Knapp am Herz vorbei
Roman
New York, Weihnachten 1969. Willie Sutton packt seine Bücher ein und räumt die Zelle. Endlich Freiheit. Nach siebzehn Jahren. Mit einem Fotografen und einem Reporter fährt er durch das verschneite New York auf den Spuren seiner legendären Vergangenheit:...
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Knapp am Herz vorbei “
Klappentext zu „Knapp am Herz vorbei “
New York, Weihnachten 1969. Willie Sutton packt seine Bücher ein und räumt die Zelle. Endlich Freiheit. Nach siebzehn Jahren. Mit einem Fotografen und einem Reporter fährt er durch das verschneite New York auf den Spuren seiner legendären Vergangenheit: seine zahlreichen, gewaltlosen Banküberfälle und immer wieder seine grosse Liebe Bess. Wie ein Puzzle setzt sich Seite für Seite Suttons Leben zusammen. Was dabei Wirklichkeit und was Erfindung war, werden wir nie erfahren. Aber was macht das schon.»Jede Szene dieses Buches ist prall gefüllt mit Leben.«Publishers Weekly»Ich war von Willie Sutton fasziniert seit ich ein Junge war. Er war eine Legende, er kam aus genauso kleinen Verhältnissen wie ich, er war für mich der Inbegriff von New York. Meine Grosseltern und alle Männer aus Onkel Charlies Bar sprachen voller Bewunderung von Sutton, als wäre er der moderne Robin Hood. Aber am meisten zog mich dieser Mann in seinen Bann, weil er der literarischste Kriminelle der amerikanischen Geschichte war. Er verbrachte den Grossteil seiner Zeit mit Lesen, ging alle zwei Wochen ins Kino, alle sechs Monate ins Theater, besuchte Footballspiele, machte lange Ausflüge mit dem Auto und rauchte, las Klassiker.« J.R. Moehringer
Lese-Probe zu „Knapp am Herz vorbei “
Knapp am Herz vorbei von Moehringer, J. R.TEIL EINS
So war zu Anfang die ganze Welt Amerika; denn nirgendwo kannte man etwas wie Geld.
JOHN LOCKE, Über die Regierung
EINS
... mehr
Er schreibt gerade, als sie ihn holen kommen.
Er sitzt an seinem Metallschreibtisch, gebeugt über einen gelben Notizblock, spricht mit sich und mit ihr - wie immer mit ihr. Deshalb merkt er nicht, dass sie an der Tür stehen. Bis sie mit ihren Stöcken an den Gitterstäben rasseln.
Er blickt auf und rückt seine große verkratzte Brille mit dem oft geklebten Steg zurecht. Zwei Wärter stehen nebeneinander da - der linke dick, teigig und blass, wie aus Schmalz gemacht, der rechte groß und schlank, mit einem pfenniggroßen Leberfleck auf der rechten Wange.
Linker Wärter zieht seinen Hosenbund hoch. Auf die Füße, Sutton. Die Verwaltung will dich sprechen.
Sutton steht auf.
Rechter Wärter zeigt mit dem Schlagstock auf ihn. Was zum! Du heulst ja, Sutton.
Nein, Sir.
Lüg mich nicht an, Sutton. Ich seh, dass du geheult hast.
Sutton fasst sich an die Wange. Seine Finger werden nass. Mir war nicht bewusst, dass ich heule, Sir.
Rechter Wärter wedelt mit dem Schlagstock in Richtung Notizblock. Was ist das?
Nichts, Sir.
Er hat dich gefragt, was das ist, sagt Linker Wärter.
Sutton merkt, wie sein schlimmes Bein nachgibt, und beißt vor Schmerz die Zähne zusammen. Mein Roman, Sir.
Sie sehen sich in seiner mit Büchern gefüllten Zelle um. Er folgt ihrem Blick. Es ist nie gut, wenn die Wärter sich in deiner Zelle umsehen. Wenn sie wollen, finden sie immer was. Sie schauen erbost auf die Bücher am Boden, die Bücher auf dem Metallschrank, die Bücher am Kaltwasserbecken. Suttons Zelle ist die einzige in Attica, in der Ausgaben von Dante, Platon, Shakespeare und Freud stehen. Nein, seinen Freud haben sie konfisziert. Häftlinge dürfen keine Psychologiebücher besitzen. Der Direktor glaubt, sie könnten sich gegenseitig hypnotisieren.
