Menschensöhne / Kommissar-Erlendur-Krimi Bd.1
Island, eine friedliche Insel im Nordatlantik? Mitnichten. Ein pensionierter Lehrer wird in der Innenstadt Reykjaviks brutal ermordet. Zur gleichen Zeit begeht einer seiner ehemaligen Schüler in der psychiatrischen Klinik Selbstmord. Besteht ein...
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Island, eine friedliche Insel im Nordatlantik? Mitnichten. Ein pensionierter Lehrer wird in der Innenstadt Reykjaviks brutal ermordet. Zur gleichen Zeit begeht einer seiner ehemaligen Schüler in der psychiatrischen Klinik Selbstmord. Besteht ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen? Erlendur Sveinsson und seine Kollegen von der Kripo Reykjavik schalten sich in den Fall ein. Das Ermittlungsergebnis ist haarsträubend: Von der Klasse des Selbstmörders leben nur noch zwei Schüler.
Kommissar Erlendur Sveinsson ermittelt in seinem ersten Fall.
Menschensöhne von Arnaldur Indriðason
LESEPROBE
Eins
Ausder Ferne sah das Gebäude wie ein Gefängnis aus. Es war über Jahre hinweg nichtinstand gehalten worden. Mittelkürzungen im Gesundheitsbereich wurde so etwasgenannt, und Kliniken wie diese waren immer am schlimmsten davon betroffen. Dasmonumentale Gebäude machte einen heruntergekommenen Eindruck. Es stand unten amMeer, umgeben von einer grossen dunklen Parkanlage mit hohen Bäumen. Aus allenFenstern drang gelbliches Licht in die winterliche Dunkelheit des frostkaltenJanuars hinaus.
Pálmi ging von der Haltestelle zur Klinik und stellte fest, dass weitereGitter an den Fenstern im zweiten Stock hinzugekommen waren. Solange erzurückdenken konnte, war er jede Woche einmal hierher gekommen, um seinen Bruderzu besuchen. Die Behandlung der Patienten hatte sich parallel zum Zustand desHauses verschlechtert, und mittlerweile war es nur noch so etwas wie ein Verwahrungsort für psychisch Kranke, die mit Medikamentenruhig gestellt wurden. Für Pálmi hatte dieses Gebäudeimmer eine Bedrohung dargestellt, und als kleiner Junge hatte er sich oftgeweigert, mit seiner Mutter hineinzugehen. Stattdessen hatte er draussengewartet, bis die Besuchszeit vorbei war. Aber jetzt konnte er nicht mehrdraussen bleiben. Seine Mutter war tot, und ausser ihm gab es niemanden mehr, derden Bruder besuchte.
Durcheine schmale Seitentür gelangte er direkt auf den Korridor, den die Patientenals Raucherzone benutzten. Das war nicht der Haupteingang, aber der kürzesteWeg zum Zimmer seines Bruders. Er spürte sofort, dass etwas nicht in Ordnungwar. Bei diesem Eingang standen normalerweise immer einige Patienten undrauchten. Sie wurden in kleinen Gruppen nach unten gelassen, und dort lungertensie dann herum und starrten auf ihre gelben Finger. Alle
Derlange, enge und schlecht beleuchtete Korridor war vor langer Zeit vom Boden biszur Decke mit dicker grüner Schiffsfarbe gestrichen worden. Ganz am Ende lagdas Zimmer von Pálmis Bruder, aber es war niemanddarin. Sonst war es immer ordentlich aufgeräumt, doch heute hatte es denAnschein, als hätte in diesem engen Raum ein Berserker gewütet. DerKleiderschrank war kurz und klein geschlagen worden und das Bett umgekippt. Daníels Habseligkeiten lagen über das ganze Zimmerverstreut. Pálmi drehte sich um und ging rasch wiederden Gang zurück, um jemanden vom Personal zu finden. Er kam zu einer Nische, wosich zwei Aufzüge befanden, und drückte auf beide Knöpfe. Als sich beim linkendie Türen öffneten, stürzten zwei Aufseher mit einem Patienten zwischen sichheraus. Er war geknebelt.
