Kommissar Jan Seidel Band 1: Nibelungenmord
Kriminalroman
Die erfolgreiche Rheinkrimi-Serie von Glauser-Preisträgerin Judith Merchant!
In einer der sagenumwobenen Höhlen des Siebengebirges, wo Siegfried einst den Drachen tötete, wird eine Frauenleiche gefunden. Noch am selben Tag wird in Königswinter die...
In einer der sagenumwobenen Höhlen des Siebengebirges, wo Siegfried einst den Drachen tötete, wird eine Frauenleiche gefunden. Noch am selben Tag wird in Königswinter die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Kommissar Jan Seidel Band 1: Nibelungenmord “
Klappentext zu „Kommissar Jan Seidel Band 1: Nibelungenmord “
Die erfolgreiche Rheinkrimi-Serie von Glauser-Preisträgerin Judith Merchant!In einer der sagenumwobenen Höhlen des Siebengebirges, wo Siegfried einst den Drachen tötete, wird eine Frauenleiche gefunden. Noch am selben Tag wird in Königswinter die Ehefrau des Notars vermisst. Hat die Geliebte des Notars, die exzentrische Künstlerin Romina, ihre Widersacherin kaltblütig aus dem Weg geräumt? Als sich Kriminalhauptkommissar Jan Seidel die Bilder der Künstlerin anschaut, sieht er das Mordmotiv förmlich vor sich: Verzerrte Frauenfratzen kämpfen um einen strahlenden Helden. Aber nicht nur Jan Seidel, sondern auch seine eigenwillige Grossmutter Edith erkennt, dass die Lösung des Falles weitaus komplizierter ist ...
Kriminalhauptkommissar Jan Seidel ermittelt mit seiner ebenso neugierigen wie scharfsinnigen Grossmutter Edith - ein ebenso origineller wie ortskundiger Reihenstart: "Ein Romandebüt mit Star-Qualität!" Berliner Kurier
Lese-Probe zu „Kommissar Jan Seidel Band 1: Nibelungenmord “
Nibelungenmord von Judith MerchantProlog
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Als sie wieder zu sich kam, war es dunkel. Nässe kroch ungehindert durch ihr wollenes Kostüm, und kurz
dachte sie an die Reinigung und daran, was sie wieder einmal kosten würde. Sie konnte nicht wissen, dass ihr der Ärger darüber erspart bleiben würde.
Der Boden, auf dem sie lag, war hart und sandig, aber draußen befand sie sich nicht, denn das Prasseln des Regens klang gedämpft. Und da war noch etwas. Sie lauschte. Plätscherndes Wasser. Das Gurgeln eines Baches.
Sie versuchte, etwas zu sagen. Ein gutturales Stöhnen hallte durch den kleinen Raum, vielfach zurückgeworfen. Es klang so fremdartig, dass es unmöglich von ihr stammen konnte. Plötzlich zuckte eine Erinnerung durch das Dunkel wie ein Blitz, und sie wusste, wo sie war.
Die Drachenhöhle. Sie war hier gefangen, ein ungerufener, fremder Fötus im steinernen Bauch dieses bösen alten Berges.
Die Höhle maß vielleicht sechs mal vier Meter, man konnte aufrecht darin stehen, und die Wände waren hart und rauh. Das wusste sie, weil sie schon einmal hier gewesen war. Damals war sie staunend ringsum gegangen und hatte einen zweiten Ausgang, eine Spalte, irgendetwas gesucht, aber da war nichts gewesen außer der undurchdringlichen Wand aus Tuffgestein, jahrtausendealt, geformt aus der erstarrten Asche längst erloschener Vulkane.
Jetzt konnte sie nicht mehr ringsum gehen, denn ihre Schädeldecke war zerschmettert, aber das ahnte sie nicht, denn sie spürte keinen Schmerz.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Da war etwas gewesen, etwas, das sie nicht vergessen durfte. Sie suchte jemanden, nur wen? Hier in der Höhle war niemand. Oder doch?
Sie horchte.
Da war etwas.
Ein dumpfes Grollen, das den Boden vibrieren ließ, noch ehe es auf ihr Trommelfell traf.
Der Drache. Das musste der Drache sein.
Natürlich, dachte die Frau und roch das Blut. Die Pfütze, in der sie lag, war Blut, ihr eigenes, und der Geruch, süß und metallisch, musste dem Drachen in die Nase gestiegen sein. Er war aus seinem tausendjährigen Totenschlaf erwacht und hatte seine Schlafstätte tief unter dem Berg verlassen, um nach ihr zu suchen.
In ihr war keine Angst, als er näher kam. Seine Kälte ging ihm voraus, drang durch die felsigen Wände und ließ die Frau frösteln.
Vermutlich sind Drachen Reptilien, überlegte sie. Wechselwarm. Er bringt die Kälte mit, die tief unter dem Berg herrscht, bald werde auch ich so kalt sein.
Etwas in ihr wehrte sich, ein vages Erinnern ließ sie gegen den Tod aufbegehren. Es gab irgendjemanden, den sie vor diesem Drachen schützen musste, doch wer war es? Kaum tauchte die Frage im warmen Nebel ihres Bewusstseins auf, erschienen weitere. Wie war sie in diese Höhle gelangt? Wen hatte sie gesucht? Und was hatte sie gefunden?
Drache, bitte tu mir nichts, dachte sie, und ihre Hände schlossen sich wie zu einem Gebet. Konnte sie überhaupt etwas sehen, hier, in dieser dunklen Höhle?
Sie konnte.
Ihr Blick, der vorher nur Hell und Dunkel unterschieden hatte, wurde plötzlich klar.
Etwas näherte sich ihr, groß und gewaltig.
Und erst als ihr Herz einen letzten schweren Schlag tat, erkannte sie, dass es der Drache war.
Er war da.
Und er war wunderschön.
Der erste Tag
Noch weiz ich an im mêre daz mir ist bekant: einen lintrachen den sluoc des heldes hant.
er bádete sich ín dem bluote; sîn hût wart húrnîn. des snîdet in kein wâfen. daz ist dicke worden schîn.
