Die Akte Vaterland / Kommissar Gereon Rath Bd.4
Gereon Raths vierter Fall
Gereon Raths vierter Fall.
Juli 1932. Die Berliner Polizei steht vor einem Rätsel: Ein Toter liegt im Aufzug von "Haus Vaterland", dem legendären Vergnügungstempel am Potsdamer Platz. Der Tote scheint Mosaikstück einer Mordserie zu...
Juli 1932. Die Berliner Polizei steht vor einem Rätsel: Ein Toter liegt im Aufzug von "Haus Vaterland", dem legendären Vergnügungstempel am Potsdamer Platz. Der Tote scheint Mosaikstück einer Mordserie zu...
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Produktinformationen zu „Die Akte Vaterland / Kommissar Gereon Rath Bd.4 “
Gereon Raths vierter Fall.
Juli 1932. Die Berliner Polizei steht vor einem Rätsel: Ein Toter liegt im Aufzug von "Haus Vaterland", dem legendären Vergnügungstempel am Potsdamer Platz. Der Tote scheint Mosaikstück einer Mordserie zu sein, deren Spur in eine masurische Kleinstadt führt ...
Juli 1932. Die Berliner Polizei steht vor einem Rätsel: Ein Toter liegt im Aufzug von "Haus Vaterland", dem legendären Vergnügungstempel am Potsdamer Platz. Der Tote scheint Mosaikstück einer Mordserie zu sein, deren Spur in eine masurische Kleinstadt führt ...
Klappentext zu „Die Akte Vaterland / Kommissar Gereon Rath Bd.4 “
»Ein fabelhafter Krimi, dessen Spannung sich neben der politischen Düsternis aufbaut« Die Literarische WeltJuli 1932, die Berliner Polizei steht vor einem Rätsel: Ein Mann liegt tot im Lastenaufzug von »Haus Vaterland«, dem legendären Vergnügungstempel am Potsdamer Platz, und alles deutet darauf hin, dass er dort ertrunken ist. Kommissar Gereon Rath hat schon genug Ärger. Seine Ermittlungen gegen einen mysteriösen Auftragsmörder treten seit Wochen auf der Stelle, seine grosse Liebe Charlotte Ritter fängt als Kommissaranwärterin am Alex an - ausgerechnet in der Mordkommission. Und der Tote vom Potsdamer Platz scheint Teil einer Mordserie zu sein, deren Spur weit nach Osten führt.
»Grossartig recherchiert und packend bis zum Ende!« NDR»Historisches Kopfkino vom Feinsten« Heilbronner Stimme
Lese-Probe zu „Die Akte Vaterland / Kommissar Gereon Rath Bd.4 “
Die Akte Vaterland von Volker Kutscher... mehr
Er ist wieder unterwegs und schleicht durch die Wälder, hat seinen Unterschlupf verlassen und schnürt durchs Gehölz, niemand wird ihn hören, niemand wird ihn sehen. Eine gelbfarbene Trägheit liegt in der Luft, selbst im Schatten der Bäume spürt er die Wärme des Tages, der Sommer ist mit Macht ins Land gekommen. Die Lindenblüten verbreiten ihren Duft und die Wintergerste auf den Feldern drüben bei Markowsken.
Tokala hält inne und nimmt einen tiefen Atemzug. Auch den See kann er bereits riechen und freut sich auf das Bad im kalten, weichen Wasser. Je näher er seinem Ziel kommt, desto langsamer werden seine Bewegungen. Er ist scheu, und wenn er sich einmal zeigt, dann nur, um den Menschen einen Schrecken einzujagen. Er mag es nicht, wenn sie in seinen Wald kommen, er mag ihr lautes Rufen nicht, nicht ihr rücksichtsloses Trampeln durchs Unterholz, das ihre Verachtung zeigt für alles, was ihm heilig ist. Er hat einen Spiegel in seiner Hütte hängen, und manchmal, bevor er hinausgeht, reibt er sein Gesicht mit schwarzer Erde ein, bis seine Augen wild leuchten und er aussieht wie ein Raubtier, wenn er die Zähne bleckt. In der Dämmerung macht ihn das so gut wie unsichtbar, jetzt aber steht die Sonne hoch am Himmel, und er hat auf diese Tarnung verzichtet. Umso vorsichtiger bewegt er sich, seine Mokassins sind aus Elchleder, in ihnen schleicht er leise wie eine Katze. Tokala muss aufpassen, der See gehört schon zu ihrem Reich, er könnte auf Menschen stoßen. In seine Wälder trauen sie sich nicht, dort haben sie Angst, Angst vor dem Moor und vor dem Kaubuk. Kaubuk.
Ja, so nennen sie ihn, weil sie keinen anderen Namen finden. Seinen alten Namen, an den er sich selbst kaum erinnert, haben sie längst vergessen, und noch weniger kennen sie seinen neuen, den er sich zugelegt hat, als er ihre Welt verlassen hat vor vielen Wintern, seinen wahren Namen, seinen Kriegernamen. r ist wieder unterwegs und schleicht durch die Wälder, hat seinen Unterschlupf verlassen und schnürt durchs Gehölz, niemand wird ihn hören, niemand wird ihn sehen. Eine gelbfarbene Trägheit liegt in der Luft, selbst im Schatten der Bäume spürt er die Wärme des Tages, der Sommer ist mit Macht ins Land gekommen. Die Lindenblüten verbreiten ihren Duft und die Wintergerste auf den Feldern drüben bei Markowsken. Tokala hält inne und nimmt einen tiefen Atemzug. Auch den See kann er bereits riechen und freut sich auf das Bad im kalten, weichen Wasser.
Je näher er seinem Ziel kommt, desto langsamer werden seine Bewegungen. Er ist scheu, und wenn er sich einmal zeigt, dann nur, um den Menschen einen Schrecken einzujagen. Er mag es nicht, wenn sie in seinen Wald kommen, er mag ihr lautes Rufen nicht, nicht ihr rücksichtsloses Trampeln durchs Unterholz, das ihre Verachtung zeigt für alles, was ihm heilig ist.
Er hat einen Spiegel in seiner Hütte hängen, und manchmal, bevor er hinausgeht, reibt er sein Gesicht mit schwarzer Erde ein, bis seine Augen wild leuchten und er aussieht wie ein Raubtier, wenn er die Zähne bleckt. In der Dämmerung macht ihn das so gut wie unsichtbar, jetzt aber steht die Sonne hoch am Himmel, und er hat auf diese Tarnung verzichtet. Umso vorsichtiger bewegt er sich, seine Mokassins sind aus Elchleder, in ihnen schleicht er leise wie eine Katze.
Tokala muss aufpassen, der See gehört schon zu ihrem Reich, er könnte auf Menschen stoßen. In seine Wälder trauen sie sich nicht, dort haben sie Angst, Angst vor dem Moor und vor dem Kaubuk.
Kaubuk. Ja, so nennen sie ihn, weil sie keinen anderen Namen finden. Seinen alten Namen, an den er sich selbst kaum erinnert, haben sie längst vergessen, und noch weniger kennen sie seinen neuen, den er sich zugelegt hat, als er ihre Welt verlassen hat vor vielen Wintern, seinen wahren Namen, seinen Kriegernamen.
Tokala. Der Fuchs. Wie ein Fuchs schnürt er durch die Wälder, versteckt sich in seinem Bau, und sie lassen ihn gewähren. Sie lassen ihn in Ruhe seine Dinge tun und er sie die ihren; niemand mischt sich ein in die Welt des anderen, das ist die unausgesprochene Abmachung seit Jahren. Es ist gefährlich in ihrer Welt, doch ab und zu muss er es wagen, muss des Nachts in ihre Städte und Dörfer, wenn er neue Bücher braucht oder Petroleum oder ein paar von den Früchten, die bei ihm im Moor nicht wachsen wollen. Seine Vorsicht ist nicht übertrieben, er hat den See schon fast erreicht, da hört er ein Summen und Singen und hält inne, inmitten der Bewegung, und lauscht. Eine Frauenstimme, eine unbestimmte Melodie. Langsam schleicht er zu seinem Uferversteck. Tokala hat sie erkannt, schon an ihrer Stimme erkannt, noch bevor er ihr Sommerkleid weiß und rot durchs Geäst schimmern sieht. Niyaha Luta, so nennt er sie. Er hat sie schon einmal gesehen, vor wenigen Wochen an derselben Stelle, und auch da hat er in seinem Versteck gehockt und sich nicht zu rühren gewagt. Er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte im Dunkel des dichten Gebüschs, und doch schien sie ihn direkt anzuschauen, als sie aufblickte von ihrem Buch. Dass sie sich nicht allein fortgestohlen hatte aus der Stadt, das merkte er, als ein metallisches Scheppern und Klingeln in sein Versteck drang und kurz darauf ein Mann mit einem Fahrrad aus dem Wald trat. Sie hatte ihn erwartet, das konnte man sehen. Und dann küsste sie ihn. Es war tatsächlich sie, die ihn küsste, nicht umgekehrt, und da wurde Tokala klar, dass sie sich nicht zum ersten Mal trafen und dass ihre Begegnung kein Zufall war. Das war der Moment, in dem er sich aus seinem Versteck zurückgezogen hatte ins Dunkel des Waldes. Und jetzt ist sie wieder hier, und Tokala hockt in seinem Versteck, sieht ihr Kleid, ein Muster wie aus roten Federn auf leuchtendem Weiß, er sieht ihre nackten Beine, die ins Wasser baumeln. Sie sitzt auf dem sonnenbeschienenen Ast, der in den See hinausragt, genau wie damals, und wieder liest sie in einem Buch. Zweige knacken, als ein Mann aus dem Wald tritt.
Nicht der Mann mit dem Fahrrad, es ist ein anderer, und Tokala sieht in ihrem Gesicht, dass sie diesen Mann nicht erwartet hat. Sie klappt ihr Buch zu, als habe er sie bei etwas Verbotenem ertappt.
Sie sagt nichts, und der Mann tritt näher, bis an den Ast, auf dem sie sitzt, und zeigt auf die Rinde. »Einen Katholiken? Einen Polenfreund?«
Die aus der Stadt mischen sich nicht in seine Dinge, und er mischt sich nicht in die ihren, so funktioniert sein Leben seit Jahren, und es ist das einzige Leben, das er sich vorstellen kann. Er erträgt den Anblick nicht länger, er muss zurück in seinen Wald, er kann keine Sekunde länger bleiben. Und während er langsam rückwärts schleicht, so wie er es gelernt hat aus den Büchern, sieht er noch, wie der böse Mann an ihrem Sommerkleid zerrt, und hört den Stoff reißen, er sieht, wie der Mann sich auf die wehrlose Frau legt und seinen Hosenschlitz aufknöpft, wie er sie mit dem anderen Arm zu Boden drückt und mit den Knien ihre Schenkel spreizt.
Tokala hört sie schreien, und wieder erstickt ein Gurgeln ihren Schrei, als ihr Kopf kurz unter Wasser gerät. Und wieder sieht er die Frau mit dem zerrissenen Nachthemd, ihre leblosen Augen. Mit diesem Bild im Kopf läuft er fort, läuft in den Wald, läuft so schnell er nur kann, läuft weg von ihrer Welt und ihrer Gewalt, weit weg, so weit es nur geht. Das Böse ist zurückgekehrt, das Böse, vor dem er einst geflohen ist, vor dem er sich sicher gewähnt hat in seinen Wäldern. Er rennt und rennt, läuft fort vor seiner Vergangenheit, der er doch nicht entkommen kann. Als er den See schon weit hinter sich gelassen hat, bleibt er endlich stehen, mitten im Wald, und es brüllt und schreit aus ihm heraus, dass ringsum die Vögel aufflattern. So steht er da in seiner Hilflosigkeit und Ohnmacht und schreit. Es geht nicht! Du kannst nicht an ihrer Welt teilhaben, ohne Schmerz zu erfahren, ohne das Böse zurückzurufen, nicht einmal als Beobachter kannst du das. Dies ist die Lektion, die du gelernt hast. Nun weißt du, bestimmter noch als sonst, warum du dich fernhalten musst von ihrer Welt, warum es das einzig Richtige ist, sich fernzuhalten von ihnen und in den Wäldern zu leben.
So dunkel und leer hatte Reinhold Gräf den Potsdamer Platz noch nie gesehen. Frühmorgens, Viertel nach fünf, die Leuchtreklamen waren längst erloschen, und die Gebäude, die den Platz säumten, ragten wie schwarze Felsen gegen den Himmel. Der schwarze Maybach, aus dessen Seitenfenster der Kriminalsekretär schaute, war der einzige Wagen auf der sonst viel befahrenen Kreuzung. Nicht einmal der Verkehrsturm war um diese Zeit besetzt, die Ampeln lauerten dunkel hinter dem Glas. Gräf drückte seine Stirn gegen das Autofenster und betrachtete die Regentropfen, die sich auf der Scheibe zu kleinen Bächen sammelten, in die der Fahrtwind blies. »Da ist doch schon Haus Vaterland «, meldete sich Lange vom Rücksitz, »das mit der Kuppel, oder?« Gräf antwortete nicht, er ließ den Fahrer halten und klappte das Fenster herunter.
Der Schupo, der an der Stresemannstraße im Regen stand, hatte das Mordauto bereits erkannt und trat heran. »Lieferanteneingang, Herr Kommissar!« Der Uniformierte zeigte in die Köthener Straße und salutierte. »Kommissar kommt noch«, sagte Gräf. Er klappte die Scheibe wieder hoch und bedeutete dem Fahrer, rechts abzubiegen. Seine Laune war nicht die beste. Lange war der einzige Beamte, der mit rausgefahren war; der Kriminalassistent hatte ebenfalls Nachtdienst in der Mordbereitschaft. Christel Temme, die Stenotypistin, hatten sie aus dem Bett geklingelt und in Schöneberg abholen müssen. Dann saß noch der Fahrer mit im Wagen, sonst hatte Gräf um diese Uhrzeit, in der Grauzone zwischen Mitternacht und Morgen, niemanden erreicht, nicht einmal einen Kommissar. Obwohl Gereon Rath Rufbereitschaft hatte, war er nicht ans Telefon zu bekommen. Nach vier vergeblichen Versuchen hatte Gräf auf
18gegeben und war mit Lange ins Mordauto gestiegen, um die Stenotypistin einzusammeln und endlich zum Tatort zu fahren. Die ganze Fahrt über hatten sie sich angeschwiegen, bis Lange das Schweigen mit seiner überfl üssigen Bemerkung unterbrochen hatte. Natürlich war das hier Haus Vaterland. Die Köthener Straße führte sie an der dunklen Rückseite entlang, vorbei an einer endlosen Reihe hoher Rundbögen, notdürftig beleuchtet vom Gaslicht der Straßenlaternen. Einst hatte hier die Ufa residiert, aber dann hatte Kempinski den riesigen Komplex für viel Geld von Grund auf umbauen lassen zu Berlins größtem Vergnügungstempel. Und nun vereinte Haus Vaterland all die Vergnügen unter einem Dach, die der durchschnittliche Tourist aus der Provinz von einem gelungenen Abend in der Weltstadt Berlin erwartete: essen, tanzen, saufen und spärlich bekleidete Revuegirls. Im grellen elektrischen Licht, das aus einem offenen Tor ganz am Ende des Gebäudes fiel, glitzerten die Regenfäden. Der Lieferanteneingang lag so weit von der viel befahrenen Stresemannstraße entfernt wie eben möglich. Zwei Autos standen am Straßenrand, ein heller Lieferwagen mit offener Hecktür und ein dunkelroter Horch.
Der Fahrer des Mordautos parkte direkt dahinter, stieg aus und öffnete Gräf die Wagentür. »Lassense man gut sein, Schröder, ich bin ja nicht der Polizeipräsident. « »Jawohl, Herr Kriminalsekretär.« Mathée Luisenbrand, der schmeckt. So stand es auf der Seitenwand des Lieferwagens, der direkt vor dem Eingang parkte, und in kleineren Buchstaben darunter: Herbert Lamkau, Spirituosen. Der Regen wurde immer heftiger, Gräf zog den Hut tiefer. »Vergiss den Fotoapparat nicht«, blaffte er Lange an, der bereits Anstalten machte, ins Trockene zu kommen. Es hatte ruppiger geklungen, als Gräf beabsichtigt hatte, er wollte nur unmissverständlich klarmachen, wer hier die Ermittlungen leitete, solange der diensthabende Kommissar durch Abwesenheit glänzte. Lange sollte sich bloß nichts einbilden: Kommissaranwärter war kein Dienstgrad, der Mann war nach wie vor Kriminalassistent, und ob er die Prüfung zum Kriminalkommissar schaffen würde, musste sich erst zeigen. So lange jedenfalls hatte Reinhold Gräf den höheren Dienstgrad.
Der Kriminalassistent gehorchte ohne Murren und ging zum Kofferraum des Mordautos, ruckelte einmal daran, ruckelte ein zweites Mal, diesmal heftiger, doch nichts passierte. Gräf kannte das, bei Nässe klemmte die Klappe meistens. Es gab da einen Trick, den hätte sich der Kriminalassistent wohl besser mal zeigen lassen in all den Monaten, die er nun schon am Alex war. Der Kriminalsekretär umkurvte die Pfützen und ging zum hell erleuchteten Lieferanteneingang hinüber, in dem ein Schupo Wache stand. Der Regen hatte sich in Gräfs Hutkrempe gesammelt und ergoss sich auf den Betonboden, als er den Kopf neigte, um seinen Dienstausweis aus der Westentasche zu fummeln. Der Schupo trat einen Schritt beiseite, um das Wasser nicht auf die Stiefel zu bekommen. »Melde gehorsamst: Polizeioberwachtmeister Reuter vom sechzehnten Revier, Voßstraße. Uns wurde gegen vier Uhr zweiunddreißig telefonisch ein Leichenfund gemeldet. Haben die Lage in Augenschein genommen und dann unverzüglich die Mordbereitschaft informiert.« »Schon irgendwelche Erkenntnisse?« »Keine, Herr Kommissar, nur dass ...« »Kriminalsekretär«, sagte Gräf. »Kommissar ist noch unterwegs.« »Melde gehorsamst: keine Erkenntnisse, Herr Kriminalsekretär. Außer dass der Mann tot ist.« Gräf nickte. »Wo liegt sie denn, unsere Leiche?« Der Tschako zuckte zur Betondecke. »Oben.« »Auf dem Dach?« »Im Lastenaufzug. Vierte Etage. Oder dritte. Ist stecken geblieben. « Gräf schaute sich um.
Links waren zwei schmucklose metallene Aufzugtüren zu sehen. Rechts führte eine Betontreppe nach oben. »Wir haben niemanden mehr mit den Aufzügen hier fahren lassen«, sagte der Schupo, »wegen der Spurensicherung.« »Sehr gut«, lobte Gräf. Derartige Umsicht war bei Schutzpolizisten nicht selbstverständlich, obwohl Gennat nicht müde wurde, auch den Blauen immer wieder die Grundlagen moderner Polizeiarbeit zu predigen. »Gab's irgendwelche Probleme deswegen?« »Nur mit dem Gerichtsmediziner. Der hat geflucht, als er die Treppe hochsteigen musste.«
»Gibt's denn keine Personenaufzüge?« »Jede Menge. Aber nicht hier hinten. Weiter vorne im Gebäude, in der Mittelhalle.« Gräf seufzte und nickte der Stenotypistin zu, die inzwischen auch angekommen war und ihren Regenschirm ausschüttelte. »Wir müssen Treppen steigen, Fräulein Temme«, sagte er und öffnete die Tür. Er sah noch, dass Lange den Kofferraum endlich aufbekommen hatte, bevor er mit der Stenotypistin zur vierten Etage hinaufstiefelte. Eine Handvoll Männer blickte sie an, als sie oben aus dem Treppenhaus traten. Neben dem Schupo, der hier Wache schob, stand ein Wachmann der Berliner Wach- und Schließgesellschaft, daneben ein Mann, der unschwer als Koch zu erkennen war, dann einer im Blaumann und schließlich ein elegant gekleideter drahtiger Herr, dessen sandfarbener Sommeranzug dunkle Regenflecken aufwies. Mit wenigen Blicken verschaffte sich Gräf einen Überblick: hinter ihm die Tür zum Treppenhaus, in der Wand links von ihm zwei Fenster, in der Wand gegenüber die beiden Aufzugtüren.
Die linke Doppeltür war geöffnet und gab den Blick in den düsteren Schacht frei und auf ein dickes Drahtseil, an dem die stecken gebliebene Aufzugkabine hing, von der nur die oberen zwei Drittel zu sehen waren. Das Licht in der Kabine brannte noch und beleuchtete einen großen Stapel sperrhölzerner Schnapskisten, die auf einem Gitterwagen standen. Mathée Luisenbrand war in schnörkeligen Buchstaben auf das Holz gebrannt. Der schmeckt , dachte Gräf und zückte seinen Dienstausweis. »Was ist denn passiert?«, fragte er in die Runde. Bevor der Schupo etwas sagen konnte oder sonst jemand, hatte sich der Anzugmann, dessen struppiges Haar davon kündete, dass man ihn aus dem Bett geholt hatte, schon in Bewegung gesetzt. »Ich kann es mir nicht erklären, Herr Kommissar, es ist alles ...« »Kriminalsekretär«, verbesserte Gräf. »Kommissar kommt gleich.« »Fleischer, Direktor Richard Fleischer«, sagte der Anzugmann und streckte seine Hand aus. »Ich leite Haus Vaterland .« »Soso.« »Ich hoffe, wir können diese unerfreuliche Angelegenheit diskret behandeln, Herr Kriminalsekretär. Und schnell. Wir öffnen in wenigen Stunden, und ...«
»Wir werden sehen«, sagte Gräf. Direktor Fleischer wirkte irritiert. Er war es offenbar nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Schon gar nicht zweimal hintereinander. »All unsere Fahrstühle«, fuhr er fort, »auch die Lastenaufzüge und selbst die Speiseaufzüge werden regelmäßig gewartet, zuletzt vor einem Vierteljahr. Immerhin haben wir siebzehn Aufzüge in unserem Haus und können uns nicht erlauben, dass ...« »Aber stecken geblieben ist er, Ihr Lastenaufzug, oder?« Fleischer wirkte beleidigt. »Das sehen Sie ja selbst«, sagte er. »Aber dadurch ist Herr Lamkau nicht ums Leben gekommen.« »Solche Schlussfolgerungen überlassen Sie mal der Kriminalpolizei. Sie kennen den Toten?« »Nicht persönlich. Einer unserer Lieferanten.« Gräf nickte und betrachtete die Aufzugkabine, in der sich ein Schatten bewegte. Neben der Schnapslieferung erhob sich eine hagere Gestalt in einem weißen Kittel, und ein blond gescheitelter Kopf schaute aus der Kabine. Obwohl Doktor Karthaus fast eins neunzig maß, war von ihm nur ein Brustbild zu sehen. Es sah aus wie im Kasperletheater. »Na, wenn das mal nicht die Kripo ist!« Karthaus' Worte klangen metallisch hohl aus dem Schacht. »Herr Doktor! Erstaunlich, dass Ihr Horch immer schneller ist als das Mordauto!« »Beschweren Sie sich nicht. Seien Sie froh, dass ich Dienstbereitschaft habe. Doktor Schwartz hätte sich geweigert, hier reinzuklettern. Hätte er in seinem Alter wahrscheinlich auch gar nicht mehr geschafft.« »Tja«, sagte Gräf, »die Würde des Alters lässt sich mit dem, was wir hier tun, nicht immer vereinbaren.« »Da haben Sie recht«, meinte Karthaus, »trotzdem würde ich lieber arbeiten, als hier nur Däumchen zu drehen.« Gräf ging hinüber und schaute in die Kabine. Der Tote lag neben seiner Lieferung und steckte in einem hellgrauen Krämerkittel. Sein Gesicht war bleich, die Lippen blau. Über ihm war ein rotes Tuch an das Gitter geknotet, der Stoff schien wasserdurchtränkt zu sein. Auch die Haare glänzten nass, die Schultern ebenfalls, der Stoff des Kittels hatte sich an den Schultern dunkelgrau gefärbt, und rings um den Kopf waren noch die Spuren einer Wasserlache und eines Rinnsals zu erkennen, das zur Aufzugsecke hin abgeflossen war. »Ist noch in den Regen gekommen, was?« Der Gerichtsmediziner zuckte die Achseln. »Das müssen Sie die Spurensicherer fragen. Ich hoffe, die kommen bald, damit ich endlich loslegen kann.« »Sind unterwegs.« »Und wo bleibt der Kommissar?« »Kommt Zeit, kommt Rath«, sagte Gräf. Er zeigte zur Tür, wo sich die Spitze eines Kamerastativs aus dem Treppenhaus schob. »Jetzt kommt erst einmal der Kollege Lange und macht Fotos. Und danach dürfen Sie an die Leiche.« Lange, der Kamera und Stativ geschultert hatte, schaute fragend in die Runde. Gräf nickte nur kurz in Richtung Aufzug, und der Kriminalassistent verstand. »Morgen, Doktor«, sagte Lange und ließ das schwere Gerät in die Aufzugskabine hinab, »könnten Sie das vielleicht mal annehmen? « Gräf wandte sich wieder den wartenden Zeugen zu. »Wer hat den Toten eigentlich gefunden?« Der Koch hob die Hand wie in der Schule. »Ich, Herr Kriminalsekretär. « »Herr Unger ist einer unserer Chefköche«, soufflierte Direktor Fleischer.
Gräf ging es mehr und mehr auf den Wecker, wie der Geschäftsführer sich in den Vordergrund drängte. »Wo waren denn Sie, als die Leiche gefunden wurde, Herr Direktor?«, fragte er. »Ich?« Fleischer stutzte. »Natürlich zu Hause. Wieso wollen Sie das wissen?« »Ehrlich gesagt wundert es mich, dass sich der Direktor persönlich zu dieser Uhrzeit schon im Gebäude aufhält.« »Aber ich bitte Sie! Es wurde ein Toter gefunden! Der Wachdienst hat mich selbstverständlich umgehend benachrichtigt, also bin ich hergekommen.« »Sehr lobenswert«, sagte Gräf und nickte anerkennend. »Ich nehme aber an, die anderen Herren hier waren vor Ort, als die Leiche gefunden wurde.« Wachmann, Koch und Blaumann nickten. »Gut. Dann werde ich Sie als Erstes befragen. Wo kann man sich denn hier in Ruhe unterhalten?« »Ich ... ähh ... Ich könnte Ihnen mein Büro anbieten«, sagte Direktor Fleischer, sichtlich überrumpelt. »Gute Idee. Steht dort auch ein Telefon?« »Selbstverständlich.« »Dann führen Sie mich und Fräulein Temme doch bitte dorthin. Und lassen Sie alle Mitarbeiter zusammentrommeln, die zum Zeitpunkt des Leichenfundes im Hause waren.« Fleischer nickte und setzte sich in Bewegung. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Wir müssen zwei Etagen tiefer.« Aus dem Lastenaufzug blitzte es. Lange hatte mit dem Fotografieren begonnen. Gräf seufzte. Jetzt musste er nur noch herausbekommen, wo zum Teufel Gereon Rath sich gerade herumtrieb, dann würde der Tag vielleicht doch zu retten sein.
Die Dämmerung schimmerte graublau durch das Glasdach und hatte schon begonnen, das müde Licht der elektrischen Glühbirnen zu verdrängen. Stimmengemurmel, Lautsprecherkratzen und Trillerpfeifen, die typischen Bahnhofsgeräusche kamen Rath lauter vor als sonst, was an der Tageszeit liegen mochte. Die große Uhr zeigte dreiundzwanzig Minuten nach fünf, und er hatte den Eindruck, dass die meisten Leute, die sich um diese Zeit im Bahnhof Zoo herumtrieben, genauso müde waren wie er selbst, trotz des Lärms, den sie veranstalteten.
Er hatte zwei Tassen schwarzen Kaffee getrunken, doch immer noch fühlte er sich, als sei er nicht in seinem Körper, sondern schwebe irgendwo darüber und beobachte sich selbst: einen groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann im hellgrauen Sommeranzug und mit dazu passendem Hut, in der einen Hand eine Bahnsteigkarte, in der anderen einen Blumenstrauß und eine rote Hundeleine. Ein müder Mann, der gerade durch die Sperre ging, einen ebenso verschlafenen schwarzen Hund im Schlepptau.
24Die Blumen hätte er beinahe vergessen, erst als er den Bahnhof Zoo betreten hatte, war ihm das eingefallen. Und dann hatte er im Blumenladen unten in der Halle schon Licht gesehen und an die Scheibe geklopft. Das Mädchen, das gerade die frisch eingetroffenen Blumen in die Vasen sortierte, hatte ein Einsehen gehabt und den Laden aufgeschlossen und ihm - gegen Aufpreis - einen Strauß gebunden. So standen sie also nun auf dem Bahnsteig wie bestellt und nicht abgeholt: ein Mann, ein Hund, ein Blumenstrauß. Rath reckte sich und stellte sich auf die Zehenspitzen, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen, dann zog er das Zigarettenetui aus der Innentasche, klemmte die Blumen unter den Arm und zündete sich eine Overstolz an.
Eigentlich hätte er gar nicht hier stehen dürfen, er war für die Wochenendbereitschaft eingeteilt, und das hieß, er musste jederzeit telefonisch erreichbar sein. Normalerweise gab man am Alex immer die aktuelle Telefonnummer durch, unter der man zu erreichen war, wollte man nicht das ganze Wochenende zu Hause neben dem Telefon verbringen. Rath vermutete, dass sich Buddha Ernst Gennat, der Leiter der Mordinspektion, allein anhand der Rufnummern, die während der Rufbereitschaft hinterlassen wurden, ein genaues Bild von den Gewohnheiten seiner Beamten machen konnte, welche Kneipen sie so besuchten, welche Restaurants, Theater, Kinos, Sporthallen, Rennbahnen, vielleicht auch welche Frauen. Genau deswegen blieb Rath nach Möglichkeit zu Hause, wenn es ihn traf. Genau wie heute, nur dass er niemandem am Alex Bescheid gesagt hatte, dass er kurz zum Bahnhof Zoo raus war.
Er würde eine halbe, vielleicht eine Dreiviertelstunde weg sein, was sollte da schon passieren? In der letzten Zeit hatte es kaum Mordfälle gegeben - wenn man die Kommunisten und Nazis nicht mitzählte, die einander mit wachsendem Vergnügen totschlugen, seit die neue Reichsregierung als eine ihrer ersten Amtshandlungen das SA -Verbot der Regierung Brüning wieder einkassiert hatte. Erst gestern hatte es im Wedding und in Moabit Schießereien gegeben. Das Ergebnis: ein toter Nazi, acht Verletzte. Um diese Fälle kümmerte sich die Revierkripo, vom Alex kamen da, wenn überhaupt, nur die Beamten der Politischen Polizei raus. Ansonsten hatten vor allem Selbstmorde Konjunktur, nach wie vor: Im Grunewald hatte sich jemand den Kopf weggeschossen, in der Bernauer Straße eine Frau ihr fünfjähriges Kind aus dem Fenster geworfen und war hinterhergesprungen. Der alltägliche Wahnsinn also. Selten war Gereon Rath die Arbeit in der Mordinspektion so sinnlos vorgekommen wie in der jüngsten Zeit.
Er hatte immer gedacht, die Polizei sei dazu da, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen; mittlerweile aber kam es ihm so vor, als seien sie nur noch diejenigen, die die Scherben zusammenkehrten. Der Lautsprecher auf dem Bahnsteig kratzte, und dann kündigte eine militärisch schnarrende Stimme an, der Nordexpress werde mit etwa zehn Minuten Verspätung in Berlin eintreffen. Rath schnippte die Overstolz auf den Bahnsteig und zündete sich gleich die nächste an. Dann eben noch eine Zigarettenlänge warten. Er spürte, dass er umso nervöser wurde, je länger ihr Zug auf sich warten ließ. Außer ihm war sonst niemand am Bahnhof, kein Grinsemann, keine Greta, niemand, der hätte stören können, zwei Anrufe hatten gereicht, um das sicherzustellen.