"Woist Daníel?", fragte Pálmi.Er blickte erschrocken in die panisch aufgerissenen Augen des Patienten, derwild um sich schlug. Er hiess Natan, so viel wusste Pálmi, und war erst vor kurzem in die Klinik eingeliefertworden. Die Dreiergruppe hastete an ihm vorbei, und einer der Aufseher rief ihmzu:
"Danni macht hier alle total verrückt. Er ist im oberstenStock und will sich umbringen. Vielleicht kannst du ihm gut zureden."
Dannwaren sie verschwunden. Pálmi stürzte in den Aufzugund drückte auf den Knopf für den fünften Stock. Der Aufzug öffnete sich ineinen geräumigen Gemeinschaftsbereich hinein. Tische und Stühle lagen wilddurcheinander, die Einrichtung war demoliert, und in einer kleinen Küchebrannte es. Die Angestellten kämpften mit dem Feuer und versuchten, es mitHandfeuerlöschern einzudämmen. Weiter hinten hatte es den Anschein, als wärendie Patienten unter Kontrolle gebracht worden, indem man sie in einer Ecke desRaums zusammendrängte und so in Schach hielt. Von dort wurden sie einer nachdem anderen geholt und zu den Aufzügen gebracht. In einer anderen Ecke desGemeinschaftsraums befanden sich ein paar mannshohe nebeneinander liegendeFenster. Eines von ihnen hatte eine zerbrochene Scheibe. Dort stand Pálmis Bruder und hatte dem Winterdunkel den Rückenzugekehrt.
"Pálmi", rief Daníel, als erseinen Bruder näher kommen sah. "Sag ihnen, dass sie sich verpissensollen. Sie wollen mir was antun, diese verfluchten Scheisskerle."
"Kannstdu nicht versuchen, ihn zur Raison zu bringen?", fragte ein offensichtlichaufgebrachter Aufseher, der auf Pálmi zukam. "Erhat hier alles in Aufruhr gebracht und droht jetzt damit, sich umzubringen.Wenn wir es schaffen, ihn zu beruhigen, kriegen wir die Situation wieder unterKontrolle."
"Kommtbloss nicht in meine Nähe, ihr Scheisskerle", schrie Daníeldie Aufseher an, die einen Halbkreis um ihn gebildet hatten und daraufachteten, gebührenden Abstand zu halten. Pálmibeachtete sie aber nicht, sondern ging zu seinem Bruder hinüber. Er machtekeinen Versuch, sich auf ihn zu stürzen und ihn vom Fenster wegzuziehen,sondern er stellte sich neben ihn ans Fenster und blickte hinunter. FünfStockwerke tiefer sah man den Park, der hinter der Anstalt lag. Früher einmalwar er grosszügig beleuchtet gewesen, aber jetzt schimmerte nur noch einkümmerliches Licht irgendwo in der Ferne.
"Weisstdu, was sie mir angetan haben, diese verdammten Schweine?", fragte Daníel. Pálmi hatte ihn nie zuvorso erregt gesehen. Daníel war knapp über vierzig,eher klein gewachsen, trug Jeans und ein weisses Hemd und hatte kurz geschorenesHaar. Er hatte ein Faible für weisse Hemden, wusch sie selbst und bügelte siesorgfältig, oft stundenlang. Er war barfuss.
"Habensie dich schlecht behandelt?"
"DieseScheisskerle. Können wir nicht nach Hause gehen, Pálmi?Warum kannst du nicht einfach für mich sorgen?"
"Sollenwir nicht lieber auf dein Zimmer gehen und darüber reden?"
"Nein,lass uns hier reden. Ich komm mit dir nach Hause, Pálmi,und dann wohnen wir zusammen, und ich brauch diese verdammten Schweine niewieder zu sehen. Bitte, Pálmi, bitte. Ich halte eshier nicht mehr aus, und Mama hat immer gesagt, dass du für mich sorgenwürdest. Warum tust du das nicht?"
"Kommdoch erst mal vom Fenster weg."
"Warumnicht, Pálmi?"
"Los,Daníel, komm, wir gehen nach unten."
"Siehaben mir Gift eingetrichtert, Pálmi. Dieseverdammten Arschlöcher. Uns allen. Das sind Unmenschen. Mörder."