Ich weiß noch mehr von Siegfried zu berichten:
Nämlich, dass er mit eigener Hand einen Drachen erschlug. Er badete in seinem Blute, seine Haut wurde zu Horn,
nun kann keine Waffe ihn mehr verletzen.
Irgendwo hinter der grünlackierten Tür im Inneren des Hauses erklang ein melodischer Klingelton.
Janina Scholz wartete. Sie war es gewohnt zu warten. Bei den meisten alten Leuten dauerte es eine Weile, ehe sie an die Tür kamen. Sie nestelte ihre Perlenkette zurecht - Perlen versprachen Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, und das war genau der Eindruck, den sie hinterlassen wollte - und fuhr sich noch einmal durch den silberblonden Pagenkopf.
»Ja bitte?« Die Stimme klang dünn und zittrig. Eine echte Oma-Stimme.
Janina näherte ihren Mund der Gegensprechanlage und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. Sie wusste, dass man ihrer Stimme anhörte, wenn sie lächelte. Sie hatte sich coachen lassen müssen, ehe sie anspruchsvolle Fälle wie diesen übernehmen durfte. »Scholz ist mein Name, vom Gerlinde-Bauer-Haus, wir hatten telefoniert. Kann ich kurz hochkommen?«
Statt einer Antwort das Schnarren des Türöffners. Auch gut, dachte Janina und trat ein. Ein bisschen leichtsinnig, die Dame.
Im Inneren des Treppenhauses war es dunkel. Sie hielt sich am geschnitzten Geländer fest, als sie die polierten Holzstufen hochstieg. Schönes Haus, dachte sie, Jahrhundertwende. Kein Wunder, dass unsere Kundin ihre Mutter hier raushaben will, der Marktwert ist bestimmt ganz anständig, und wenn man vermietet ... Hier wohnen doch mindestens drei Parteien drin. Das macht an Kaltmiete ...
Vor ihr öffnete sich eine Wohnungstür, und eine alte Dame steckte ihren Kopf heraus. In der Hand hielt sie ein Taschenbuch, den Zeigefinger hatte sie als Lesezeichen zwischen die Seiten geklemmt. »Könnte ich bitte Ihren Ausweis sehen?«, fragte sie anstelle einer Begrüßung geschäftsmäßig.
Janina setzte ihr süßestes Lächeln auf. So kann man sich täuschen, dachte sie und wühlte in ihrer Handtasche. Doch nicht so arglos, die gute Frau.
Die alte Dame betrachtete den Ausweis argwöhnisch, warf Janina einen forschenden Blick zu und nickte. »Kommen Sie doch herein«, sagte sie und ging mit wackeligen Schritten voran. Das Buch in ihrer Hand schwang dabei hin und her.
In der Wohnung war es warm und stickig. Ein grünes Sofa stand unter dem zweiflügligen Fenster. Auf dem mächtigen Ohrensessel lag eine Wolldecke. Vermutlich hatte Edith Herzberger gerade ein Nickerchen gemacht. »Möchten Sie Tee? Ich habe mir gerade eine Kanne gekocht.«
»Ja, gerne.« Janina nahm auf dem Sofa Platz und sah sich unauffällig um, während die Alte in hektische Betriebsamkeit ausbrach, Tasse, Untertasse und Löffel holte, die in ihren zittrigen Händen in lautes Geklapper verfielen.
»Schön haben Sie es hier.« Das gehörte zu ihren Standardsätzen. So etwas musste man sagen, wenn man das Vertrauen alter Damen gewinnen wollte. Ebenso wie die Fragen nach Enkeln und Urenkeln, das stundenlange Betrachten von Familienfotos und der Verzehr von staubtrockenem Gebäck, das lange in der Speisekammer darauf gelauert hatte, dass endlich, endlich ein Gast kam und es aß. Und weil die Kinder und Enkel und Urenkel nicht kamen, mussten bezahlte Besucher wie Janina alles aufessen. Brrrr.
Edith Herzberger war jedoch weit davon entfernt, ihrem Gast Gebäck anzubieten. »Darf ich fragen, was Sie zu mir führt? Ich kann mich nämlich gar nicht erinnern, dass wir telefoniert haben«, sagte sie, sobald sie sich in den Sessel hatte sinken lassen. Ihr liebreizendes Alte-DamenGesicht nahm der Frage ein wenig an Schärfe.
Janina schickte ein trillerndes Lachen in den Raum. »Man erinnert sich ja nicht an alles. Das geht selbst mir so, muss ich Ihnen ganz ehrlich gestehen.«
Edith Herzberger musterte sie, als schätze sie ihr Alter. »Ich vergesse viel. Deswegen notiere ich mir Telefonate immer ganz besonders sorgfältig. Und mit Ihnen habe ich nicht telefoniert.«
Na, du bist ja eine ganz Schlaue, dachte Janina. Haben wir auch nicht. Das ist nur ein Spruch, der bei den meisten alten Leuten gut ankommt. Und wenn sie denken, sie hätten ein Telefonat vergessen, habe ich schon einen Fuß in der Tür, denn dann muss ich sie nicht mehr davon überzeugen, dass sie bald dement werden.
Sie räusperte sich. »Ich komme vom Gerlinde-Bauer-Haus in Oberkassel. Ich bin Außendienstmitarbeiterin, das bedeutet, ich sehe bei den Seniorinnen in der Gegend von Zeit zu Zeit nach dem Rechten. Wir wollen uns vergewissern, dass es ihnen gutgeht.«
Der Blick der alten Dame wurde wachsam. »Ist das ein Altenheim?«
»Aber nein! Wir bieten alle möglichen Dienstleistungen für Senioren an, von Freizeitaktivitäten über betreute Busreisen bis hin zu Mahlzeiten auf Rädern, wenn Ihnen das etwas sagt.«
Die alte Dame nickte und trank einen winzigen Schluck von ihrem Tee. Sie sah aus, als warte sie auf etwas.