Rath wusste, dass die meisten von Charlys Freunden ihm ohnehin nicht gern über den Weg liefen, schon immer hatten sie ihn irgendwie gemieden. Oder er sie, so genau wusste er das nicht. Mit all diesen Juristen und Studenten hatte er jedenfalls noch nie etwas anfangen können. Er musste daran denken, wie er Charly zum Bahnhof gebracht hatte letzten Herbst und wie beschissen er sich dabei gefühlt hatte. Nun endlich kam sie zurück, und er fühlte sich kaum besser, obwohl er nichts so sehr herbeigesehnt hatte wie diesen Moment. Ein Semester hatte sie in Paris bleiben wollen, dann waren es doch zwei geworden. Sie hatten sich viel geschrieben in der Zeit und auch telefoniert, aber nur ein einziges Mal gesehen, ein paar Wochen nach ihrer Abfahrt, als sie sich in einem Hotelzimmer in Köln getroffen und nach einer hektischen Liebesnacht wieder verabschiedet hatten. Und dann war sein lange geplanter Weihnachtsbesuch in Paris ins Wasser gefallen, weil er keinen Urlaub hatte nehmen können. Ein Auftragsmörder hatte Berlin unsicher gemacht, ein Scharfschütze, der seine Opfer mit einem einzigen präzisen Schuss ins Herz erledigte und keine Spuren hinterließ. Sein erstes Opfer, einen halbseidenen Rechtsanwalt, hatte es vor dem Opernhaus in Charlottenburg erwischt, nur das Projektil hatte der Mörder zurückgelassen, keinerlei weitere Spuren, und Czerwinski, der dicke Kriminalsekretär, hatte noch am Tatort gewitzelt: »Vielleicht war es ja das Phantom der Oper.« Damit hatte der Mörder seinen Namen weg, einen Namen, den auch die Hauptstadtpresse dankbar aufgegriffen hatte.
Das Phantom, wie der Todesschütze seither auch im internen Dienstgebrauch genannt wurde, hatte Rath eine weihnachtliche Urlaubssperre beschert, und er hatte sich damit getröstet, dass Charly ja schon Mitte Februar zurückkehren werde. Oder sie das Phantom noch vor Silvester schnappen würden und er wenigstens zum Jahreswechsel für ein paar Tage nach Paris reisen könnte. Beides war nicht eingetreten. Sie hatten das Phantom nicht erwischt, nicht vor Silvester, nicht im neuen Jahr, der Unbekannte hatte im Gegenteil weitergemordet, mindestens zwei weitere Todesfälle gingen auf sein Konto, wahrscheinlich sogar mehr, der mysteriöse Scharfschütze war zu einem Symbol des Versagens der sonst so erfolgsverwöhnten Inspektion A geworden. Und Charlys Rückkehr ... Ende Januar, zwei Wochen vor dem Termin, hatte sie nach Berlin telegrafiert, dass Professor Weyer den Vertrag mit ihr verlängert habe, und Rath hatte so getan, als freue er sich mit ihr, hatte sie beglückwünscht, obwohl er sich nicht danach fühlte. Beruflich schien alles bestens zu laufen in Paris, Fräulein Charlotte Ritter war dabei, sich einen Namen zu machen in der Welt der Juristen. In der Welt von Gereon Rath aber sah es anders aus.
Das Foto, das sie ihm dagelassen hatte, kam ihm mittlerweile so unwirklich vor, als zeige es einen Menschen, den es gar nicht gab. Nun aber war das alles vorbei. Sie kam zurück, endlich zurück, und er hatte sich geschworen, sie nie wieder so lange weggehen zu lassen. Hatte sich geschworen, sein Leben endlich in die Hand zu nehmen. Er hatte den zweiten Zigarettenstummel gerade aufs Gleisbett geworfen, da kündigte der Lautsprecher die Einfahrt des Zuges an. Endlich. Rath stellte sich kerzengerade, zupfte ein wenig an seinem Anzug und schaute den Lichtern entgegen, die langsam aus der Morgendämmerung wuchsen, geräuschlos zunächst, bis der Nordexpress auch sein Getöse in den Bahnhof schob, die Halle mit Fauchen und Wasserdampf füllte und mit lautem metallischen Quietschen.
Nachtblaue Schlafwagen zogen an Rath vorbei und wurden immer langsamer, bis der Zug mit einem letzten Zischen der Ventile schließlich zum Stehen kam. Für einen Moment war es so ruhig, als sei die Zeit stehen geblieben, dann flogen die Türen auf, und überall stiegen Menschen aus den Waggons und füllten den Bahnsteig augenblicklich mit Lärm und Geschnatter. Rath machte einen langen Hals und suchte Charlys schlanke Gestalt. Hoffnungslos in dem Gewimmel. Er musste einen Schritt zurücktreten, weil er sonst umgerannt worden wäre, da bellte der Hund einmal kurz auf, wedelte heftig mit dem Schwanz und zerrte plötzlich mit aller Kraft an der Leine.
Rath gab nach und ließ sich von Kirie durch das Gewimmel ziehen. Und dann sah er Charly auf dem Bahnsteig stehen, sah ihren suchenden Blick und blieb stehen, so sehr warf ihn dieser Anblick um. Der Hund jaulte kurz auf, als die Hundeleine spannte, und schaute sich verwundert um zu seinem Herrchen. Rath stand da und starrte Charly an. Eigentlich hatte sie sich kaum verändert, und dennoch hätte er sie beinahe nicht wiedererkannt. Ihre Frisur war anders, als er sie in Erinnerung hatte, kürzer und anders geschnitten, das dunkle Haar von einem rötlichen Schimmer, den er nicht kannte. Ihr Hut musste neu sein, und auch der Mantel, den sie trug, und die Schuhe.
Das Bild widersprach so sehr dem, das er all die Monate in seinem Gedächtnis bewahrt hatte, dass ihn das Gefühl der Fremdheit vollkommen unerwartet überfiel. Er riss den Arm hoch und winkte mit dem Blumenstrauß. Endlich hatte sie ihn entdeckt, sie lächelte, und das Grübchen auf ihrer linken Wange machte sie wieder ein wenig vertrauter. Kirie zerrte weiter an der Leine, und Rath setzte sich wieder in Bewegung, ließ sich förmlich hintreiben zu ihr. Und dann waren sie bei ihr angekommen. Der Hund fremdelte kein bisschen, er sprang sie an und leckte ihr durchs Gesicht, und sie lachte, und Rath freute sich so sehr über dieses Lachen, dass er nur dastand und guckte, immer noch dastand, als Kirie sich längst beruhigt hatte und nur noch mit dem Schwanz wedelte und sie anhechelte.
Einen Moment standen sie sich gegenüber und fanden keine Worte. Charly schaute ihn an mit ihren dunklen Augen. »Willkommen daheim«, sagte er schließlich, um überhaupt et was zu sagen, und nahm sie in den Arm. Er atmete ihren Duft, und auch wenn das Parfum ihm ebenso fremd erschien wie ihr Äußeres, erkannte er darunter doch den unverwechselbaren Geruch, den nur Charlys Haut aussandte, und dieser Duft war es, der alle Eindrücke der Fremdheit vergessen machte und mit einem Mal zahllose Erinnerungen zurückbrachte; nicht eigentlich Erinnerungen, nichts aus dem Gedächtnis, sondern etwas viel tiefer Gehendes, von dem er nicht gewusst hatte, dass es überhaupt existierte. So viel lag in diesem Duft, dass Rath sich mit einem Mal fühlte, als habe es die vergangenen Monate der Trennung nie gegeben, als würde es so etwas wie Trennung zwischen ihnen gar nicht geben können. Er drückte sie lang und trat einen Schritt zurück, um sie zu betrachten. Ihre Augen lachten. »Sind die Blumen da für mich? Oder erwartest du noch jemanden? « »Marlene Dietrich. Aber die scheint den Zug verpasst zu haben.« Sie verdrehte die Augen, aber sie lächelte dabei. Rath reichte ihr den Strauß. »Jetzt bin ich völlig hilflos«, sagte sie und hob beide Hände.
In der linken hielt sie eine kleine Reisetasche, in der rechten die Blumen. »Hilflos ist gut«, sagte er und gab ihr einen Kuss. Als er spürte, wie sie ihn erwiderte, hätte er auf der Stelle über sie herfallen können. Doch dann fing der Hund an zu bellen, und die Leute guckten zu ihnen herüber. »Ich denke, wir sollten sehen, dass wir in eine etwas privatere Umgebung kommen«, sagte Rath, und sie grinste. Er organisierte einen Gepäckträger und führte Charly zum Auto, das gleich vor dem Bahnhof parkte. Der Dienstmann verstaute Charlys Koffer und die Tasche auf dem Schwiegermuttersitz, und Rath gab ihm ein anständiges Trinkgeld. Kaum hatte er die Beifahrertür geöffnet, sprang Kirie in den Wagen. Er zog den widerstrebenden Hund am Halsband aus dem Auto und schickte ihn neben die Koffer auf den Notsitz. »Der Hund weiß eigentlich, dass er nach hinten muss, wenn jemand anderes mitfährt«, sagte Rath, als er neben ihr im Auto saß und den Motor startete.
»Wer ist denn so alles mitgefahren in den letzten Monaten?« »Offensichtlich so wenige, dass Kirie sich schon nicht mehr daran erinnert.« Rath legte den Gang ein. Dass er von der Hardenbergstraße gleich wieder abbog, als sie den Steinplatz erreicht hatten, schien ihr nicht weiter aufzufallen. Als er dann aber in der Carmerstraße parkte und ihr die Autotür öffnete, schaute Charly sich neugierig um. Rath hob den Hund aus dem Notsitz, dann die Koffer, und stiefelte auf das Haus zu, hinter Kirie her, die den Weg kannte, und war froh, dass Charly sein Grinsen nicht sehen konnte.
Sie folgte ihnen die kurze Außentreppe hoch und in das lichtdurchflutete, marmorgetäfelte Treppenhaus. »Guten Morgen, Herr Rath«, grüßte der Portier aus seiner Loge. »Morgen, Bergner«, erwiderte Rath. »Was wird das?«, flüsterte Charly, als sie bei den Aufzügen standen und einigermaßen außer Hörweite waren. »Wo sind wir hier?« »Lass dich überraschen.« Rath drückte den Aufzugknopf, und kurz darauf öffnete sich die Tür. Er musste dem Liftboy nicht sagen, wohin sie wollten, und als sie in der dritten Etage wieder ausstiegen, schaute Charly immer noch wie ein einziges Fragezeichen. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und schloss auf, und Kirie verschwand sofort im Türspalt. Rath öffnete die Tür zur Gänze und stellte die Koffer auf den Marmorboden in der Diele. Er musste sich Mühe geben, sein Grinsen nicht allzu breit werden zu lassen, und wandte sich ab, damit sie es nicht sah. Jetzt erst hatte sie das Messingschild neben der Tür entdeckt. Rath war dort eingraviert, mehr nicht.
Mit Vornamen hatte er sich nicht festlegen wollen. Noch nicht. »Ich fass es nicht«, sagte sie und trat ein. »Ich dachte, ich vergrößere mich etwas«, sagte Rath und half ihr aus dem Mantel. »Willst du's dir nicht ansehen?« Sie trat ein und schaute sich um. Bewundernd. Die Wohnung war schließlich schon in der Diele eindrucksvoll. Hell und modern. Nur der Hund, der sich wieder in sein Körbchen gelegt hatte und schläfrig blinzelte, störte das perfekte Bild ein wenig. »Alle Achtung! Wie lange wohnst du schon hier? Haben sie dich zum Oberkommissar befördert oder gleich zum Kriminalrat?«
Er hatte befürchtet, dass sie irgendetwas in dieser Richtung fragen würde. »Erbschaft«, sagte er also, so beiläufig wie möglich. »Onkel Joseph. « Das stimmte sogar, doch viel hatte ihm sein Patenonkel, der vor einem halben Jahr gestorben war, nicht hinterlassen. Von dem Scheck aus Übersee aber, den er vor dreieinhalb Monaten erhalten hatte, wollte er ihr lieber nichts erzählen. Zwar hatte nicht der Name Abraham Goldstein darauf gestanden, sondern nur ein Firmenname, von dem Rath bislang noch nie etwas gehört hatte, eine Transatlantic Trade Inc. , die ihm zweitausend US-Dollar consulting fee zukommen ließ, doch auch Charly würde eins und eins zusammenzählen können. Und das sollte sie nicht. Niemand durfte wissen, dass er Zuwendungen aus dubiosen Quellen annahm, dass er eigentlich sogar der Ansicht war, das Geld stehe ihm zu, wenn schon der Freistaat Preußen nicht in der Lage war, ihn anständig zu bezahlen.
Sein Jahresgehalt betrug nicht einmal fünftausend Mark. Er liebte ihre dunklen Augen, und er liebte es noch mehr, wenn Charly sie so weit aufriss wie gerade jetzt. Er wusste, wie sehr sie für moderne Architektur schwärmte, und hatte die vier Räume entsprechend eingerichtet. Nicht gerade billig, aber solide. Viel Leder und viel Stahl, edle Hölzer. Die Möbel würden hundert Jahre halten. Rath öffnete die Tür zum Salon. »Wenn ich bitten darf.« Die Morgensonne hatte sich gerade freigearbeitet und schickte ihre ersten Strahlen durchs Fenster auf einen üppig gedeckten Frühstückstisch. Es duftete nach frisch gebackenen Schrippen und Kaffee. Der Champagner stand im Kühler, die Gläser an ihrem Platz. Charly war tatsächlich sprachlos. »Ich ... Meine Güte, ist das ein Empfang«, sagte sie schließlich. »Ein Berliner Frühstück, dachte ich. Baguette und Camembert kannst du doch bestimmt nicht mehr sehen.« Er zeigte auf die Tür, die er noch nicht geöffnet hatte. »Und nachher zeige ich dir noch das Schlafzimmer.« »Lüstling!« »Stets zu Diensten, die Dame.« Er merkte, wie ihn allein der Gedanke erregte, mit ihr nach nebenan zu gehen. Auf das Frühstück hätte er jetzt gut verzichten können. »Das ist ja ...« Zu spät. Sie hatte den Champagner entdeckt. »... Heidsieck Monopol.« Genau diese Marke hatten sie bei ihrem ersten Rendezvous getrunken.
Im Europahaus. Wenn Rath daran dachte, dass das nun schon über drei Jahre zurücklag, dann war das, was er heute vorhatte, mehr als überfällig. Er schenkte vorsichtig ein und reichte ihr ein Champagnerglas. Das mit dem Ring. Er hob sein Glas, und sie stießen an. Charly lächelte und zeigte ihr Grübchen. Er beobachtete sie, während er trank; es dauerte nur einen Moment, ehe sie stutzte und den Ring aus den Champagner- perlen fischte. Sie sagte nichts, starrte nur den Ring an, der zwischen ihren Fingern tropfte und glänzte, und schien langsam zu begreifen, was das bedeuten könnte. »Fräulein Charlotte Ritter«, sagte er und nahm ihre Hand, »ich möchte hiermit und in aller Form um Ihre Hand anhalten.« Er schaute in ihre erstaunten Augen und begriff, dass dies keine Sache war, die er mit der Ironie angehen konnte, mit der er für gewöhnlich jede romantische Situation zerstörte, obwohl er sie eigentlich nur entkitschen wollte. »Charly«, sagte er und glaubte, noch nie in seinem Leben etwas mit diesem Ernst gesagt zu haben, »willst du mich heiraten?« Sie starrte ihn an, beinahe erschrocken, so glaubte er, und ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen. »Puh«, sagte sie, »das ist aber ein bisschen viel Überraschung an einem Morgen!« »Ich dachte, ich mache dir einen Antrag, bevor wir ins Schlafzimmer gehen. Ich bin katholisch.« »Das hat dich doch sonst nie gestört.« »Charly ...« Immer noch hielt er ihre Hand. Nun hockte er wirklich vor ihr wie ein Rosenkavalier des letzten Jahrhunderts, aber das störte ihn nicht. »Ich hätte dich schon längst fragen sollen. Nur ... dann kam Paris dazwischen. Aber ich meine es ernst, verdammt ernst: Willst du meine Frau werden?« Sie schaute ihn an. »Versteh mich nicht falsch, aber bevor ich antworte, muss ich ...« Sie brach ab und nahm einen neuen Anlauf. »Gereon, das ist tatsächlich eine sehr ernste Frage. Und auch wenn du sie vielleicht schon längst hättest stellen können, kommt sie jetzt doch - etwas plötzlich. Ich ...« Wieder brach sie ab, und mit einem Mal wusste Rath, warum er diese Situation so gescheut hatte, warum er ihr aus dem Weg gegangen war, obwohl er die Ringe schon vor über einem Jahr gekauft hatte.
Mit einem Mal stand da wieder diese Fremdheit im Raum, die er schon am Bahnhof gespürt hatte. Die Frau, die da vor ihm saß, trug Pariser Mode, nichts an ihr erinnerte an das Berliner Mädchen, das er kannte. Er ließ ihre Hand los und wollte wieder aufstehen, da spürte er, wie sie seinen Kopf in ihre Hände nahm und ihn küsste. Sofort war die erotische Stimmung, die er schon zum Teufel glaubte, wieder da. Jedenfalls seine Erektion. »Ist das jetzt ein Ja?«, fragte er. »Lass uns nicht reden«, sagte sie, »nicht jetzt. Später.« Er küsste sie noch einmal und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. »Nicht so stürmisch«, sagte sie. »Wolltest du mir nicht das Schlafzimmer zeigen?« »Wie Sie wünschen, gnädige Frau.« »Fräulein!«, sagte sie entrüstet.
Er hob sie hoch und trug sie zum Schlafzimmer hinüber. Sie war so weich und warm und federleicht, wie er sie in Erinnerung hatte. Er wusste nicht, ob er sich mit seinem Antrag blamiert hatte, er wusste nicht, wie ihre Antwort lautete, er wusste nur, dass sie das ernste Thema mit einem Kuss beiseitegeschoben hatte und es zwischen ihnen plötzlich wieder so war wie früher. Das Telefon klingelte. Er ließ sich nicht beirren und bugsierte Charly ins Schlafzimmer, ließ sie aufs Bett fallen und küsste sie, während er sich wieder an ihrer Bluse zu schaffen machte und sie seinen Krawattenknoten löste. Das Telefon klingelte weiter. Da war jemand hartnäckig, doch Rath war entschlossen, das Klingeln zu ignorieren, bis Kirie das Telefon mit ihrem Bellen übertönte, und Charly grinste und sagte: »Vielleicht ist es doch besser, du gehst ran.« Rath schaute auf die Uhr. Viertel vor sechs. Er seufzte und stand auf, ging an den Apparat und meldete sich.
»Mensch, Gereon, endlich! Wo hast du gesteckt, verdammt noch mal?« Reinhold Gräf. Rath hatte es befürchtet. »War nur kurz am Bahnhof.« »Kurz? Verdammt, ich versuch schon seit einer Ewigkeit, dich zu erreichen ...« »Was ist denn los?« »Männliche Leiche. Haus Vaterland , Potsdamer Platz.« »Scheiße.« »Ja, Scheiße! Mensch, beeil dich, bevor neben allen anderen Beteiligten auch noch Böhm spitzkriegt, dass der diensthabende Kommissar auf sich warten lässt!« Rath legte auf und zog die Krawatte fest. Er musste Charly nichts erklären, sie war schon dabei, ihre Bluse wieder zuzuknöpfen. 3 Das Haus Vaterland lag am Potsdamer Platz wie ein gestrandeter Vergnügungsdampfer, und etwas in der Art war es auch. Mit Patriotismus hatte das Haus nichts am Hut, es ging einzig und allein darum, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, und zwar möglichst viel davon. Hinter der Fassade warteten rund ein Dutzend verschiedenartigster Lokale auf Kundschaft: ein bayrisches Brauhaus, eine spanische Bodega, eine Wildwestbar, ein türkisches Café und vieles mehr, alles mit passender Inneneinrichtung, passender Speisekarte und passendem Unterhaltungsprogramm. Gaffer, die nur mal kurz gucken und staunen wollten, waren nicht willkommen, wer hineinwollte, musste am Eingang einen Verzehrgutschein lösen.
In seinen ersten Berliner Tagen hatte Rath in der Rheinterrasse so etwas wie Heimat zu finden versucht, dann aber festgestellt, dass es hier nur viel zu süßen Wein gab und kitschige Rheinromantik. Zu Berlins viel beschworenem Weltstadtflair, an das vor allem die Berliner selbst glaubten und die Touristen aus der Provinz, die voller Staunen auf die glitzernde Stadt schauten, hatte das Etablissement jedenfalls nicht viel beizusteuern, da hatten die mondänen Bars im Westen wie Femina oder Kakadu eindeutig mehr zu bieten, jedenfalls für Raths Geschmack. Das Vaterland beeindruckte mit seiner schieren Größe und mit den Neonröhren, deren Lichteffekte den nächtlichen Potsdamer Platz beherrschten. Um diese Uhrzeit allerdings war der gestrandete Vergnügungsdampfer so tot wie ein Geisterschiff.
Nur die Autos vor dem Lieferanteneingang, allen voran das Mordauto, zeigten, dass irgendetwas passiert sein musste. Rath parkte seinen Buick hinter dem Opel vom Erkennungsdienst und blieb noch einen Moment im Wagen sitzen. Er zog an seiner Overstolz und blies den Rauch gegen die Windschutzscheibe. Noch nie hatte er so wenig Lust auf Arbeit verspürt, ja, einen regelrechten Widerwillen gegen seinen Beruf empfunden, wie an diesem Morgen. Einen Moment lang hatte er daran gedacht, Charly einfach mitzunehmen, doch sie hatte abgelehnt. »Was sollen die Kollegen denken, wenn wir zu zweit dort auftauchen?« Ihre Antwort hatte ihn auf eine unbestimmte Weise gekränkt, obwohl er wusste, dass sie recht hatte.
Er drückte die Zigarettenkippe in den winzigen Aschenbecher des Buick und stieg aus, entschlossen, die Sache hier so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und in die Carmerstraße zurückzukehren, zu Charly, in deren Obhut er Kirie gelassen hatte. Doktor Karthaus, der auch außerhalb des Seziersaales stets seinen weißen Arztkittel trug, stand vor dem Eingang, in der Hand eine Zigarette, und unterhielt sich mit einem Schupo. Der Blaue salutierte, als Rath herantrat, der Gerichtsmediziner deutete lediglich ein Kopfnicken an. »Morgen, Doktor.« »Herr Kommissar! Schön, dass Sie uns auch noch beehren. Ich rauche mir hier vor Langeweile schon die Lunge schwarz. Was war denn los? Autopanne? Sollten sich besser einen deutschen Wagen zulegen.« Rath ignorierte die Anspielung. »Was für eine Leiche haben wir denn hier?«, fragte er. Karthaus lächelte sanft. »Das ist das Schöne an der Kriminalpolizei - dass man alles dreimal erzählen darf. Kommen Sie mit, dann zeig ich's Ihnen. Liegt noch oben. Die Bestatter warten schon sehnsüchtig darauf, sie endlich abtransportieren zu können.«
»Oben?« Karthaus schnippte seine Zigarette in eine Pfütze. »Wenn der Herr Kommissar bitte folgen wollen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich der Gerichtsmediziner um und ging ins Gebäude. Rath folgte dem weißen Kittel in einen großen, schmucklosen Raum, von dem zwei Lastenaufzüge und ein Treppenhaus abgingen. Schien die Warenannahme von Haus Vaterland zu sein. Karthaus nahm die Treppe.
Es ging in den vierten Stock, wo zwei Schupos und zwei schwarz gekleidete Männer vor den Aufzügen warteten. Auf dem Boden stand ein Zinksarg. »Können wir jetzt?«, fragte einer der Schwarzen, als er den Doktor sah. »Gleich. Der Herr Kommissar nimmt die Leiche noch eben in Augenschein.« Karthaus lächelte säuerlich und zeigte auf eine Aufzugkabine, die einen guten Meter zu tief im Schacht hing. Zwei Spurensicherer waren damit beschäftigt, Fingerabdrücke sicherzustellen, von den Aufzugknöpfen und von einem Gitterwagen, der in der Kabine stand und in voller Höhe mit Spirituosenkisten beladen war. »Irgendein dämlicher Unfall, oder was?«, fragte Rath und zündete sich eine Zigarette an. Er verspürte schon jetzt wenig Lust, diesem läppischen Mist hier nachzugehen. Hätte Gräf das nicht auch alleine regeln können? »Unfall?« Karthaus schaute skeptisch. »Ich fürchte nicht.« Rath stieg in die Kabine hinunter, die Zigarette zwischen den Lippen, der Gerichtsmediziner folgte ihm.
Der Tote lag auf dem Boden und trug einen grauen Arbeitskittel. Seine weit aufgerissenen Augen, die noch niemand geschlossen hatte, waren weit aus den Höhlen getreten und stierten ins Leere, als hätten sie sämtliche Schrecken der ewigen Verdammnis gesehen; und einen kurzen Moment war Rath von der Vorstellung gefangen genommen, der Lastenaufzug des Hauses Vaterland führe tatsächlich geradewegs immer weiter nach unten bis in die Hölle. Unwillkürlich folgte Rath den toten Augen und schaute nach oben, sah aber nur vergilbtes Sperrholz. »Wie ist er denn gestorben, wenn's kein Unfall war?« Der Doktor räusperte sich. »Ich weiß, es hört sich ungewöhnlich an, doch ich bin mir sicher, dass die Obduktion meine Einschätzung bestätigen wird ...« »Obduktion?« »Ihr Kollege hat bereits mit dem Staatsanwalt telefoniert. Auf meine Empfehlung hin, natürlich.« »Wo sind sie überhaupt, die Kollegen?« »Zeugenvernehmungen, soweit ich weiß. Also«, sagte Karthaus ungeduldig, »dieser Mann ist, wenn mich nicht alles täuscht, ertrunken. « Die Spurensicherer schienen Karthaus' Befund zu kennen, jedenfalls arbeiteten sie mit stoischer Miene weiter. »Ertrunken?«, fragte Rath. »Ertrinkt man normalerweise nicht im Wasser?« »Vielleicht wurde die Leiche hier nur abgelegt.« »Sieht nicht so aus«, mischte sich einer der Spurensicherer ein. »Haben sogar Fußspuren von ihm gefunden.Deutet alles darauf hin, dass er selbst in diesen Aufzug gestiegen ist.« Der andere Mann schwieg und sicherte in aller Seelenruhe einen Fingerabdruck auf dem Stahlrohr des Gitterwagens. »Außerdem«, fuhr sein Kollege fort, »ist er mit dem eigenen Lieferwagen angereist. Also, wennse mich fragen: Den hat niemand hier abgelegt.« Rath schaute Doktor Karthaus an, doch der zuckte nur mit den Achseln. »Nach der Obduktion wissen wir mehr«, sagte er. »Wo ist der Kollege Gräf, sagten Sie?« »Vernehmungen. In irgendeinem Büro. Fragen Sie die Schupos «, sagte Karthaus und kletterte aus der Kabine.
Rath drückte seine Zigarette draußen auf dem Fußboden aus, ungefähr in Brusthöhe, und folgte dem Gerichtsmediziner, der es eilig hatte, sich zu verabschieden. Die Bestatter sahen das als Aufforderung, sich endlich an die Arbeit zu machen, und hievten ihren Zinksarg zum Aufzug. Ein Blauer erbot sich, den Herrn Kommissar zu seinen Kollegen zu bringen. Während Rath dem Uniformierten nach unten folgte, durch einen dunklen Lagerraum und das gespensterhaft leere Löwenbräu, in dem noch die Bierdünste des Vorabends in der Luft standen, überkam ihn wieder dieses Gefühl, am falschen Ort zu sein.
Der Schupo öffnete eine große Tür, und plötzlich standen sie in der imposanten Mittelhalle. Von hier gelangte man über eine Vielzahl von Treppen, Galerien, Aufzügen und Türen zu all den unterschiedlichen Lokalen und Attraktionen, die Haus Vaterland auf vier Etagen für seine Gäste bereithielt. Rath hatte die Halle als einen Ort geschäftigen Rummels in Erinnerung, überall Menschen, auf dem Weg von einem Restaurant ins nächste, jetzt aber wirkte sie, gerade wegen ihrer Größe, gespenstisch leer. Nur rund zwei Dutzend Menschen warteten auf den Treppenstufen, ein paar in Küchenschürzen, andere in Kellnerkleidung oder Straßenanzügen, ein paar im Blaumann.
Vier, fünf Schupos standen in der Gegend herum wie Hunde, die eine Schafherde bewachten. Und wie der Schäfer stand Kriminalassistent Andreas Lange mit zwei Uniformierten an der Treppe, auf der sich die Angestellten niedergelassen hatten. Als er Rath entdeckte, ließ er die Schupos stehen. »Morgen, Herr Kommissar. Schön, dass Sie hier sind.« »Morgen, Lange. Was für ein Menschenaufl auf!« »Alles Zeugen. Hat Kollege Gräf zusammentrommeln lassen.« »Und die haben alle was gesehen?« Lange zuckte die Achseln. »Wissen wir noch nicht. Das sind alle Mitarbeiter, die zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt schon hier im Haus waren. Oder noch.« »Alle?« Rath schaute sich die Wartenden an. Wenn Gräf wirklich vorhatte, die alle zu befragen, dann säßen sie noch Stunden hier. »Da können wir ja froh sein, dass die Sache nicht gestern Abend passiert ist, als hier Hochbetrieb herrschte.
Dann säßen jetzt ein paar Tausend Leute mehr hier auf den Treppen.« Lange schwieg. Rath musste an Charly denken, die in der Carmerstraße wartete, und bekam immer schlechtere Laune. »Schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte er. »Wie man's nimmt. Wir haben einen Toten, wir haben eine ungewöhnliche Todesart. Und sonst nicht den blassesten Schimmer, was dem armen Kerl passiert ist.« »Ertrunken. Glauben Sie das wirklich?« Lange zuckte die Achseln. »Wenn der Experte das sagt.« »Ist der Tote denn schon identifi ziert?« Lange zog ein Dokument aus der Tasche. »Hat die Spurensicherung in seinem Kittel gefunden.«
Herbert Lamkau , las Rath. Ein Führerschein, ausgestellt im Oktober 1919 im Landkreis Oletzko. Der Mann auf dem Foto blitzte aus den Augen, als habe er den Passfotografen mit seinem Blick erstechen wollen. Wahrscheinlich von Kaiser Wilhelm abgeguckt. »Lamkau. Das steht auch draußen auf dem Lieferwagen, oder?« Lange nickte. »Ist wohl der Inhaber.« »Komisch, dass der Chef persönlich die Lieferung ausfährt ...« »Wer weiß, wie groß die Firma ist. Vielleicht ist er der einzige Mitarbeiter.« »Eine Klitsche soll einen Riesenbetrieb wie das Haus Vaterland beliefern? Kann ich mir nicht vorstellen. Versuchen Sie mal herauszufinden, wie groß die Firma ist und ob Lamkau immer selbst rausgefahren ist.« »Wird gemacht.« »Und sagen Sie den Leuten vom ED , sie sollen sich in jedem Fall auch mal die Technik des Aufzugs anschauen. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen.« Lange nickte. »Wir haben schon mit dem Haustechniker gesprochen. Und mit dem Koch, der buchstäblich über die Leiche gestolpert ist ...« »Aha.« »Der Mann hat den Aufzug hochgeholt in den vierten Stock und wäre beinahe in die Kabine gefallen, als er die Tür geöffnet hat. Hat erst im letzten Moment gesehen, dass die viel zu tief im Schacht hing, und sich gerade noch festhalten können.
Tja, und dann hat er die Leiche entdeckt.« »Und Alarm geschlagen.« »Ja. Hat den Wachdienst informiert, und der wiederum hat uns alarmiert. Der Haustechniker hat sich den Aufzug angesehen und gesagt, damit sei eigentlich alles in Ordnung.« »In Ordnung sah mir das nicht aus.« Lange zuckte die Achseln. »Der Techniker geht davon aus, dass jemand irgendwo zwischen zwei Stockwerken den Notausschalter betätigt und dann nicht Bescheid gesagt hat.
Dann kann es wohl vorkommen, dass die Kabine nicht mehr richtig justiert ist und nicht exakt auf Bodenniveau hält.« »Mmm-ha ...« Rath sah ein undeutliches, verschwommenes Bild durch seine Gedanken flimmern, doch bevor er Einzelheiten erkennen konnte, hatte es sich schon wieder aufgelöst. »Demnach müsste Lamkau den Notausknopf gedrückt haben, bevor er gestorben ist, oder?«, fragte er. »Wir werden sehen. Der ED hat die Fingerabdrücke auf dem Knopf gesichert.« Rath zeigte zu der Bürotür. »Und wer sitzt gerade beim Kollegen Gräf drin?« »Der Wachmann. Nach dem Koch der Zweite, der die Leiche gesehen hat.« »Gut, dann lass ich mich da mal blicken.« Rath klopfte und trat ein, noch bevor jemand »Ja, bitte« sagen konnte. Das Büro war überraschend klein und dunkel, verglichen mit der gleißenden Helligkeit der riesigen Halle; einzige Lichtquelle war eine Schreibtischlampe mit grünem Schirm. Reinhold Gräf wirkte erleichtert, als er seinen Chef erblickte. An der Wand hinter dem Direktionsschreibtisch, an dem der Kriminalsekretär saß, hingen unzählige Künstlerfotos: Musiker, Zauberer, Sänger, Tänzerinnen. An einem kleinen Besuchertisch saß Christel Temme mit ihrem Block und registrierte das Eintreffen des Kommissars genauso gleichmütig wie alles andere. Die Temme war berüchtigt dafür, selbst bei der Vernehmung des abgebrühtesten Mörders keine Miene zu verziehen. Sie schrieb alles, was gesagt wurde, ungerührt mit, ganz gleich, wie ungeheuerlich es sein mochte.