"Lassuns doch unten darüber reden, Daníel. Komm vomFenster weg."
Eshatte den Anschein, als hätte die Spannung etwas nachgelassen. Die letztenPatienten wurden aus dem Gemeinschaftsbereich weggeführt, und auch die Aufseherbei den Brüdern wirkten etwas gelassener. Man hatte das Feuer in der Küchegelöscht. Das Gebrüll war verstummt, und die Alarmglocken schrillten nichtmehr. Daníel schien sich beim Anblick seines Brudersebenfalls etwas beruhigt zu haben.
"Pálmi, kannst du dich erinnern, als ich das erste Mal krankwurde und ihr mich hierher gebracht habt? Ich habe gesagt, dass ich mit einerSternschnuppe aus dem Paradies auf die Erde gekommen bin. Man hat michrausgeworfen, weil ich aufgehört hatte zu glauben. Habe ich dir von all denanderen erzählt?"
Daníel hatte seinem Bruder den Arm um die Schultern gelegt. Die Aufseher warenfast alle verschwunden. Daníel flüsterte seinemBruder ins Ohr.
"Fragdanach, woher die anderen gekommen sind."
"Wasfür andere, Daníel?"
"Dieanderen aus der Schule, Pálmi. Frag, ob sie auch ausdem Paradies vertrieben worden sind."
Erumklammerte Pálmis Schulter.
"Wensoll ich fragen?"
"Siewissen ganz genau, was sie verbrochen haben, diese Schweine."
"Wovonredest du, Daníel? Komm doch jetzt vom Fenster weg.Tu mir den Gefallen und komm runter auf dein Zimmer. Dort können wir in allerRuhe darüber reden, ob du nicht wieder nach Hause kommen kannst."
"Weisstdu, jetzt sind wir der Sonne am nächsten, mein lieber Pálmi",sagte Daníel und schien wieder völlig ruhig zu sein.Er küsste seinen Bruder behutsam auf die Stirn, und als sich sein Antlitzentfernte, wurde Pálmi klar, was er vorhatte. Er sahes, aber er begriff es einen Sekundenbruchteil zu spät. Er sah es in den Augen.Der Lebensfunken erlosch. Daníel drehte sichschweigend um und sprang aus dem Fenster. Eine Ewigkeit verging, bevor Pálmi den Aufprall hörte.
Fassungslosnäherte er sich dem Fenster und blickte hinunter. Daníellag rücklings mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf den harten, steilenTreppen, die in den Keller des Hauses führten. Es hatte angefangen, zu schneien.Als der Krankenwagen endlich kam, hatten die weissen Flocken Daníelmit einem hauchdünnen Leichentuch bedeckt.
Zwei
Ineinem anderen Stadtteil stand ein kleines, einstöckiges über hundert Jahrealtes Holzhaus, das von aussen mit Wellblech verkleidet und schwarz angestrichenwar. Es war von einem ungepflegten und nicht eingezäunten Gärtchen umgeben. Ineiner Ecke stand eine grosse Kiefer. Auf dem gefrorenen Rasen lag einBenzinkanister. Er hatte keinen Verschluss mehr.
DieHaustür stand offen. Drinnen war die Luft stickig. Von einem alten Herd, aufdem Haferbrei übergekocht war, stieg schwarzer Rauch hoch. Der Gestankvermischte sich mit dem üblen Geruch, der schon vorher da gewesen war. DieKüche und das ganze Haus waren völlig verdreckt. Überall stapelten sichZeitungen auf dem Fussboden. Schmutziges Geschirr stand herum, und schäbigeKleidungsstücke hingen entweder an irgendwelchen Haken oder lagen auf denMöbeln. Bis auf den Schein der Strassenlaternen, der zu den Fensternhereindrang, und ein schwaches Licht, das durch die Tür aus einem kleinenNebenzimmer ins Wohnzimmer fiel, war das Haus dunkel.