»Ich habe Ihnen hier«, Janina zog mit einer fließenden Bewegung mehrere Hochglanzbilder aus der Handtasche und verteilte sie routiniert wie ein Croupier auf dem Couchtisch, »einige Bilder mitgebracht, damit Sie sich einen Eindruck machen können.«
»Von Ihrem ...« Die alte Dame blickte in ihre Tasse und lächelte still, als habe sie etwas verstanden.
»Von unserem Seniorenzentrum, ja.« Janina visualisierte einen Schalter, wie sie es im Coaching gelernt hatte. Ein Regler, der ihre Stimme noch ein wenig werbender klingen ließ. Sie drehte ihn ganz nach oben. Dies war der kritische Moment. Sie nahm den zweiten Packen Bilder in die Hand und gab sich selbst die Stichwörter.
»Sehen Sie, unsere Wellness-Oase.« Knallblaues Wasser, fröhliche Seniorengesichter, Palmen im Hintergrund, die extra für dieses Bild in großen Kübeln ins Schwimmbad gerollt worden waren.
»Unsere Zimmer.« Kirschholzmöbel, Blumensträuße auf dem Tisch. Hoffentlich traf sie damit den Geschmack von Edith Herzberger, es war manchmal schwierig, das richtige Bild auszuwählen. Manche Leute bevorzugten Eichenfurnier, andere dagegen helle, moderne Möbel.
Selbstverständlich durften die Bewohner ihre eigenen Sachen mitbringen, aber in dieser sensiblen Phase der Anwerbung ging es darum, den potenziellen Kunden einen spontanen Anreiz zu vermitteln, den optimalen Eindruck, ein »Hier-will-ich-Leben«.
Janina Scholz war gut in ihrem Job. Sie wurde auf die schwierigen Fälle angesetzt. Bei vielversprechenden Kandidaten, die sich hartnäckig weigerten, ihr Zuhause zu verlassen, und deren Angehörige einen Batzen Geld auf den Tisch legten, damit jemand alle Register zog. Na ja, fast alle. Wobei sie vorerst ja noch beim angenehmen Teil war. Natürlich gelang es nicht immer, den Auftrag auszuführen. Aber der Versuch lohnte sich. Zusätzlich zu ihrem Stundenhonorar winkte bei erfolgreicher Vermittlung eine fette Prämie, da sie, anders als sie behauptete, an keine Institution gebunden war. Scherzhaft nannten ihre Freunde sie eine Kopfgeldjägerin der Altenheime. Was soll's?, dachte Janina. Das ist freie Marktwirtschaft. Unglaublich, worauf sich Angehörige einließen, um ihre alten Verwandten loszuwerden.
Hier würde es jedenfalls schwierig werden. Man sah, dass die alte Dame sich wohl fühlte. Das Wohnzimmer wirkte gemütlich, zahlreiche golden gerahmte Bilder nahmen die Fläche über dem Esstisch ein, dunkle Regale zogen sich bis über die Tür, vollgestopft mit Büchern. Stimmt, überlegte Janina, Edith Herzberger war Buchhändlerin gewesen, das stand in den Unterlagen. Und offenbar war sie nicht so technikfeindlich wie viele Menschen ihres Alters, denn an einer Wand hing ein moderner Flachbildschirm.
Janina stockte. Ein Flachbildschirm? Ihr Blick wanderte durch den Raum, und plötzlich sah sie einige Details, die ihr längst hätten auffallen müssen. Ein zusammengeklappter Laptop auf dem Esstisch. Eine Lederjacke, die über einem Stuhl hing.
Hier wohnte noch jemand. Ein Mann. Vermutlich kein Mann in Edith Herzbergers Alter, denn die besaßen meist weder Laptop noch Lederjacke.
»Dürfte ich jetzt erfahren, was Sie von mir wissen möchten?«, fragte die alte Dame.
Janina setzte routiniert ihr strahlendstes Gesicht auf und trank, um ihre Verwirrung zu überspielen, von dem Tee. Unauffällig musterte sie ihr Gegenüber. Schneeweiße Haare, porzellanblaue Augen, rosige Wangen. Und ein süßes Lächeln, das sie nun nicht mehr täuschen konnte. Diese Dame hatte es faustdick hinter den Ohren. Ließ ihre Tochter nicht in die Wohnung und hielt stattdessen einen Mann aus. Wie alt mochte er sein? Was lief wohl zwischen den beiden? Und vor allem: War sie verpflichtet, ihre Kundin darüber zu informieren?
Während sie nachdachte, flossen die Worte wie von selbst über ihre sorgfältig geschminkten Lippen. »Natürlich möchten wir vom Gerlinde-Bauer-Haus Sie gerne für uns gewinnen, liebe Frau Herzberger. Und deswegen habe ich Ihnen eine ganz besondere Überraschung mitgebracht.« Sie zog den Umschlag mit der Satinschleife aus ihrer Handtasche. »Unser Geschenk für Sie: ein Gutschein für ein Gratis-Wochenende in unserem Haus! Lassen Sie sich doch einmal so richtig verwöhnen!« Die schon so oft gesprochenen Sätze halfen ihr, die Fassung wiederzufinden. Auch wenn es ihr schwerfiel. Ein Mann! Und diese alte Frau! Das war ja pervers!
Die alte Dame indes verzog keine Miene. »Ich gehe nicht in ein Altenheim«, sagte sie.
»Aber Frau Herzberger! So können Sie unser schönes Haus wirklich nicht bezeichnen.« Es gehörte zu den Kunstfertigkeiten der Gesprächsführung, das Wort »Altenheim« zu vermeiden, und diese Strategie war Janina im Laufe der Jahre so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie automatisch zusammenzuckte, wenn jemand das Wort in den Mund nahm.
Es war, als hätte sie gar nichts gesagt. Die andere ignorierte ihren Einwand einfach.