Rechter Wärter grinst. Er stupst seinen Kollegen an - zieh dir das rein. Sein Roman! Wovon handelt er denn?
Ach, Sie wissen schon. Vom Leben, Sir.
Was zum Teufel weiß ein alter Knacki wie du schon vom Leben?
Sutton zuckt die Schultern. Sie haben recht, Sir. Aber was weiß überhaupt irgendjemand davon?
Es spricht sich schnell herum. Gegen Mittag sind bereits zehn, zwölf Zeitungsreporter da und stehen dichtgedrängt am Hauptportal, stampfen mit den Füßen, pusten sich auf die Finger. Einer sagt, er habe eben gehört, es gebe Schnee. Und nicht zu knapp. Mindestens zwanzig Zentimeter.
Sie stöhnen alle.
Es ist zu kalt zum Schneien, sagt der Veteran in der Gruppe, ein alter Haudegen einer Presseagentur in Hosenträgern und schwarzen orthopädischen Schuhen, der seit dem Scopes-Prozess bei UPI arbeitet. Er fluppt einen Spuckebatzen auf den gefrorenen Boden und blickt missmutig zu den Wolken, dann zum Hauptwachturm, der einige an das neue Dornröschenschloss in Disneyland erinnert.
Es ist zu kalt, um hier draußen zu stehen, sagt der Reporter der New York Post. Er nuschelt etwas Abfälliges über den Gefängnisdirektor, der den Pressevertretern dreimal den Zutritt zum Gefängnis verwehrt hat. Die Reporter könnten jetzt heißen Kaffee trinken. Sie könnten die Telefone benutzen, letzte Pläne für Weihnachten schmieden. Stattdessen will der Gefängnisdirektor irgendetwas beweisen. Warum, fragen sie alle, warum?
Weil der Gefängnisdirektor ein Arschloch ist, sagt der Reporter von Time, darum.
Der Reporter von Look hält Daumen und Zeigefinger knapp auseinander. Gib einem Bürokraten so viel Macht, sagt er, und dann Vorsicht. Zieh dich warm an.
Nicht nur Bürokraten sind so gestrickt, sagt der Reporter der New York Times. Alle Chefs werden irgendwann Faschisten. Das ist die menschliche Natur.
Die Reporter tauschen Horrorgeschichten über ihre Chefs und Ressortleiter aus, elende Schwachköpfe, die ihnen diesen gottverdammten Auftrag eingebrockt haben. Unter Journalisten gibt es einen neuen Ausdruck, der erst in diesem Jahr aus dem Krieg in Asien übernommen wurde und oft für solche Einsätze verwendet wird, Einsätze, bei denen man im Pulk wartet, gewöhnlich im Freien, Wind und Wetter ausgesetzt, im vollen Bewusstsein, dass man nichts Nennenswertes erfährt und schon gar nichts, was der Rest nicht auch erfahren würde. Der Ausdruck heißt Clusterfuck. Jeder Reporter gerät hin und wieder in einen Clusterfuck, das gehört zum Job, aber ein Clusterfuck an Heiligabend? Vor der Attica Correctional Facility? Das ist uncool, sagt der Reporter von der Village Voice. Sehr uncool.
Besonders sauer sind die Reporter auf den Oberboss, Gouverneur Nelson Rockefeller. Der mit seiner Buddy-Holly-Brille und der chronischen Unentschiedenheit. Gouverneur Hamlet, sagt der Reporter von UPI und grinst in Richtung Mauer. Bringt er es oder nicht?
Er brüllt in Richtung Dornröschenschloss: Mach zu oder komm runter vom Pott, Nelson! Stuhlgang oder Abgang!
Die Reporter nicken, grummeln, nicken. Sie werden unruhig, genau wie die Häftlinge auf der anderen Seite der neun Meter hohen Mauer. Die Häftlinge wollen raus, die Reporter wollen rein, und Schuld geben beide Gruppen der Polizei. Frierend, müde, wütend und von der Gesellschaft geächtet, stehen beide Gruppen kurz vor dem Aufruhr. Und beide sehen nicht den schönen Mond, der langsam über dem Gefängnis aufgeht.
Ein Vollmond.