DiesesZimmer war mit allem möglichen Kram voll gestopft. Es hatte keine Fenster, undvon der Decke hing eine nackte Glühbirne. Auf dem Schreibtisch stand eine altegrüne Lampe, die sich über die Schreibfläche zu beugen schien, als hätte sieAngst, hochzublicken. Von ihr kam der Lichtschein. Auf dem Schreibtisch lagenStapel von Büchern und Zeitschriften neben Tintenfässchen und teurenFüllfederhaltern. Aus einem alten Plattenspieler drang Musik, Dvoˇrák. Die Neue Welt.
AmSchreibtisch sass ein alter Mann in einem dicken roten Hausmantel, der zwarverschlissen war, aber warm aussah. An den Füssen trug er Filzpantoffeln. DieHände mit den schmalen Fingern und überlangen Nägeln waren totenbleich. SeineHalbglatze war von farblosen Haarbüscheln umrahmt, die bis auf die Schultern hinunterhingen. Die Augen waren klein. Ein einige Tagealter Bart verhüllte einen Teil des Gesichts. Der Mann war auf dem Stuhlfestgebunden und klatschnass. Er roch nach Benzin.
Einekleine Benzinlache hatte sich unter ihm gebildet. Und von ihr führte eine Spurbis ins Wohnzimmer hinein. Die entzündliche Flüssigkeit war offenbar überWände, Möbel und Kleiderhaufen gekippt worden. Auch in der Küche und in derDiele war Benzin. Der Mann auf dem Stuhl rührte sich nicht. Er gab keinen Lautvon sich und machte keinen Versuch, sich zu befreien. Er schien ruhigabzuwarten, was da auf ihn zukam, so, als hätte er sich damit abgefunden, dasser das, was ihm bevorstand, verdient hätte. Er schien auf eine merkwürdigeWeise mit der Welt im Reinen zu sein.
Mitleisem Zischen flammte das Streichholz auf. Der Mann auf dem Stuhl blicktestarr vor sich hin. Nun liefen Tränen über seine Wangen, aber er bäumte sichnicht auf. Er wiegte sich nur vor und zurück, und seine Lippen bewegten sich zuder Melodie eines Kinderlieds, das er vor sich hin summte, wie um sich zuberuhigen.
Dasbrennende Streichholz wurde dem alten Mann zwischen die Finger geschoben, erhielt es eine Weile fest, bevor er es zu Boden fallen liess. Das Feuer flammtesofort auf und umhüllte den Mann, den Stuhl und den Schreibtisch. Es züngelteblitzschnell über den Fussboden ins Wohnzimmer und die Wände hinauf. ImHandumdrehen brannte das Haus lichterloh. Die Fensterscheiben zersprangen, unddie Flammen schlugen in die Nacht hinaus. Der Mann versuchte aufzustehen,kippte aber nach hinten durch die Tür in das lodernde Flammenmeer imWohnzimmer.
DieWände des Wohnzimmers waren vom Boden bis zur Decke mit eingerahmtenFotografien bedeckt, die sorgfältig in Reihen angeordnet waren. Sie schienendas Einzige zu sein, was in diesem Haus pfleglich behandelt worden war. In denältesten Rahmen befanden sich ovale, schwarzweisse Porträtfotos vonJugendlichen, deren Namen in geschwungener Schrift unter den Fotos eingetragenworden waren. In der Mitte hing das Foto eines Schulgebäudes. Diese Art vonErinnerungsfotos war irgendwann aus der Mode gekommen und Gruppenfotos an ihreStelle getreten. Auf ihnen waren die Schüler in zwei oder drei Reihenaufgestellt, und der Klassenlehrer stand neben ihnen. Auf den älteren Bildernhatten die Kinder Sonntagskleider an und sahen geschniegelt und gestriegeltaus, die Jungen mit glatt gekämmten Haaren und die Mädchen mit Zöpfen. Auf denälteren Bildern hatten die Fotografen versucht, eine gewisse Harmonie zuerzielen, und die Schüler nach Geschlecht und Grösse aufgestellt. Die ersteReihe sass auf dem Boden, die mittlere auf Stühlen, die dritte Reihe standdahinter. Auf den neueren Bildern hatten sich die Schüler aufgestellt, wie esder Zufall ergab, und für die Klassenaufnahme zog man sich nicht mehr extrafein an. Auf den Bildern wurde viel