Oder wie unwichtig. Auf dem Stuhl zwischen den Schreibtischen saß allerdings kein abgebrühter Mörder, sondern ein hagerer Mann in der Uniform der Berliner Wach- und Schließgesellschaft, der Anfang vierzig sein mochte und seine Mütze in der Hand knetete. Gräf stand von seinem Stuhl auf. »Der Herr Kommissar«, sagte er. Halb war es eine Begrüßung, halb eine Erklärung für den Wachmann. Der Kriminalsekretär blieb neben seinem Stuhl stehen, als wolle er seinem Vorgesetzten Platz machen. Der Wachmann stand ansatzweise auf und deutete ein Kopfnicken an, Rath beschied ihm mit einer Handbewegung, sich wieder zu setzen. »Herr Janke arbeitet als Wachmann hier im Hause«, erläuterte Gräf überfl üssigerweise.
Rath nickte und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Fahren Sie doch bitte fort«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. Gräf blieb stehen, obwohl Rath den Stuhl gar nicht beanspruchte. So schauten die beiden Kriminalbeamten auf den Wachmann hinab, dessen Blick zwischen Rath und Gräf hin- und herwanderte. »Also ...«, begann der Mann, und sofort hörte man den Stenostift wieder übers Papier kratzen, »ich weiß jetzt gar nicht mehr, wo wir stehen geblieben waren ...« »Sie wollten mir gerade sagen, woran Sie erkannt haben, dass der Mann im Aufzug tot war, Herr Janke«, half Gräf, der sich wieder hinsetzte, als er merkte, dass Rath keinerlei Anstalten machte, die Befragung zu übernehmen. »Richtig.« Janke nickte. »Also, das war so, ich bin runter in die Kabine ...« »Mussten Sie die Tür öffnen?«, fragte Gräf. »Wie?« »Die Tür des Aufzugs.« »Die war doch offen. Hatte Unger schon geöffnet.« »Der Koch, der die Leiche gefunden hat.« »Genau.« Der Wachmann schielte von einem Polizisten zum anderen, als wittere er eine Fangfrage. Als niemand etwas sagte, fuhr er fort. »Also, ich bin dann rein in die Kabine. Wie der da lag mit seinen starren Augen - ich hab mir gleich gedacht, der lebt nicht mehr.
Aber ich hab erst mal seine Halsschlagader gefühlt.« »Wieso die Halsschlagader?«, fragte Gräf. »Das ... das haben wir so gelernt ... auf unserem Lehrgang. Wach- und Schließgesellschaft.« Gräf nickte und machte eine Notiz. Rath saß auf der Schreibtischkante, zog an seiner Zigarette und ertappte sich dabei, wie er auf die Uhr schaute. Alles hier ging ihm auf den Wecker, die Umständlichkeit dieses Wachmanns, Gräfs Nachfragen selbst bei unwichtigen Details, die ganze unerträgliche Langsamkeit dieser Vernehmung. »Und was haben Sie dann gemacht?«, fragte Gräf. Der Wachmann schielte zu Rath. »Ich bin dann erst mal wieder rausgeklettert aus der Kabine, und dann ...« »Vielen Dank, Herr Janke, aber so genau brauchen wir das jetzt
Gräf blieb stehen, obwohl Rath den Stuhl gar nicht beanspruchte. So schauten die beiden Kriminalbeamten auf den Wachmann hinab, dessen Blick zwischen Rath und Gräf hin- und herwanderte.
»Also ...«, begann der Mann, und sofort hörte man den Stenostift wieder übers Papier kratzen, »ich weiß jetzt gar nicht mehr, wo wir stehen geblieben waren ...«
»Sie wollten mir gerade sagen, woran Sie erkannt haben, dass der Mann im Aufzug tot war, Herr Janke«, half Gräf, der sich wieder hinsetzte, als er merkte, dass Rath keinerlei Anstalten machte, die Befragung zu übernehmen.
»Richtig.« Janke nickte. »Also, das war so, ich bin runter in die Kabine ...«
»Mussten Sie die Tür öffnen?«, fragte Gräf.
»Wie?«
»Die Tür des Aufzugs.«
»Die war doch offen. Hatte Unger schon geöffnet.«
»Der Koch, der die Leiche gefunden hat.«
»Genau.« Der Wachmann schielte von einem Polizisten zum anderen, als wittere er eine Fangfrage. Als niemand etwas sagte, fuhr er fort. »Also, ich bin dann rein in die Kabine. Wie der da lag mit seinen starren Augen - ich hab mir gleich gedacht, der lebt nicht mehr. Aber ich hab erst mal seine Halsschlagader gefühlt.«
»Wieso die Halsschlagader?«, fragte Gräf.
»Das ... das haben wir so gelernt ... auf unserem Lehrgang. Wach- und Schließgesellschaft.«
Gräf nickte und machte eine Notiz. Rath saß auf der Schreibtischkante, zog an seiner Zigarette und ertappte sich dabei, wie er auf die Uhr schaute. Alles hier ging ihm auf den Wecker, die Umständlichkeit dieses Wachmanns, Gräfs Nachfragen selbst bei unwichtigen Details, die ganze unerträgliche Langsamkeit dieser Vernehmung.
»Und was haben Sie dann gemacht?«, fragte Gräf.
Der Wachmann schielte zu Rath. »Ich bin dann erst mal wieder rausgeklettert aus der Kabine, und dann ...«
»Vielen Dank, Herr Janke, aber so genau brauchen wir das jetzt nicht!« Rath rutschte vom Schreibtisch. »Ich würde die Vernehmung gerne für eine Weile unterbrechen. Würden Sie solange bitte draußen warten.« »Aber sicher«, sagte Janke und stand auf. Gräf wartete, bis der Wachmann draußen war. »Was soll denn das jetzt, Gereon? Kannst du mir das mal verraten?« »Sie brauchen unser Gespräch nicht mitzustenografieren, Fräulein Temme, warten Sie doch bitte ebenfalls draußen. Machen Sie eine kleine Pause.« »Ich brauche keine Pause, Herr Kommissar.« »Wir rufen Sie, wenn wir Sie wieder brauchen«, sagte Rath und schaute streng. Die Stenotypistin nahm ihre Sachen und verschwand. »Verdammt, Gereon! Erst telefoniere ich stundenlang hinter dir her, dann erscheinst du endlich am Tatort und hast nichts Besseres zu tun, als eine Zeugenvernehmung abzubrechen, wo sie gerade in Fahrt kommt?« »Reg dich nicht auf.
Ich habe die Vernehmung nicht abgebrochen, nur unterbrochen. Kannst gleich weitermachen, ist doch sehr kooperativ, dieser Wachmann.« »Was hast du denn Wichtiges mit mir zu besprechen?« »Erst mal: die ganzen Leute da draußen - willst du die alle hier vernehmen? Und alle persönlich?« »Ich wollte einfach schon mal anfangen. Jetzt bist du ja da und kannst entscheiden, was gemacht wird.« »So ist es. Die abgebrochene Vernehmung kannst du gerne fortsetzen. Aber bevor du das machst, sag den Schupos draußen, sie sollen von allen Mitarbeitern, die in der Halle warten, die Personalien aufnehmen.« »Ist längst geschehen. Was meinst du, wie lange wir schon hier sind?« »Umso besser. Sollte jemand dabei sein, der eine Beobachtung gemacht hat, kannst du den meinetwegen auch noch gleich befragen. Ansonsten sollen sich die Leute gefälligst ins Präsidium bemühen. Lange kann derweil kontrollieren, ob der Erkennungsdienst seine Arbeit ordentlich macht, und alles andere erledigen wir nächste Woche im Büro.« »Und die Angehörigen? Wer informiert die?«
»Das kann doch Lange machen. Als Kommissaranwärter muss er das sowieso irgendwann mal lernen.« »Da hast du auch wieder recht.« Gräf nickte. »Aber eine Frage habe ich noch ...« »Ja?« »Was ist deine Aufgabe bei dem Ganzen?« »Deswegen gebe ich dir doch jetzt schon alle Instruktionen.« Rath versuchte gar nicht erst, reumütig oder zerknirscht zu gucken, das gelang ihm sowieso nie. »Ich muss wieder weg. Wäre dir sehr dankbar, wenn du vorerst weiter den Laden schmeißt.« »Gereon, ich hab noch nie eine Ermittlung geleitet.« »Musst du auch nicht. Mach das, was ich dir gesagt habe, und dann mach Feierabend.« Gräf guckte nicht gerade begeistert. »Na komm schon! Du hast auch was gut bei mir.« »Mensch, Gereon, du hast Nerven!« »Wie Drahtseile! Also, was ist?« »Du bist der Chef.« »Gut erkannt.« Rath klopfte dem Kriminalsekretär aufmunternd auf die Schulter. »Na komm, du machst das schon! Vielleicht war das hier alles doch nur ein dämlicher Unfall. Noch keine Anzeichen von Fremdeinwirkung.« »Ich weiß«, sagte Gräf, »aber mysteriös ist es schon. Karthaus behauptet, der Mann sei ertrunken.« Rath zuckte die Achseln. »Letzten Endes gibt es für alles eine Erklärung. Vielleicht hat der Doktor sich einfach geirrt.« Es klopfte, und die Tür öffnete sich, ein Mann in einem hellen Sommeranzug trat in den Raum, als sei er hier zu Hause, schaute sich kurz um und steuerte dann Rath an. »Herr Kommissar? Draußen sagte man mir, dass ich Sie hier fi n- de. Fleischer mein Name. Ich bin der Direktor.« Rath schüttelte die dargebotene Hand. »Angenehm.« »Schön, dass Sie endlich hier sind. Ich hoffe, Sie werden meine Leute nun nicht mehr allzu lange von der Arbeit abhalten. Wir sind mit unseren Arbeiten sehr im Verzug, die Haustechnik ist nicht besetzt, in der Zentralküche sind kaum Leute, und bald kommen die ersten Gäste ...« »Mein Kollege wird Ihnen mitteilen, welche Mitarbeiter Sie wieder an die Arbeit schicken können«, sagte Rath und schob Fleischer mit einer sanften Geste zu Gräf hinüber. »Ich muss mich leider entschuldigen, habe noch einen anderen Fall, um den ich mich kümmern muss ...« Der Direktor schaute irritiert, doch der Kommissar hatte den Hut bereits gelüftet und war durch die Tür, bevor der Mann noch irgendetwas sagen konnte. Keine Viertelstunde später stieg Rath an der Carmerstraße aus seinem Buick, und das schlechte Gewissen, das ihn beim Verlassen von Haus Vaterland noch gepiesackt hatte, war längst verdrängt worden.
Zum ersten Mal, seit er wieder in Charlottenburg wohnte, fühlte sich das wirklich wie Nachhausekommen an; er musste nur daran denken, wer dort auf ihn wartete. Sie würden den Tag miteinander verbringen, das Wochenende miteinander verbringen, das erste Mal seit einer Ewigkeit. Während er den Wagen abschloss, schaute er sich um in seiner neuen Nachbarschaft. Die Gegend um den Steinplatz war wirklich keine schlechte Adresse, überall gediegene Großbürgerlichkeit, kaum ein Haus, das nicht über einen Dienstboteneingang verfügte. Rath öffnete die schwere Haustür und trat ein in seine neue Umgebung aus hellem Kalkstein und glänzendem Marmor. Er wusste, dass er Charly vorhin beeindruckt hatte; die Wohnung gefiel ihr, das hatte er an ihren Augen gesehen. Er hatte dieses moderne Appartement vor allem aus einem Grund gemietet: Weil es beinahe doppelt so groß war wie seine alte Hinterhauswohnung in Kreuzberg und genügend Platz bot für zwei Personen und wenn nötig auch für mehr. Dass irgendetwas nicht stimmte, spürte er schon, während er die fünf teppichbesetzten Stufen zur Eingangshalle hochstieg und er das Tapsen von Hundepfoten hörte und dann zweimal ein kurzes Bellen.
Kiries schwarzer Kopf schaute um die Ecke des Tresens, der Pförtner ein wenig verlegen über die Marmorplatte und sein Telefon hinweg dem neuen Bewohner entgegen. »Was ist denn los, Bergner?«, fragte Rath, obwohl er es ahnte. Der Portier räusperte sich, bevor er sprach. »Die junge Dame ... Sie musste leider aufbrechen und hat mir den Hund anvertraut. «
Der Direktor schaute irritiert, doch der Kommissar hatte den Hut bereits gelüftet und war durch die Tür, bevor der Mann noch irgendetwas sagen konnte.
Keine Viertelstunde später stieg Rath an der Carmerstraße aus seinem Buick, und das schlechte Gewissen, das ihn beim Verlassen von Haus Vaterland noch gepiesackt hatte, war längst verdrängt worden. Zum ersten Mal, seit er wieder in Charlottenburg wohnte, fühlte sich das wirklich wie Nachhausekommen an; er musste nur daran denken, wer dort auf ihn wartete. Sie würden den Tag miteinander verbringen, das Wochenende miteinander verbringen, das erste Mal seit einer Ewigkeit.
Während er den Wagen abschloss, schaute er sich um in seiner neuen Nachbarschaft. Die Gegend um den Steinplatz war wirklich keine schlechte Adresse, überall gediegene Großbürgerlichkeit, kaum ein Haus, das nicht über einen Dienstboteneingang verfügte. Rath öffnete die schwere Haustür und trat ein in seine neue Umgebung aus hellem Kalkstein und glänzendem Marmor. Er wusste, dass er Charly vorhin beeindruckt hatte; die Wohnung gefiel ihr, das hatte er an ihren Augen gesehen.
Er hatte dieses moderne Appartement vor allem aus einem Grund gemietet: Weil es beinahe doppelt so groß war wie seine alte Hinterhauswohnung in Kreuzberg und genügend Platz bot für zwei Personen und wenn nötig auch für mehr.
Dass irgendetwas nicht stimmte, spürte er schon, während er die fünf teppichbesetzten Stufen zur Eingangshalle hochstieg und er das Tapsen von Hundepfoten hörte und dann zweimal ein kurzes Bellen. Kiries schwarzer Kopf schaute um die Ecke des Tresens, der Pförtner ein wenig verlegen über die Marmorplatte und sein Telefon hinweg dem neuen Bewohner entgegen.
»Was ist denn los, Bergner?«, fragte Rath, obwohl er es ahnte.
Der Portier räusperte sich, bevor er sprach. »Die junge Dame ... Sie musste leider aufbrechen und hat mir den Hund anvertraut. «
Bergner löste die Leine von Kiries Halsband, und Rath ließ die feuchte Begrüßung des Hundes über sich ergehen. »Wo ist die junge Dame denn hin?« »Bedaure, aber das hat sie nicht gesagt.« »Soso«, sagte Rath, der mit den Gedanken schon ganz woanders war und mit dem Hund zum Aufzug ging. Charlys Duft lag immer noch in der Luft, und gerade deswegen wirkte die Wohnung leerer als sonst. Kirie schien das nicht zu interessieren, sie tapste zu ihrem Körbchen und rollte sich zusammen. Rath fragte sich manchmal, wie viel Schlaf dieser Hund eigentlich brauchte. Er stellte sich an eines der großen Fenster und schaute hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. Dann holte er aus und trat, vor Wut oder Enttäuschung, so genau konnte er das gar nicht sagen, gegen einen der schweren Sessel. Sie hatte das Frühstück bereits abgedeckt.
Auf dem Tisch fand er ein Blatt Papier mit ihrer Handschrift. Entschuldige, Gereon, aber ich konnte nicht länger auf Dich warten. Eine Stunde immerhin habe ich geschafft, aber je länger ich mit Kirie in Deiner schönen neuen Wohnung saß und Du nicht zurückkamst, desto klarer wurde mir, daß ich zum Nachhausekommen nach so langer Zeit in der Fremde erst einmal in die Spenerstraße muß, in meine eigene Wohnung - zumal am Montag ein völlig neuer Lebensabschnitt auf mich wartet. Der nette Portier hat mir mit dem Gepäck geholfen und Kirie übernommen. Er scheint darin schon Übung zu haben, mit dem Hund, meine ich, so kam es mir jedenfalls vor.
Ich bin nur noch schnell zurück in die Wohnung, um Dir diese Zeilen zu schreiben, das Taxi wartet unten schon. Was Deine Frage betrifft und den Ring ... Sei mir nicht böse, daß ich Dir nicht gleich eine Antwort geben konnte. Versteh mich bitte nicht falsch, das hat mich sehr berührt, daß Du mir einen Antrag machst (nach all den Jahren, die wir uns nun kennen!), aber auf so eine wichtige Frage sollte man keine überhastete Antwort geben, finde ich, und jetzt, wo ich nach zehn Monaten in Paris gerade erst vom Bahnhof gekommen bin, wäre mir alles in gewisser Weise überhastet vorgekommen. Dich wiederzusehen nach so langer Zeit, eine neue Wohnung und dann auch noch ein Heiratsantrag - das ist selbst für ein Mädchen aus Moabit ein bißchen viel auf einmal. Ich würde vorschlagen, daß wir uns für meine Antwort einen günstigeren Zeitpunkt und einen passenderen Ort aussuchen. Und daß wir ein bißchen Zeit mitbringen, denn in meiner Antwort, soviel kann ich Dir jetzt schon sagen, geht es nicht nur um Ja oder Nein. Und auch ich werde Dir ein paar Fragen stellen müssen. Ich weiß, das klingt nicht gerade romantisch, aber nichts ist schlimmer als ein übereilter Entschluß in einer solch wichtigen Frage.
Ich habe schon einmal eine Verlobung auflösen müssen, wie du weißt, das möchte ich nicht noch einmal erleben. Nichts für ungut, fühl Dich von mir gedrückt. Wir sehen uns bald C. Rath faltete den Brief zusammen und ging ins Schlafzimmer, als sei Charly womöglich doch noch da, wo er sie vor knapp zwei Stunden verlassen hatte. Das Erste, was ihm auffiel, war das Bett, das sie wieder glatt gestrichen haben musste, als wolle sie ihm zeigen, welch gute Hausfrau sie war. Der Ring lag auf dem Nachttisch. Was hatte das zu bedeuten? War das schon eine Antwort, dass sie den Ring nicht mitgenommen, sondern genau dort liegen gelassen hatte? Er hob ihn auf und betrachtete ihn. Was sollte er nun damit tun? Ihn zum nächsten Rendezvous einfach mitnehmen, ihre Antwort abwarten und ihr dann gegebenenfalls anstecken?
Rath kannte sich in diesen Dingen nicht sonderlich gut aus. Er wischte den Ring mit einem Zipfel seines Jacketts blank und ließ ihn dann in die Innentasche fallen. Das schien die Bestimmung dieses verfluchten Rings zu sein: Ewigkeiten in Raths Jacketttasche zu verbringen. Er faltete den Brief noch einmal auseinander und versuchte, ihn zu lesen und zu verstehen. Ihre Zeilen verwirrten ihn, er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Wie stand sie zu ihm? Aber sooft er den Brief auch las, er fand darin keine Antwort. Er musste an den Moment denken, als er sie auf dem Bahnsteig entdeckt hatte. An die Schrecksekunde. Einen Augenblick lang hatte er wirklich geglaubt, vielmehr befürchtet, seine Liebe verloren zu haben, ja eigentlich eher befürchtet, den Menschen verloren zu haben, den er in Erinnerung hatte.
Bis er den Duft ihres Haares und ihrer Haut in die Nase bekommen und gespürt hatte, wie sich sein ganzer Körper zu ihr hingezogen fühlte. Und bei ihr war es doch genauso gewesen, spätestens als er ihr die Wohnung hier gezeigt hatte. Die Sache mit dem Ring im Champagnerglas, was für eine Schnapsidee, wer hatte ihn nur darauf gebracht? Hatte Paul diese Geschichte mal erzählt? Oder irgendein Kollege in der Burg? Rath hatte das unbehagliche Gefühl, dass es womöglich der dämliche Verlobungsring war, der sie aus dem Haus getrieben hatte, und nicht die Tatsache, dass er zu lange am Tatort geblieben war. Erst als er in die verspiegelten Türen des Barschranks blickte, bemerkte er, dass er seinen Hut noch nicht abgesetzt hatte, und hängte ihn an den Haken. Im Salon suchte er eine Platte aus dem Stapel, den er schon vorsortiert hatte.
Er legte Ellingtons Mood Indigo auf, eine der vielen Platten, die Severin in den letzten Monaten aus den Staaten geschickt hatte und die er für sie hatte auflegen wollen. Für sie beide. Der Plattenspieler war brandneu, ein Telefunken-Musikschrank, das konnte sie nun nicht mehr würdigen. Er nahm die Cognacflasche aus dem Barschrank und ein Glas und setzte sich in einen der modernen Sessel, die er eigentlich nur für Charly gekauft hatte, weil sie ihm so ähnliche mal gezeigt hatte, im Schaufenster irgendeines edlen Einrichtungshauses, als sie zusammen über den Tauentzien spaziert waren. Damals, in den Tagen vor Paris, als der Abschied schon in der Luft lag. Wenigstens waren die Sessel gemütlich, auch wenn sie nicht so aussahen.
Rath schnupperte am Cognacschwenker und lauschte der Musik, den traurigen Trompeten und ihrer Melodie, den erdwarmen Klarinetten. Der Cognacduft beruhigte ihn fast noch mehr als die Musik. Wie hatte er diesen Tag herbeigesehnt! Hatte ihn bereits herbeigesehnt, bevor sie überhaupt weggefahren war. Und nun? Tja, Herr Rath, und nun sitzt du hier, es ist noch nicht einmal Mittag, und musst dir schon einen Cognac genehmigen, um den Tag überhaupt zu ertragen!
Ein unruhiges Winseln holte ihn aus dem Schlaf, und er riss die Augen auf. Kirie stand vor ihm, schaute ihn an und wedelte mit dem Schwanz, machte ein paar Schritte zur Tür und kehrte wieder um. Rath richtete sich auf. Er musste eingeschlafen sein. Auf dem Teppich vor dem Sessel lag das Cognacglas. Umgekippt, aber leer. Auf dem Plattenspieler drehte sich immer noch Duke Ellington, beinahe lautlos, die Nadel stieß immer wieder gegen das Ende der Rille und erzeugte ein leises rhythmisches Kratzen. Die Uhr zeigte fast zwei.
Der Hund musste dringend vor die Tür. Rath quälte sich aus dem Sessel, schaufelte sich im Bad ein paar Hände kaltes Wasser ins Gesicht und holte die Hundeleine. Kirie zog ihn förmlich aus dem Haus, die Außentreppe hinunter, zerrte ihn zum ersten Strauch in der Carmerstraße und schaute ihr Herrchen dankbar und erleichtert an, während sie ihr Geschäft verrichtete. Rath spazierte mit dem Hund noch ein wenig über den Steinplatz und merkte, wie sehr sein Magen knurrte. Er setzte sich draußen auf die Terrasse des Hotels, das sich hier bescheiden Pension nannte, und bestellte ein Bier und einen kleinen Imbiss. Obwohl die Portion nicht groß war, blieb noch etwas für Kirie übrig, die die ganze Zeit geduldig unter dem Tisch auf ihre Chance gewartet hatte. Als Rath nach dem Essen die obligatorische Zigarette zu einer Tasse schwarzen Kaffee und einem weiteren Cognac rauchte, wusste er endgültig, dass er nicht wieder zurück in die Wohnung gehen würde. Er rief den Ober und zahlte, packte Kirie ins Auto und fuhr nach Moabit.
Er parkte nicht in der Spenerstraße, sondern an der Straßenecke zur Melanchtonstraße, wo er ihren Hauseingang versteckt zwischen zwei Straßenbäumen gut im Visier hatte, ohne Gefahr zu laufen, dass sie beim ersten Blick aus dem Fenster gleich seinen Buick erspähte. Denn so sicher wie er am Steinplatz noch gewesen war, fühlte er sich nun nicht mehr. Auch nicht, als er ihren Brief zum mindestens zwanzigsten Mal gelesen hatte. Ob sie ihn wirklich würde sehen wollen? Sollte er wirklich einfach hinaufgehen und an ihrer Wohnungstür klingeln? Vielleicht hatte sie sich hingelegt, sie hatte doch erzählt, wie schlecht sie im Zug geschlafen hatte.
Und dann würde Greta ihm die Tür öffnen, und darauf konnte er verzichten. Er musste an das Jahr denken, als Charlys Mitmieterin im Ausland gewesen war und sie die Wohnung für sich allein gehabt, fast schon eine Art Eheleben geführt hatten ... Wahrscheinlich wärst du doch besser zu Hause geblieben, Gereon Rath, dachte er, vielleicht ruft sie dich ja doch noch an, vielleicht in diesem Moment. Dann fiel ihm ein, dass sie seine neue Nummer am Steinplatz ja noch gar nicht kannte. Oder hatte sie es vielleicht schon im Büro versucht, weil sie ihn doch im Einsatz wusste? Und nicht ahnte, wie pflichtvergessen er heute ihretwegen gehandelt hatte? Oder doch eher seinetwegen. Während er noch überlegte, tat sich etwas vor dem Haus. Ein junger Mann hatte die Spenerstraße überquert und steuerte genau auf Charlys Haustür zu. Rath hatte den Mann fast ein Jahr lang nicht gesehen, doch er erkannte ihn sofort.
Der Grinsemann. Guido Scherer. Charlys ehemaliger Kommilitone, jetzt Rechtsanwalt in irgendeiner armseligen Kanzlei im Wedding und Charly immer noch in innigster Freundschaft zugetan. Offensichtlich. Rath konnte es nicht fassen: Seine Wohnung hatte sie Hals über Kopf verlassen, als sei sie auf der Flucht, und dieses Arschloch empfing sie schon am ersten Tag ihrer Rückkehr aus Paris? Hatte sie womöglich all ihre Freunde zu einer kleinen Wiedersehensfeier eingeladen, all diese Juristen, mit denen er noch nie etwas hatte anfangen können? Natürlich, da würde Gereon Rath, der ungehobelte Bulle, nur stören. Er startete den Motor und drückte die Zigarette aus. Wenigstens wusste er jetzt endgültig, dass er nicht bei ihr klingeln würde. Er gab so viel Gas, dass die Reifen quietschten, als die Kupplung griff, so laut, dass der Grinsemann, der bereits in der Haustür stand, seinen Kopf noch einmal drehte, bevor er in diesem beschissenen Haus in der beschissenen Spenerstraße verschwand.
Rath achtete nicht darauf, er ließ seine Wut weiterhin am Gaspedal aus und raste mit völlig überhöhter Geschwindigkeit aus der Straße und durch die Stadt. Zuerst ziellos, bloß raus aus Moabit, das war sein einziger Antrieb, dann aber, ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, doch mit einem Ziel, auch wenn er das zunächst gar nicht merkte, als er sich mehr und mehr Richtung Süden vorarbeitete. Erst, als er den Buick im Schatten der Hochbahn über die Gitschiner Straße in den Osten lenkte, wurde ihm klar, dass er zum Luisenufer fuhr. Erinnerungen wurden wach, als er am Straßenrand parkte und Kirie aus dem Wagen springen ließ, Erinnerungen, von denen allzu viele dummerweise mit Charly zu tun hatten. Der Hund schnupperte an einem Baum, der am Straßenrand stand, am Rande der Grünanlage und des großen Spielplatzes, als erkenne er ihn wieder, wedelte mit dem Schwanz und schaute Rath erwartungsvoll an.
Das Kreischen der Kinder, die sich auf der großen Sandfläche austobten, erinnerte Rath daran, wie er mit Charly einmal auf einer der Bänke in der Sonne gesessen hatte. Sich vorgestellt hatte, wie es wohl wäre, wenn eines der Kinder, das da über den Spielplatz tobte, ihr Kind wäre, ihr gemeinsames Kind. Er hatte es sich nur vorgestellt, er hatte ihr nichts dergleichen gesagt, nicht in diesem Moment und auch später nicht. Er hatte, wenn er es sich recht überlegte, überhaupt nur wenige seiner Träume mit ihr geteilt. Er nahm den Hund an die Leine. Kirie lief voran, erwartungsvoll, schließlich war sie diesen Weg schon ein paar Hundert Mal gegangen. In der Hofeinfahrt kam ihnen ein nass gescheitelter blonder Jüngling entgegen, im braunen Hemd, am linken Arm die Hakenkreuzbinde, die SA -Mütze noch unterm Arm.
Der Nazi verschoss angriffslustige Blicke, doch Rath ließ sich nicht einschüchtern, er hatte diese braunen Burschen gefressen, seit er miterlebt hatte, wie sie letztes Jahr am Ku'damm randaliert hatten, schlimmer als die Kommunisten. Wenn der Kerl eine Schlägerei haben wollte, konnte er sie haben, dann würde er im Polizeigewahrsam enden. Aber der provozierende Blick reichte dem Jüngling offenbar, er ging an Rath vorüber, ohne ihn anzupöbeln, drehte sich auf der Straße allerdings noch einmal um und setzte mit einem letzten bösen Blick seine Uniformmütze auf. Rath wunderte sich nicht. Schon früher hatten Nazis hier gewohnt, zu Zeiten, als es noch längst nicht so viele davon gab, zu Zeiten, als eine Hakenkreuzarmbinde noch auffiel. Zugleich hatten die Liebigs im Hinterhaus immer schon die rote Fahne hochgehalten, all die Jahre, die Rath hier gelebt hatte, ohne dass es je zum offenen Streit gekommen wäre. Kommunisten und Nazis unter einem Dach, auch das war Berlin.
Gerade in den Arbeitervierteln wohnten Rote und Braune oftmals Tür an Tür, und nicht immer ging es dabei so friedlich zu wie am Luisenufer. Normale Menschen dagegen waren immer seltener zu finden in dieser Stadt, selbst in den bürgerlichen Vierteln, so kam es Rath jedenfalls vor. Annemarie Lennartz, die Hauswartsfrau, war gerade beim Teppichklopfen und hielt inne, als sie sah, wer da über den Hof kam. »Das ist aber eine Überraschung! Schön, dass Sie uns mal wieder besuchen.« Rath tippte kurz an den Hut und zeigte auf das Hinterhaus. »Kollege zu Hause?«, fragte er. Die Lennartz nickte. Sie schaute sich um und senkte ihre Stimme, als verrate sie ein Geheimnis. »Nachtdienst«, sagte sie mit wissendem Blick. »Ist erst heute Mittag nach Hause gekommen.« Rath verschwand im Hinterhaus und stieg die Treppe hoch. In der ersten Etage blieb er vor einer Wohnungstür stehen und klopfte vorsichtig an. Er wartete einen Moment, und als sich nichts rührte, klopfte er noch einmal, diesmal laut und brutal. »Sofort aufmachen, Polizei!«, brüllte er. Er hörte etwas in der Wohnung rumpeln, und wenig später öffnete sich die Tür einen Spalt und gab den Blick auf Reinhold Gräf frei. »Gereon!« Der Kriminalsekretär, mit nassen Haaren und im Bademantel, schaute eher vorwurfsvoll denn überrascht. »Ist was passiert?« »Ne. Ist rein privat. Stör ich?« »War gerade in der Wanne. Aber komm rein«, sagte er und stieß die Tür zur Gänze auf. »Fühl dich wie zu Hause. Dürfte dir ja nicht schwerfallen.« »Danke.« Rath folgte Gräf in die Küche. Der Kriminalsekretär stellte einen Wasserkessel auf den Herd. »Auch 'nen Kaffee?«, fragte er. »Ich hab noch nicht gefrühstückt. « »Da sag ich nicht Nein.« Rath nahm seinen Hut ab und blieb in der Tür stehen.
Gräf holte die Kaffeemühle aus dem Schrank, aus demselben Schrank, in dem Rath sie früher verstaut hatte. »Setz dich doch«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Rath blieb stehen. »Wie ist es denn noch so gelaufen, heute Morgen?« Gräf antwortete nicht. Er füllte weiter Kaffeebohnen in die Mühle. »Tut mir leid, dass ich euch allein lassen musste ... Aber ich hatte wirklich noch was Wichtiges zu erledigen ...« Gräf schaute ihn an und drehte an der Kurbel. Eine Zeit lang war nur das knirschende Geräusch der Mühle zu hören. »Wenn das eine offizielle Entschuldigung sein soll«, sagte er, »dann betrachte sie als angenommen.« Rath holte zwei Untertassen und zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch, während Gräf mit Wasserkessel und Porzellanfilter hantierte. Er überlegte einen Moment, was er noch sagen könnte, doch ihm fiel nichts Passendes ein. Er setzte sich an den Tisch und wartete, bis Gräf sich zu ihm gesellte.
