnen glaubte, sondern eher, weil sie ihren Mann kannte. Henne war für alles schnell zu begeistern, aber genauso schnell langweilten ihn die Dinge wieder. Sie hatte einen Sprinter auf eine Marathonstrecke geschickt.
Umso überraschender war Inkas erstes Zwischenfazit nach den ersten Wochen »Henne allein zu Haus«. Die Kinder beherrschten noch ihre Muttersprache, die Wohnung war stets aufgeräumt, und alle, inklusive Böse, machten einen entspannten Eindruck. Mit Ausnahme vielleicht von Inkas vormals weißen Unterwäschegarnituren, die sich einen leichten Stich ins Rosa eingefangen hatten. Kollateralschäden, meinte Henne. Und Inka war fast froh darüber, denn der Bulle in ihr wusste: Wenn etwas zu perfekt lief, lief etwas falsch. Aber so war alles bestens. Henne hatte die Sache im Griff. Oder »alles auf seinem Home- Radar«, wie er es ausdrückte.
»Mama, guck mal!« Mia, Inkas und Hennes sechsjährige Tochter, riss sie mit gewohnt erstklassigem Timing aus ihren Überlegungen. Gut, so schlecht war ihr Timing auch nicht, denn sie hing kopfüber nur an den Kniekehlen über der ziemlich wackeligen Fensterbank eines zweistöckigen Plastikhauses in der Kinderspielecke. Und noch schlimmer, Tom, Mias zwei Jahre jüngerer Bruder, war wie immer drauf und dran, es seiner großen Schwester nachzutun. Zehn Sekunden später und beide würden unten liegen, zwischen Buntstiften, Ausmalheften und den Bauklotzruinen der letzten Kunden mit Familie. Was offenbar unter Hennes »Home-Radar« geblieben war, wie ein Blick in sein verklärtes Gesicht bestätigte.
»Komme!«, rief Inka in Richtung der Kinder und entschuldigte sich bei Henne und dem Verkäufer. »Macht mal ohne mich weiter. « Aber das hätte sie genauso gut den sorgfältig gestapel- ten Winterreifen-Sonderangeboten neben ihr erzählen können. Keine Reaktion, die Männer folgten gebannt einem scheinbar geschlechtsspezifischen Initiationsritus des 21. Jahrhunderts.
Inka eilte mit Böse zur Spielecke und pflückte Tom und Mia routiniert aus der Gefahrenzone.
»Mama, wann gehen wir wieder?!«, wollte Mia wissen.
»Sobald wir unser neues Auto haben, Schatz.«
»Aber das steht doch schon da«, meinte Tom nicht ganz zu Unrecht.
»Ich weiß, Tom. Aber aus irgendeinem Grund kann man damit nicht einfach wegfahren. Ich glaube, wir müssen es irgendwie vorher ... kennenlernen.«
Was Tom zu Inkas Überraschung verstand, und was im selben Moment von dramatischer Musik bestätigt wurde. Der Verkäufer trat vor das Auto, zog die Plane von der blitzenden Karosse und sorgte für ein andächtiges »Aaah« aus Hennes Mund. Eine Reaktion, die Inka so bei ihm auch noch nicht gesehen hatte. Sie, die Kinder und der Hund kamen gerade noch rechtzeitig zurück, um ihn sagen zu hören:
»Inka, Mia, Tom, Böse. Darf ich vorstellen: unser neues Auto ...«
Begeisterung bei den Kindern, Umarmungen, Hundegebell. Sofort wollten alle das neue Auto erkunden. Anfassen, reinklettern, kennenlernen eben.
Bis Henne sie jäh innehalten ließ.
»Halt!«
Totenstille. Inka sah in ratlose Gesichter und sprachlos offene Münder. Die des Verkäufers, Mias, Toms, Böses und ihr eigenes, das sie im spiegelnden Lack des Autos erkannte.
»Familie, ich sagte neues Auto. Mit Betonung auf neu!«, ergänzte Henne.
Inka fing sich als Erste. »Und das heißt?«, fragte sie irritiert.
»Dass es auch behandelt wird wie ein Neuwagen. Wir setzen uns anständig rein, passen auf, dass wir dabei keine Kratzer machen und halten uns an ein paar Regeln. Kein Essen, kein Trinken, weder während der Fahrt noch davor oder danach. Und ich will erst recht keine Schuhabdrücke kleiner als Größe 35 auf der Rückseite der Vordersitze.«
Inka glaubte es nicht. »Aber atmen dürfen wir noch?«
»Klar. Nur nicht gegen die Fensterscheibe und dann abrubbeln. Das gibt Schlieren.«
Und auch wenn Henne dabei lächelte, etwas fehlte. Seine Grübchen. Für Inka ein untrügliches Zeichen für eine böse Vorahnung. Wenn dieses Auto so etwas wie ein Versprechen auf das Funktionieren ihres Planes war, dann war Hennes plötzlicher Patriarchenanfall ein Versprechen auf dessen grandioses Scheitern. Inka war klar, mit Männern in diesem Modus kann man nicht reden. Man kann sie nur überzeugen. Und zwar mit einem »So nicht!«, das keine Fragen offenließ.