»Hat meine Tochter Sie geschickt?«
Alarmglocken schrillten in Janinas Kopf. Niemals den Auftraggeber preisgeben!, lautete die oberste Parole. Wir treten auf als freundliche Mitmenschen der Gemeinde, am besten erwecken wir den Eindruck, wir seien von der Kirche. »Aber, aber!« Sie zeigte ihre weißen Zähne und spürte dabei genau, dass ihr das Lächeln heute besondere Mühe bereitete. Ihrer Chefi n würde sie einiges zu erzählen haben. Normalerweise wurden diese sensiblen Gespräche nur mit Kandidaten geführt, bei denen eine gewisse Aussicht auf Erfolg bestand. Also solche, die für Suggestion empfänglich waren. Die Kunden wurden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht zweckmäßig war, das hohe Honorar für ein Gespräch mit Kandidaten zu bezahlen, die, nun, intellektuell noch in Form waren.
»Sie können meiner Tochter ausrichten, dass ich um nichts in der Welt ausziehe. Da muss sie mich schon selbst raustragen. War das alles, weswegen Sie gekommen sind? Ich soll für ein Wochenende bei Ihnen zur Probe wohnen?«
Es war Zeit, andere Geschütze aufzufahren. Das tat Janina nicht gerne, aber sie machte sich an dieser Stelle immer klar, dass das, was sie vorhatte, im Sinne der alten Leute war. Alte Menschen sollten unter ihresgleichen wohnen. »Liebe Frau Herzberger, ist Ihnen denn bewusst, was Ihnen hier alles Mögliche passieren kann, so ganz allein? Was, wenn Sie stürzen und niemand Sie rufen hört?« Falsches Stichwort, dachte sie im selben Moment. Für jemanden mit jugendlichem Lover dürfte das ein schwaches Argument sein.
»Mir passiert schon nichts«, sagte die alte Dame halsstarrig.
Janina verzog die Lippen zu einem schmalen, überlegenen Grinsen. Dann beugte sie sich vor, bis ihre Nase nur noch Zentimeter vom Gesicht der alten Dame entfernt war.
»Und was«, zischte sie, »wenn eines Tages ein Verbrecher hier hereinspaziert, so wie ich eben? Er muss noch nicht einmal klingeln. Er könnte im Hausflur gewartet haben und dann ... «
Sie brach ab, als sie spürte, wie sich etwas Kaltes in ihre Rippen bohrte. Was war das?
»Er soll nur kommen«, sagte die alte Dame mit vor Erregung bebender Stimme und lehnte sich zurück in ihren Ohrensessel. In der Hand hielt sie eine glänzende Pistole. »In meinem Alter ist man für jede Abwechslung dankbar. «
Janina brach der Schweiß aus.
Die Mündung zeigte genau auf sie.
Copyright © 2011 bei Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Als sie wieder zu sich kam, war es dunkel. Nässe kroch ungehindert durch ihr wollenes Kostüm, und kurz
dachte sie an die Reinigung und daran, was sie wieder einmal kosten würde. Sie konnte nicht wissen, dass ihr der Ärger darüber erspart bleiben würde.
Der Boden, auf dem sie lag, war hart und sandig, aber draußen befand sie sich nicht, denn das Prasseln des Regens klang gedämpft. Und da war noch etwas. Sie lauschte. Plätscherndes Wasser. Das Gurgeln eines Baches.
Sie versuchte, etwas zu sagen. Ein gutturales Stöhnen hallte durch den kleinen Raum, vielfach zurückgeworfen. Es klang so fremdartig, dass es unmöglich von ihr stammen konnte. Plötzlich zuckte eine Erinnerung durch das Dunkel wie ein Blitz, und sie wusste, wo sie war.
Die Drachenhöhle. Sie war hier gefangen, ein ungerufener, fremder Fötus im steinernen Bauch dieses bösen alten Berges.
Die Höhle maß vielleicht sechs mal vier Meter, man konnte aufrecht darin stehen, und die Wände waren hart und rauh. Das wusste sie, weil sie schon einmal hier gewesen war. Damals war sie staunend ringsum gegangen und hatte einen zweiten Ausgang, eine Spalte, irgendetwas gesucht, aber da war nichts gewesen außer der undurchdringlichen Wand aus Tuffgestein, jahrtausendealt, geformt aus der erstarrten Asche längst erloschener Vulkane.
Jetzt konnte sie nicht mehr ringsum gehen, denn ihre Schädeldecke war zerschmettert, aber das ahnte sie nicht, denn sie spürte keinen Schmerz.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Da war etwas gewesen, etwas, das sie nicht vergessen durfte. Sie suchte jemanden, nur wen? Hier in der Höhle war niemand. Oder doch?
Sie horchte.
Da war etwas.
Ein dumpfes Grollen, das den Boden vibrieren ließ, noch ehe es auf ihr Trommelfell traf.
Der Drache. Das musste der Drache sein.
Natürlich, dachte die Frau und roch das Blut. Die Pfütze, in der sie lag, war Blut, ihr eigenes, und der Geruch, süß und metallisch, musste dem Drachen in die Nase gestiegen sein. Er war aus seinem tausendjährigen Totenschlaf erwacht und hatte seine Schlafstätte tief unter dem Berg verlassen, um nach ihr zu suchen.
In ihr war keine Angst, als er näher kam. Seine Kälte ging ihm voraus, drang durch die felsigen Wände und ließ die Frau frösteln.
Vermutlich sind Drachen Reptilien, überlegte sie. Wechselwarm. Er bringt die Kälte mit, die tief unter dem Berg herrscht, bald werde auch ich so kalt sein.
Etwas in ihr wehrte sich, ein vages Erinnern ließ sie gegen den Tod aufbegehren. Es gab irgendjemanden, den sie vor diesem Drachen schützen musste, doch wer war es? Kaum tauchte die Frage im warmen Nebel ihres Bewusstseins auf, erschienen weitere. Wie war sie in diese Höhle gelangt? Wen hatte sie gesucht? Und was hatte sie gefunden?
Drache, bitte tu mir nichts, dachte sie, und ihre Hände schlossen sich wie zu einem Gebet. Konnte sie überhaupt etwas sehen, hier, in dieser dunklen Höhle?
Sie konnte.
Ihr Blick, der vorher nur Hell und Dunkel unterschieden hatte, wurde plötzlich klar.
Etwas näherte sich ihr, groß und gewaltig.