gelächelt, kleine Lächeln, breite Lächeln,schüchterne Lächeln, und einige lachten sogar. Man konnte nicht nur dieVeränderungen der Mode aus den Bildern ablesen, sie zeugten auch von eineranderen Einstellung. Auf den älteren Bildern schauten die Kinder erwartungsvollin die Zukunft; sie standen diszipliniert, ordentlich und ein wenig schüchternvor der Kamera. Auf den jüngsten Bildern aber ging es lockerer und wenigerdiszipliniert zu, man schien keine Ehrfurcht mehr vor diesem Augenblick zuhaben, vielleicht auch nicht mehr vor der Tradition oder dem Schulgeist. Aufallen Bildern, die jetzt eins nach dem anderen den Flammen zum Opfer fielen,war derselbe Lehrer zu sehen. An ihm waren ähnliche Veränderungen festzustellenwie an seinen Schülern. Die ältesten waren Klassenfotos aus der Zeit, als erselbst noch zur Schule gegangen war, und dann kamen die Bilder, auf denen erals Lehrer bei seiner ersten Klasse stand, im Anzug mit schmaler Krawatte, unddas dünne Haar war zur Seite gekämmt. Hornbrille. Die Zukunft lag vor ihm.Später trug er eine abgewetzte Strickjacke, sah mitgenommen aus, und die Haarehatten sich stark gelichtet. Auf einem von den älteren Bildern stand er übereinem Schüler, der nicht in die Kamera blickte, sondern zu seinem Lehreraufschaute. Dieser Junge war Daníel.
Anden Stuhl festgebunden lag der alte Lehrer auf dem Boden und spürte, wie seinLeben in Flammen aufging.
© Verlagsgruppe Lübbe
Übersetzung: Colette Bürling
Interview mit Arnaldur Indridason
Erlendur, der ermittelnde Kommissar in "Todeshauch" und "Nordermoor", ist ein sympathischer Melancholiker umdie 50. Wie haben Sie Erlendur gefunden? Hatten SieVorbilder literarischer Art, etwa den schwedischen Kommissar Wallander, oder solche aus dem wirklichen Leben?
Ich habe nie ein Buch von Mankellgelesen. Es überrascht mich daher sehr, wenn Wallanderund Erlendur in einem Atemzug genannt werden. Als ichjünger war, habe ich die Bücher mit Kommissar Martin Beck von Sjöwall und Wahlöö gelesen. Ich mag auch Ed McBain und Fernsehserienwie "Morse" und "Taggart". Gelegentlich schaue ichsogar "Derrick"; die Folgen liefen hier in Island jahrelang im Fernsehen. Ichlasse mich also von Europa und Amerika, aber natürlich auch von Islandbeeinflussen. Ich habe versucht, Erlendur als einenmürrischen, altmodischen Isländer darzustellen, der sich um die isländischeSprache Gedanken macht, viel über die Vergangenheit liest und auch irgendwie inder Vergangenheit lebt. Er konnte sich nie von den tragischen Ereignissen inseiner Jugend erholen und ist besessen davon, Geheimnissen auf die Spur zukommen - vor allem dann, wenn es um vermisste Personen geht.
Oftmals verknüpfen Sie in IhrenKriminalromanen mehrere Zeitebenen miteinander. So liegt auch das eigentlicheVerbrechen von "Todeshauch" 60 Jahre zurück. Gibt es etwas, das Siean solchen Zeitsprüngen besonders fasziniert? Was bedeutet Zeit für Sie?
In allmeinen Büchern spielt der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle. Zeit fasziniertmich als eine Kraft, die verändert und zerstört, aber gleichzeitig auch Wundenheilt und Trost spendet. Das steht in engem Zusammenhang mit Erinnerungen - mitguten und mit schlechten. Es ist sehr interessant, welche Auswirkungen Zeit aufbestimmte Personen hat. Das kann man beispielsweise beobachten, wenn eine Figurin unterschiedlichen Lebensphasen vorgestellt wird. Es ist ein äusserstkompliziertes Thema, und ich habe selbst noch nicht alle Antworten daraufgefunden, wie der Aspekt Zeit meine Werke beeinflusst. Ich bin mir jedochsicher, dass er zu einem grossen Teil meinen Stil und den Charakter meinerGeschichten bestimmt.