Für eine Weile war nichts zu hören, bis auf das Plätschern des Kaffees, der durch den Filter in die Kanne tropfte. »Du hast uns ziemlich im Regen stehen lassen, heute Morgen, weißt du das?«, sagte Gräf schließlich. »Und komm mir bloß nicht damit, wer hier der Chef ist. Immerhin warst du derjenige, der viel zu spät am Tatort erschienen ist. Ich hab wie ein Blöder hinter dir hertelefoniert, nur um deinen Skalp vor Böhm und den anderen Häuptlingen zu retten. Und dann hast du nichts Besseres zu tun, als gleich wieder abzuhauen.« Rath nickte, aber er weigerte sich, ein zerknirschtes Gesicht zu machen. Entschuldigt hatte er sich schließlich schon. Gräf stand auf, nahm den Filter von der Kanne und goss Kaffee in die beiden Tassen. Rath nahm einen Schluck. Blümchenkaffee, wie üblich bei Gräf, vielleicht sogar noch ein bisschen dünner als sonst, aber Rath blieb diplomatisch und sagte nichts, klaubte stattdessen eine Overstolz aus dem Etui. »Ich dachte«, nuschelte er, während er die Zigarette in die Flamme seines Feuerzeugs hielt, »ich könnte die Sache mit einem Bier im Dreieck wiedergutmachen.« »Du hast Bereitschaft.« Gräf schaufelte löffelweise Zucker in seine Tasse, während er sprach. »Und ich Nachtdienst in der Burg.« Rath schaute auf die Uhr. »In drei Stunden.« »Eben. Und da will ich nicht besoffen erscheinen.« »Nur ein kleines Friedensbier. Und du erzählst mir bei der Gelegenheit, was ihr heute Morgen noch herausgefunden habt.«
»Gereon, du hast jetzt schon eine Fahne. Streng genommen bist du im Dienst.« »Nur ein Cognac«, log Rath. »Vorhin, nach dem Essen.« Gräf trank ein paar Schlucke Kaffee. »Na gut«, sagte er schließlich. »Eine Molle vorm Dienst wird ja wohl erlaubt sein.« »Aber sicher.« Rath grinste. »Wenn ich es dir sage. Ich bin dein Chef.« »Ich hab dir doch gesagt, du sollst mir nicht mit der Masche kommen.« Kurz darauf saßen die beiden am Tresen im noch leeren Nassen Dreieck, der wahrscheinlich kleinsten und dreieckigsten Kneipe Berlins. Kirie hatte sich zu ihren Füßen ein Plätzchen gesucht. Vor den Männern standen zwei Biergläser, vor dem Hund ein Wassernapf, den Schorsch, der Wirt, ungefragt hingestellt hatte. Auch das Bier hatte er schon zu zapfen begonnen, bevor die Bestellung eingegangen war, er kannte seine Gäste. Nur beim obligatorischen Korn hatten die beiden Beamten diesmal abgewinkt. Sie prosteten sich zu. Gräf schien langsam wieder bessere Laune zu bekommen. »Dann soll ich dich also auf den aktuellen Stand bringen«, sagte er und wischte den Schaum vom Mund.
Rath nickte. »Schließlich bin ich derjenige, der den Häuptlingen in der Konferenz zu berichten hat, oder?« »Der schriftliche Bericht ist schon in Arbeit. Lange und ich wollen den Rest heute Nacht erledigen.« »Schön. Erst mal reicht mir die Kurzfassung. Hat der ED irgendetwas rausgefunden?« »Alles noch ohne Gewähr«, referierte Gräf: »Keine Kampfspuren, keine Spuren von Gewalt, keinerlei Hinweis auf Fremdeinwirkung. Aber genauso wenig Hinweise auf einen natürlichen Tod.« »Dann werden wir wohl wirklich die Obduktion abwarten müssen. « Rath trank einen Schluck. »Was hältst du von Karthaus' Vermutung? Ich meine, dass der Mann ertrunken ist?« »Auch wenn es sich seltsam anhört, ich glaube, dass der Doktor recht haben könnte. Die Haare der Leiche waren noch nass.« »Ist mir nicht aufgefallen.« »Du warst auch viel zu spät am Tatort. Schau dir die Fotos an, die Lange gemacht hat, dann siehst du's.«
»Nasse Haare.« Rath zuckte die Achseln. »Na und? Es hat letzte Nacht schließlich auch geregnet.« »Das hätte anders ausgesehen, auch die Schultern waren nass, der Rest nicht.« »Und? Wie lautet deine Theorie?« »Wie man in einem Aufzug ertrinken kann?« Gräf zuckte die Achseln. »Ich habe keine. Auch nicht zu dem roten Tuch.« »Welches rote Tuch?« Gräf schaute ihn an, einen gelinden Vorwurf im Blick, und Rath hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, schon gut! Ich gucke mir die Fotos an.« »Das Tuch hing am Gitterwagen mit den Schnapskisten. Ist jetzt beim ED .« »Eine Kommunistenfahne?« »Eher ein Taschentuch. Wir werden sehen.« Bevor Gräf Nein sagen konnte, hatte Schorsch die nächsten zwei Mollen auf den Tresen gestellt. Die Männer tranken. »Und du glaubst also wirklich, dass jemand in einem Aufzug ertrinken kann?«, fragte Rath. »Ich glaube gar nichts.« Gräf zuckte die Achseln. »Wie der Mann zu Tode gekommen sein könnte, ist immer noch ein einziges Rätsel. Und sollte sich bestätigen, dass er wirklich ertrunken ist, wird das Rätsel eher größer als kleiner.« »Vielleicht hat ihn doch jemand einfach nur dort abgelegt.« »Und hat dafür Lamkaus Lieferwagen benutzt?« Gräf schüttelte den Kopf. »Nein, nein, alle Spuren sprechen eindeutig dagegen. Und ein Mann mit einer Leiche wäre kaum unten am Wachdienst vorbeigekommen.« Schorsch stellte die dritte Bierlieferung auf den Tresen und räumte die leeren Gläser ab. »Jetzt ist aber genug«, meinte Gräf. »Na komm, das eine noch. Und dann gurgelst du ein bisschen mit Odol, und die Fahne ist weg.« »Hört sich an, als sprichst du aus Erfahrung.« Rath hob sein Glas. »Jedenfalls hast du eine Vorbildfunktion gegenüber unserem jungen Kommissaranwärter, die solltest du ernst nehmen.« Auch Gräf hob sein Glas. »So wie du deine Vorbildfunktion gegenüber einem jungen Kriminalsekretär ernst nimmst, oder wie meinst du das?« »Hat Lange die Angehörigen benachrichtigt?«, fragte Rath. Gräf nickte. »Der Mann hat eine Witwe hinterlassen. Die Lamkaus wohnen direkt neben ihrer Firma in Tempelhof.« »Wie viele Mitarbeiter?« »Ein gutes Dutzend.« »Also stellt sich die Frage, warum der Chef selbst rausgefahren ist für so eine Lieferung.« »Es stellen sich noch verdammt viele Fragen.
Ich habe die wichtigsten Zeugen für Montagmorgen in die Burg bestellt.« Gräf leerte sein Bierglas und stellte es ab. »Es war heute nicht sehr hilfreich, dass der Direktor überall herumwirbelte, das hat die Mitteilsamkeit seiner Leute nicht gerade erhöht. Ich denke, dass wir mehr erfahren, wenn wir sie im Vernehmungsraum sitzen haben.« Er rutschte von seinem Barhocker. »Vielleicht kommen wir dann auch dahinter, warum Lamkau einen Umschlag mit tausend Mark mit sich führte.« »Tausend Mark?« »Waren in seinem Kittel.« Rath wollte gerade etwas sagen, doch dann sah er Gräfs Gesicht und ließ es bleiben. »Der ED hat das Geld«, fuhr der Kriminalsekretär fort, »untersucht den Umschlag auf Fingerabdrücke.« »So eine Stange Geld, was wollte er bloß damit?« Gräf zuckte mit den Achseln. »Na«, meinte Rath, »dann wissen wir jetzt ja wenigstens eines ...« »Und das wäre?« »Dass wir«, sagte Rath und grinste, »Raubmord definitiv ausschließen können.«
Institut für gerichtliche Medizin der Universität Berlin stand auf dem Messingschild an der Backsteinmauer, in der Einfahrt parkte ein Leichenwagen. Die passende Einstimmung auf das, was hinter diesen Mauern wartete. Schon auf der Außentreppe meldete sich das flaue Gefühl in seinem Magen zurück; keine gute Voraussetzung, um das Leichenschauhaus zu betreten, in dessen kalten Katakomben meist unappetitliche Überraschungen warteten. Der Anruf von Doktor Karthaus hatte Rath an diesem Morgen aus dem Bett geworfen. Dummerweise hatte er, nachdem Gräf sich zum Dienst verabschiedet hatte, weitergetrunken gestern Abend, war noch für ein paar Bierchen im Dreieck geblieben und danach vorsichtshalber mit dem Taxi nach Hause gefahren, hatte dort angekommen aber feststellen müssen, dass er immer noch zu nüchtern war, um die Einsamkeit seiner Wohnung zu ertragen, die noch leerer geworden war, seit Charly hier aufgetaucht und wieder gegangen war.
Also hatte er brav am Alex angerufen, mitgeteilt, wo er die nächsten Stunden telefonisch zu erreichen wäre, ganz den Vorschriften entsprechend, hatte Kirie in der Obhut des Nachtportiers gelassen und war dann die Uhlandstraße hinuntergegangen zum Ku'damm, hatte sich dem Swing des Kakadu überlassen und dem Getränkeangebot der gut sortierten Bar, hatte den Avancen einer abenteuerlustigen Blondine widerstanden und versucht, nicht an Charly zu denken. Was ihm auch in dieser Umgebung nicht besonders gut gelungen war. Immerhin hatten die Cocktails ihn betrunken gemacht, betrunken genug, um weit nach Mitternacht wieder nach Hause zu gehen und endlich Schlaf finden zu können.
Bis ihn das schrille Klingeln des Telefons geweckt hatte. »Ich habe da etwas entdeckt, das ich Ihnen zeigen möchte«, hatte Karthaus gesagt und ihn für zwei Uhr in die Hannoversche Straße bestellt. Rath hatte dem Hund zu fressen gegeben, selbst aber nichts gegessen, sondern nur Kaffee getrunken und geduscht, bevor er sich mit Kirie auf den Weg gemacht hatte. Erst vor der Tür war ihm eingefallen, dass das Auto noch in Kreuzberg stand, und er war die Hardenbergstraße hinuntergegangen zum Bahnhof Zoo. Dennoch war es erst kurz vor zwei, als sie das Leichenschauhaus betraten. Der Pförtner kannte Hund und Kommissar, er nahm Kiries Leine und machte das Tier mit einem Happen von seiner Salamistulle gefügig. »Doktor wartet unten«, sagte er und winkte den Kommissar durch in den Keller, wo die Gerichtsmediziner ihre Leichen bearbeiteten. Rath hielt seinen Blick gesenkt, das schwarzweiße Karomuster des Fußbodens hatte eine beruhigende Wirkung auf seinen Magen.
Als er unten durch die große Schwingtür in den Obduktionssaal trat, fand er Doktor Karthaus an seinem Schreibtisch in der Ecke, eine dampfende Tasse Kaffee und eine Aktenmappe vor sich, in die er irgendwelche Notizen eintrug. Der Gerichtsmediziner blickte auf und runzelte die Stirn über seiner Lesebrille. »Herr Kommissar! Heute ungewohnt pünktlich!« »Wie die Maurer!« Der Doktor klappte seine Brille zusammen und zündete sich eine Zigarette an. Rath tastete nach seinen Overstolz, die schien er zu Hause liegen gelassen zu haben. Er schielte auf die blecherne Zigarettendose auf dem Schreibtisch, doch der Doktor kam nicht auf die Idee, ihm eine Manoli anzubieten, er stand auf und führte seinen Gast zu einem Rollwagen, auf dem sich unter einer Baumwolldecke die Konturen eines menschlichen Körpers abzeichneten. »Schauen Sie«, sagte Karthaus und zog das Laken mit einem schnellen, fast schon brutalen Ruck beiseite, »das müssen Sie sich ansehen.« Die Leiche hatte immer noch den entsetzten Blick von gestern Morgen, und sie war noch blasser geworden, die Partie um den Mund noch blauer. Der Doktor fasste den wachsbleichen Kopf am Kinn und drehte ihn zur Seite. Der Zeigefinger in seinem weißen Handschuh zeigte auf eine Stelle am Hals, an der sich ein kleiner bläulicher Punkt gebildet hatte. »Sehen Sie, was ich meine?«, fragte Karthaus, und Rath nickte. Für einen Moment war er versucht, sich über den Hals zu beugen, um besser sehen zu können, dann aber folgte er dem Rat seines Magens und beschloss, hauptsächlich den Worten des Doktors zu vertrauen.
»Eine Einstichstelle«, fuhr Karthaus fort. »Stammt von einer Injektion. Intravenös.« »Was für eine Injektion?« »Von seinem Arzt hat er sie nicht bekommen«, sagte Karthaus, »das habe ich schon nachgeprüft. Vielleicht war er Morphinist.« Der Doktor zog an seiner Zigarette. »Das Spritzen in die Halsvene ist allerdings nicht gerade üblich bei Morphinisten. Für eine Selbstinjektion bräuchte es da schon einen Spiegel. Zudem ... wenn unser Mann Morphinist wäre, hätte man weitere Einstichstellen fi nden müssen. Und das hier ist die einzige.« Rath wurde hellhörig. »Wollen Sie damit sagen, jemand anderes hat ihm diese Spritze verabreicht?« Karthaus nickte. »Alles deutet darauf hin. Wir haben also doch Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung.« »Und was war das? Eine Giftspritze?« »Welches Mittel ihm verabreicht wurde, das wird hoffentlich die Blutanalyse ergeben.« »Ist der Mann also doch nicht ertrunken!« Rath legte es nicht immer darauf an, recht zu behalten, aber in diesem Fall genoss er es. »So genau kann man das nicht sagen«, meinte Karthaus. »Ich denke, Sie haben die Leiche obduziert?« Karthaus nickte. »Und der Mann hatte auch Wasser in den Lungen. So viel, dass es unmöglich post mortem eingedrungen sein kann.
So weit also alles typisch für einen Ertrinkungstod. Allerdings war die Wasseraspiration längst nicht so extrem, dass sie unweigerlich zu einer tödlichen Hypoxie hätte führen müssen.« »Reden Sie Deutsch, Doktor, ich bin kein Mediziner. Und habe auch nur das kleine Latinum.« »Hypoxie stammt aus dem Griechischen. Meint Sauerstoffmangel. Hypoxie infolge extremer Wasseraspiration, das nennt man auf Deutsch gemeinhin Ertrinken.« Karthaus guckte Rath an wie ein strenger Lehrer. »Ich habe allerdings den Verdacht, dass unser Mann zwar zu ertrinken drohte, aber vorher an einer Atemlähmung gestorben ist.« »Wie meinen Sie das? Ist er nun ertrunken oder nicht?« »Er ist ein bisschen ertrunken. Er hat definitiv Wasser eingeatmet, eine sehr unangenehme Erfahrung. Aber gestorben ist er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht daran. Oder anders ausgedrückt: Bevor er daran sterben konnte, hat seine Atmung ausgesetzt.« »Weil man ihm ein Gift gespritzt hat ...« Karthaus zuckte die Achseln. »Aber Sie gehen defi nitiv von Mord aus.« »Von Fremdeinwirkung.« »Da steh ich nun, ich armer Tor ...« »Na, Ihren Goethe kennen Sie wenigstens.« »Ob Sie's glauben oder nicht, ich hab sogar Abitur.« Karthaus nickte anerkennend. »Dann haben Sie bestimmt auch gelernt, sich in Geduld zu üben.
Wenn wir das Ergebnis der Blutanalyse haben, kennen wir auch die Todesursache, ich möchte beinah darauf wetten. Eins jedenfalls kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Wir haben es hier mit einem sehr merkwürdigen Todesfall zu tun.« Rath schaute sich die Leiche an, das Entsetzen in ihrem Gesicht. Wer hatte etwas gegen Herbert Lamkau gehabt? Und warum hatte derjenige versucht, ihn zu ertränken, obwohl er ihm schon eine Giftspritze injiziert hatte? »Vielen Dank, Doktor«, sagte er. »Wenn Sie mehr wissen, unterrichten Sie mich doch bitte zeitnah.« Karthaus nickte. Rath war schon an der Tür, dann drehte er sich noch einmal um. »Ach«, sagte er, »eine Frage noch, Doktor ...« Karthaus zog die Augenbrauen hoch. »Sie sind doch Arzt ... Haben Sie hier irgendwo vielleicht ein Aspirin?« Eine gute halbe Stunde später stieg Rath mit Kirie die U-Bahn- Treppen am Potsdamer Platz hoch. Die von steinernen Figuren gesäumte Kuppel von Haus Vaterland thronte über dem Platz wie ein römischer Tempel, dem man Leuchtreklamen an die Fassade geschraubt hatte. Der riesige Komplex war das Erste, was die Besucher sahen, wenn sie die Treppen der U-Bahn hinaufstiegen, erst dann schoben sich der Potsdamer Bahnhof und die anderen Gebäude ins Blickfeld.
Es war schon einiges los an der breiten Freitreppe vor dem Haupteingang; die Leute standen tatsächlich Schlange, um hier hineinzukommen und sich das Geld aus der Tasche ziehen zu lassen. Die meisten sahen aus wie Hilfsbuchhalter aus Königs Wusterhausen, die ein wildes Wochenende in der großen Stadt verbringen wollten oder das, was sie darunter verstanden. Rath ließ die Provinzonkels stehen, wo sie standen, und ging mit Kirie einmal um Haus Vaterland herum. Am Lieferanteneingang luden ein paar Männer gerade Unmengen Kartoffeln aus. Rath schaute sich das einen Moment an und spazierte mit dem Hund dann einfach ins Gebäude hinein. Der linke Aufzug schien noch immer außer Betrieb zu sein, die Kartoffelfritzen stapelten ihre Säcke jedenfalls nur im rechten. Rath hatte das Treppenhaus fast erreicht, da hielt ein Ruf ihn zurück. »Hey! Wat wollen Sie denn hier? Kenn ick Sie?« Rath drehte sich um und erkannte die Uniform der Wach- und Schließgesellschaft.
Die passte also auch tagsüber auf, dass sich kein Unbefugter einschlich. Und das offenbar recht gut. Er zückte seine Dienstmarke, und der Wachhund schaute misstrauisch darauf. »Kripo?«, fragte er. Rath nickte. »Der Mordfall von gestern.« Das Wort Mord schien den Wachmann nicht weiter zu irritieren. »Wat wollense denn noch?« »Den Tatort noch mal in Augenschein nehmen.« »Sind Sie angemeldet?« »Die Kripo kommt niemals angemeldet.« Der Wachhund guckte zwar immer noch sauertöpfisch, aber er ließ den Kommissar passieren. Rath stieg die Treppen empor und schaute sich in jeder Etage vor den Aufzügen um. Kirie schnupperte überall neugierig, doch Rath schenkte dem keine Beachtung, dafür hatte er schon zu viele schlechte Erfahrungen mit den Fähigkeiten seines Hundes gemacht.
Eigentlich galten Bouviers als hervorragende Fährtenhunde, Kirie schien da jedoch die große Ausnahme zu sein. In der dritten Etage stieß er auf einen Blaumann, der vor der offenen Tür am Aufzugschacht hockte und an irgendetwas schraubte. Rath schaute ihm eine Weile zu, bevor er ihn ansprach. »Defekt?«, fragte er und streckte dem Arbeiter die Zigarettenschachtel entgegen, die er im U-Bahnhof gekauft hatte. Der griff dankbar zu, und Rath gab ihm Feuer. »Die Tür«, sagte der Blaumann und inhalierte genüsslich. »Wieso fragense?«
Rath zündete sich ebenfalls eine Overstolz an und zeigte seine Blechmarke. Der Haustechniker schien nicht überrascht, es mit einem Polizisten zu tun zu haben. »Waren Sie dabei, als die Leiche gestern gefunden wurde?«, fragte Rath. »Nee. Det war Kollege Siegmann.« »Ist der im Haus?« »Nee. Hat diese Woche Nachtdienst.« »Was ist denn passiert mit der Tür? Davon hat Herr Siegmann uns gar nichts erzählt.« »Ist ja auch erst heute Morgen aufgefallen, als eener hier aussteigen wollte und die Tür klemmte. Die meisten fahren immer janz durch bis oben in die Küche.« »Die Tür klemmt?« »Irjendein Arschloch hat den Notausschalter gedrückt«, sagte der Blaumann, »jenau zwischen zwei Stockwerken. Und sich dann mit Gewalt an der Tür zu schaffen jemacht, anstatt Hilfe zu rufen. Det janze Blech hier hat er mir verbogen.
Schließt nicht mehr richtig.« »Das ist der Aufzug, in dem gestern die Leiche gefunden wurde, oder?« Der Haustechniker hob die Schultern. »Mag sein. Is aber ooch keene Entschuldijung für so 'ne Sauerei.« »Habe ich Sie richtig verstanden, dass jemand hier unten aus der Aufzugkabine geklettert ist? Aus der Kabine, in der man dann die Leiche gefunden hat?« Der Techniker schaute, als sei ihm eine unerwartete Erkenntnis zuteilgeworden. »Sie meinen ...« »Dass das womöglich der Fluchtweg eines Mörders war. Haben Sie schon viel angefasst?« »Werd ick wohl. Ohne anfassen funktioniert Arbeiten bei unsereinem nicht.« »Dann machen Sie mal Pause. Oder kümmern sich um die anderen Arbeiten, die Sie zu erledigen haben. Die Aufzugtür muss kriminaltechnisch untersucht werden.« Der Haustechniker schien die Dinge zu nehmen, wie sie kamen, und zuckte gleichgültig die Achseln. »Sie müssen det hier aber sichern«, sagte er. »Det mir keener in den Schacht plumpst.« Rath nickte. »Da haben Sie recht. Wie wäre es, wenn Sie diese Aufgabe übernehmen, bis meine Kollegen eintreffen? Wo kann man denn hier telefonieren?« »Dahinten. Da haben die Kellner 'n Aufenthaltsraum«, sagte der Blaumann. »Aber ick kann hier doch nich ewig warten, ich ...« Rath überhörte den Protest und trat durch die Tür, die der Mann ihm gezeigt hatte. Am Ende einer Reihe Spinde, vor denen vier, fünf Männer sich gerade umzogen, hing ein Wandtelefon. Rath zeigte einem Ober in voller Montur, der gerade telefonierte, seine Marke, doch der Mann tat so, als würde er den Kommissar überhaupt nicht sehen, im Ignorieren hatte er offensichtlich Übung.
Berufsbedingt. Doch die hatte Rath auch. Er drückte die Gabel nach unten, bis die Verbindung abgebrochen war. Der Ober, der schon zu einem Protest hatte ansetzen wollen, schluckte seine Worte hinunter, als er Raths Gesicht sah. Obwohl auch der ED sonntags nur in kleiner Besetzung im Präsidium die Stellung hielt, konnte Rath zwei Leute bekommen, die sofort rausfahren wollten. Der Blaumann wirkte erleichtert, als der Kommissar zu den Aufzügen zurückkehrte. »Kann ick jetze wieder an meine Arbeit?«, fragte er. »Solange Sie diesen Aufzug nicht anfassen, können Sie meinetwegen jede Arbeit erledigen, die Ihnen in den Sinn kommt.« Der Blaumann trollte sich, und Rath zündete sich eine Zigarette an.
Sein Blick fiel auf zwei schmale, hohe Fenster, die nach draußen führten. Eines stand einen Spalt offen. Kirie folgte ihm, als er hinüberging. Er nahm ein Taschentuch und öffnete das angelehnte Fenster. Draußen erkannte er eine Art Galerie, einen Gang mit einer steinernen Brüstung, der das Gebäude säumte. Er wollte gerade hinaussteigen, da hörte er jemanden hinter sich hüsteln und fuhr herum. Da stand, im leichten Sommeranzug, diesmal wie aus dem Ei gepellt und perfekt frisiert, Richard Fleischer, der Direktor von Haus Vaterland . Der Wachmann unten musste Alarm geschlagen haben, oder aber der Blaumann hatte schon gepetzt, dass man ihn den Aufzug nicht reparieren ließ. »Herr Kommissar! Ich muss mich doch sehr wundern! Was machen Sie hier?«
»Meine Arbeit.« »Gestern haben Sie unseren Betrieb aufgehalten, heute unterbinden Sie notwendige Reparaturarbeiten! Und dann schleichen Sie sich auch noch einfach so durch den Hintereingang.« »Wäre es Ihnen lieber gewesen, ich hätte den Haupteingang genommen und mich dort laut und deutlich mit Mordkommission vorgestellt?« Fleischer zog den Mund zusammen, als habe er in eine Zitrone gebissen. »Man muss solch einen Unfall ja nicht gleich an die große Glocke hängen.« »Wie es aussieht, war es kein Unfall. Wir haben es mit einer vorsätzlichen Tötung zu tun. Und da, so viel kann ich Ihnen schon sagen, kann die Kriminalpolizei keinerlei Rücksicht auf irgendwelche Betriebsabläufe nehmen. Und auch nicht auf Ihren guten Ruf.« »Aber wer sollte Herrn Lamkau töten wollen? Und dann in unserem Hause?« »Haben Sie einen Verdacht?« Fleischer schaute, als habe Rath ihn gefragt, ob er in seiner Freizeit gerne Strapse trage. »Natürlich nicht«, sagte der Direktor. »Sie glauben doch wohl nicht, dass einer unserer Mitarbeiter einen Lieferanten erschlägt.« »Herr Lamkau wurde nicht erschlagen.« Ein paar Kellner kamen vorüber, auf dem Weg in den Feierabend oder in die Pause, und schauten verwundert, als sie ihren Direktor dort vor den Lastenaufzügen stehen sahen, zusammen mit einem fremden Mann und einem Hund. »Wie dem auch sei.« Fleischer senkte seine Stimme. »Mir wäre es jedenfalls lieber, wir würden unsere Unterhaltung, so sie denn nötig ist, in meinem Büro fortsetzen.« »Tut mir leid, aber ich muss hier noch das Eintreffen der Kollegen abwarten.« »Kollegen?« Die Aussicht auf noch mehr Polizisten in seinem Haus schien den Direktor nicht zu erfreuen. »Spurensicherung«, sagte Rath nur und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Wir müssen mögliche Fluchtwege des Mörders untersuchen. « »Da geht's auf die Galerie, da kommen Sie nicht runter auf die Straße. Höchstens an irgendeiner anderen Stelle wieder rein in das Gebäude.« Rath bot Fleischer eine Zigarette an, und der griff zu. Gemeinsames Zigarettenrauchen, davon war der Kommissar fest überzeugt, war das beste Mittel, um Animositäten abzubauen oder Misstrauen. »Ich habe den Eindruck, Ihr Gebäude wird gut bewacht«, sagte er, als er dem Direktor Feuer gab. »O ja, unsere Wachen sind auf Zack.« »Wo, würden Sie sagen, gibt es denn eine Möglichkeit, unbemerkt hinaus- oder hineinzukommen?« »Nirgends, würde ich sagen.« Fleischer zog an seiner Zigarette und machte eine Kopfbewegung zum offenen Fenster hin. »Außer vielleicht, Sie sind Fassadenkletterer.« Rath nickte nachdenklich. »Wie viele Menschen arbeiten hier? Zweihundert? Dreihundert?« »Dreihundert?« Der Direktor lächelte mitleidig. »Allein im Service sind an die vierhundert Kellner beschäftigt, dann in der Zentralküche oben achtzig Köche und hundertzwanzig Hilfskräfte.
Wir bewirten rund eine Million Gäste im Jahr. Alles in allem arbeiten rund um die Uhr fast elfhundert Menschen für uns. Wir sind wie eine kleine Stadt, wenn Sie so wollen, wir haben sogar eine eigene Müllverbrennung.« Rath ließ sich von den Zahlen nicht beeindrucken. »Bei so vielen Mitarbeitern kennen Sie wohl nicht jeden persönlich.« »Natürlich nicht.« »Wie viele waren gestern Morgen im Einsatz, als Herr Lamkau ermordet wurde?« Fleischer zuckte die Achseln. »Das müssten Sie doch besser wissen, Sie haben alle zusammengetrommelt. Fünfzig, sechzig vielleicht, wenn Sie das technische Personal mitzählen.
Und das Wachpersonal. Vom Service war ja noch kaum jemand da.« Ihr Gespräch wurde gestört, als eine Tür aufflog und zwei Männer in grauen Kitteln aus dem Treppenhaus kamen. Rath erkannte die Erkennungsdienstler sofort und zeigte ihnen die zerbeulte Aufzugtür. »Und dann schauen Sie sich mal das Fenster dort drüben an, ob Sie an den Griffen Fingerabdrücke sichern können. Und ob man draußen auf der Galerie vielleicht irgendwelche Spuren findet.«
Die Männer nickten, packten ihren Koffer aus und machten sich an die Arbeit. Rath schaute ihnen eine Weile zu. »Was gedenken Sie denn, dort zu finden?«, fragte der Direktor schließlich. »Aufschlüsse über den Fluchtweg des Mörders«, sagte Rath, »und vielleicht sogar Hinweise auf seine Identität.« »Ich hoffe nur, Sie machen nicht allzu viel Aufhebens von der Sache. Mein Haus kann keine schlechte Presse gebrauchen.« »Haben Sie in Ihrem Haus auch eine medizinische Abteilung?« Fleischer schaute überrascht. »Einen Erste-Hilfe-Raum«, sagte er schließlich. »Mit mehreren Liegen. Für Notfälle. Warum fragen Sie?« »Werden dort Medikamente aufbewahrt? Injektionsspritzen?« »Sicher. Soll ich Ihnen eine Liste zusammenstellen lassen?« Rath lächelte. »Gerne. Am besten noch heute. Und lassen Sie sämtliche Medizinschränke von einer Person Ihres Vertrauens überprüfen. Wir müssen wissen, ob etwas fehlt.« Der Direktor nickte nun wie ein gehorsamer Schuljunge. »Kannten Sie Herrn Lamkau?«, fragte Rath unvermittelt. »Persönlich, meine ich.« »Nein.« Fleischers Antwort kam prompt. »Ich habe ihn gestern zum ersten Mal gesehen.« »War denn jemand Ihrer Mitarbeiter privat mit dem Toten bekannt? « »Nicht dass ich wüsste, aber bei einer so großen Zahl an Mitarbeitern kann ich das selbstverständlich auch nicht ausschließen.« »Was mich wundert, ist, dass Herr Lamkau persönlich ausgeliefert hat. Und dann um diese Tageszeit.« Fleischer zuckte die Achseln und drückte seine Zigarette aus. »Das kommt vor, dass die Inhaber selbst rausfahren. Und die Lieferzeiten, das schwankt immer sehr, je nachdem wie die Lieferanten ihre Touren legen. Aber dazu müsste Ihnen Herr Riedel mehr sagen können.« »Herr Riedel«, wiederholte Rath und zückte seinen Block. Der Direktor nickte. »Alfons Riedel. Einer unserer Einkäufer.« »Ist Herr Riedel im Hause?« »Tut mir leid.« Der Direktor lächelte. »Wir haben Sonntag, da arbeitet der Einkauf nicht.«
»Gut, dann komme ich morgen wieder«, sagte Rath. »Sagen Sie Herrn Riedel doch bitte Bescheid.« Direktor Fleischer lächelte immer noch, machte dabei aber ein Gesicht, als habe er schlimme Zahnschmerzen. Die Firma Lamkau hatte ihren Sitz in Tempelhof, direkt am Kanal. Das Firmengebäude machte einen aufgeräumten Eindruck, die Lieferwagen, die ordentlich in Reih und Glied auf dem Hof standen, rund ein halbes Dutzend, wirkten, als habe man sie eben erst einer gründlichen Autowäsche unterzogen. Rath parkte direkt neben einem der blitzeblank in der Sonne glänzenden Fahrzeuge. Sein vom Sommerstaub stumpfer Buick, den er eben in Kreuzberg abgeholt hatte, wirkte wie ein Straßenjunge, der in eine Gruppe Konfirmanden geraten war. Die Autos sahen ähnlich aus wie das, in dem der Firmeninhaber gestern zum Haus Vaterland gefahren war und das sich immer noch in den Händen der Spurensicherung befand. Sie warben für die Spirituosenhandlung Lamkau und für Mathée Luisenbrand, andere für Danziger Goldwasser oder Treuburger Bärenfang. Rath stieg aus und nahm den Hund an die Leine.