Und erst als ihr Herz einen letzten schweren Schlag tat, erkannte sie, dass es der Drache war.
Er war da.
Und er war wunderschön.
Der erste Tag
Noch weiz ich an im mêre daz mir ist bekant: einen lintrachen den sluoc des heldes hant.
er bádete sich ín dem bluote; sîn hût wart húrnîn. des snîdet in kein wâfen. daz ist dicke worden schîn.
Ich weiß noch mehr von Siegfried zu berichten:
Nämlich, dass er mit eigener Hand einen Drachen erschlug. Er badete in seinem Blute, seine Haut wurde zu Horn,
nun kann keine Waffe ihn mehr verletzen.
Irgendwo hinter der grünlackierten Tür im Inneren des Hauses erklang ein melodischer Klingelton.
Janina Scholz wartete. Sie war es gewohnt zu warten. Bei den meisten alten Leuten dauerte es eine Weile, ehe sie an die Tür kamen. Sie nestelte ihre Perlenkette zurecht - Perlen versprachen Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, und das war genau der Eindruck, den sie hinterlassen wollte - und fuhr sich noch einmal durch den silberblonden Pagenkopf.
»Ja bitte?« Die Stimme klang dünn und zittrig. Eine echte Oma-Stimme.
Janina näherte ihren Mund der Gegensprechanlage und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. Sie wusste, dass man ihrer Stimme anhörte, wenn sie lächelte. Sie hatte sich coachen lassen müssen, ehe sie anspruchsvolle Fälle wie diesen übernehmen durfte. »Scholz ist mein Name, vom Gerlinde-Bauer-Haus, wir hatten telefoniert. Kann ich kurz hochkommen?«
Statt einer Antwort das Schnarren des Türöffners. Auch gut, dachte Janina und trat ein. Ein bisschen leichtsinnig, die Dame.
Im Inneren des Treppenhauses war es dunkel. Sie hielt sich am geschnitzten Geländer fest, als sie die polierten Holzstufen hochstieg. Schönes Haus, dachte sie, Jahrhundertwende. Kein Wunder, dass unsere Kundin ihre Mutter hier raushaben will, der Marktwert ist bestimmt ganz anständig, und wenn man vermietet ... Hier wohnen doch mindestens drei Parteien drin. Das macht an Kaltmiete ...
Vor ihr öffnete sich eine Wohnungstür, und eine alte Dame steckte ihren Kopf heraus. In der Hand hielt sie ein Taschenbuch, den Zeigefinger hatte sie als Lesezeichen zwischen die Seiten geklemmt. »Könnte ich bitte Ihren Ausweis sehen?«, fragte sie anstelle einer Begrüßung geschäftsmäßig.
Janina setzte ihr süßestes Lächeln auf. So kann man sich täuschen, dachte sie und wühlte in ihrer Handtasche. Doch nicht so arglos, die gute Frau.
Die alte Dame betrachtete den Ausweis argwöhnisch, warf Janina einen forschenden Blick zu und nickte. »Kommen Sie doch herein«, sagte sie und ging mit wackeligen Schritten voran. Das Buch in ihrer Hand schwang dabei hin und her.
In der Wohnung war es warm und stickig. Ein grünes Sofa stand unter dem zweiflügligen Fenster. Auf dem mächtigen Ohrensessel lag eine Wolldecke. Vermutlich hatte Edith Herzberger gerade ein Nickerchen gemacht. »Möchten Sie Tee? Ich habe mir gerade eine Kanne gekocht.«
»Ja, gerne.« Janina nahm auf dem Sofa Platz und sah sich unauffällig um, während die Alte in hektische Betriebsamkeit ausbrach, Tasse, Untertasse und Löffel holte, die in ihren zittrigen Händen in lautes Geklapper verfielen.
»Schön haben Sie es hier.« Das gehörte zu ihren Standardsätzen. So etwas musste man sagen, wenn man das Vertrauen alter Damen gewinnen wollte. Ebenso wie die Fragen nach Enkeln und Urenkeln, das stundenlange Betrachten von Familienfotos und der Verzehr von staubtrockenem Gebäck, das lange in der Speisekammer darauf gelauert hatte, dass endlich, endlich ein Gast kam und es aß. Und weil die Kinder und Enkel und Urenkel nicht kamen, mussten bezahlte Besucher wie Janina alles aufessen. Brrrr.
Edith Herzberger war jedoch weit davon entfernt, ihrem Gast Gebäck anzubieten. »Darf ich fragen, was Sie zu mir führt? Ich kann mich nämlich gar nicht erinnern, dass wir telefoniert haben«, sagte sie, sobald sie sich in den Sessel hatte sinken lassen. Ihr liebreizendes Alte-DamenGesicht nahm der Frage ein wenig an Schärfe.
Janina schickte ein trillerndes Lachen in den Raum. »Man erinnert sich ja nicht an alles. Das geht selbst mir so, muss ich Ihnen ganz ehrlich gestehen.«
Edith Herzberger musterte sie, als schätze sie ihr Alter. »Ich vergesse viel. Deswegen notiere ich mir Telefonate immer ganz besonders sorgfältig. Und mit Ihnen habe ich nicht telefoniert.«
Na, du bist ja eine ganz Schlaue, dachte Janina. Haben wir auch nicht. Das ist nur ein Spruch, der bei den meisten alten Leuten gut ankommt. Und wenn sie denken, sie hätten ein Telefonat vergessen, habe ich schon einen Fuß in der Tür, denn dann muss ich sie nicht mehr davon überzeugen, dass sie bald dement werden.
Sie räusperte sich. »Ich komme vom Gerlinde-Bauer-Haus in Oberkassel. Ich bin Außendienstmitarbeiterin, das bedeutet, ich sehe bei den Seniorinnen in der Gegend von Zeit zu Zeit nach dem Rechten. Wir wollen uns vergewissern, dass es ihnen gutgeht.«
Der Blick der alten Dame wurde wachsam. »Ist das ein Altenheim?«
»Aber nein! Wir bieten alle möglichen Dienstleistungen für Senioren an, von Freizeitaktivitäten über betreute Busreisen bis hin zu Mahlzeiten auf Rädern, wenn Ihnen das etwas sagt.«
Die alte Dame nickte und trank einen winzigen Schluck von ihrem Tee. Sie sah aus, als warte sie auf etwas.