Sie leben mit Ihrer Frau und IhrenKindern in der isländischen Hauptstadt Reykjavik. Wie sieht Ihr Leben dort aus?Schreiben Sie jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Stunden? Oder entstehen IhreBücher in einem "Schreibrausch"?
Ich arbeitezuhause. Meine Frau ist Lehrerin, und unsere Kinder gehen in die Schule. Dasheisst also, das ich in den Morgenstunden und am frühen Nachmittag ungestörtbin. Ich versuche, diese Zeit optimal zu nutzen. Ich setze mich morgens anmeinen Computer und arbeite, bis alle nach Hause kommen. Im Sommer oder wennich gerade ein Buch veröffentlicht habe, existiert dieser Tagesablauf natürlichnur in der Theorie. Aber ein Schriftsteller hört nie wirklich auf zu arbeiten -Tag und Nacht gehen einem Ideen im Kopf herum. Es ist ein nahezu aussichtslosesUnterfangen, Urlaub machen zu wollen - aber wir bemühen uns natürlich. Wenn ichschreibe, habe ich einige grundlegende Vorstellungen, was in dem Buch passierenwird. Bei "Todeshauch" war mir von Anfang an klar, dass es darin um häuslicheGewalt gehen soll, und dass sich die Geschichte in zwei verschiedenen Zeitenabspielen wird. Aber bevor ich mit dem Schreiben beginne, muss ich nichtwissen, wie das Buch endet. Alle kleinen Details und Personen, die darinvorkommen, entstehen wirklich in einer Art Schreibrausch.
Island gilt als vergleichsweisefriedlicher Ort. Wie kamen Sie auf die Idee, Kriminalromane zu schreiben?
Bei meinemersten Buch hatte ich eine Idee und wollte einfach wissen, ob ich dazu in derLage bin, sie auch zu Papier zu bringen. Es ging dabei um illegaleMedikamententests in einer Grundschule. Ich habe diese Geschichte schliesslichaufgeschrieben, und sie entwickelte sich zu einem Krimi. Bis zu dieser Zeit warin Island so gut wie kein einziger Kriminalroman veröffentlicht worden. MeinBuch wurde weder sonderlich gut besprochen, noch verkaufte es sich gut. Das hatmich jedoch nicht davon abgehalten, die Reihe um Erlendurzu entwickeln, die letztendlich sehr beliebt wurde. Ich weiss nicht, ob Islandals ein friedlicher Ort bezeichnet werden kann. Manchmal ist es das, manchmalaber auch nicht. Auf jeden Fall ist es ein faszinierendes Land für einenKrimiautor. Aber ich finde es auch nicht so entscheidend, wo die Geschichtespielt. Es kommt darauf an, dass sie gut ist. Ich glaube, die Tatsache, dassmeine Krimis in Island, bzw. in Reykjavik spielen, gibt meinen Büchern einezusätzliche Note. Ich versuche, diese Besonderheit als ein entscheidendesElement herauszuarbeiten. Ich bin eben Isländer, und die erste Regel, die einSchriftsteller befolgen sollte, ist, über das zu schreiben, was er kennt.
In Ihrer Heimat Island haben Siegrossen Erfolg, mehrere Ihrer Bücher finden sich in den Bestsellerlisten. Wieist es, auf einer Insel mit knapp 290.000 Einwohnern ein bekannterSchriftsteller zu sein? Sind Sie eine Art Nationalheld?
Ich habe wirklich keine Ahnung. Für einen Schriftsteller istes natürlich sehr schön, wenn seine Bücher gelesen und geschätzt werden. Ichbin sehr dankbar für das grosse Interesse der Isländer an meiner Arbeit. Es gibtmir das Gefühl, dass ich das Richtige tue.
Die Fragen stellteUlrike Künnecke, literaturtest.de.
- Autor: Arnaldur Indridason
- 2011, 10. Aufl., 352 Seiten, Masse: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Coletta Bürling
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404155300
- ISBN-13: 9783404155309
- Erscheinungsdatum: 05.07.2006
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