Auf dem Weg zum Wohnhaus bemerkte er, dass sich Kiries Nackenhaare plötzlich aufrichteten und sie ein leises Knurren hören ließ. »Ruhig, altes Mädchen«, sagte er, »ganz ruhig.« Und dann schrak er zusammen, denn hinter sich hörte er ein lautes Kläffen und gleichzeitig das Rasseln einer Kette, die sich mit wachsender Geschwindigkeit entrollte. Rath drehte sich um und sah ein Monstrum auf sich zustürmen.
Instinktiv machte er ein paar Schritte zur Seite, und es war genau die richtige Anzahl: Kurz bevor der Hund ihn erreichen konnte, spannte die Kette und hielt das Tier zurück. Das Bellen hörte dennoch nicht auf, mit seinem ganzen Gewicht warf sich der Wachhund ins Halsband, röchelte und kläffte die Besucher an. Kirie hatte sich inzwischen entschlossen zurückzubellen, sodass die sonntagnachmittägliche Ruhe endgültig zerstört war. Die Haustür des Wohnhauses öffnete sich, und ein Dienstmädchen schaute ihn an. Sie musste brüllen, um sich gegen das Gekläff durchzusetzen. »Sie wünschen?«
© 2014 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Er ist wieder unterwegs und schleicht durch die Wälder, hat seinen Unterschlupf verlassen und schnürt durchs Gehölz, niemand wird ihn hören, niemand wird ihn sehen. Eine gelbfarbene Trägheit liegt in der Luft, selbst im Schatten der Bäume spürt er die Wärme des Tages, der Sommer ist mit Macht ins Land gekommen. Die Lindenblüten verbreiten ihren Duft und die Wintergerste auf den Feldern drüben bei Markowsken.
Tokala hält inne und nimmt einen tiefen Atemzug. Auch den See kann er bereits riechen und freut sich auf das Bad im kalten, weichen Wasser. Je näher er seinem Ziel kommt, desto langsamer werden seine Bewegungen. Er ist scheu, und wenn er sich einmal zeigt, dann nur, um den Menschen einen Schrecken einzujagen. Er mag es nicht, wenn sie in seinen Wald kommen, er mag ihr lautes Rufen nicht, nicht ihr rücksichtsloses Trampeln durchs Unterholz, das ihre Verachtung zeigt für alles, was ihm heilig ist. Er hat einen Spiegel in seiner Hütte hängen, und manchmal, bevor er hinausgeht, reibt er sein Gesicht mit schwarzer Erde ein, bis seine Augen wild leuchten und er aussieht wie ein Raubtier, wenn er die Zähne bleckt. In der Dämmerung macht ihn das so gut wie unsichtbar, jetzt aber steht die Sonne hoch am Himmel, und er hat auf diese Tarnung verzichtet. Umso vorsichtiger bewegt er sich, seine Mokassins sind aus Elchleder, in ihnen schleicht er leise wie eine Katze. Tokala muss aufpassen, der See gehört schon zu ihrem Reich, er könnte auf Menschen stoßen. In seine Wälder trauen sie sich nicht, dort haben sie Angst, Angst vor dem Moor und vor dem Kaubuk. Kaubuk.
Ja, so nennen sie ihn, weil sie keinen anderen Namen finden. Seinen alten Namen, an den er sich selbst kaum erinnert, haben sie längst vergessen, und noch weniger kennen sie seinen neuen, den er sich zugelegt hat, als er ihre Welt verlassen hat vor vielen Wintern, seinen wahren Namen, seinen Kriegernamen. r ist wieder unterwegs und schleicht durch die Wälder, hat seinen Unterschlupf verlassen und schnürt durchs Gehölz, niemand wird ihn hören, niemand wird ihn sehen. Eine gelbfarbene Trägheit liegt in der Luft, selbst im Schatten der Bäume spürt er die Wärme des Tages, der Sommer ist mit Macht ins Land gekommen. Die Lindenblüten verbreiten ihren Duft und die Wintergerste auf den Feldern drüben bei Markowsken. Tokala hält inne und nimmt einen tiefen Atemzug. Auch den See kann er bereits riechen und freut sich auf das Bad im kalten, weichen Wasser.
Je näher er seinem Ziel kommt, desto langsamer werden seine Bewegungen. Er ist scheu, und wenn er sich einmal zeigt, dann nur, um den Menschen einen Schrecken einzujagen. Er mag es nicht, wenn sie in seinen Wald kommen, er mag ihr lautes Rufen nicht, nicht ihr rücksichtsloses Trampeln durchs Unterholz, das ihre Verachtung zeigt für alles, was ihm heilig ist.
Er hat einen Spiegel in seiner Hütte hängen, und manchmal, bevor er hinausgeht, reibt er sein Gesicht mit schwarzer Erde ein, bis seine Augen wild leuchten und er aussieht wie ein Raubtier, wenn er die Zähne bleckt. In der Dämmerung macht ihn das so gut wie unsichtbar, jetzt aber steht die Sonne hoch am Himmel, und er hat auf diese Tarnung verzichtet. Umso vorsichtiger bewegt er sich, seine Mokassins sind aus Elchleder, in ihnen schleicht er leise wie eine Katze.
Tokala muss aufpassen, der See gehört schon zu ihrem Reich, er könnte auf Menschen stoßen. In seine Wälder trauen sie sich nicht, dort haben sie Angst, Angst vor dem Moor und vor dem Kaubuk.
Kaubuk. Ja, so nennen sie ihn, weil sie keinen anderen Namen finden. Seinen alten Namen, an den er sich selbst kaum erinnert, haben sie längst vergessen, und noch weniger kennen sie seinen neuen, den er sich zugelegt hat, als er ihre Welt verlassen hat vor vielen Wintern, seinen wahren Namen, seinen Kriegernamen.
Tokala. Der Fuchs. Wie ein Fuchs schnürt er durch die Wälder, versteckt sich in seinem Bau, und sie lassen ihn gewähren. Sie lassen ihn in Ruhe seine Dinge tun und er sie die ihren; niemand mischt sich ein in die Welt des anderen, das ist die unausgesprochene Abmachung seit Jahren. Es ist gefährlich in ihrer Welt, doch ab und zu muss er es wagen, muss des Nachts in ihre Städte und Dörfer, wenn er neue Bücher braucht oder Petroleum oder ein paar von den Früchten, die bei ihm im Moor nicht wachsen wollen. Seine Vorsicht ist nicht übertrieben, er hat den See schon fast erreicht, da hört er ein Summen und Singen und hält inne, inmitten der Bewegung, und lauscht. Eine Frauenstimme, eine unbestimmte Melodie. Langsam schleicht er zu seinem Uferversteck. Tokala hat sie erkannt, schon an ihrer Stimme erkannt, noch bevor er ihr Sommerkleid weiß und rot durchs Geäst schimmern sieht. Niyaha Luta, so nennt er sie. Er hat sie schon einmal gesehen, vor wenigen Wochen an derselben Stelle, und auch da hat er in seinem Versteck gehockt und sich nicht zu rühren gewagt. Er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte im Dunkel des dichten Gebüschs, und doch schien sie ihn direkt anzuschauen, als sie aufblickte von ihrem Buch. Dass sie sich nicht allein fortgestohlen hatte aus der Stadt, das merkte er, als ein metallisches Scheppern und Klingeln in sein Versteck drang und kurz darauf ein Mann mit einem Fahrrad aus dem Wald trat. Sie hatte ihn erwartet, das konnte man sehen. Und dann küsste sie ihn. Es war tatsächlich sie, die ihn küsste, nicht umgekehrt, und da wurde Tokala klar, dass sie sich nicht zum ersten Mal trafen und dass ihre Begegnung kein Zufall war. Das war der Moment, in dem er sich aus seinem Versteck zurückgezogen hatte ins Dunkel des Waldes. Und jetzt ist sie wieder hier, und Tokala hockt in seinem Versteck, sieht ihr Kleid, ein Muster wie aus roten Federn auf leuchtendem Weiß, er sieht ihre nackten Beine, die ins Wasser baumeln. Sie sitzt auf dem sonnenbeschienenen Ast, der in den See hinausragt, genau wie damals, und wieder liest sie in einem Buch. Zweige knacken, als ein Mann aus dem Wald tritt.
Nicht der Mann mit dem Fahrrad, es ist ein anderer, und Tokala sieht in ihrem Gesicht, dass sie diesen Mann nicht erwartet hat. Sie klappt ihr Buch zu, als habe er sie bei etwas Verbotenem ertappt.
Sie sagt nichts, und der Mann tritt näher, bis an den Ast, auf dem sie sitzt, und zeigt auf die Rinde. »Einen Katholiken? Einen Polenfreund?«
Die aus der Stadt mischen sich nicht in seine Dinge, und er mischt sich nicht in die ihren, so funktioniert sein Leben seit Jahren, und es ist das einzige Leben, das er sich vorstellen kann. Er erträgt den Anblick nicht länger, er muss zurück in seinen Wald, er kann keine Sekunde länger bleiben. Und während er langsam rückwärts schleicht, so wie er es gelernt hat aus den Büchern, sieht er noch, wie der böse Mann an ihrem Sommerkleid zerrt, und hört den Stoff reißen, er sieht, wie der Mann sich auf die wehrlose Frau legt und seinen Hosenschlitz aufknöpft, wie er sie mit dem anderen Arm zu Boden drückt und mit den Knien ihre Schenkel spreizt.
Tokala hört sie schreien, und wieder erstickt ein Gurgeln ihren Schrei, als ihr Kopf kurz unter Wasser gerät. Und wieder sieht er die Frau mit dem zerrissenen Nachthemd, ihre leblosen Augen. Mit diesem Bild im Kopf läuft er fort, läuft in den Wald, läuft so schnell er nur kann, läuft weg von ihrer Welt und ihrer Gewalt, weit weg, so weit es nur geht. Das Böse ist zurückgekehrt, das Böse, vor dem er einst geflohen ist, vor dem er sich sicher gewähnt hat in seinen Wäldern. Er rennt und rennt, läuft fort vor seiner Vergangenheit, der er doch nicht entkommen kann. Als er den See schon weit hinter sich gelassen hat, bleibt er endlich stehen, mitten im Wald, und es brüllt und schreit aus ihm heraus, dass ringsum die Vögel aufflattern. So steht er da in seiner Hilflosigkeit und Ohnmacht und schreit. Es geht nicht! Du kannst nicht an ihrer Welt teilhaben, ohne Schmerz zu erfahren, ohne das Böse zurückzurufen, nicht einmal als Beobachter kannst du das. Dies ist die Lektion, die du gelernt hast. Nun weißt du, bestimmter noch als sonst, warum du dich fernhalten musst von ihrer Welt, warum es das einzig Richtige ist, sich fernzuhalten von ihnen und in den Wäldern zu leben.
So dunkel und leer hatte Reinhold Gräf den Potsdamer Platz noch nie gesehen. Frühmorgens, Viertel nach fünf, die Leuchtreklamen waren längst erloschen, und die Gebäude, die den Platz säumten, ragten wie schwarze Felsen gegen den Himmel. Der schwarze Maybach, aus dessen Seitenfenster der Kriminalsekretär schaute, war der einzige Wagen auf der sonst viel befahrenen Kreuzung. Nicht einmal der Verkehrsturm war um diese Zeit besetzt, die Ampeln lauerten dunkel hinter dem Glas. Gräf drückte seine Stirn gegen das Autofenster und betrachtete die Regentropfen, die sich auf der Scheibe zu kleinen Bächen sammelten, in die der Fahrtwind blies. »Da ist doch schon Haus Vaterland «, meldete sich Lange vom Rücksitz, »das mit der Kuppel, oder?« Gräf antwortete nicht, er ließ den Fahrer halten und klappte das Fenster herunter.
Der Schupo, der an der Stresemannstraße im Regen stand, hatte das Mordauto bereits erkannt und trat heran. »Lieferanteneingang, Herr Kommissar!« Der Uniformierte zeigte in die Köthener Straße und salutierte. »Kommissar kommt noch«, sagte Gräf. Er klappte die Scheibe wieder hoch und bedeutete dem Fahrer, rechts abzubiegen. Seine Laune war nicht die beste. Lange war der einzige Beamte, der mit rausgefahren war; der Kriminalassistent hatte ebenfalls Nachtdienst in der Mordbereitschaft. Christel Temme, die Stenotypistin, hatten sie aus dem Bett geklingelt und in Schöneberg abholen müssen. Dann saß noch der Fahrer mit im Wagen, sonst hatte Gräf um diese Uhrzeit, in der Grauzone zwischen Mitternacht und Morgen, niemanden erreicht, nicht einmal einen Kommissar. Obwohl Gereon Rath Rufbereitschaft hatte, war er nicht ans Telefon zu bekommen. Nach vier vergeblichen Versuchen hatte Gräf auf
18gegeben und war mit Lange ins Mordauto gestiegen, um die Stenotypistin einzusammeln und endlich zum Tatort zu fahren. Die ganze Fahrt über hatten sie sich angeschwiegen, bis Lange das Schweigen mit seiner überfl üssigen Bemerkung unterbrochen hatte. Natürlich war das hier Haus Vaterland. Die Köthener Straße führte sie an der dunklen Rückseite entlang, vorbei an einer endlosen Reihe hoher Rundbögen, notdürftig beleuchtet vom Gaslicht der Straßenlaternen. Einst hatte hier die Ufa residiert, aber dann hatte Kempinski den riesigen Komplex für viel Geld von Grund auf umbauen lassen zu Berlins größtem Vergnügungstempel. Und nun vereinte Haus Vaterland all die Vergnügen unter einem Dach, die der durchschnittliche Tourist aus der Provinz von einem gelungenen Abend in der Weltstadt Berlin erwartete: essen, tanzen, saufen und spärlich bekleidete Revuegirls. Im grellen elektrischen Licht, das aus einem offenen Tor ganz am Ende des Gebäudes fiel, glitzerten die Regenfäden. Der Lieferanteneingang lag so weit von der viel befahrenen Stresemannstraße entfernt wie eben möglich. Zwei Autos standen am Straßenrand, ein heller Lieferwagen mit offener Hecktür und ein dunkelroter Horch.
Der Fahrer des Mordautos parkte direkt dahinter, stieg aus und öffnete Gräf die Wagentür. »Lassense man gut sein, Schröder, ich bin ja nicht der Polizeipräsident. « »Jawohl, Herr Kriminalsekretär.« Mathée Luisenbrand, der schmeckt. So stand es auf der Seitenwand des Lieferwagens, der direkt vor dem Eingang parkte, und in kleineren Buchstaben darunter: Herbert Lamkau, Spirituosen. Der Regen wurde immer heftiger, Gräf zog den Hut tiefer. »Vergiss den Fotoapparat nicht«, blaffte er Lange an, der bereits Anstalten machte, ins Trockene zu kommen. Es hatte ruppiger geklungen, als Gräf beabsichtigt hatte, er wollte nur unmissverständlich klarmachen, wer hier die Ermittlungen leitete, solange der diensthabende Kommissar durch Abwesenheit glänzte. Lange sollte sich bloß nichts einbilden: Kommissaranwärter war kein Dienstgrad, der Mann war nach wie vor Kriminalassistent, und ob er die Prüfung zum Kriminalkommissar schaffen würde, musste sich erst zeigen. So lange jedenfalls hatte Reinhold Gräf den höheren Dienstgrad.
Der Kriminalassistent gehorchte ohne Murren und ging zum Kofferraum des Mordautos, ruckelte einmal daran, ruckelte ein zweites Mal, diesmal heftiger, doch nichts passierte. Gräf kannte das, bei Nässe klemmte die Klappe meistens. Es gab da einen Trick, den hätte sich der Kriminalassistent wohl besser mal zeigen lassen in all den Monaten, die er nun schon am Alex war. Der Kriminalsekretär umkurvte die Pfützen und ging zum hell erleuchteten Lieferanteneingang hinüber, in dem ein Schupo Wache stand. Der Regen hatte sich in Gräfs Hutkrempe gesammelt und ergoss sich auf den Betonboden, als er den Kopf neigte, um seinen Dienstausweis aus der Westentasche zu fummeln. Der Schupo trat einen Schritt beiseite, um das Wasser nicht auf die Stiefel zu bekommen. »Melde gehorsamst: Polizeioberwachtmeister Reuter vom sechzehnten Revier, Voßstraße. Uns wurde gegen vier Uhr zweiunddreißig telefonisch ein Leichenfund gemeldet. Haben die Lage in Augenschein genommen und dann unverzüglich die Mordbereitschaft informiert.« »Schon irgendwelche Erkenntnisse?« »Keine, Herr Kommissar, nur dass ...« »Kriminalsekretär«, sagte Gräf. »Kommissar ist noch unterwegs.« »Melde gehorsamst: keine Erkenntnisse, Herr Kriminalsekretär. Außer dass der Mann tot ist.« Gräf nickte. »Wo liegt sie denn, unsere Leiche?« Der Tschako zuckte zur Betondecke. »Oben.« »Auf dem Dach?« »Im Lastenaufzug. Vierte Etage. Oder dritte. Ist stecken geblieben. « Gräf schaute sich um.
Links waren zwei schmucklose metallene Aufzugtüren zu sehen. Rechts führte eine Betontreppe nach oben. »Wir haben niemanden mehr mit den Aufzügen hier fahren lassen«, sagte der Schupo, »wegen der Spurensicherung.« »Sehr gut«, lobte Gräf. Derartige Umsicht war bei Schutzpolizisten nicht selbstverständlich, obwohl Gennat nicht müde wurde, auch den Blauen immer wieder die Grundlagen moderner Polizeiarbeit zu predigen. »Gab's irgendwelche Probleme deswegen?« »Nur mit dem Gerichtsmediziner. Der hat geflucht, als er die Treppe hochsteigen musste.«
»Gibt's denn keine Personenaufzüge?« »Jede Menge. Aber nicht hier hinten. Weiter vorne im Gebäude, in der Mittelhalle.« Gräf seufzte und nickte der Stenotypistin zu, die inzwischen auch angekommen war und ihren Regenschirm ausschüttelte. »Wir müssen Treppen steigen, Fräulein Temme«, sagte er und öffnete die Tür. Er sah noch, dass Lange den Kofferraum endlich aufbekommen hatte, bevor er mit der Stenotypistin zur vierten Etage hinaufstiefelte. Eine Handvoll Männer blickte sie an, als sie oben aus dem Treppenhaus traten. Neben dem Schupo, der hier Wache schob, stand ein Wachmann der Berliner Wach- und Schließgesellschaft, daneben ein Mann, der unschwer als Koch zu erkennen war, dann einer im Blaumann und schließlich ein elegant gekleideter drahtiger Herr, dessen sandfarbener Sommeranzug dunkle Regenflecken aufwies. Mit wenigen Blicken verschaffte sich Gräf einen Überblick: hinter ihm die Tür zum Treppenhaus, in der Wand links von ihm zwei Fenster, in der Wand gegenüber die beiden Aufzugtüren.
Die linke Doppeltür war geöffnet und gab den Blick in den düsteren Schacht frei und auf ein dickes Drahtseil, an dem die stecken gebliebene Aufzugkabine hing, von der nur die oberen zwei Drittel zu sehen waren. Das Licht in der Kabine brannte noch und beleuchtete einen großen Stapel sperrhölzerner Schnapskisten, die auf einem Gitterwagen standen. Mathée Luisenbrand war in schnörkeligen Buchstaben auf das Holz gebrannt. Der schmeckt , dachte Gräf und zückte seinen Dienstausweis. »Was ist denn passiert?«, fragte er in die Runde. Bevor der Schupo etwas sagen konnte oder sonst jemand, hatte sich der Anzugmann, dessen struppiges Haar davon kündete, dass man ihn aus dem Bett geholt hatte, schon in Bewegung gesetzt. »Ich kann es mir nicht erklären, Herr Kommissar, es ist alles ...« »Kriminalsekretär«, verbesserte Gräf. »Kommissar kommt gleich.« »Fleischer, Direktor Richard Fleischer«, sagte der Anzugmann und streckte seine Hand aus. »Ich leite Haus Vaterland .« »Soso.« »Ich hoffe, wir können diese unerfreuliche Angelegenheit diskret behandeln, Herr Kriminalsekretär. Und schnell. Wir öffnen in wenigen Stunden, und ...«
»Wir werden sehen«, sagte Gräf. Direktor Fleischer wirkte irritiert. Er war es offenbar nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Schon gar nicht zweimal hintereinander. »All unsere Fahrstühle«, fuhr er fort, »auch die Lastenaufzüge und selbst die Speiseaufzüge werden regelmäßig gewartet, zuletzt vor einem Vierteljahr. Immerhin haben wir siebzehn Aufzüge in unserem Haus und können uns nicht erlauben, dass ...« »Aber stecken geblieben ist er, Ihr Lastenaufzug, oder?« Fleischer wirkte beleidigt. »Das sehen Sie ja selbst«, sagte er. »Aber dadurch ist Herr Lamkau nicht ums Leben gekommen.« »Solche Schlussfolgerungen überlassen Sie mal der Kriminalpolizei. Sie kennen den Toten?« »Nicht persönlich. Einer unserer Lieferanten.« Gräf nickte und betrachtete die Aufzugkabine, in der sich ein Schatten bewegte. Neben der Schnapslieferung erhob sich eine hagere Gestalt in einem weißen Kittel, und ein blond gescheitelter Kopf schaute aus der Kabine. Obwohl Doktor Karthaus fast eins neunzig maß, war von ihm nur ein Brustbild zu sehen. Es sah aus wie im Kasperletheater. »Na, wenn das mal nicht die Kripo ist!« Karthaus' Worte klangen metallisch hohl aus dem Schacht. »Herr Doktor! Erstaunlich, dass Ihr Horch immer schneller ist als das Mordauto!« »Beschweren Sie sich nicht. Seien Sie froh, dass ich Dienstbereitschaft habe. Doktor Schwartz hätte sich geweigert, hier reinzuklettern. Hätte er in seinem Alter wahrscheinlich auch gar nicht mehr geschafft.« »Tja«, sagte Gräf, »die Würde des Alters lässt sich mit dem, was wir hier tun, nicht immer vereinbaren.« »Da haben Sie recht«, meinte Karthaus, »trotzdem würde ich lieber arbeiten, als hier nur Däumchen zu drehen.« Gräf ging hinüber und schaute in die Kabine. Der Tote lag neben seiner Lieferung und steckte in einem hellgrauen Krämerkittel. Sein Gesicht war bleich, die Lippen blau. Über ihm war ein rotes Tuch an das Gitter geknotet, der Stoff schien wasserdurchtränkt zu sein. Auch die Haare glänzten nass, die Schultern ebenfalls, der Stoff des Kittels hatte sich an den Schultern dunkelgrau gefärbt, und rings um den Kopf waren noch die Spuren einer Wasserlache und eines Rinnsals zu erkennen, das zur Aufzugsecke hin abgeflossen war. »Ist noch in den Regen gekommen, was?« Der Gerichtsmediziner zuckte die Achseln. »Das müssen Sie die Spurensicherer fragen. Ich hoffe, die kommen bald, damit ich endlich loslegen kann.« »Sind unterwegs.« »Und wo bleibt der Kommissar?« »Kommt Zeit, kommt Rath«, sagte Gräf. Er zeigte zur Tür, wo sich die Spitze eines Kamerastativs aus dem Treppenhaus schob. »Jetzt kommt erst einmal der Kollege Lange und macht Fotos. Und danach dürfen Sie an die Leiche.« Lange, der Kamera und Stativ geschultert hatte, schaute fragend in die Runde. Gräf nickte nur kurz in Richtung Aufzug, und der Kriminalassistent verstand. »Morgen, Doktor«, sagte Lange und ließ das schwere Gerät in die Aufzugskabine hinab, »könnten Sie das vielleicht mal annehmen? « Gräf wandte sich wieder den wartenden Zeugen zu. »Wer hat den Toten eigentlich gefunden?« Der Koch hob die Hand wie in der Schule. »Ich, Herr Kriminalsekretär. « »Herr Unger ist einer unserer Chefköche«, soufflierte Direktor Fleischer.
Gräf ging es mehr und mehr auf den Wecker, wie der Geschäftsführer sich in den Vordergrund drängte. »Wo waren denn Sie, als die Leiche gefunden wurde, Herr Direktor?«, fragte er. »Ich?« Fleischer stutzte. »Natürlich zu Hause. Wieso wollen Sie das wissen?« »Ehrlich gesagt wundert es mich, dass sich der Direktor persönlich zu dieser Uhrzeit schon im Gebäude aufhält.« »Aber ich bitte Sie! Es wurde ein Toter gefunden! Der Wachdienst hat mich selbstverständlich umgehend benachrichtigt, also bin ich hergekommen.« »Sehr lobenswert«, sagte Gräf und nickte anerkennend. »Ich nehme aber an, die anderen Herren hier waren vor Ort, als die Leiche gefunden wurde.« Wachmann, Koch und Blaumann nickten. »Gut. Dann werde ich Sie als Erstes befragen. Wo kann man sich denn hier in Ruhe unterhalten?« »Ich ... ähh ... Ich könnte Ihnen mein Büro anbieten«, sagte Direktor Fleischer, sichtlich überrumpelt. »Gute Idee. Steht dort auch ein Telefon?« »Selbstverständlich.« »Dann führen Sie mich und Fräulein Temme doch bitte dorthin. Und lassen Sie alle Mitarbeiter zusammentrommeln, die zum Zeitpunkt des Leichenfundes im Hause waren.« Fleischer nickte und setzte sich in Bewegung. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Wir müssen zwei Etagen tiefer.« Aus dem Lastenaufzug blitzte es. Lange hatte mit dem Fotografieren begonnen. Gräf seufzte. Jetzt musste er nur noch herausbekommen, wo zum Teufel Gereon Rath sich gerade herumtrieb, dann würde der Tag vielleicht doch zu retten sein.
Die Dämmerung schimmerte graublau durch das Glasdach und hatte schon begonnen, das müde Licht der elektrischen Glühbirnen zu verdrängen. Stimmengemurmel, Lautsprecherkratzen und Trillerpfeifen, die typischen Bahnhofsgeräusche kamen Rath lauter vor als sonst, was an der Tageszeit liegen mochte. Die große Uhr zeigte dreiundzwanzig Minuten nach fünf, und er hatte den Eindruck, dass die meisten Leute, die sich um diese Zeit im Bahnhof Zoo herumtrieben, genauso müde waren wie er selbst, trotz des Lärms, den sie veranstalteten.
Er hatte zwei Tassen schwarzen Kaffee getrunken, doch immer noch fühlte er sich, als sei er nicht in seinem Körper, sondern schwebe irgendwo darüber und beobachte sich selbst: einen groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann im hellgrauen Sommeranzug und mit dazu passendem Hut, in der einen Hand eine Bahnsteigkarte, in der anderen einen Blumenstrauß und eine rote Hundeleine. Ein müder Mann, der gerade durch die Sperre ging, einen ebenso verschlafenen schwarzen Hund im Schlepptau.
24Die Blumen hätte er beinahe vergessen, erst als er den Bahnhof Zoo betreten hatte, war ihm das eingefallen. Und dann hatte er im Blumenladen unten in der Halle schon Licht gesehen und an die Scheibe geklopft. Das Mädchen, das gerade die frisch eingetroffenen Blumen in die Vasen sortierte, hatte ein Einsehen gehabt und den Laden aufgeschlossen und ihm - gegen Aufpreis - einen Strauß gebunden. So standen sie also nun auf dem Bahnsteig wie bestellt und nicht abgeholt: ein Mann, ein Hund, ein Blumenstrauß. Rath reckte sich und stellte sich auf die Zehenspitzen, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen, dann zog er das Zigarettenetui aus der Innentasche, klemmte die Blumen unter den Arm und zündete sich eine Overstolz an.
Eigentlich hätte er gar nicht hier stehen dürfen, er war für die Wochenendbereitschaft eingeteilt, und das hieß, er musste jederzeit telefonisch erreichbar sein. Normalerweise gab man am Alex immer die aktuelle Telefonnummer durch, unter der man zu erreichen war, wollte man nicht das ganze Wochenende zu Hause neben dem Telefon verbringen. Rath vermutete, dass sich Buddha Ernst Gennat, der Leiter der Mordinspektion, allein anhand der Rufnummern, die während der Rufbereitschaft hinterlassen wurden, ein genaues Bild von den Gewohnheiten seiner Beamten machen konnte, welche Kneipen sie so besuchten, welche Restaurants, Theater, Kinos, Sporthallen, Rennbahnen, vielleicht auch welche Frauen. Genau deswegen blieb Rath nach Möglichkeit zu Hause, wenn es ihn traf. Genau wie heute, nur dass er niemandem am Alex Bescheid gesagt hatte, dass er kurz zum Bahnhof Zoo raus war.
Er würde eine halbe, vielleicht eine Dreiviertelstunde weg sein, was sollte da schon passieren? In der letzten Zeit hatte es kaum Mordfälle gegeben - wenn man die Kommunisten und Nazis nicht mitzählte, die einander mit wachsendem Vergnügen totschlugen, seit die neue Reichsregierung als eine ihrer ersten Amtshandlungen das SA -Verbot der Regierung Brüning wieder einkassiert hatte. Erst gestern hatte es im Wedding und in Moabit Schießereien gegeben. Das Ergebnis: ein toter Nazi, acht Verletzte. Um diese Fälle kümmerte sich die Revierkripo, vom Alex kamen da, wenn überhaupt, nur die Beamten der Politischen Polizei raus. Ansonsten hatten vor allem Selbstmorde Konjunktur, nach wie vor: Im Grunewald hatte sich jemand den Kopf weggeschossen, in der Bernauer Straße eine Frau ihr fünfjähriges Kind aus dem Fenster geworfen und war hinterhergesprungen. Der alltägliche Wahnsinn also. Selten war Gereon Rath die Arbeit in der Mordinspektion so sinnlos vorgekommen wie in der jüngsten Zeit.
Er hatte immer gedacht, die Polizei sei dazu da, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen; mittlerweile aber kam es ihm so vor, als seien sie nur noch diejenigen, die die Scherben zusammenkehrten. Der Lautsprecher auf dem Bahnsteig kratzte, und dann kündigte eine militärisch schnarrende Stimme an, der Nordexpress werde mit etwa zehn Minuten Verspätung in Berlin eintreffen. Rath schnippte die Overstolz auf den Bahnsteig und zündete sich gleich die nächste an. Dann eben noch eine Zigarettenlänge warten. Er spürte, dass er umso nervöser wurde, je länger ihr Zug auf sich warten ließ. Außer ihm war sonst niemand am Bahnhof, kein Grinsemann, keine Greta, niemand, der hätte stören können, zwei Anrufe hatten gereicht, um das sicherzustellen.
Rath wusste, dass die meisten von Charlys Freunden ihm ohnehin nicht gern über den Weg liefen, schon immer hatten sie ihn irgendwie gemieden. Oder er sie, so genau wusste er das nicht. Mit all diesen Juristen und Studenten hatte er jedenfalls noch nie etwas anfangen können. Er musste daran denken, wie er Charly zum Bahnhof gebracht hatte letzten Herbst und wie beschissen er sich dabei gefühlt hatte. Nun endlich kam sie zurück, und er fühlte sich kaum besser, obwohl er nichts so sehr herbeigesehnt hatte wie diesen Moment. Ein Semester hatte sie in Paris bleiben wollen, dann waren es doch zwei geworden. Sie hatten sich viel geschrieben in der Zeit und auch telefoniert, aber nur ein einziges Mal gesehen, ein paar Wochen nach ihrer Abfahrt, als sie sich in einem Hotelzimmer in Köln getroffen und nach einer hektischen Liebesnacht wieder verabschiedet hatten. Und dann war sein lange geplanter Weihnachtsbesuch in Paris ins Wasser gefallen, weil er keinen Urlaub hatte nehmen können. Ein Auftragsmörder hatte Berlin unsicher gemacht, ein Scharfschütze, der seine Opfer mit einem einzigen präzisen Schuss ins Herz erledigte und keine Spuren hinterließ. Sein erstes Opfer, einen halbseidenen Rechtsanwalt, hatte es vor dem Opernhaus in Charlottenburg erwischt, nur das Projektil hatte der Mörder zurückgelassen, keinerlei weitere Spuren, und Czerwinski, der dicke Kriminalsekretär, hatte noch am Tatort gewitzelt: »Vielleicht war es ja das Phantom der Oper.« Damit hatte der Mörder seinen Namen weg, einen Namen, den auch die Hauptstadtpresse dankbar aufgegriffen hatte.