»Ich habe Ihnen hier«, Janina zog mit einer fließenden Bewegung mehrere Hochglanzbilder aus der Handtasche und verteilte sie routiniert wie ein Croupier auf dem Couchtisch, »einige Bilder mitgebracht, damit Sie sich einen Eindruck machen können.«
»Von Ihrem ...« Die alte Dame blickte in ihre Tasse und lächelte still, als habe sie etwas verstanden.
»Von unserem Seniorenzentrum, ja.« Janina visualisierte einen Schalter, wie sie es im Coaching gelernt hatte. Ein Regler, der ihre Stimme noch ein wenig werbender klingen ließ. Sie drehte ihn ganz nach oben. Dies war der kritische Moment. Sie nahm den zweiten Packen Bilder in die Hand und gab sich selbst die Stichwörter.
»Sehen Sie, unsere Wellness-Oase.« Knallblaues Wasser, fröhliche Seniorengesichter, Palmen im Hintergrund, die extra für dieses Bild in großen Kübeln ins Schwimmbad gerollt worden waren.
»Unsere Zimmer.« Kirschholzmöbel, Blumensträuße auf dem Tisch. Hoffentlich traf sie damit den Geschmack von Edith Herzberger, es war manchmal schwierig, das richtige Bild auszuwählen. Manche Leute bevorzugten Eichenfurnier, andere dagegen helle, moderne Möbel.
Selbstverständlich durften die Bewohner ihre eigenen Sachen mitbringen, aber in dieser sensiblen Phase der Anwerbung ging es darum, den potenziellen Kunden einen spontanen Anreiz zu vermitteln, den optimalen Eindruck, ein »Hier-will-ich-Leben«.
Janina Scholz war gut in ihrem Job. Sie wurde auf die schwierigen Fälle angesetzt. Bei vielversprechenden Kandidaten, die sich hartnäckig weigerten, ihr Zuhause zu verlassen, und deren Angehörige einen Batzen Geld auf den Tisch legten, damit jemand alle Register zog. Na ja, fast alle. Wobei sie vorerst ja noch beim angenehmen Teil war. Natürlich gelang es nicht immer, den Auftrag auszuführen. Aber der Versuch lohnte sich. Zusätzlich zu ihrem Stundenhonorar winkte bei erfolgreicher Vermittlung eine fette Prämie, da sie, anders als sie behauptete, an keine Institution gebunden war. Scherzhaft nannten ihre Freunde sie eine Kopfgeldjägerin der Altenheime. Was soll's?, dachte Janina. Das ist freie Marktwirtschaft. Unglaublich, worauf sich Angehörige einließen, um ihre alten Verwandten loszuwerden.
Hier würde es jedenfalls schwierig werden. Man sah, dass die alte Dame sich wohl fühlte. Das Wohnzimmer wirkte gemütlich, zahlreiche golden gerahmte Bilder nahmen die Fläche über dem Esstisch ein, dunkle Regale zogen sich bis über die Tür, vollgestopft mit Büchern. Stimmt, überlegte Janina, Edith Herzberger war Buchhändlerin gewesen, das stand in den Unterlagen. Und offenbar war sie nicht so technikfeindlich wie viele Menschen ihres Alters, denn an einer Wand hing ein moderner Flachbildschirm.
Janina stockte. Ein Flachbildschirm? Ihr Blick wanderte durch den Raum, und plötzlich sah sie einige Details, die ihr längst hätten auffallen müssen. Ein zusammengeklappter Laptop auf dem Esstisch. Eine Lederjacke, die über einem Stuhl hing.
Hier wohnte noch jemand. Ein Mann. Vermutlich kein Mann in Edith Herzbergers Alter, denn die besaßen meist weder Laptop noch Lederjacke.
»Dürfte ich jetzt erfahren, was Sie von mir wissen möchten?«, fragte die alte Dame.
Janina setzte routiniert ihr strahlendstes Gesicht auf und trank, um ihre Verwirrung zu überspielen, von dem Tee. Unauffällig musterte sie ihr Gegenüber. Schneeweiße Haare, porzellanblaue Augen, rosige Wangen. Und ein süßes Lächeln, das sie nun nicht mehr täuschen konnte. Diese Dame hatte es faustdick hinter den Ohren. Ließ ihre Tochter nicht in die Wohnung und hielt stattdessen einen Mann aus. Wie alt mochte er sein? Was lief wohl zwischen den beiden? Und vor allem: War sie verpflichtet, ihre Kundin darüber zu informieren?
Während sie nachdachte, flossen die Worte wie von selbst über ihre sorgfältig geschminkten Lippen. »Natürlich möchten wir vom Gerlinde-Bauer-Haus Sie gerne für uns gewinnen, liebe Frau Herzberger. Und deswegen habe ich Ihnen eine ganz besondere Überraschung mitgebracht.« Sie zog den Umschlag mit der Satinschleife aus ihrer Handtasche. »Unser Geschenk für Sie: ein Gutschein für ein Gratis-Wochenende in unserem Haus! Lassen Sie sich doch einmal so richtig verwöhnen!« Die schon so oft gesprochenen Sätze halfen ihr, die Fassung wiederzufinden. Auch wenn es ihr schwerfiel. Ein Mann! Und diese alte Frau! Das war ja pervers!
Die alte Dame indes verzog keine Miene. »Ich gehe nicht in ein Altenheim«, sagte sie.
»Aber Frau Herzberger! So können Sie unser schönes Haus wirklich nicht bezeichnen.« Es gehörte zu den Kunstfertigkeiten der Gesprächsführung, das Wort »Altenheim« zu vermeiden, und diese Strategie war Janina im Laufe der Jahre so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie automatisch zusammenzuckte, wenn jemand das Wort in den Mund nahm.
Es war, als hätte sie gar nichts gesagt. Die andere ignorierte ihren Einwand einfach.