Inka sah sich um. Und fand, was sie suchte. Neben den Reifenangeboten stand ein Hochglanzregal mit frisch gespülten Tassen, Gläsern und Servietten neben einer Thermoskanne, einer Karaffe Wasser und einer kleinen Schale mit Müsliriegeln. Sie wandte sich an den Verkäufer.
»Darf ich?«
Ein überfreundliches Nicken.
»Selbstverständlich. Wir haben aber auch noch andere Erfrischungen. «
»Danke, aber es ist nicht für mich.« Die irritierten Blicke des Verkäufers und ihrer Familie folgten Inka zu dem Display. Inka nahm sich die Wasserkaraffe, packte einen Müsliriegel aus und stellte sich damit vor Böse.
»Bereit, alle zerkauten Schuhe dieser Welt wiedergutzumachen? « Ein Bellen signalisierte Zustimmung. Inka verteilte ein paar Handvoll Wasser auf dem Rücken des Hundes. Dann warf sie den Müsliriegel mit einer geschickten Bewegung mitten in den geöffneten Kofferraum des Wagens.
»Hol ihn dir!« Böse gehorchte zum ersten Mal in seinem Leben aufs Wort, machte einen Satz in den Kofferraum und schnappte sich den Riegel. Dann tat er, was nasse Hunde nun mal nicht lassen können. Wie in Zeitlupe streckte er sich, und keine Sekunde später wanderte eine Welle wilden Fellschüttelns von seiner Nasenspitze über den Kopf, den Hals, den großen haarigen Körper bis hin zum Ende seines Schwanzes. Ein Wirbel aus Hundehaaren und Wassertropfen verteilte sich auf Sitzen, Scheiben und Armaturen im Inneren des Autos, wie die Reste einer pürierten Frucht im Küchenmixer.
Die Fassungslosigkeit in Hennes Blick hatte Inka in diesem Ausmaß bislang nur ein einziges Mal gesehen. Das war Jahre her und hatte mit einem Schnelltest zu tun, den sie heimlich im Bad gemacht hatte.
»Inka ... Was hast du getan?!«, stammelte Henne.
Die Männer fingen sich und eilten zum Kofferraum, als müssten sie einen Komapatienten wiederbeleben. Böse sprang heraus und setzte sich neben Inka, die den Arm um Tom und Mia legte und ihren Mann mit einem ernsten Blick bedachte.
»Ich habe unser Familienleben gerettet«, antwortete Inka entspannt. »Und zwar davor, dass wir uns zu Sklaven eines Neuwagens machen.« Sie lächelte. »Ist der erste Fleck mal im Polster, geht man gleich viel entspannter damit um, nicht wahr?«
Den Blicken der Männer nach zu urteilen würde es noch dauern, bis sich diese Erkenntnis durchsetzte. Henne und der Verkäufer betrachteten fassungslos den Kofferraum, als wollten sie ihn durch Handauflegen wieder in seinen jungfräulichen Urzustand versetzen.
Das Klingeln eines Handys durchbrach die Stille. Inkas Handy. Im Display die Nummer ihrer Dienststelle. Sie ging ran, horchte einige Sekunde und legte auf.
»Tut mir leid, Mama muss los.«
Während Henne und der Verkäufer die Sprache anscheinend noch immer nicht wiedergefunden hatten, setzten sich Tom und Mia samt Böse mit routinierter Enttäuschung auf den Rücksitz. Inka selbst schwang sich auf den Fahrersitz des Neuwagens und stellte Sitz und Rückspiegel ein, bevor sie sich an die Männer am Kofferraum wandte.
»Was ist jetzt? Kann man damit auch fahren?«
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Autoren-Porträt von Oliver Welter, Michael Gantenberg
Welter/GantenbergDas Autorenduo Oliver Welter und Michael Gantenberg kennt sich aus mit Spannung: Michael Gantenberg (geboren 1961) war Radio- und TV-Moderator (WDR,VOX, NDR) und schrieb u.a. für DIE ZEIT und die FAZ. Mit dem Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet, schrieb er zahlreiche Folgen für die Krimireihen 'Unter Verdacht' (ZDF), 'Nord Nord Mord' (ZDF), 'Henker & Richter' (ARD) sowie einen 'Tatort'. Michael Gantenberg lebt mit seiner Familie in der Nähe des Sauerlandes.Oliver Welter (Jahrgang 1969) arbeitete als Autor für 'TV total', schrieb zahlreiche Folgen von TV-Serien wie 'Mein Leben & Ich', 'Alles was zählt' sowie für die Krimiserie 'Morden im Norden' (ARD) und wurde mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Selbst grossmütterlicherseits Sauerländer, lebt er mit seiner Familie im Rheinland.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Oliver Welter , Michael Gantenberg
- 2013, 2. Aufl., 448 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596189330
- ISBN-13: 9783596189335
- Erscheinungsdatum: 13.05.2013
Rezension zu „Kalt geht der Wind / Kommissarin Inka Luhmann Bd.1 “
Die Geschichte ist spannend und nicht so leicht zu durchschauen. Saarländischer Rundfunk SR 3 Saarlandwelle 20131019
Pressezitat
Die Geschichte ist spannend und nicht so leicht zu durchschauen. Saarländischer Rundfunk SR 3 Saarlandwelle 20131019
Kommentar zu "Kalt geht der Wind / Kommissarin Inka Luhmann Bd.1"
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