Das Phantom, wie der Todesschütze seither auch im internen Dienstgebrauch genannt wurde, hatte Rath eine weihnachtliche Urlaubssperre beschert, und er hatte sich damit getröstet, dass Charly ja schon Mitte Februar zurückkehren werde. Oder sie das Phantom noch vor Silvester schnappen würden und er wenigstens zum Jahreswechsel für ein paar Tage nach Paris reisen könnte. Beides war nicht eingetreten. Sie hatten das Phantom nicht erwischt, nicht vor Silvester, nicht im neuen Jahr, der Unbekannte hatte im Gegenteil weitergemordet, mindestens zwei weitere Todesfälle gingen auf sein Konto, wahrscheinlich sogar mehr, der mysteriöse Scharfschütze war zu einem Symbol des Versagens der sonst so erfolgsverwöhnten Inspektion A geworden. Und Charlys Rückkehr ... Ende Januar, zwei Wochen vor dem Termin, hatte sie nach Berlin telegrafiert, dass Professor Weyer den Vertrag mit ihr verlängert habe, und Rath hatte so getan, als freue er sich mit ihr, hatte sie beglückwünscht, obwohl er sich nicht danach fühlte. Beruflich schien alles bestens zu laufen in Paris, Fräulein Charlotte Ritter war dabei, sich einen Namen zu machen in der Welt der Juristen. In der Welt von Gereon Rath aber sah es anders aus.
Das Foto, das sie ihm dagelassen hatte, kam ihm mittlerweile so unwirklich vor, als zeige es einen Menschen, den es gar nicht gab. Nun aber war das alles vorbei. Sie kam zurück, endlich zurück, und er hatte sich geschworen, sie nie wieder so lange weggehen zu lassen. Hatte sich geschworen, sein Leben endlich in die Hand zu nehmen. Er hatte den zweiten Zigarettenstummel gerade aufs Gleisbett geworfen, da kündigte der Lautsprecher die Einfahrt des Zuges an. Endlich. Rath stellte sich kerzengerade, zupfte ein wenig an seinem Anzug und schaute den Lichtern entgegen, die langsam aus der Morgendämmerung wuchsen, geräuschlos zunächst, bis der Nordexpress auch sein Getöse in den Bahnhof schob, die Halle mit Fauchen und Wasserdampf füllte und mit lautem metallischen Quietschen.
Nachtblaue Schlafwagen zogen an Rath vorbei und wurden immer langsamer, bis der Zug mit einem letzten Zischen der Ventile schließlich zum Stehen kam. Für einen Moment war es so ruhig, als sei die Zeit stehen geblieben, dann flogen die Türen auf, und überall stiegen Menschen aus den Waggons und füllten den Bahnsteig augenblicklich mit Lärm und Geschnatter. Rath machte einen langen Hals und suchte Charlys schlanke Gestalt. Hoffnungslos in dem Gewimmel. Er musste einen Schritt zurücktreten, weil er sonst umgerannt worden wäre, da bellte der Hund einmal kurz auf, wedelte heftig mit dem Schwanz und zerrte plötzlich mit aller Kraft an der Leine.
Rath gab nach und ließ sich von Kirie durch das Gewimmel ziehen. Und dann sah er Charly auf dem Bahnsteig stehen, sah ihren suchenden Blick und blieb stehen, so sehr warf ihn dieser Anblick um. Der Hund jaulte kurz auf, als die Hundeleine spannte, und schaute sich verwundert um zu seinem Herrchen. Rath stand da und starrte Charly an. Eigentlich hatte sie sich kaum verändert, und dennoch hätte er sie beinahe nicht wiedererkannt. Ihre Frisur war anders, als er sie in Erinnerung hatte, kürzer und anders geschnitten, das dunkle Haar von einem rötlichen Schimmer, den er nicht kannte. Ihr Hut musste neu sein, und auch der Mantel, den sie trug, und die Schuhe.
Das Bild widersprach so sehr dem, das er all die Monate in seinem Gedächtnis bewahrt hatte, dass ihn das Gefühl der Fremdheit vollkommen unerwartet überfiel. Er riss den Arm hoch und winkte mit dem Blumenstrauß. Endlich hatte sie ihn entdeckt, sie lächelte, und das Grübchen auf ihrer linken Wange machte sie wieder ein wenig vertrauter. Kirie zerrte weiter an der Leine, und Rath setzte sich wieder in Bewegung, ließ sich förmlich hintreiben zu ihr. Und dann waren sie bei ihr angekommen. Der Hund fremdelte kein bisschen, er sprang sie an und leckte ihr durchs Gesicht, und sie lachte, und Rath freute sich so sehr über dieses Lachen, dass er nur dastand und guckte, immer noch dastand, als Kirie sich längst beruhigt hatte und nur noch mit dem Schwanz wedelte und sie anhechelte.
Einen Moment standen sie sich gegenüber und fanden keine Worte. Charly schaute ihn an mit ihren dunklen Augen. »Willkommen daheim«, sagte er schließlich, um überhaupt et was zu sagen, und nahm sie in den Arm. Er atmete ihren Duft, und auch wenn das Parfum ihm ebenso fremd erschien wie ihr Äußeres, erkannte er darunter doch den unverwechselbaren Geruch, den nur Charlys Haut aussandte, und dieser Duft war es, der alle Eindrücke der Fremdheit vergessen machte und mit einem Mal zahllose Erinnerungen zurückbrachte; nicht eigentlich Erinnerungen, nichts aus dem Gedächtnis, sondern etwas viel tiefer Gehendes, von dem er nicht gewusst hatte, dass es überhaupt existierte. So viel lag in diesem Duft, dass Rath sich mit einem Mal fühlte, als habe es die vergangenen Monate der Trennung nie gegeben, als würde es so etwas wie Trennung zwischen ihnen gar nicht geben können. Er drückte sie lang und trat einen Schritt zurück, um sie zu betrachten. Ihre Augen lachten. »Sind die Blumen da für mich? Oder erwartest du noch jemanden? « »Marlene Dietrich. Aber die scheint den Zug verpasst zu haben.« Sie verdrehte die Augen, aber sie lächelte dabei. Rath reichte ihr den Strauß. »Jetzt bin ich völlig hilflos«, sagte sie und hob beide Hände.
In der linken hielt sie eine kleine Reisetasche, in der rechten die Blumen. »Hilflos ist gut«, sagte er und gab ihr einen Kuss. Als er spürte, wie sie ihn erwiderte, hätte er auf der Stelle über sie herfallen können. Doch dann fing der Hund an zu bellen, und die Leute guckten zu ihnen herüber. »Ich denke, wir sollten sehen, dass wir in eine etwas privatere Umgebung kommen«, sagte Rath, und sie grinste. Er organisierte einen Gepäckträger und führte Charly zum Auto, das gleich vor dem Bahnhof parkte. Der Dienstmann verstaute Charlys Koffer und die Tasche auf dem Schwiegermuttersitz, und Rath gab ihm ein anständiges Trinkgeld. Kaum hatte er die Beifahrertür geöffnet, sprang Kirie in den Wagen. Er zog den widerstrebenden Hund am Halsband aus dem Auto und schickte ihn neben die Koffer auf den Notsitz. »Der Hund weiß eigentlich, dass er nach hinten muss, wenn jemand anderes mitfährt«, sagte Rath, als er neben ihr im Auto saß und den Motor startete.
»Wer ist denn so alles mitgefahren in den letzten Monaten?« »Offensichtlich so wenige, dass Kirie sich schon nicht mehr daran erinnert.« Rath legte den Gang ein. Dass er von der Hardenbergstraße gleich wieder abbog, als sie den Steinplatz erreicht hatten, schien ihr nicht weiter aufzufallen. Als er dann aber in der Carmerstraße parkte und ihr die Autotür öffnete, schaute Charly sich neugierig um. Rath hob den Hund aus dem Notsitz, dann die Koffer, und stiefelte auf das Haus zu, hinter Kirie her, die den Weg kannte, und war froh, dass Charly sein Grinsen nicht sehen konnte.
Sie folgte ihnen die kurze Außentreppe hoch und in das lichtdurchflutete, marmorgetäfelte Treppenhaus. »Guten Morgen, Herr Rath«, grüßte der Portier aus seiner Loge. »Morgen, Bergner«, erwiderte Rath. »Was wird das?«, flüsterte Charly, als sie bei den Aufzügen standen und einigermaßen außer Hörweite waren. »Wo sind wir hier?« »Lass dich überraschen.« Rath drückte den Aufzugknopf, und kurz darauf öffnete sich die Tür. Er musste dem Liftboy nicht sagen, wohin sie wollten, und als sie in der dritten Etage wieder ausstiegen, schaute Charly immer noch wie ein einziges Fragezeichen. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und schloss auf, und Kirie verschwand sofort im Türspalt. Rath öffnete die Tür zur Gänze und stellte die Koffer auf den Marmorboden in der Diele. Er musste sich Mühe geben, sein Grinsen nicht allzu breit werden zu lassen, und wandte sich ab, damit sie es nicht sah. Jetzt erst hatte sie das Messingschild neben der Tür entdeckt. Rath war dort eingraviert, mehr nicht.
Mit Vornamen hatte er sich nicht festlegen wollen. Noch nicht. »Ich fass es nicht«, sagte sie und trat ein. »Ich dachte, ich vergrößere mich etwas«, sagte Rath und half ihr aus dem Mantel. »Willst du's dir nicht ansehen?« Sie trat ein und schaute sich um. Bewundernd. Die Wohnung war schließlich schon in der Diele eindrucksvoll. Hell und modern. Nur der Hund, der sich wieder in sein Körbchen gelegt hatte und schläfrig blinzelte, störte das perfekte Bild ein wenig. »Alle Achtung! Wie lange wohnst du schon hier? Haben sie dich zum Oberkommissar befördert oder gleich zum Kriminalrat?«
Er hatte befürchtet, dass sie irgendetwas in dieser Richtung fragen würde. »Erbschaft«, sagte er also, so beiläufig wie möglich. »Onkel Joseph. « Das stimmte sogar, doch viel hatte ihm sein Patenonkel, der vor einem halben Jahr gestorben war, nicht hinterlassen. Von dem Scheck aus Übersee aber, den er vor dreieinhalb Monaten erhalten hatte, wollte er ihr lieber nichts erzählen. Zwar hatte nicht der Name Abraham Goldstein darauf gestanden, sondern nur ein Firmenname, von dem Rath bislang noch nie etwas gehört hatte, eine Transatlantic Trade Inc. , die ihm zweitausend US-Dollar consulting fee zukommen ließ, doch auch Charly würde eins und eins zusammenzählen können. Und das sollte sie nicht. Niemand durfte wissen, dass er Zuwendungen aus dubiosen Quellen annahm, dass er eigentlich sogar der Ansicht war, das Geld stehe ihm zu, wenn schon der Freistaat Preußen nicht in der Lage war, ihn anständig zu bezahlen.
Sein Jahresgehalt betrug nicht einmal fünftausend Mark. Er liebte ihre dunklen Augen, und er liebte es noch mehr, wenn Charly sie so weit aufriss wie gerade jetzt. Er wusste, wie sehr sie für moderne Architektur schwärmte, und hatte die vier Räume entsprechend eingerichtet. Nicht gerade billig, aber solide. Viel Leder und viel Stahl, edle Hölzer. Die Möbel würden hundert Jahre halten. Rath öffnete die Tür zum Salon. »Wenn ich bitten darf.« Die Morgensonne hatte sich gerade freigearbeitet und schickte ihre ersten Strahlen durchs Fenster auf einen üppig gedeckten Frühstückstisch. Es duftete nach frisch gebackenen Schrippen und Kaffee. Der Champagner stand im Kühler, die Gläser an ihrem Platz. Charly war tatsächlich sprachlos. »Ich ... Meine Güte, ist das ein Empfang«, sagte sie schließlich. »Ein Berliner Frühstück, dachte ich. Baguette und Camembert kannst du doch bestimmt nicht mehr sehen.« Er zeigte auf die Tür, die er noch nicht geöffnet hatte. »Und nachher zeige ich dir noch das Schlafzimmer.« »Lüstling!« »Stets zu Diensten, die Dame.« Er merkte, wie ihn allein der Gedanke erregte, mit ihr nach nebenan zu gehen. Auf das Frühstück hätte er jetzt gut verzichten können. »Das ist ja ...« Zu spät. Sie hatte den Champagner entdeckt. »... Heidsieck Monopol.« Genau diese Marke hatten sie bei ihrem ersten Rendezvous getrunken.
Im Europahaus. Wenn Rath daran dachte, dass das nun schon über drei Jahre zurücklag, dann war das, was er heute vorhatte, mehr als überfällig. Er schenkte vorsichtig ein und reichte ihr ein Champagnerglas. Das mit dem Ring. Er hob sein Glas, und sie stießen an. Charly lächelte und zeigte ihr Grübchen. Er beobachtete sie, während er trank; es dauerte nur einen Moment, ehe sie stutzte und den Ring aus den Champagner- perlen fischte. Sie sagte nichts, starrte nur den Ring an, der zwischen ihren Fingern tropfte und glänzte, und schien langsam zu begreifen, was das bedeuten könnte. »Fräulein Charlotte Ritter«, sagte er und nahm ihre Hand, »ich möchte hiermit und in aller Form um Ihre Hand anhalten.« Er schaute in ihre erstaunten Augen und begriff, dass dies keine Sache war, die er mit der Ironie angehen konnte, mit der er für gewöhnlich jede romantische Situation zerstörte, obwohl er sie eigentlich nur entkitschen wollte. »Charly«, sagte er und glaubte, noch nie in seinem Leben etwas mit diesem Ernst gesagt zu haben, »willst du mich heiraten?« Sie starrte ihn an, beinahe erschrocken, so glaubte er, und ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen. »Puh«, sagte sie, »das ist aber ein bisschen viel Überraschung an einem Morgen!« »Ich dachte, ich mache dir einen Antrag, bevor wir ins Schlafzimmer gehen. Ich bin katholisch.« »Das hat dich doch sonst nie gestört.« »Charly ...« Immer noch hielt er ihre Hand. Nun hockte er wirklich vor ihr wie ein Rosenkavalier des letzten Jahrhunderts, aber das störte ihn nicht. »Ich hätte dich schon längst fragen sollen. Nur ... dann kam Paris dazwischen. Aber ich meine es ernst, verdammt ernst: Willst du meine Frau werden?« Sie schaute ihn an. »Versteh mich nicht falsch, aber bevor ich antworte, muss ich ...« Sie brach ab und nahm einen neuen Anlauf. »Gereon, das ist tatsächlich eine sehr ernste Frage. Und auch wenn du sie vielleicht schon längst hättest stellen können, kommt sie jetzt doch - etwas plötzlich. Ich ...« Wieder brach sie ab, und mit einem Mal wusste Rath, warum er diese Situation so gescheut hatte, warum er ihr aus dem Weg gegangen war, obwohl er die Ringe schon vor über einem Jahr gekauft hatte.
Mit einem Mal stand da wieder diese Fremdheit im Raum, die er schon am Bahnhof gespürt hatte. Die Frau, die da vor ihm saß, trug Pariser Mode, nichts an ihr erinnerte an das Berliner Mädchen, das er kannte. Er ließ ihre Hand los und wollte wieder aufstehen, da spürte er, wie sie seinen Kopf in ihre Hände nahm und ihn küsste. Sofort war die erotische Stimmung, die er schon zum Teufel glaubte, wieder da. Jedenfalls seine Erektion. »Ist das jetzt ein Ja?«, fragte er. »Lass uns nicht reden«, sagte sie, »nicht jetzt. Später.« Er küsste sie noch einmal und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. »Nicht so stürmisch«, sagte sie. »Wolltest du mir nicht das Schlafzimmer zeigen?« »Wie Sie wünschen, gnädige Frau.« »Fräulein!«, sagte sie entrüstet.
Er hob sie hoch und trug sie zum Schlafzimmer hinüber. Sie war so weich und warm und federleicht, wie er sie in Erinnerung hatte. Er wusste nicht, ob er sich mit seinem Antrag blamiert hatte, er wusste nicht, wie ihre Antwort lautete, er wusste nur, dass sie das ernste Thema mit einem Kuss beiseitegeschoben hatte und es zwischen ihnen plötzlich wieder so war wie früher. Das Telefon klingelte. Er ließ sich nicht beirren und bugsierte Charly ins Schlafzimmer, ließ sie aufs Bett fallen und küsste sie, während er sich wieder an ihrer Bluse zu schaffen machte und sie seinen Krawattenknoten löste. Das Telefon klingelte weiter. Da war jemand hartnäckig, doch Rath war entschlossen, das Klingeln zu ignorieren, bis Kirie das Telefon mit ihrem Bellen übertönte, und Charly grinste und sagte: »Vielleicht ist es doch besser, du gehst ran.« Rath schaute auf die Uhr. Viertel vor sechs. Er seufzte und stand auf, ging an den Apparat und meldete sich.
»Mensch, Gereon, endlich! Wo hast du gesteckt, verdammt noch mal?« Reinhold Gräf. Rath hatte es befürchtet. »War nur kurz am Bahnhof.« »Kurz? Verdammt, ich versuch schon seit einer Ewigkeit, dich zu erreichen ...« »Was ist denn los?« »Männliche Leiche. Haus Vaterland , Potsdamer Platz.« »Scheiße.« »Ja, Scheiße! Mensch, beeil dich, bevor neben allen anderen Beteiligten auch noch Böhm spitzkriegt, dass der diensthabende Kommissar auf sich warten lässt!« Rath legte auf und zog die Krawatte fest. Er musste Charly nichts erklären, sie war schon dabei, ihre Bluse wieder zuzuknöpfen. 3 Das Haus Vaterland lag am Potsdamer Platz wie ein gestrandeter Vergnügungsdampfer, und etwas in der Art war es auch. Mit Patriotismus hatte das Haus nichts am Hut, es ging einzig und allein darum, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, und zwar möglichst viel davon. Hinter der Fassade warteten rund ein Dutzend verschiedenartigster Lokale auf Kundschaft: ein bayrisches Brauhaus, eine spanische Bodega, eine Wildwestbar, ein türkisches Café und vieles mehr, alles mit passender Inneneinrichtung, passender Speisekarte und passendem Unterhaltungsprogramm. Gaffer, die nur mal kurz gucken und staunen wollten, waren nicht willkommen, wer hineinwollte, musste am Eingang einen Verzehrgutschein lösen.
In seinen ersten Berliner Tagen hatte Rath in der Rheinterrasse so etwas wie Heimat zu finden versucht, dann aber festgestellt, dass es hier nur viel zu süßen Wein gab und kitschige Rheinromantik. Zu Berlins viel beschworenem Weltstadtflair, an das vor allem die Berliner selbst glaubten und die Touristen aus der Provinz, die voller Staunen auf die glitzernde Stadt schauten, hatte das Etablissement jedenfalls nicht viel beizusteuern, da hatten die mondänen Bars im Westen wie Femina oder Kakadu eindeutig mehr zu bieten, jedenfalls für Raths Geschmack. Das Vaterland beeindruckte mit seiner schieren Größe und mit den Neonröhren, deren Lichteffekte den nächtlichen Potsdamer Platz beherrschten. Um diese Uhrzeit allerdings war der gestrandete Vergnügungsdampfer so tot wie ein Geisterschiff.
Nur die Autos vor dem Lieferanteneingang, allen voran das Mordauto, zeigten, dass irgendetwas passiert sein musste. Rath parkte seinen Buick hinter dem Opel vom Erkennungsdienst und blieb noch einen Moment im Wagen sitzen. Er zog an seiner Overstolz und blies den Rauch gegen die Windschutzscheibe. Noch nie hatte er so wenig Lust auf Arbeit verspürt, ja, einen regelrechten Widerwillen gegen seinen Beruf empfunden, wie an diesem Morgen. Einen Moment lang hatte er daran gedacht, Charly einfach mitzunehmen, doch sie hatte abgelehnt. »Was sollen die Kollegen denken, wenn wir zu zweit dort auftauchen?« Ihre Antwort hatte ihn auf eine unbestimmte Weise gekränkt, obwohl er wusste, dass sie recht hatte.
Er drückte die Zigarettenkippe in den winzigen Aschenbecher des Buick und stieg aus, entschlossen, die Sache hier so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und in die Carmerstraße zurückzukehren, zu Charly, in deren Obhut er Kirie gelassen hatte. Doktor Karthaus, der auch außerhalb des Seziersaales stets seinen weißen Arztkittel trug, stand vor dem Eingang, in der Hand eine Zigarette, und unterhielt sich mit einem Schupo. Der Blaue salutierte, als Rath herantrat, der Gerichtsmediziner deutete lediglich ein Kopfnicken an. »Morgen, Doktor.« »Herr Kommissar! Schön, dass Sie uns auch noch beehren. Ich rauche mir hier vor Langeweile schon die Lunge schwarz. Was war denn los? Autopanne? Sollten sich besser einen deutschen Wagen zulegen.« Rath ignorierte die Anspielung. »Was für eine Leiche haben wir denn hier?«, fragte er. Karthaus lächelte sanft. »Das ist das Schöne an der Kriminalpolizei - dass man alles dreimal erzählen darf. Kommen Sie mit, dann zeig ich's Ihnen. Liegt noch oben. Die Bestatter warten schon sehnsüchtig darauf, sie endlich abtransportieren zu können.«
»Oben?« Karthaus schnippte seine Zigarette in eine Pfütze. »Wenn der Herr Kommissar bitte folgen wollen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich der Gerichtsmediziner um und ging ins Gebäude. Rath folgte dem weißen Kittel in einen großen, schmucklosen Raum, von dem zwei Lastenaufzüge und ein Treppenhaus abgingen. Schien die Warenannahme von Haus Vaterland zu sein. Karthaus nahm die Treppe.
Es ging in den vierten Stock, wo zwei Schupos und zwei schwarz gekleidete Männer vor den Aufzügen warteten. Auf dem Boden stand ein Zinksarg. »Können wir jetzt?«, fragte einer der Schwarzen, als er den Doktor sah. »Gleich. Der Herr Kommissar nimmt die Leiche noch eben in Augenschein.« Karthaus lächelte säuerlich und zeigte auf eine Aufzugkabine, die einen guten Meter zu tief im Schacht hing. Zwei Spurensicherer waren damit beschäftigt, Fingerabdrücke sicherzustellen, von den Aufzugknöpfen und von einem Gitterwagen, der in der Kabine stand und in voller Höhe mit Spirituosenkisten beladen war. »Irgendein dämlicher Unfall, oder was?«, fragte Rath und zündete sich eine Zigarette an. Er verspürte schon jetzt wenig Lust, diesem läppischen Mist hier nachzugehen. Hätte Gräf das nicht auch alleine regeln können? »Unfall?« Karthaus schaute skeptisch. »Ich fürchte nicht.« Rath stieg in die Kabine hinunter, die Zigarette zwischen den Lippen, der Gerichtsmediziner folgte ihm.
Der Tote lag auf dem Boden und trug einen grauen Arbeitskittel. Seine weit aufgerissenen Augen, die noch niemand geschlossen hatte, waren weit aus den Höhlen getreten und stierten ins Leere, als hätten sie sämtliche Schrecken der ewigen Verdammnis gesehen; und einen kurzen Moment war Rath von der Vorstellung gefangen genommen, der Lastenaufzug des Hauses Vaterland führe tatsächlich geradewegs immer weiter nach unten bis in die Hölle. Unwillkürlich folgte Rath den toten Augen und schaute nach oben, sah aber nur vergilbtes Sperrholz. »Wie ist er denn gestorben, wenn's kein Unfall war?« Der Doktor räusperte sich. »Ich weiß, es hört sich ungewöhnlich an, doch ich bin mir sicher, dass die Obduktion meine Einschätzung bestätigen wird ...« »Obduktion?« »Ihr Kollege hat bereits mit dem Staatsanwalt telefoniert. Auf meine Empfehlung hin, natürlich.« »Wo sind sie überhaupt, die Kollegen?« »Zeugenvernehmungen, soweit ich weiß. Also«, sagte Karthaus ungeduldig, »dieser Mann ist, wenn mich nicht alles täuscht, ertrunken. « Die Spurensicherer schienen Karthaus' Befund zu kennen, jedenfalls arbeiteten sie mit stoischer Miene weiter. »Ertrunken?«, fragte Rath. »Ertrinkt man normalerweise nicht im Wasser?« »Vielleicht wurde die Leiche hier nur abgelegt.« »Sieht nicht so aus«, mischte sich einer der Spurensicherer ein. »Haben sogar Fußspuren von ihm gefunden.Deutet alles darauf hin, dass er selbst in diesen Aufzug gestiegen ist.« Der andere Mann schwieg und sicherte in aller Seelenruhe einen Fingerabdruck auf dem Stahlrohr des Gitterwagens. »Außerdem«, fuhr sein Kollege fort, »ist er mit dem eigenen Lieferwagen angereist. Also, wennse mich fragen: Den hat niemand hier abgelegt.« Rath schaute Doktor Karthaus an, doch der zuckte nur mit den Achseln. »Nach der Obduktion wissen wir mehr«, sagte er. »Wo ist der Kollege Gräf, sagten Sie?« »Vernehmungen. In irgendeinem Büro. Fragen Sie die Schupos «, sagte Karthaus und kletterte aus der Kabine.
Rath drückte seine Zigarette draußen auf dem Fußboden aus, ungefähr in Brusthöhe, und folgte dem Gerichtsmediziner, der es eilig hatte, sich zu verabschieden. Die Bestatter sahen das als Aufforderung, sich endlich an die Arbeit zu machen, und hievten ihren Zinksarg zum Aufzug. Ein Blauer erbot sich, den Herrn Kommissar zu seinen Kollegen zu bringen. Während Rath dem Uniformierten nach unten folgte, durch einen dunklen Lagerraum und das gespensterhaft leere Löwenbräu, in dem noch die Bierdünste des Vorabends in der Luft standen, überkam ihn wieder dieses Gefühl, am falschen Ort zu sein.
Der Schupo öffnete eine große Tür, und plötzlich standen sie in der imposanten Mittelhalle. Von hier gelangte man über eine Vielzahl von Treppen, Galerien, Aufzügen und Türen zu all den unterschiedlichen Lokalen und Attraktionen, die Haus Vaterland auf vier Etagen für seine Gäste bereithielt. Rath hatte die Halle als einen Ort geschäftigen Rummels in Erinnerung, überall Menschen, auf dem Weg von einem Restaurant ins nächste, jetzt aber wirkte sie, gerade wegen ihrer Größe, gespenstisch leer. Nur rund zwei Dutzend Menschen warteten auf den Treppenstufen, ein paar in Küchenschürzen, andere in Kellnerkleidung oder Straßenanzügen, ein paar im Blaumann.
Vier, fünf Schupos standen in der Gegend herum wie Hunde, die eine Schafherde bewachten. Und wie der Schäfer stand Kriminalassistent Andreas Lange mit zwei Uniformierten an der Treppe, auf der sich die Angestellten niedergelassen hatten. Als er Rath entdeckte, ließ er die Schupos stehen. »Morgen, Herr Kommissar. Schön, dass Sie hier sind.« »Morgen, Lange. Was für ein Menschenaufl auf!« »Alles Zeugen. Hat Kollege Gräf zusammentrommeln lassen.« »Und die haben alle was gesehen?« Lange zuckte die Achseln. »Wissen wir noch nicht. Das sind alle Mitarbeiter, die zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt schon hier im Haus waren. Oder noch.« »Alle?« Rath schaute sich die Wartenden an. Wenn Gräf wirklich vorhatte, die alle zu befragen, dann säßen sie noch Stunden hier. »Da können wir ja froh sein, dass die Sache nicht gestern Abend passiert ist, als hier Hochbetrieb herrschte.
Dann säßen jetzt ein paar Tausend Leute mehr hier auf den Treppen.« Lange schwieg. Rath musste an Charly denken, die in der Carmerstraße wartete, und bekam immer schlechtere Laune. »Schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte er. »Wie man's nimmt. Wir haben einen Toten, wir haben eine ungewöhnliche Todesart. Und sonst nicht den blassesten Schimmer, was dem armen Kerl passiert ist.« »Ertrunken. Glauben Sie das wirklich?« Lange zuckte die Achseln. »Wenn der Experte das sagt.« »Ist der Tote denn schon identifi ziert?« Lange zog ein Dokument aus der Tasche. »Hat die Spurensicherung in seinem Kittel gefunden.«
Herbert Lamkau , las Rath. Ein Führerschein, ausgestellt im Oktober 1919 im Landkreis Oletzko. Der Mann auf dem Foto blitzte aus den Augen, als habe er den Passfotografen mit seinem Blick erstechen wollen. Wahrscheinlich von Kaiser Wilhelm abgeguckt. »Lamkau. Das steht auch draußen auf dem Lieferwagen, oder?« Lange nickte. »Ist wohl der Inhaber.« »Komisch, dass der Chef persönlich die Lieferung ausfährt ...« »Wer weiß, wie groß die Firma ist. Vielleicht ist er der einzige Mitarbeiter.« »Eine Klitsche soll einen Riesenbetrieb wie das Haus Vaterland beliefern? Kann ich mir nicht vorstellen. Versuchen Sie mal herauszufinden, wie groß die Firma ist und ob Lamkau immer selbst rausgefahren ist.« »Wird gemacht.« »Und sagen Sie den Leuten vom ED , sie sollen sich in jedem Fall auch mal die Technik des Aufzugs anschauen. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen.« Lange nickte. »Wir haben schon mit dem Haustechniker gesprochen. Und mit dem Koch, der buchstäblich über die Leiche gestolpert ist ...« »Aha.« »Der Mann hat den Aufzug hochgeholt in den vierten Stock und wäre beinahe in die Kabine gefallen, als er die Tür geöffnet hat. Hat erst im letzten Moment gesehen, dass die viel zu tief im Schacht hing, und sich gerade noch festhalten können.
Tja, und dann hat er die Leiche entdeckt.« »Und Alarm geschlagen.« »Ja. Hat den Wachdienst informiert, und der wiederum hat uns alarmiert. Der Haustechniker hat sich den Aufzug angesehen und gesagt, damit sei eigentlich alles in Ordnung.« »In Ordnung sah mir das nicht aus.« Lange zuckte die Achseln. »Der Techniker geht davon aus, dass jemand irgendwo zwischen zwei Stockwerken den Notausschalter betätigt und dann nicht Bescheid gesagt hat.
Dann kann es wohl vorkommen, dass die Kabine nicht mehr richtig justiert ist und nicht exakt auf Bodenniveau hält.« »Mmm-ha ...« Rath sah ein undeutliches, verschwommenes Bild durch seine Gedanken flimmern, doch bevor er Einzelheiten erkennen konnte, hatte es sich schon wieder aufgelöst. »Demnach müsste Lamkau den Notausknopf gedrückt haben, bevor er gestorben ist, oder?«, fragte er. »Wir werden sehen. Der ED hat die Fingerabdrücke auf dem Knopf gesichert.« Rath zeigte zu der Bürotür. »Und wer sitzt gerade beim Kollegen Gräf drin?« »Der Wachmann. Nach dem Koch der Zweite, der die Leiche gesehen hat.« »Gut, dann lass ich mich da mal blicken.« Rath klopfte und trat ein, noch bevor jemand »Ja, bitte« sagen konnte. Das Büro war überraschend klein und dunkel, verglichen mit der gleißenden Helligkeit der riesigen Halle; einzige Lichtquelle war eine Schreibtischlampe mit grünem Schirm. Reinhold Gräf wirkte erleichtert, als er seinen Chef erblickte. An der Wand hinter dem Direktionsschreibtisch, an dem der Kriminalsekretär saß, hingen unzählige Künstlerfotos: Musiker, Zauberer, Sänger, Tänzerinnen. An einem kleinen Besuchertisch saß Christel Temme mit ihrem Block und registrierte das Eintreffen des Kommissars genauso gleichmütig wie alles andere. Die Temme war berüchtigt dafür, selbst bei der Vernehmung des abgebrühtesten Mörders keine Miene zu verziehen. Sie schrieb alles, was gesagt wurde, ungerührt mit, ganz gleich, wie ungeheuerlich es sein mochte.
Oder wie unwichtig. Auf dem Stuhl zwischen den Schreibtischen saß allerdings kein abgebrühter Mörder, sondern ein hagerer Mann in der Uniform der Berliner Wach- und Schließgesellschaft, der Anfang vierzig sein mochte und seine Mütze in der Hand knetete. Gräf stand von seinem Stuhl auf. »Der Herr Kommissar«, sagte er. Halb war es eine Begrüßung, halb eine Erklärung für den Wachmann. Der Kriminalsekretär blieb neben seinem Stuhl stehen, als wolle er seinem Vorgesetzten Platz machen. Der Wachmann stand ansatzweise auf und deutete ein Kopfnicken an, Rath beschied ihm mit einer Handbewegung, sich wieder zu setzen. »Herr Janke arbeitet als Wachmann hier im Hause«, erläuterte Gräf überfl üssigerweise.