»Hat meine Tochter Sie geschickt?«
Alarmglocken schrillten in Janinas Kopf. Niemals den Auftraggeber preisgeben!, lautete die oberste Parole. Wir treten auf als freundliche Mitmenschen der Gemeinde, am besten erwecken wir den Eindruck, wir seien von der Kirche. »Aber, aber!« Sie zeigte ihre weißen Zähne und spürte dabei genau, dass ihr das Lächeln heute besondere Mühe bereitete. Ihrer Chefi n würde sie einiges zu erzählen haben. Normalerweise wurden diese sensiblen Gespräche nur mit Kandidaten geführt, bei denen eine gewisse Aussicht auf Erfolg bestand. Also solche, die für Suggestion empfänglich waren. Die Kunden wurden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht zweckmäßig war, das hohe Honorar für ein Gespräch mit Kandidaten zu bezahlen, die, nun, intellektuell noch in Form waren.
»Sie können meiner Tochter ausrichten, dass ich um nichts in der Welt ausziehe. Da muss sie mich schon selbst raustragen. War das alles, weswegen Sie gekommen sind? Ich soll für ein Wochenende bei Ihnen zur Probe wohnen?«
Es war Zeit, andere Geschütze aufzufahren. Das tat Janina nicht gerne, aber sie machte sich an dieser Stelle immer klar, dass das, was sie vorhatte, im Sinne der alten Leute war. Alte Menschen sollten unter ihresgleichen wohnen. »Liebe Frau Herzberger, ist Ihnen denn bewusst, was Ihnen hier alles Mögliche passieren kann, so ganz allein? Was, wenn Sie stürzen und niemand Sie rufen hört?« Falsches Stichwort, dachte sie im selben Moment. Für jemanden mit jugendlichem Lover dürfte das ein schwaches Argument sein.
»Mir passiert schon nichts«, sagte die alte Dame halsstarrig.
Janina verzog die Lippen zu einem schmalen, überlegenen Grinsen. Dann beugte sie sich vor, bis ihre Nase nur noch Zentimeter vom Gesicht der alten Dame entfernt war.
»Und was«, zischte sie, »wenn eines Tages ein Verbrecher hier hereinspaziert, so wie ich eben? Er muss noch nicht einmal klingeln. Er könnte im Hausflur gewartet haben und dann ... «
Sie brach ab, als sie spürte, wie sich etwas Kaltes in ihre Rippen bohrte. Was war das?
»Er soll nur kommen«, sagte die alte Dame mit vor Erregung bebender Stimme und lehnte sich zurück in ihren Ohrensessel. In der Hand hielt sie eine glänzende Pistole. »In meinem Alter ist man für jede Abwechslung dankbar. «
Janina brach der Schweiß aus.
Die Mündung zeigte genau auf sie.
Copyright © 2011 bei Knaur Taschenbuch.
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Autoren-Porträt von Judith Merchant
Judith Merchant studierte Literaturwissenschaft und unterrichtet heute Creative Writing an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Für ihre Kurzgeschichten wurde sie zweimal mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Nach der Veröffentlichung ihrer Rheinkrimi-Serie (»Nibelungenmord«, »Loreley singt nicht mehr«, »Rapunzelgrab«) zog Judith Merchant von der Idylle in die Grossstadt. 2019 erschien ihr Thriller »ATME!« und wurde zum Bestseller, 2021 folgte »SCHWEIG!«.
Autoren-Interview mit Judith Merchant
Autoreninterview mit Judith MerchantBeschreiben Sie sich mit drei Worten!
Merchant: Neugierig auf alles!
Was macht Ihnen schlechte Laune, was macht Ihnen Freude?
Merchant: Mich nerven viele Geräusche - Radio am Morgen, Fernsehen im Hintergrund, Handygespräche.
Ich mag schöne Notizbücher, Gemüsegärten und das Knacken der Bindung, wenn ich ein neues Buch aufschlage.
Sie können Frühstück, Mittag- und Abendessen an drei unterschiedlichen Orten auf der Welt einnehmen - wohin führt Sie diese Reise?
Merchant: Gar keine Frage: Das Frühstück gibt es in Edinburgh. Ich liebe ein anständiges warmes Frühstück mit Baked Beans, gegrillten Tomaten, Eiern, Speck, dazu ein bisschen Nieselregen. Mittags gäbe es ein Picknick in der Mojave-Wüste, umgeben von Joshua-Trees und in ständiger Furcht vor Klapperschlangen. Und abends ein ländliches Abendessen mit Freunden und meiner Familie in einem kleinen Dorf in Spanien.
Wie sieht ein perfekter Tag für Sie aus?
Merchant: Ein Frühstück im Café, Stöbern in einer fremden Buchhandlung, ein Spaziergang, vielleicht zu einer Burg - und abends Kino oder ein Kneipenbesuch mit Freunden.
Woher kommen die Inspirationen zu Ihren Büchern?
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Merchant: Der Großteil kommt beim ziellosen Spazierengehen. Ich mache eine beiläufige Entdeckung, sehe eine knorrige Wurzel, eine Höhle, eine frisch beschnittene Kopfweide. Darum lagert sich dann alles Mögliche ab - unausgegorene Gedanken, Sachen, die ich gelesen habe oder die man mir erzählt hat. Und irgendwann ist dann da eine Idee, von der aus ich die Handlung und Figuren entwickeln kann.
Neben der Arbeit als Schriftsteller - was wären alternative Berufe für Sie? Und warum?
Merchant: Ich habe ja noch einen anderen Beruf - ich unterrichte an der Universität Bonn und in der Erwachsenenbildung, und das sehr gerne! Ich mag schon die Vorbereitung - welche Texte sollen besprochen werden und warum? Was bietet Stoff für Diskussion, woran kann ich was veranschaulichen? Im Unterricht wird es dann oft ganz anders als geplant - das macht diesen Beruf für mich so spannend.
Haben Sie einen Lieblingsautor? Wer ist es und weshalb?
Merchant: Ich habe sogar sehr viele - im Moment bin ich hingerissen von Tana French.
Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
Merchant: Kurzgeschichten von Katherine Mansfield.
Welches Buch sollte jeder einmal gelesen haben?
Merchant: „Die unendliche Geschichte" von Michael Ende.
Welche Person - aus Roman, Film oder dem öffentlichen Leben - würden Sie gerne treffen? Und was würden Sie zu ihm/ihr sagen?
Merchant: Ich würde gern ein Tässchen Tee mit Miss Marple trinken. Ich würde möglichst wenig sagen, sondern ihr zuhören, sie beim Stricken beobachten und mir heimlich Notizen machen.
Bei welchem historischen Ereignis wären Sie gerne Zeuge gewesen?
Merchant: Sommer 1816 am Genfer See, zusammen mit Mary Shelley, Percy Shelley, Lord Byron und seinem Leibarzt Polidori. Dieser Sommer muss ja der reinste Kompost für düstere Ideen gewesen sein! Auf irgendeine wundersame Weise wurde dort in wenigen Tagen die Saat bereitet für die wichtigsten Gruselgeschichten überhaupt: Dracula und Frankenstein! Unglaublich, was diese Ideen für eine kreative Energie freigesetzt haben, die ja bis weit in unsere Gegenwart hinein lebendig ist und immer weiter wuchert.
Wenn Sie die berühmten drei Wünsche frei hätten, wie sähen sie aus?
Merchant: Wünsche werden komplizierter, je älter ich werde. Als Kind hätte ich mir ein Buch mit endlos vielen Fortsetzungen gewünscht, einen Koffer, in dem ich fliegen kann und einen Ring, der unsichtbar macht. Jetzt, als Erwachsene, würde ich mir eine Welt ohne Krieg, Krankheiten und Umweltzerstörung wünschen - und endlos viele Fortsetzungen meines aktuellen Lieblingsbuchs!
Was ist Ihre Lebensphilosophie?
Merchant: Et hät noch immer jot jejange!
Haben Sie schon das nächste Projekt im Kopf?
Merchant: Aber klar! Ich schreibe gerade an meinem nächsten Kriminalroman.
Merchant: Der Großteil kommt beim ziellosen Spazierengehen. Ich mache eine beiläufige Entdeckung, sehe eine knorrige Wurzel, eine Höhle, eine frisch beschnittene Kopfweide. Darum lagert sich dann alles Mögliche ab - unausgegorene Gedanken, Sachen, die ich gelesen habe oder die man mir erzählt hat. Und irgendwann ist dann da eine Idee, von der aus ich die Handlung und Figuren entwickeln kann.
Neben der Arbeit als Schriftsteller - was wären alternative Berufe für Sie? Und warum?
Merchant: Ich habe ja noch einen anderen Beruf - ich unterrichte an der Universität Bonn und in der Erwachsenenbildung, und das sehr gerne! Ich mag schon die Vorbereitung - welche Texte sollen besprochen werden und warum? Was bietet Stoff für Diskussion, woran kann ich was veranschaulichen? Im Unterricht wird es dann oft ganz anders als geplant - das macht diesen Beruf für mich so spannend.
Haben Sie einen Lieblingsautor? Wer ist es und weshalb?
Merchant: Ich habe sogar sehr viele - im Moment bin ich hingerissen von Tana French.
Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
Merchant: Kurzgeschichten von Katherine Mansfield.
Welches Buch sollte jeder einmal gelesen haben?
Merchant: „Die unendliche Geschichte" von Michael Ende.
Welche Person - aus Roman, Film oder dem öffentlichen Leben - würden Sie gerne treffen? Und was würden Sie zu ihm/ihr sagen?
Merchant: Ich würde gern ein Tässchen Tee mit Miss Marple trinken. Ich würde möglichst wenig sagen, sondern ihr zuhören, sie beim Stricken beobachten und mir heimlich Notizen machen.
Bei welchem historischen Ereignis wären Sie gerne Zeuge gewesen?
Merchant: Sommer 1816 am Genfer See, zusammen mit Mary Shelley, Percy Shelley, Lord Byron und seinem Leibarzt Polidori. Dieser Sommer muss ja der reinste Kompost für düstere Ideen gewesen sein! Auf irgendeine wundersame Weise wurde dort in wenigen Tagen die Saat bereitet für die wichtigsten Gruselgeschichten überhaupt: Dracula und Frankenstein! Unglaublich, was diese Ideen für eine kreative Energie freigesetzt haben, die ja bis weit in unsere Gegenwart hinein lebendig ist und immer weiter wuchert.
Wenn Sie die berühmten drei Wünsche frei hätten, wie sähen sie aus?
Merchant: Wünsche werden komplizierter, je älter ich werde. Als Kind hätte ich mir ein Buch mit endlos vielen Fortsetzungen gewünscht, einen Koffer, in dem ich fliegen kann und einen Ring, der unsichtbar macht. Jetzt, als Erwachsene, würde ich mir eine Welt ohne Krieg, Krankheiten und Umweltzerstörung wünschen - und endlos viele Fortsetzungen meines aktuellen Lieblingsbuchs!
Was ist Ihre Lebensphilosophie?
Merchant: Et hät noch immer jot jejange!
Haben Sie schon das nächste Projekt im Kopf?
Merchant: Aber klar! Ich schreibe gerade an meinem nächsten Kriminalroman.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Judith Merchant
- 3. Aufl., 384 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342650863X
- ISBN-13: 9783426508633
- Erscheinungsdatum: 27.04.2011
Rezension zu „Kommissar Jan Seidel Band 1: Nibelungenmord “
"Ein clever ausgetüftelter Königswinter-Krimi mit vielen Wendungen und wunderbar lebensnah gezeichneten Personen.[...] Ein bemerkenswertes Debüt." WDR 5 Die telefonische Mord(s)beratung (WDR) 20110625
Pressezitat
"Ein clever ausgetüftelter Königswinter-Krimi mit vielen Wendungen und wunderbar lebensnah gezeichneten Personen.[...] Ein bemerkenswertes Debüt." WDR 5 Die telefonische Mord(s)beratung (WDR) 20110625
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