Rath nickte und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Fahren Sie doch bitte fort«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. Gräf blieb stehen, obwohl Rath den Stuhl gar nicht beanspruchte. So schauten die beiden Kriminalbeamten auf den Wachmann hinab, dessen Blick zwischen Rath und Gräf hin- und herwanderte. »Also ...«, begann der Mann, und sofort hörte man den Stenostift wieder übers Papier kratzen, »ich weiß jetzt gar nicht mehr, wo wir stehen geblieben waren ...« »Sie wollten mir gerade sagen, woran Sie erkannt haben, dass der Mann im Aufzug tot war, Herr Janke«, half Gräf, der sich wieder hinsetzte, als er merkte, dass Rath keinerlei Anstalten machte, die Befragung zu übernehmen. »Richtig.« Janke nickte. »Also, das war so, ich bin runter in die Kabine ...« »Mussten Sie die Tür öffnen?«, fragte Gräf. »Wie?« »Die Tür des Aufzugs.« »Die war doch offen. Hatte Unger schon geöffnet.« »Der Koch, der die Leiche gefunden hat.« »Genau.« Der Wachmann schielte von einem Polizisten zum anderen, als wittere er eine Fangfrage. Als niemand etwas sagte, fuhr er fort. »Also, ich bin dann rein in die Kabine. Wie der da lag mit seinen starren Augen - ich hab mir gleich gedacht, der lebt nicht mehr.
Aber ich hab erst mal seine Halsschlagader gefühlt.« »Wieso die Halsschlagader?«, fragte Gräf. »Das ... das haben wir so gelernt ... auf unserem Lehrgang. Wach- und Schließgesellschaft.« Gräf nickte und machte eine Notiz. Rath saß auf der Schreibtischkante, zog an seiner Zigarette und ertappte sich dabei, wie er auf die Uhr schaute. Alles hier ging ihm auf den Wecker, die Umständlichkeit dieses Wachmanns, Gräfs Nachfragen selbst bei unwichtigen Details, die ganze unerträgliche Langsamkeit dieser Vernehmung. »Und was haben Sie dann gemacht?«, fragte Gräf. Der Wachmann schielte zu Rath. »Ich bin dann erst mal wieder rausgeklettert aus der Kabine, und dann ...« »Vielen Dank, Herr Janke, aber so genau brauchen wir das jetzt
Gräf blieb stehen, obwohl Rath den Stuhl gar nicht beanspruchte. So schauten die beiden Kriminalbeamten auf den Wachmann hinab, dessen Blick zwischen Rath und Gräf hin- und herwanderte.
»Also ...«, begann der Mann, und sofort hörte man den Stenostift wieder übers Papier kratzen, »ich weiß jetzt gar nicht mehr, wo wir stehen geblieben waren ...«
»Sie wollten mir gerade sagen, woran Sie erkannt haben, dass der Mann im Aufzug tot war, Herr Janke«, half Gräf, der sich wieder hinsetzte, als er merkte, dass Rath keinerlei Anstalten machte, die Befragung zu übernehmen.
»Richtig.« Janke nickte. »Also, das war so, ich bin runter in die Kabine ...«
»Mussten Sie die Tür öffnen?«, fragte Gräf.
»Wie?«
»Die Tür des Aufzugs.«
»Die war doch offen. Hatte Unger schon geöffnet.«
»Der Koch, der die Leiche gefunden hat.«
»Genau.« Der Wachmann schielte von einem Polizisten zum anderen, als wittere er eine Fangfrage. Als niemand etwas sagte, fuhr er fort. »Also, ich bin dann rein in die Kabine. Wie der da lag mit seinen starren Augen - ich hab mir gleich gedacht, der lebt nicht mehr. Aber ich hab erst mal seine Halsschlagader gefühlt.«
»Wieso die Halsschlagader?«, fragte Gräf.
»Das ... das haben wir so gelernt ... auf unserem Lehrgang. Wach- und Schließgesellschaft.«
Gräf nickte und machte eine Notiz. Rath saß auf der Schreibtischkante, zog an seiner Zigarette und ertappte sich dabei, wie er auf die Uhr schaute. Alles hier ging ihm auf den Wecker, die Umständlichkeit dieses Wachmanns, Gräfs Nachfragen selbst bei unwichtigen Details, die ganze unerträgliche Langsamkeit dieser Vernehmung.
»Und was haben Sie dann gemacht?«, fragte Gräf.
Der Wachmann schielte zu Rath. »Ich bin dann erst mal wieder rausgeklettert aus der Kabine, und dann ...«
»Vielen Dank, Herr Janke, aber so genau brauchen wir das jetzt nicht!« Rath rutschte vom Schreibtisch. »Ich würde die Vernehmung gerne für eine Weile unterbrechen. Würden Sie solange bitte draußen warten.« »Aber sicher«, sagte Janke und stand auf. Gräf wartete, bis der Wachmann draußen war. »Was soll denn das jetzt, Gereon? Kannst du mir das mal verraten?« »Sie brauchen unser Gespräch nicht mitzustenografieren, Fräulein Temme, warten Sie doch bitte ebenfalls draußen. Machen Sie eine kleine Pause.« »Ich brauche keine Pause, Herr Kommissar.« »Wir rufen Sie, wenn wir Sie wieder brauchen«, sagte Rath und schaute streng. Die Stenotypistin nahm ihre Sachen und verschwand. »Verdammt, Gereon! Erst telefoniere ich stundenlang hinter dir her, dann erscheinst du endlich am Tatort und hast nichts Besseres zu tun, als eine Zeugenvernehmung abzubrechen, wo sie gerade in Fahrt kommt?« »Reg dich nicht auf.
Ich habe die Vernehmung nicht abgebrochen, nur unterbrochen. Kannst gleich weitermachen, ist doch sehr kooperativ, dieser Wachmann.« »Was hast du denn Wichtiges mit mir zu besprechen?« »Erst mal: die ganzen Leute da draußen - willst du die alle hier vernehmen? Und alle persönlich?« »Ich wollte einfach schon mal anfangen. Jetzt bist du ja da und kannst entscheiden, was gemacht wird.« »So ist es. Die abgebrochene Vernehmung kannst du gerne fortsetzen. Aber bevor du das machst, sag den Schupos draußen, sie sollen von allen Mitarbeitern, die in der Halle warten, die Personalien aufnehmen.« »Ist längst geschehen. Was meinst du, wie lange wir schon hier sind?« »Umso besser. Sollte jemand dabei sein, der eine Beobachtung gemacht hat, kannst du den meinetwegen auch noch gleich befragen. Ansonsten sollen sich die Leute gefälligst ins Präsidium bemühen. Lange kann derweil kontrollieren, ob der Erkennungsdienst seine Arbeit ordentlich macht, und alles andere erledigen wir nächste Woche im Büro.« »Und die Angehörigen? Wer informiert die?«
»Das kann doch Lange machen. Als Kommissaranwärter muss er das sowieso irgendwann mal lernen.« »Da hast du auch wieder recht.« Gräf nickte. »Aber eine Frage habe ich noch ...« »Ja?« »Was ist deine Aufgabe bei dem Ganzen?« »Deswegen gebe ich dir doch jetzt schon alle Instruktionen.« Rath versuchte gar nicht erst, reumütig oder zerknirscht zu gucken, das gelang ihm sowieso nie. »Ich muss wieder weg. Wäre dir sehr dankbar, wenn du vorerst weiter den Laden schmeißt.« »Gereon, ich hab noch nie eine Ermittlung geleitet.« »Musst du auch nicht. Mach das, was ich dir gesagt habe, und dann mach Feierabend.« Gräf guckte nicht gerade begeistert. »Na komm schon! Du hast auch was gut bei mir.« »Mensch, Gereon, du hast Nerven!« »Wie Drahtseile! Also, was ist?« »Du bist der Chef.« »Gut erkannt.« Rath klopfte dem Kriminalsekretär aufmunternd auf die Schulter. »Na komm, du machst das schon! Vielleicht war das hier alles doch nur ein dämlicher Unfall. Noch keine Anzeichen von Fremdeinwirkung.« »Ich weiß«, sagte Gräf, »aber mysteriös ist es schon. Karthaus behauptet, der Mann sei ertrunken.« Rath zuckte die Achseln. »Letzten Endes gibt es für alles eine Erklärung. Vielleicht hat der Doktor sich einfach geirrt.« Es klopfte, und die Tür öffnete sich, ein Mann in einem hellen Sommeranzug trat in den Raum, als sei er hier zu Hause, schaute sich kurz um und steuerte dann Rath an. »Herr Kommissar? Draußen sagte man mir, dass ich Sie hier fi n- de. Fleischer mein Name. Ich bin der Direktor.« Rath schüttelte die dargebotene Hand. »Angenehm.« »Schön, dass Sie endlich hier sind. Ich hoffe, Sie werden meine Leute nun nicht mehr allzu lange von der Arbeit abhalten. Wir sind mit unseren Arbeiten sehr im Verzug, die Haustechnik ist nicht besetzt, in der Zentralküche sind kaum Leute, und bald kommen die ersten Gäste ...« »Mein Kollege wird Ihnen mitteilen, welche Mitarbeiter Sie wieder an die Arbeit schicken können«, sagte Rath und schob Fleischer mit einer sanften Geste zu Gräf hinüber. »Ich muss mich leider entschuldigen, habe noch einen anderen Fall, um den ich mich kümmern muss ...« Der Direktor schaute irritiert, doch der Kommissar hatte den Hut bereits gelüftet und war durch die Tür, bevor der Mann noch irgendetwas sagen konnte. Keine Viertelstunde später stieg Rath an der Carmerstraße aus seinem Buick, und das schlechte Gewissen, das ihn beim Verlassen von Haus Vaterland noch gepiesackt hatte, war längst verdrängt worden.
Zum ersten Mal, seit er wieder in Charlottenburg wohnte, fühlte sich das wirklich wie Nachhausekommen an; er musste nur daran denken, wer dort auf ihn wartete. Sie würden den Tag miteinander verbringen, das Wochenende miteinander verbringen, das erste Mal seit einer Ewigkeit. Während er den Wagen abschloss, schaute er sich um in seiner neuen Nachbarschaft. Die Gegend um den Steinplatz war wirklich keine schlechte Adresse, überall gediegene Großbürgerlichkeit, kaum ein Haus, das nicht über einen Dienstboteneingang verfügte. Rath öffnete die schwere Haustür und trat ein in seine neue Umgebung aus hellem Kalkstein und glänzendem Marmor. Er wusste, dass er Charly vorhin beeindruckt hatte; die Wohnung gefiel ihr, das hatte er an ihren Augen gesehen. Er hatte dieses moderne Appartement vor allem aus einem Grund gemietet: Weil es beinahe doppelt so groß war wie seine alte Hinterhauswohnung in Kreuzberg und genügend Platz bot für zwei Personen und wenn nötig auch für mehr. Dass irgendetwas nicht stimmte, spürte er schon, während er die fünf teppichbesetzten Stufen zur Eingangshalle hochstieg und er das Tapsen von Hundepfoten hörte und dann zweimal ein kurzes Bellen.
Kiries schwarzer Kopf schaute um die Ecke des Tresens, der Pförtner ein wenig verlegen über die Marmorplatte und sein Telefon hinweg dem neuen Bewohner entgegen. »Was ist denn los, Bergner?«, fragte Rath, obwohl er es ahnte. Der Portier räusperte sich, bevor er sprach. »Die junge Dame ... Sie musste leider aufbrechen und hat mir den Hund anvertraut. «
Der Direktor schaute irritiert, doch der Kommissar hatte den Hut bereits gelüftet und war durch die Tür, bevor der Mann noch irgendetwas sagen konnte.
Keine Viertelstunde später stieg Rath an der Carmerstraße aus seinem Buick, und das schlechte Gewissen, das ihn beim Verlassen von Haus Vaterland noch gepiesackt hatte, war längst verdrängt worden. Zum ersten Mal, seit er wieder in Charlottenburg wohnte, fühlte sich das wirklich wie Nachhausekommen an; er musste nur daran denken, wer dort auf ihn wartete. Sie würden den Tag miteinander verbringen, das Wochenende miteinander verbringen, das erste Mal seit einer Ewigkeit.
Während er den Wagen abschloss, schaute er sich um in seiner neuen Nachbarschaft. Die Gegend um den Steinplatz war wirklich keine schlechte Adresse, überall gediegene Großbürgerlichkeit, kaum ein Haus, das nicht über einen Dienstboteneingang verfügte. Rath öffnete die schwere Haustür und trat ein in seine neue Umgebung aus hellem Kalkstein und glänzendem Marmor. Er wusste, dass er Charly vorhin beeindruckt hatte; die Wohnung gefiel ihr, das hatte er an ihren Augen gesehen.
Er hatte dieses moderne Appartement vor allem aus einem Grund gemietet: Weil es beinahe doppelt so groß war wie seine alte Hinterhauswohnung in Kreuzberg und genügend Platz bot für zwei Personen und wenn nötig auch für mehr.
Dass irgendetwas nicht stimmte, spürte er schon, während er die fünf teppichbesetzten Stufen zur Eingangshalle hochstieg und er das Tapsen von Hundepfoten hörte und dann zweimal ein kurzes Bellen. Kiries schwarzer Kopf schaute um die Ecke des Tresens, der Pförtner ein wenig verlegen über die Marmorplatte und sein Telefon hinweg dem neuen Bewohner entgegen.
»Was ist denn los, Bergner?«, fragte Rath, obwohl er es ahnte.
Der Portier räusperte sich, bevor er sprach. »Die junge Dame ... Sie musste leider aufbrechen und hat mir den Hund anvertraut. «
Bergner löste die Leine von Kiries Halsband, und Rath ließ die feuchte Begrüßung des Hundes über sich ergehen. »Wo ist die junge Dame denn hin?« »Bedaure, aber das hat sie nicht gesagt.« »Soso«, sagte Rath, der mit den Gedanken schon ganz woanders war und mit dem Hund zum Aufzug ging. Charlys Duft lag immer noch in der Luft, und gerade deswegen wirkte die Wohnung leerer als sonst. Kirie schien das nicht zu interessieren, sie tapste zu ihrem Körbchen und rollte sich zusammen. Rath fragte sich manchmal, wie viel Schlaf dieser Hund eigentlich brauchte. Er stellte sich an eines der großen Fenster und schaute hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. Dann holte er aus und trat, vor Wut oder Enttäuschung, so genau konnte er das gar nicht sagen, gegen einen der schweren Sessel. Sie hatte das Frühstück bereits abgedeckt.
Auf dem Tisch fand er ein Blatt Papier mit ihrer Handschrift. Entschuldige, Gereon, aber ich konnte nicht länger auf Dich warten. Eine Stunde immerhin habe ich geschafft, aber je länger ich mit Kirie in Deiner schönen neuen Wohnung saß und Du nicht zurückkamst, desto klarer wurde mir, daß ich zum Nachhausekommen nach so langer Zeit in der Fremde erst einmal in die Spenerstraße muß, in meine eigene Wohnung - zumal am Montag ein völlig neuer Lebensabschnitt auf mich wartet. Der nette Portier hat mir mit dem Gepäck geholfen und Kirie übernommen. Er scheint darin schon Übung zu haben, mit dem Hund, meine ich, so kam es mir jedenfalls vor.
Ich bin nur noch schnell zurück in die Wohnung, um Dir diese Zeilen zu schreiben, das Taxi wartet unten schon. Was Deine Frage betrifft und den Ring ... Sei mir nicht böse, daß ich Dir nicht gleich eine Antwort geben konnte. Versteh mich bitte nicht falsch, das hat mich sehr berührt, daß Du mir einen Antrag machst (nach all den Jahren, die wir uns nun kennen!), aber auf so eine wichtige Frage sollte man keine überhastete Antwort geben, finde ich, und jetzt, wo ich nach zehn Monaten in Paris gerade erst vom Bahnhof gekommen bin, wäre mir alles in gewisser Weise überhastet vorgekommen. Dich wiederzusehen nach so langer Zeit, eine neue Wohnung und dann auch noch ein Heiratsantrag - das ist selbst für ein Mädchen aus Moabit ein bißchen viel auf einmal. Ich würde vorschlagen, daß wir uns für meine Antwort einen günstigeren Zeitpunkt und einen passenderen Ort aussuchen. Und daß wir ein bißchen Zeit mitbringen, denn in meiner Antwort, soviel kann ich Dir jetzt schon sagen, geht es nicht nur um Ja oder Nein. Und auch ich werde Dir ein paar Fragen stellen müssen. Ich weiß, das klingt nicht gerade romantisch, aber nichts ist schlimmer als ein übereilter Entschluß in einer solch wichtigen Frage.
Ich habe schon einmal eine Verlobung auflösen müssen, wie du weißt, das möchte ich nicht noch einmal erleben. Nichts für ungut, fühl Dich von mir gedrückt. Wir sehen uns bald C. Rath faltete den Brief zusammen und ging ins Schlafzimmer, als sei Charly womöglich doch noch da, wo er sie vor knapp zwei Stunden verlassen hatte. Das Erste, was ihm auffiel, war das Bett, das sie wieder glatt gestrichen haben musste, als wolle sie ihm zeigen, welch gute Hausfrau sie war. Der Ring lag auf dem Nachttisch. Was hatte das zu bedeuten? War das schon eine Antwort, dass sie den Ring nicht mitgenommen, sondern genau dort liegen gelassen hatte? Er hob ihn auf und betrachtete ihn. Was sollte er nun damit tun? Ihn zum nächsten Rendezvous einfach mitnehmen, ihre Antwort abwarten und ihr dann gegebenenfalls anstecken?
Rath kannte sich in diesen Dingen nicht sonderlich gut aus. Er wischte den Ring mit einem Zipfel seines Jacketts blank und ließ ihn dann in die Innentasche fallen. Das schien die Bestimmung dieses verfluchten Rings zu sein: Ewigkeiten in Raths Jacketttasche zu verbringen. Er faltete den Brief noch einmal auseinander und versuchte, ihn zu lesen und zu verstehen. Ihre Zeilen verwirrten ihn, er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Wie stand sie zu ihm? Aber sooft er den Brief auch las, er fand darin keine Antwort. Er musste an den Moment denken, als er sie auf dem Bahnsteig entdeckt hatte. An die Schrecksekunde. Einen Augenblick lang hatte er wirklich geglaubt, vielmehr befürchtet, seine Liebe verloren zu haben, ja eigentlich eher befürchtet, den Menschen verloren zu haben, den er in Erinnerung hatte.
Bis er den Duft ihres Haares und ihrer Haut in die Nase bekommen und gespürt hatte, wie sich sein ganzer Körper zu ihr hingezogen fühlte. Und bei ihr war es doch genauso gewesen, spätestens als er ihr die Wohnung hier gezeigt hatte. Die Sache mit dem Ring im Champagnerglas, was für eine Schnapsidee, wer hatte ihn nur darauf gebracht? Hatte Paul diese Geschichte mal erzählt? Oder irgendein Kollege in der Burg? Rath hatte das unbehagliche Gefühl, dass es womöglich der dämliche Verlobungsring war, der sie aus dem Haus getrieben hatte, und nicht die Tatsache, dass er zu lange am Tatort geblieben war. Erst als er in die verspiegelten Türen des Barschranks blickte, bemerkte er, dass er seinen Hut noch nicht abgesetzt hatte, und hängte ihn an den Haken. Im Salon suchte er eine Platte aus dem Stapel, den er schon vorsortiert hatte.
Er legte Ellingtons Mood Indigo auf, eine der vielen Platten, die Severin in den letzten Monaten aus den Staaten geschickt hatte und die er für sie hatte auflegen wollen. Für sie beide. Der Plattenspieler war brandneu, ein Telefunken-Musikschrank, das konnte sie nun nicht mehr würdigen. Er nahm die Cognacflasche aus dem Barschrank und ein Glas und setzte sich in einen der modernen Sessel, die er eigentlich nur für Charly gekauft hatte, weil sie ihm so ähnliche mal gezeigt hatte, im Schaufenster irgendeines edlen Einrichtungshauses, als sie zusammen über den Tauentzien spaziert waren. Damals, in den Tagen vor Paris, als der Abschied schon in der Luft lag. Wenigstens waren die Sessel gemütlich, auch wenn sie nicht so aussahen.
Rath schnupperte am Cognacschwenker und lauschte der Musik, den traurigen Trompeten und ihrer Melodie, den erdwarmen Klarinetten. Der Cognacduft beruhigte ihn fast noch mehr als die Musik. Wie hatte er diesen Tag herbeigesehnt! Hatte ihn bereits herbeigesehnt, bevor sie überhaupt weggefahren war. Und nun? Tja, Herr Rath, und nun sitzt du hier, es ist noch nicht einmal Mittag, und musst dir schon einen Cognac genehmigen, um den Tag überhaupt zu ertragen!
Ein unruhiges Winseln holte ihn aus dem Schlaf, und er riss die Augen auf. Kirie stand vor ihm, schaute ihn an und wedelte mit dem Schwanz, machte ein paar Schritte zur Tür und kehrte wieder um. Rath richtete sich auf. Er musste eingeschlafen sein. Auf dem Teppich vor dem Sessel lag das Cognacglas. Umgekippt, aber leer. Auf dem Plattenspieler drehte sich immer noch Duke Ellington, beinahe lautlos, die Nadel stieß immer wieder gegen das Ende der Rille und erzeugte ein leises rhythmisches Kratzen. Die Uhr zeigte fast zwei.
Der Hund musste dringend vor die Tür. Rath quälte sich aus dem Sessel, schaufelte sich im Bad ein paar Hände kaltes Wasser ins Gesicht und holte die Hundeleine. Kirie zog ihn förmlich aus dem Haus, die Außentreppe hinunter, zerrte ihn zum ersten Strauch in der Carmerstraße und schaute ihr Herrchen dankbar und erleichtert an, während sie ihr Geschäft verrichtete. Rath spazierte mit dem Hund noch ein wenig über den Steinplatz und merkte, wie sehr sein Magen knurrte. Er setzte sich draußen auf die Terrasse des Hotels, das sich hier bescheiden Pension nannte, und bestellte ein Bier und einen kleinen Imbiss. Obwohl die Portion nicht groß war, blieb noch etwas für Kirie übrig, die die ganze Zeit geduldig unter dem Tisch auf ihre Chance gewartet hatte. Als Rath nach dem Essen die obligatorische Zigarette zu einer Tasse schwarzen Kaffee und einem weiteren Cognac rauchte, wusste er endgültig, dass er nicht wieder zurück in die Wohnung gehen würde. Er rief den Ober und zahlte, packte Kirie ins Auto und fuhr nach Moabit.
Er parkte nicht in der Spenerstraße, sondern an der Straßenecke zur Melanchtonstraße, wo er ihren Hauseingang versteckt zwischen zwei Straßenbäumen gut im Visier hatte, ohne Gefahr zu laufen, dass sie beim ersten Blick aus dem Fenster gleich seinen Buick erspähte. Denn so sicher wie er am Steinplatz noch gewesen war, fühlte er sich nun nicht mehr. Auch nicht, als er ihren Brief zum mindestens zwanzigsten Mal gelesen hatte. Ob sie ihn wirklich würde sehen wollen? Sollte er wirklich einfach hinaufgehen und an ihrer Wohnungstür klingeln? Vielleicht hatte sie sich hingelegt, sie hatte doch erzählt, wie schlecht sie im Zug geschlafen hatte.
Und dann würde Greta ihm die Tür öffnen, und darauf konnte er verzichten. Er musste an das Jahr denken, als Charlys Mitmieterin im Ausland gewesen war und sie die Wohnung für sich allein gehabt, fast schon eine Art Eheleben geführt hatten ... Wahrscheinlich wärst du doch besser zu Hause geblieben, Gereon Rath, dachte er, vielleicht ruft sie dich ja doch noch an, vielleicht in diesem Moment. Dann fiel ihm ein, dass sie seine neue Nummer am Steinplatz ja noch gar nicht kannte. Oder hatte sie es vielleicht schon im Büro versucht, weil sie ihn doch im Einsatz wusste? Und nicht ahnte, wie pflichtvergessen er heute ihretwegen gehandelt hatte? Oder doch eher seinetwegen. Während er noch überlegte, tat sich etwas vor dem Haus. Ein junger Mann hatte die Spenerstraße überquert und steuerte genau auf Charlys Haustür zu. Rath hatte den Mann fast ein Jahr lang nicht gesehen, doch er erkannte ihn sofort.
Der Grinsemann. Guido Scherer. Charlys ehemaliger Kommilitone, jetzt Rechtsanwalt in irgendeiner armseligen Kanzlei im Wedding und Charly immer noch in innigster Freundschaft zugetan. Offensichtlich. Rath konnte es nicht fassen: Seine Wohnung hatte sie Hals über Kopf verlassen, als sei sie auf der Flucht, und dieses Arschloch empfing sie schon am ersten Tag ihrer Rückkehr aus Paris? Hatte sie womöglich all ihre Freunde zu einer kleinen Wiedersehensfeier eingeladen, all diese Juristen, mit denen er noch nie etwas hatte anfangen können? Natürlich, da würde Gereon Rath, der ungehobelte Bulle, nur stören. Er startete den Motor und drückte die Zigarette aus. Wenigstens wusste er jetzt endgültig, dass er nicht bei ihr klingeln würde. Er gab so viel Gas, dass die Reifen quietschten, als die Kupplung griff, so laut, dass der Grinsemann, der bereits in der Haustür stand, seinen Kopf noch einmal drehte, bevor er in diesem beschissenen Haus in der beschissenen Spenerstraße verschwand.
Rath achtete nicht darauf, er ließ seine Wut weiterhin am Gaspedal aus und raste mit völlig überhöhter Geschwindigkeit aus der Straße und durch die Stadt. Zuerst ziellos, bloß raus aus Moabit, das war sein einziger Antrieb, dann aber, ohne sich bewusst dafür entschieden zu haben, doch mit einem Ziel, auch wenn er das zunächst gar nicht merkte, als er sich mehr und mehr Richtung Süden vorarbeitete. Erst, als er den Buick im Schatten der Hochbahn über die Gitschiner Straße in den Osten lenkte, wurde ihm klar, dass er zum Luisenufer fuhr. Erinnerungen wurden wach, als er am Straßenrand parkte und Kirie aus dem Wagen springen ließ, Erinnerungen, von denen allzu viele dummerweise mit Charly zu tun hatten. Der Hund schnupperte an einem Baum, der am Straßenrand stand, am Rande der Grünanlage und des großen Spielplatzes, als erkenne er ihn wieder, wedelte mit dem Schwanz und schaute Rath erwartungsvoll an.
Das Kreischen der Kinder, die sich auf der großen Sandfläche austobten, erinnerte Rath daran, wie er mit Charly einmal auf einer der Bänke in der Sonne gesessen hatte. Sich vorgestellt hatte, wie es wohl wäre, wenn eines der Kinder, das da über den Spielplatz tobte, ihr Kind wäre, ihr gemeinsames Kind. Er hatte es sich nur vorgestellt, er hatte ihr nichts dergleichen gesagt, nicht in diesem Moment und auch später nicht. Er hatte, wenn er es sich recht überlegte, überhaupt nur wenige seiner Träume mit ihr geteilt. Er nahm den Hund an die Leine. Kirie lief voran, erwartungsvoll, schließlich war sie diesen Weg schon ein paar Hundert Mal gegangen. In der Hofeinfahrt kam ihnen ein nass gescheitelter blonder Jüngling entgegen, im braunen Hemd, am linken Arm die Hakenkreuzbinde, die SA -Mütze noch unterm Arm.
Der Nazi verschoss angriffslustige Blicke, doch Rath ließ sich nicht einschüchtern, er hatte diese braunen Burschen gefressen, seit er miterlebt hatte, wie sie letztes Jahr am Ku'damm randaliert hatten, schlimmer als die Kommunisten. Wenn der Kerl eine Schlägerei haben wollte, konnte er sie haben, dann würde er im Polizeigewahrsam enden. Aber der provozierende Blick reichte dem Jüngling offenbar, er ging an Rath vorüber, ohne ihn anzupöbeln, drehte sich auf der Straße allerdings noch einmal um und setzte mit einem letzten bösen Blick seine Uniformmütze auf. Rath wunderte sich nicht. Schon früher hatten Nazis hier gewohnt, zu Zeiten, als es noch längst nicht so viele davon gab, zu Zeiten, als eine Hakenkreuzarmbinde noch auffiel. Zugleich hatten die Liebigs im Hinterhaus immer schon die rote Fahne hochgehalten, all die Jahre, die Rath hier gelebt hatte, ohne dass es je zum offenen Streit gekommen wäre. Kommunisten und Nazis unter einem Dach, auch das war Berlin.
Gerade in den Arbeitervierteln wohnten Rote und Braune oftmals Tür an Tür, und nicht immer ging es dabei so friedlich zu wie am Luisenufer. Normale Menschen dagegen waren immer seltener zu finden in dieser Stadt, selbst in den bürgerlichen Vierteln, so kam es Rath jedenfalls vor. Annemarie Lennartz, die Hauswartsfrau, war gerade beim Teppichklopfen und hielt inne, als sie sah, wer da über den Hof kam. »Das ist aber eine Überraschung! Schön, dass Sie uns mal wieder besuchen.« Rath tippte kurz an den Hut und zeigte auf das Hinterhaus. »Kollege zu Hause?«, fragte er. Die Lennartz nickte. Sie schaute sich um und senkte ihre Stimme, als verrate sie ein Geheimnis. »Nachtdienst«, sagte sie mit wissendem Blick. »Ist erst heute Mittag nach Hause gekommen.« Rath verschwand im Hinterhaus und stieg die Treppe hoch. In der ersten Etage blieb er vor einer Wohnungstür stehen und klopfte vorsichtig an. Er wartete einen Moment, und als sich nichts rührte, klopfte er noch einmal, diesmal laut und brutal. »Sofort aufmachen, Polizei!«, brüllte er. Er hörte etwas in der Wohnung rumpeln, und wenig später öffnete sich die Tür einen Spalt und gab den Blick auf Reinhold Gräf frei. »Gereon!« Der Kriminalsekretär, mit nassen Haaren und im Bademantel, schaute eher vorwurfsvoll denn überrascht. »Ist was passiert?« »Ne. Ist rein privat. Stör ich?« »War gerade in der Wanne. Aber komm rein«, sagte er und stieß die Tür zur Gänze auf. »Fühl dich wie zu Hause. Dürfte dir ja nicht schwerfallen.« »Danke.« Rath folgte Gräf in die Küche. Der Kriminalsekretär stellte einen Wasserkessel auf den Herd. »Auch 'nen Kaffee?«, fragte er. »Ich hab noch nicht gefrühstückt. « »Da sag ich nicht Nein.« Rath nahm seinen Hut ab und blieb in der Tür stehen.
Gräf holte die Kaffeemühle aus dem Schrank, aus demselben Schrank, in dem Rath sie früher verstaut hatte. »Setz dich doch«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Rath blieb stehen. »Wie ist es denn noch so gelaufen, heute Morgen?« Gräf antwortete nicht. Er füllte weiter Kaffeebohnen in die Mühle. »Tut mir leid, dass ich euch allein lassen musste ... Aber ich hatte wirklich noch was Wichtiges zu erledigen ...« Gräf schaute ihn an und drehte an der Kurbel. Eine Zeit lang war nur das knirschende Geräusch der Mühle zu hören. »Wenn das eine offizielle Entschuldigung sein soll«, sagte er, »dann betrachte sie als angenommen.« Rath holte zwei Untertassen und zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch, während Gräf mit Wasserkessel und Porzellanfilter hantierte. Er überlegte einen Moment, was er noch sagen könnte, doch ihm fiel nichts Passendes ein. Er setzte sich an den Tisch und wartete, bis Gräf sich zu ihm gesellte.
Für eine Weile war nichts zu hören, bis auf das Plätschern des Kaffees, der durch den Filter in die Kanne tropfte. »Du hast uns ziemlich im Regen stehen lassen, heute Morgen, weißt du das?«, sagte Gräf schließlich. »Und komm mir bloß nicht damit, wer hier der Chef ist. Immerhin warst du derjenige, der viel zu spät am Tatort erschienen ist. Ich hab wie ein Blöder hinter dir hertelefoniert, nur um deinen Skalp vor Böhm und den anderen Häuptlingen zu retten. Und dann hast du nichts Besseres zu tun, als gleich wieder abzuhauen.« Rath nickte, aber er weigerte sich, ein zerknirschtes Gesicht zu machen. Entschuldigt hatte er sich schließlich schon. Gräf stand auf, nahm den Filter von der Kanne und goss Kaffee in die beiden Tassen. Rath nahm einen Schluck. Blümchenkaffee, wie üblich bei Gräf, vielleicht sogar noch ein bisschen dünner als sonst, aber Rath blieb diplomatisch und sagte nichts, klaubte stattdessen eine Overstolz aus dem Etui. »Ich dachte«, nuschelte er, während er die Zigarette in die Flamme seines Feuerzeugs hielt, »ich könnte die Sache mit einem Bier im Dreieck wiedergutmachen.« »Du hast Bereitschaft.« Gräf schaufelte löffelweise Zucker in seine Tasse, während er sprach. »Und ich Nachtdienst in der Burg.« Rath schaute auf die Uhr. »In drei Stunden.« »Eben. Und da will ich nicht besoffen erscheinen.« »Nur ein kleines Friedensbier. Und du erzählst mir bei der Gelegenheit, was ihr heute Morgen noch herausgefunden habt.«
»Gereon, du hast jetzt schon eine Fahne. Streng genommen bist du im Dienst.« »Nur ein Cognac«, log Rath. »Vorhin, nach dem Essen.« Gräf trank ein paar Schlucke Kaffee. »Na gut«, sagte er schließlich. »Eine Molle vorm Dienst wird ja wohl erlaubt sein.« »Aber sicher.« Rath grinste. »Wenn ich es dir sage. Ich bin dein Chef.« »Ich hab dir doch gesagt, du sollst mir nicht mit der Masche kommen.« Kurz darauf saßen die beiden am Tresen im noch leeren Nassen Dreieck, der wahrscheinlich kleinsten und dreieckigsten Kneipe Berlins. Kirie hatte sich zu ihren Füßen ein Plätzchen gesucht. Vor den Männern standen zwei Biergläser, vor dem Hund ein Wassernapf, den Schorsch, der Wirt, ungefragt hingestellt hatte. Auch das Bier hatte er schon zu zapfen begonnen, bevor die Bestellung eingegangen war, er kannte seine Gäste. Nur beim obligatorischen Korn hatten die beiden Beamten diesmal abgewinkt. Sie prosteten sich zu. Gräf schien langsam wieder bessere Laune zu bekommen. »Dann soll ich dich also auf den aktuellen Stand bringen«, sagte er und wischte den Schaum vom Mund.
Rath nickte. »Schließlich bin ich derjenige, der den Häuptlingen in der Konferenz zu berichten hat, oder?« »Der schriftliche Bericht ist schon in Arbeit. Lange und ich wollen den Rest heute Nacht erledigen.« »Schön. Erst mal reicht mir die Kurzfassung. Hat der ED irgendetwas rausgefunden?« »Alles noch ohne Gewähr«, referierte Gräf: »Keine Kampfspuren, keine Spuren von Gewalt, keinerlei Hinweis auf Fremdeinwirkung. Aber genauso wenig Hinweise auf einen natürlichen Tod.« »Dann werden wir wohl wirklich die Obduktion abwarten müssen. « Rath trank einen Schluck. »Was hältst du von Karthaus' Vermutung? Ich meine, dass der Mann ertrunken ist?« »Auch wenn es sich seltsam anhört, ich glaube, dass der Doktor recht haben könnte. Die Haare der Leiche waren noch nass.« »Ist mir nicht aufgefallen.« »Du warst auch viel zu spät am Tatort. Schau dir die Fotos an, die Lange gemacht hat, dann siehst du's.«
»Nasse Haare.« Rath zuckte die Achseln. »Na und? Es hat letzte Nacht schließlich auch geregnet.« »Das hätte anders ausgesehen, auch die Schultern waren nass, der Rest nicht.« »Und? Wie lautet deine Theorie?« »Wie man in einem Aufzug ertrinken kann?« Gräf zuckte die Achseln. »Ich habe keine. Auch nicht zu dem roten Tuch.« »Welches rote Tuch?« Gräf schaute ihn an, einen gelinden Vorwurf im Blick, und Rath hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, schon gut! Ich gucke mir die Fotos an.« »Das Tuch hing am Gitterwagen mit den Schnapskisten. Ist jetzt beim ED .« »Eine Kommunistenfahne?« »Eher ein Taschentuch. Wir werden sehen.« Bevor Gräf Nein sagen konnte, hatte Schorsch die nächsten zwei Mollen auf den Tresen gestellt. Die Männer tranken. »Und du glaubst also wirklich, dass jemand in einem Aufzug ertrinken kann?«, fragte Rath. »Ich glaube gar nichts.« Gräf zuckte die Achseln. »Wie der Mann zu Tode gekommen sein könnte, ist immer noch ein einziges Rätsel. Und sollte sich bestätigen, dass er wirklich ertrunken ist, wird das Rätsel eher größer als kleiner.« »Vielleicht hat ihn doch jemand einfach nur dort abgelegt.« »Und hat dafür Lamkaus Lieferwagen benutzt?« Gräf schüttelte den Kopf. »Nein, nein, alle Spuren sprechen eindeutig dagegen. Und ein Mann mit einer Leiche wäre kaum unten am Wachdienst vorbeigekommen.« Schorsch stellte die dritte Bierlieferung auf den Tresen und räumte die leeren Gläser ab. »Jetzt ist aber genug«, meinte Gräf. »Na komm, das eine noch. Und dann gurgelst du ein bisschen mit Odol, und die Fahne ist weg.« »Hört sich an, als sprichst du aus Erfahrung.« Rath hob sein Glas. »Jedenfalls hast du eine Vorbildfunktion gegenüber unserem jungen Kommissaranwärter, die solltest du ernst nehmen.« Auch Gräf hob sein Glas. »So wie du deine Vorbildfunktion gegenüber einem jungen Kriminalsekretär ernst nimmst, oder wie meinst du das?« »Hat Lange die Angehörigen benachrichtigt?«, fragte Rath. Gräf nickte. »Der Mann hat eine Witwe hinterlassen. Die Lamkaus wohnen direkt neben ihrer Firma in Tempelhof.« »Wie viele Mitarbeiter?« »Ein gutes Dutzend.« »Also stellt sich die Frage, warum der Chef selbst rausgefahren ist für so eine Lieferung.« »Es stellen sich noch verdammt viele Fragen.
Ich habe die wichtigsten Zeugen für Montagmorgen in die Burg bestellt.« Gräf leerte sein Bierglas und stellte es ab. »Es war heute nicht sehr hilfreich, dass der Direktor überall herumwirbelte, das hat die Mitteilsamkeit seiner Leute nicht gerade erhöht. Ich denke, dass wir mehr erfahren, wenn wir sie im Vernehmungsraum sitzen haben.« Er rutschte von seinem Barhocker. »Vielleicht kommen wir dann auch dahinter, warum Lamkau einen Umschlag mit tausend Mark mit sich führte.« »Tausend Mark?« »Waren in seinem Kittel.« Rath wollte gerade etwas sagen, doch dann sah er Gräfs Gesicht und ließ es bleiben. »Der ED hat das Geld«, fuhr der Kriminalsekretär fort, »untersucht den Umschlag auf Fingerabdrücke.« »So eine Stange Geld, was wollte er bloß damit?« Gräf zuckte mit den Achseln. »Na«, meinte Rath, »dann wissen wir jetzt ja wenigstens eines ...« »Und das wäre?« »Dass wir«, sagte Rath und grinste, »Raubmord definitiv ausschließen können.«
Institut für gerichtliche Medizin der Universität Berlin stand auf dem Messingschild an der Backsteinmauer, in der Einfahrt parkte ein Leichenwagen. Die passende Einstimmung auf das, was hinter diesen Mauern wartete. Schon auf der Außentreppe meldete sich das flaue Gefühl in seinem Magen zurück; keine gute Voraussetzung, um das Leichenschauhaus zu betreten, in dessen kalten Katakomben meist unappetitliche Überraschungen warteten. Der Anruf von Doktor Karthaus hatte Rath an diesem Morgen aus dem Bett geworfen. Dummerweise hatte er, nachdem Gräf sich zum Dienst verabschiedet hatte, weitergetrunken gestern Abend, war noch für ein paar Bierchen im Dreieck geblieben und danach vorsichtshalber mit dem Taxi nach Hause gefahren, hatte dort angekommen aber feststellen müssen, dass er immer noch zu nüchtern war, um die Einsamkeit seiner Wohnung zu ertragen, die noch leerer geworden war, seit Charly hier aufgetaucht und wieder gegangen war.
Also hatte er brav am Alex angerufen, mitgeteilt, wo er die nächsten Stunden telefonisch zu erreichen wäre, ganz den Vorschriften entsprechend, hatte Kirie in der Obhut des Nachtportiers gelassen und war dann die Uhlandstraße hinuntergegangen zum Ku'damm, hatte sich dem Swing des Kakadu überlassen und dem Getränkeangebot der gut sortierten Bar, hatte den Avancen einer abenteuerlustigen Blondine widerstanden und versucht, nicht an Charly zu denken. Was ihm auch in dieser Umgebung nicht besonders gut gelungen war. Immerhin hatten die Cocktails ihn betrunken gemacht, betrunken genug, um weit nach Mitternacht wieder nach Hause zu gehen und endlich Schlaf finden zu können.
Bis ihn das schrille Klingeln des Telefons geweckt hatte. »Ich habe da etwas entdeckt, das ich Ihnen zeigen möchte«, hatte Karthaus gesagt und ihn für zwei Uhr in die Hannoversche Straße bestellt. Rath hatte dem Hund zu fressen gegeben, selbst aber nichts gegessen, sondern nur Kaffee getrunken und geduscht, bevor er sich mit Kirie auf den Weg gemacht hatte. Erst vor der Tür war ihm eingefallen, dass das Auto noch in Kreuzberg stand, und er war die Hardenbergstraße hinuntergegangen zum Bahnhof Zoo. Dennoch war es erst kurz vor zwei, als sie das Leichenschauhaus betraten. Der Pförtner kannte Hund und Kommissar, er nahm Kiries Leine und machte das Tier mit einem Happen von seiner Salamistulle gefügig. »Doktor wartet unten«, sagte er und winkte den Kommissar durch in den Keller, wo die Gerichtsmediziner ihre Leichen bearbeiteten. Rath hielt seinen Blick gesenkt, das schwarzweiße Karomuster des Fußbodens hatte eine beruhigende Wirkung auf seinen Magen.
Als er unten durch die große Schwingtür in den Obduktionssaal trat, fand er Doktor Karthaus an seinem Schreibtisch in der Ecke, eine dampfende Tasse Kaffee und eine Aktenmappe vor sich, in die er irgendwelche Notizen eintrug. Der Gerichtsmediziner blickte auf und runzelte die Stirn über seiner Lesebrille. »Herr Kommissar! Heute ungewohnt pünktlich!« »Wie die Maurer!« Der Doktor klappte seine Brille zusammen und zündete sich eine Zigarette an. Rath tastete nach seinen Overstolz, die schien er zu Hause liegen gelassen zu haben. Er schielte auf die blecherne Zigarettendose auf dem Schreibtisch, doch der Doktor kam nicht auf die Idee, ihm eine Manoli anzubieten, er stand auf und führte seinen Gast zu einem Rollwagen, auf dem sich unter einer Baumwolldecke die Konturen eines menschlichen Körpers abzeichneten. »Schauen Sie«, sagte Karthaus und zog das Laken mit einem schnellen, fast schon brutalen Ruck beiseite, »das müssen Sie sich ansehen.« Die Leiche hatte immer noch den entsetzten Blick von gestern Morgen, und sie war noch blasser geworden, die Partie um den Mund noch blauer. Der Doktor fasste den wachsbleichen Kopf am Kinn und drehte ihn zur Seite. Der Zeigefinger in seinem weißen Handschuh zeigte auf eine Stelle am Hals, an der sich ein kleiner bläulicher Punkt gebildet hatte. »Sehen Sie, was ich meine?«, fragte Karthaus, und Rath nickte. Für einen Moment war er versucht, sich über den Hals zu beugen, um besser sehen zu können, dann aber folgte er dem Rat seines Magens und beschloss, hauptsächlich den Worten des Doktors zu vertrauen.
»Eine Einstichstelle«, fuhr Karthaus fort. »Stammt von einer Injektion. Intravenös.« »Was für eine Injektion?« »Von seinem Arzt hat er sie nicht bekommen«, sagte Karthaus, »das habe ich schon nachgeprüft. Vielleicht war er Morphinist.« Der Doktor zog an seiner Zigarette. »Das Spritzen in die Halsvene ist allerdings nicht gerade üblich bei Morphinisten. Für eine Selbstinjektion bräuchte es da schon einen Spiegel. Zudem ... wenn unser Mann Morphinist wäre, hätte man weitere Einstichstellen fi nden müssen. Und das hier ist die einzige.« Rath wurde hellhörig. »Wollen Sie damit sagen, jemand anderes hat ihm diese Spritze verabreicht?« Karthaus nickte. »Alles deutet darauf hin. Wir haben also doch Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung.« »Und was war das? Eine Giftspritze?« »Welches Mittel ihm verabreicht wurde, das wird hoffentlich die Blutanalyse ergeben.« »Ist der Mann also doch nicht ertrunken!« Rath legte es nicht immer darauf an, recht zu behalten, aber in diesem Fall genoss er es. »So genau kann man das nicht sagen«, meinte Karthaus. »Ich denke, Sie haben die Leiche obduziert?« Karthaus nickte. »Und der Mann hatte auch Wasser in den Lungen. So viel, dass es unmöglich post mortem eingedrungen sein kann.
So weit also alles typisch für einen Ertrinkungstod. Allerdings war die Wasseraspiration längst nicht so extrem, dass sie unweigerlich zu einer tödlichen Hypoxie hätte führen müssen.« »Reden Sie Deutsch, Doktor, ich bin kein Mediziner. Und habe auch nur das kleine Latinum.« »Hypoxie stammt aus dem Griechischen. Meint Sauerstoffmangel. Hypoxie infolge extremer Wasseraspiration, das nennt man auf Deutsch gemeinhin Ertrinken.« Karthaus guckte Rath an wie ein strenger Lehrer. »Ich habe allerdings den Verdacht, dass unser Mann zwar zu ertrinken drohte, aber vorher an einer Atemlähmung gestorben ist.« »Wie meinen Sie das? Ist er nun ertrunken oder nicht?« »Er ist ein bisschen ertrunken. Er hat definitiv Wasser eingeatmet, eine sehr unangenehme Erfahrung. Aber gestorben ist er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht daran. Oder anders ausgedrückt: Bevor er daran sterben konnte, hat seine Atmung ausgesetzt.« »Weil man ihm ein Gift gespritzt hat ...« Karthaus zuckte die Achseln. »Aber Sie gehen defi nitiv von Mord aus.« »Von Fremdeinwirkung.« »Da steh ich nun, ich armer Tor ...« »Na, Ihren Goethe kennen Sie wenigstens.« »Ob Sie's glauben oder nicht, ich hab sogar Abitur.« Karthaus nickte anerkennend. »Dann haben Sie bestimmt auch gelernt, sich in Geduld zu üben.
Wenn wir das Ergebnis der Blutanalyse haben, kennen wir auch die Todesursache, ich möchte beinah darauf wetten. Eins jedenfalls kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Wir haben es hier mit einem sehr merkwürdigen Todesfall zu tun.« Rath schaute sich die Leiche an, das Entsetzen in ihrem Gesicht. Wer hatte etwas gegen Herbert Lamkau gehabt? Und warum hatte derjenige versucht, ihn zu ertränken, obwohl er ihm schon eine Giftspritze injiziert hatte? »Vielen Dank, Doktor«, sagte er. »Wenn Sie mehr wissen, unterrichten Sie mich doch bitte zeitnah.« Karthaus nickte. Rath war schon an der Tür, dann drehte er sich noch einmal um. »Ach«, sagte er, »eine Frage noch, Doktor ...« Karthaus zog die Augenbrauen hoch. »Sie sind doch Arzt ... Haben Sie hier irgendwo vielleicht ein Aspirin?« Eine gute halbe Stunde später stieg Rath mit Kirie die U-Bahn- Treppen am Potsdamer Platz hoch. Die von steinernen Figuren gesäumte Kuppel von Haus Vaterland thronte über dem Platz wie ein römischer Tempel, dem man Leuchtreklamen an die Fassade geschraubt hatte. Der riesige Komplex war das Erste, was die Besucher sahen, wenn sie die Treppen der U-Bahn hinaufstiegen, erst dann schoben sich der Potsdamer Bahnhof und die anderen Gebäude ins Blickfeld.
Es war schon einiges los an der breiten Freitreppe vor dem Haupteingang; die Leute standen tatsächlich Schlange, um hier hineinzukommen und sich das Geld aus der Tasche ziehen zu lassen. Die meisten sahen aus wie Hilfsbuchhalter aus Königs Wusterhausen, die ein wildes Wochenende in der großen Stadt verbringen wollten oder das, was sie darunter verstanden. Rath ließ die Provinzonkels stehen, wo sie standen, und ging mit Kirie einmal um Haus Vaterland herum. Am Lieferanteneingang luden ein paar Männer gerade Unmengen Kartoffeln aus. Rath schaute sich das einen Moment an und spazierte mit dem Hund dann einfach ins Gebäude hinein. Der linke Aufzug schien noch immer außer Betrieb zu sein, die Kartoffelfritzen stapelten ihre Säcke jedenfalls nur im rechten. Rath hatte das Treppenhaus fast erreicht, da hielt ein Ruf ihn zurück. »Hey! Wat wollen Sie denn hier? Kenn ick Sie?« Rath drehte sich um und erkannte die Uniform der Wach- und Schließgesellschaft.
Die passte also auch tagsüber auf, dass sich kein Unbefugter einschlich. Und das offenbar recht gut. Er zückte seine Dienstmarke, und der Wachhund schaute misstrauisch darauf. »Kripo?«, fragte er. Rath nickte. »Der Mordfall von gestern.« Das Wort Mord schien den Wachmann nicht weiter zu irritieren. »Wat wollense denn noch?« »Den Tatort noch mal in Augenschein nehmen.« »Sind Sie angemeldet?« »Die Kripo kommt niemals angemeldet.« Der Wachhund guckte zwar immer noch sauertöpfisch, aber er ließ den Kommissar passieren. Rath stieg die Treppen empor und schaute sich in jeder Etage vor den Aufzügen um. Kirie schnupperte überall neugierig, doch Rath schenkte dem keine Beachtung, dafür hatte er schon zu viele schlechte Erfahrungen mit den Fähigkeiten seines Hundes gemacht.
Eigentlich galten Bouviers als hervorragende Fährtenhunde, Kirie schien da jedoch die große Ausnahme zu sein. In der dritten Etage stieß er auf einen Blaumann, der vor der offenen Tür am Aufzugschacht hockte und an irgendetwas schraubte. Rath schaute ihm eine Weile zu, bevor er ihn ansprach. »Defekt?«, fragte er und streckte dem Arbeiter die Zigarettenschachtel entgegen, die er im U-Bahnhof gekauft hatte. Der griff dankbar zu, und Rath gab ihm Feuer. »Die Tür«, sagte der Blaumann und inhalierte genüsslich. »Wieso fragense?«
Rath zündete sich ebenfalls eine Overstolz an und zeigte seine Blechmarke. Der Haustechniker schien nicht überrascht, es mit einem Polizisten zu tun zu haben. »Waren Sie dabei, als die Leiche gestern gefunden wurde?«, fragte Rath. »Nee. Det war Kollege Siegmann.« »Ist der im Haus?« »Nee. Hat diese Woche Nachtdienst.« »Was ist denn passiert mit der Tür? Davon hat Herr Siegmann uns gar nichts erzählt.« »Ist ja auch erst heute Morgen aufgefallen, als eener hier aussteigen wollte und die Tür klemmte. Die meisten fahren immer janz durch bis oben in die Küche.« »Die Tür klemmt?« »Irjendein Arschloch hat den Notausschalter gedrückt«, sagte der Blaumann, »jenau zwischen zwei Stockwerken. Und sich dann mit Gewalt an der Tür zu schaffen jemacht, anstatt Hilfe zu rufen. Det janze Blech hier hat er mir verbogen.
Schließt nicht mehr richtig.« »Das ist der Aufzug, in dem gestern die Leiche gefunden wurde, oder?« Der Haustechniker hob die Schultern. »Mag sein. Is aber ooch keene Entschuldijung für so 'ne Sauerei.« »Habe ich Sie richtig verstanden, dass jemand hier unten aus der Aufzugkabine geklettert ist? Aus der Kabine, in der man dann die Leiche gefunden hat?« Der Techniker schaute, als sei ihm eine unerwartete Erkenntnis zuteilgeworden. »Sie meinen ...« »Dass das womöglich der Fluchtweg eines Mörders war. Haben Sie schon viel angefasst?« »Werd ick wohl. Ohne anfassen funktioniert Arbeiten bei unsereinem nicht.« »Dann machen Sie mal Pause. Oder kümmern sich um die anderen Arbeiten, die Sie zu erledigen haben. Die Aufzugtür muss kriminaltechnisch untersucht werden.« Der Haustechniker schien die Dinge zu nehmen, wie sie kamen, und zuckte gleichgültig die Achseln. »Sie müssen det hier aber sichern«, sagte er. »Det mir keener in den Schacht plumpst.« Rath nickte. »Da haben Sie recht. Wie wäre es, wenn Sie diese Aufgabe übernehmen, bis meine Kollegen eintreffen? Wo kann man denn hier telefonieren?« »Dahinten. Da haben die Kellner 'n Aufenthaltsraum«, sagte der Blaumann. »Aber ick kann hier doch nich ewig warten, ich ...« Rath überhörte den Protest und trat durch die Tür, die der Mann ihm gezeigt hatte. Am Ende einer Reihe Spinde, vor denen vier, fünf Männer sich gerade umzogen, hing ein Wandtelefon. Rath zeigte einem Ober in voller Montur, der gerade telefonierte, seine Marke, doch der Mann tat so, als würde er den Kommissar überhaupt nicht sehen, im Ignorieren hatte er offensichtlich Übung.
Berufsbedingt. Doch die hatte Rath auch. Er drückte die Gabel nach unten, bis die Verbindung abgebrochen war. Der Ober, der schon zu einem Protest hatte ansetzen wollen, schluckte seine Worte hinunter, als er Raths Gesicht sah. Obwohl auch der ED sonntags nur in kleiner Besetzung im Präsidium die Stellung hielt, konnte Rath zwei Leute bekommen, die sofort rausfahren wollten. Der Blaumann wirkte erleichtert, als der Kommissar zu den Aufzügen zurückkehrte. »Kann ick jetze wieder an meine Arbeit?«, fragte er. »Solange Sie diesen Aufzug nicht anfassen, können Sie meinetwegen jede Arbeit erledigen, die Ihnen in den Sinn kommt.« Der Blaumann trollte sich, und Rath zündete sich eine Zigarette an.
Sein Blick fiel auf zwei schmale, hohe Fenster, die nach draußen führten. Eines stand einen Spalt offen. Kirie folgte ihm, als er hinüberging. Er nahm ein Taschentuch und öffnete das angelehnte Fenster. Draußen erkannte er eine Art Galerie, einen Gang mit einer steinernen Brüstung, der das Gebäude säumte. Er wollte gerade hinaussteigen, da hörte er jemanden hinter sich hüsteln und fuhr herum. Da stand, im leichten Sommeranzug, diesmal wie aus dem Ei gepellt und perfekt frisiert, Richard Fleischer, der Direktor von Haus Vaterland . Der Wachmann unten musste Alarm geschlagen haben, oder aber der Blaumann hatte schon gepetzt, dass man ihn den Aufzug nicht reparieren ließ. »Herr Kommissar! Ich muss mich doch sehr wundern! Was machen Sie hier?«
»Meine Arbeit.« »Gestern haben Sie unseren Betrieb aufgehalten, heute unterbinden Sie notwendige Reparaturarbeiten! Und dann schleichen Sie sich auch noch einfach so durch den Hintereingang.« »Wäre es Ihnen lieber gewesen, ich hätte den Haupteingang genommen und mich dort laut und deutlich mit Mordkommission vorgestellt?« Fleischer zog den Mund zusammen, als habe er in eine Zitrone gebissen. »Man muss solch einen Unfall ja nicht gleich an die große Glocke hängen.« »Wie es aussieht, war es kein Unfall. Wir haben es mit einer vorsätzlichen Tötung zu tun. Und da, so viel kann ich Ihnen schon sagen, kann die Kriminalpolizei keinerlei Rücksicht auf irgendwelche Betriebsabläufe nehmen. Und auch nicht auf Ihren guten Ruf.« »Aber wer sollte Herrn Lamkau töten wollen? Und dann in unserem Hause?« »Haben Sie einen Verdacht?« Fleischer schaute, als habe Rath ihn gefragt, ob er in seiner Freizeit gerne Strapse trage. »Natürlich nicht«, sagte der Direktor. »Sie glauben doch wohl nicht, dass einer unserer Mitarbeiter einen Lieferanten erschlägt.« »Herr Lamkau wurde nicht erschlagen.« Ein paar Kellner kamen vorüber, auf dem Weg in den Feierabend oder in die Pause, und schauten verwundert, als sie ihren Direktor dort vor den Lastenaufzügen stehen sahen, zusammen mit einem fremden Mann und einem Hund. »Wie dem auch sei.« Fleischer senkte seine Stimme. »Mir wäre es jedenfalls lieber, wir würden unsere Unterhaltung, so sie denn nötig ist, in meinem Büro fortsetzen.« »Tut mir leid, aber ich muss hier noch das Eintreffen der Kollegen abwarten.« »Kollegen?« Die Aussicht auf noch mehr Polizisten in seinem Haus schien den Direktor nicht zu erfreuen. »Spurensicherung«, sagte Rath nur und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Wir müssen mögliche Fluchtwege des Mörders untersuchen. « »Da geht's auf die Galerie, da kommen Sie nicht runter auf die Straße. Höchstens an irgendeiner anderen Stelle wieder rein in das Gebäude.« Rath bot Fleischer eine Zigarette an, und der griff zu. Gemeinsames Zigarettenrauchen, davon war der Kommissar fest überzeugt, war das beste Mittel, um Animositäten abzubauen oder Misstrauen. »Ich habe den Eindruck, Ihr Gebäude wird gut bewacht«, sagte er, als er dem Direktor Feuer gab. »O ja, unsere Wachen sind auf Zack.« »Wo, würden Sie sagen, gibt es denn eine Möglichkeit, unbemerkt hinaus- oder hineinzukommen?« »Nirgends, würde ich sagen.« Fleischer zog an seiner Zigarette und machte eine Kopfbewegung zum offenen Fenster hin. »Außer vielleicht, Sie sind Fassadenkletterer.« Rath nickte nachdenklich. »Wie viele Menschen arbeiten hier? Zweihundert? Dreihundert?« »Dreihundert?« Der Direktor lächelte mitleidig. »Allein im Service sind an die vierhundert Kellner beschäftigt, dann in der Zentralküche oben achtzig Köche und hundertzwanzig Hilfskräfte.
Wir bewirten rund eine Million Gäste im Jahr. Alles in allem arbeiten rund um die Uhr fast elfhundert Menschen für uns. Wir sind wie eine kleine Stadt, wenn Sie so wollen, wir haben sogar eine eigene Müllverbrennung.« Rath ließ sich von den Zahlen nicht beeindrucken. »Bei so vielen Mitarbeitern kennen Sie wohl nicht jeden persönlich.« »Natürlich nicht.« »Wie viele waren gestern Morgen im Einsatz, als Herr Lamkau ermordet wurde?« Fleischer zuckte die Achseln. »Das müssten Sie doch besser wissen, Sie haben alle zusammengetrommelt. Fünfzig, sechzig vielleicht, wenn Sie das technische Personal mitzählen.
Und das Wachpersonal. Vom Service war ja noch kaum jemand da.« Ihr Gespräch wurde gestört, als eine Tür aufflog und zwei Männer in grauen Kitteln aus dem Treppenhaus kamen. Rath erkannte die Erkennungsdienstler sofort und zeigte ihnen die zerbeulte Aufzugtür. »Und dann schauen Sie sich mal das Fenster dort drüben an, ob Sie an den Griffen Fingerabdrücke sichern können. Und ob man draußen auf der Galerie vielleicht irgendwelche Spuren findet.«
Die Männer nickten, packten ihren Koffer aus und machten sich an die Arbeit. Rath schaute ihnen eine Weile zu. »Was gedenken Sie denn, dort zu finden?«, fragte der Direktor schließlich. »Aufschlüsse über den Fluchtweg des Mörders«, sagte Rath, »und vielleicht sogar Hinweise auf seine Identität.« »Ich hoffe nur, Sie machen nicht allzu viel Aufhebens von der Sache. Mein Haus kann keine schlechte Presse gebrauchen.« »Haben Sie in Ihrem Haus auch eine medizinische Abteilung?« Fleischer schaute überrascht. »Einen Erste-Hilfe-Raum«, sagte er schließlich. »Mit mehreren Liegen. Für Notfälle. Warum fragen Sie?« »Werden dort Medikamente aufbewahrt? Injektionsspritzen?« »Sicher. Soll ich Ihnen eine Liste zusammenstellen lassen?« Rath lächelte. »Gerne. Am besten noch heute. Und lassen Sie sämtliche Medizinschränke von einer Person Ihres Vertrauens überprüfen. Wir müssen wissen, ob etwas fehlt.« Der Direktor nickte nun wie ein gehorsamer Schuljunge. »Kannten Sie Herrn Lamkau?«, fragte Rath unvermittelt. »Persönlich, meine ich.« »Nein.« Fleischers Antwort kam prompt. »Ich habe ihn gestern zum ersten Mal gesehen.« »War denn jemand Ihrer Mitarbeiter privat mit dem Toten bekannt? « »Nicht dass ich wüsste, aber bei einer so großen Zahl an Mitarbeitern kann ich das selbstverständlich auch nicht ausschließen.« »Was mich wundert, ist, dass Herr Lamkau persönlich ausgeliefert hat. Und dann um diese Tageszeit.« Fleischer zuckte die Achseln und drückte seine Zigarette aus. »Das kommt vor, dass die Inhaber selbst rausfahren. Und die Lieferzeiten, das schwankt immer sehr, je nachdem wie die Lieferanten ihre Touren legen. Aber dazu müsste Ihnen Herr Riedel mehr sagen können.« »Herr Riedel«, wiederholte Rath und zückte seinen Block. Der Direktor nickte. »Alfons Riedel. Einer unserer Einkäufer.« »Ist Herr Riedel im Hause?« »Tut mir leid.« Der Direktor lächelte. »Wir haben Sonntag, da arbeitet der Einkauf nicht.«
»Gut, dann komme ich morgen wieder«, sagte Rath. »Sagen Sie Herrn Riedel doch bitte Bescheid.« Direktor Fleischer lächelte immer noch, machte dabei aber ein Gesicht, als habe er schlimme Zahnschmerzen. Die Firma Lamkau hatte ihren Sitz in Tempelhof, direkt am Kanal. Das Firmengebäude machte einen aufgeräumten Eindruck, die Lieferwagen, die ordentlich in Reih und Glied auf dem Hof standen, rund ein halbes Dutzend, wirkten, als habe man sie eben erst einer gründlichen Autowäsche unterzogen. Rath parkte direkt neben einem der blitzeblank in der Sonne glänzenden Fahrzeuge. Sein vom Sommerstaub stumpfer Buick, den er eben in Kreuzberg abgeholt hatte, wirkte wie ein Straßenjunge, der in eine Gruppe Konfirmanden geraten war. Die Autos sahen ähnlich aus wie das, in dem der Firmeninhaber gestern zum Haus Vaterland gefahren war und das sich immer noch in den Händen der Spurensicherung befand. Sie warben für die Spirituosenhandlung Lamkau und für Mathée Luisenbrand, andere für Danziger Goldwasser oder Treuburger Bärenfang. Rath stieg aus und nahm den Hund an die Leine.
Auf dem Weg zum Wohnhaus bemerkte er, dass sich Kiries Nackenhaare plötzlich aufrichteten und sie ein leises Knurren hören ließ. »Ruhig, altes Mädchen«, sagte er, »ganz ruhig.« Und dann schrak er zusammen, denn hinter sich hörte er ein lautes Kläffen und gleichzeitig das Rasseln einer Kette, die sich mit wachsender Geschwindigkeit entrollte. Rath drehte sich um und sah ein Monstrum auf sich zustürmen.
Instinktiv machte er ein paar Schritte zur Seite, und es war genau die richtige Anzahl: Kurz bevor der Hund ihn erreichen konnte, spannte die Kette und hielt das Tier zurück. Das Bellen hörte dennoch nicht auf, mit seinem ganzen Gewicht warf sich der Wachhund ins Halsband, röchelte und kläffte die Besucher an. Kirie hatte sich inzwischen entschlossen zurückzubellen, sodass die sonntagnachmittägliche Ruhe endgültig zerstört war. Die Haustür des Wohnhauses öffnete sich, und ein Dienstmädchen schaute ihn an. Sie musste brüllen, um sich gegen das Gekläff durchzusetzen. »Sie wünschen?«
© 2014 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Volker Kutscher
Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte zunächst als Tageszeitungsredakteur, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Mit dem Roman »Der nasse Fisch«, dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Rath im Berlin der Dreissigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher fünf weitere folgten. Die Reihe ist inzwischen in viele Sprachen übersetzt und durch Tom Tykwers Verfilmung Babylon Berlin international bekannt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Volker Kutscher
- 2014, 20. Aufl., 576 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462046462
- ISBN-13: 9783462046465
- Erscheinungsdatum: 04.03.2014
Pressezitat
»[...] die Charaktere [sind] so modern, dass sie jeden "Tatort" alt aussehen lassen.« Die Welt kompakt 20130109
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