Die Wärter führen Sutton von seiner Zelle in Block D durch eine Gittertür in einen Tunnel und zur Kommandozentrale - von den Häftlingen Times Square genannt -, die zu allen Zellenblocks und Büros führt. Vom Times Square wird Sutton zum Büro des stellvertretenden Gefängnisdirektors gebracht. Es ist das zweite Mal, dass er in diesem Monat zum Vize gerufen wird. Letzte Woche teilte man ihm mit, dass sein Begnadigungsgesuch abgelehnt worden sei - ein böser Schlag. Sutton und seine Anwälte waren sich ihrer Sache so sicher gewesen. Sie hatten die Fürsprache prominenter Richter gewonnen, hatten Schwachstellen in den Schuldsprüchen entdeckt und Briefe von Ärzten gesammelt, die attestierten, dass Sutton todkrank war. Doch die dreiköpfige Begnadigungskommission sagte nein.
Der Vize sitzt an seinem Schreibtisch und schenkt sich die Mühe aufzublicken. Hallo, Willie.
Hallo, Sir.
Sieht so aus, als hätten wir Startfreigabe.
Sir?
Der Vize deutet mit wedelnder Hand über die verstreuten Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Das sind deine Papiere. Du wirst entlassen.
Sutton blinzelt und massiert sein Bein. Ent-lassen? Von wem, Sir?
Der Vize blickt auf und seufzt. Vom Leiter der Gefängnisbehörde. Oder von Rockefeller. Oder von beiden. Albany hat noch nicht entschieden, wie sie die Sache verkaufen wollen. Als Ex-Banker weiß der Gouverneur nicht so recht, ob er seinen Namen druntersetzen soll. Aber der Leiter der Gefängnisbehörde will sich nicht über den Begnadigungsausschuss hinwegsetzen. So oder so, sie lassen dich laufen.
Laufen? Warum?
Woher soll ich das wissen. Ist mir scheißegal.
Und wann, Sir?
Heute Abend. Wenn das Telefon aufhört zu klingeln und die Reporter mir nicht mehr im Nacken hängen, dass sie mein Gefängnis als privates Fernsehzimmer benutzen wollen. Wenn die verfluchten Formulare ausgefüllt sind.
Sutton mustert den Vize. Dann die Wärter. Soll das ein Scherz sein? Nein, sie wirken ganz ernst.
Der Vize wendet sich wieder seinen Papieren zu. Viel Glück, Willie.
Die Wärter führen Sutton zum Anstaltsschneider. Jeder Mann, der aus einem Gefängnis im Staat New York entlassen wird, bekommt einen Entlassungsanzug, eine mindestens hundert Jahre zurückreichende Tradition. Das letzte Mal hatte man Suttons Maße für einen Entlassungsanzug genommen, als Calvin Coolidge Präsident war.
Sutton steht vor dem dreiteiligen Spiegel des Schneiders. Ein Schock. In den letzten Jahren stand er nicht oft vor Spiegeln, und er kann nicht glauben, was er sieht. Da ist sein rundes Gesicht, das glatte graue Haar, die verhasste Nase - zu groß, zu breit, mit unterschiedlich großen Nasenlöchern -, und da ist die große rote Verdickung auf seinem Augenlid, die in jedem Polizeibericht und FBI- Flugblatt kurz nach dem Ersten Weltkrieg erwähnt wurde. Aber das ist nicht er - unmöglich. Sutton hatte sich immer viel auf eine gewisse Verwegenheit in seinem Äußeren eingebildet, auch in Handschellen. Und selbst in Gefängniskluft war es ihm stets gelungen, elegant und weltgewandt zu erscheinen. Jetzt dagegen, mit achtundsechzig Jahren, sieht er in dem dreiteiligen Spiegel nichts mehr von Verwegenheit, Eleganz und Weltgewandtheit. Er ist ein Strichmännchen mit Tränensäcken. Er sieht aus wie Felix der Kater. Selbst der bleistiftdünne Schnurrbart, auf den er früher so stolz war, ähnelt den Schnurrhaaren des Cartoonkaters.
Der Schneider, mit einem grünen Maßband um den Hals, tritt zu Sutton. Er ist ein alter Italiener aus der Bronx mit zwei fingerhutgroßen Schneidezähnen. Beim Reden klimpert er mit einer Handvoll Knöpfen und Münzen in seiner Tasche.
Sie lassen dich also raus, Willie.
Sieht so aus.
Wie lange warst du hier?
Siebzehn Jahre.
Und wann hattest du das letzte Mal einen neuen Anzug?
Oh. Vor zwanzig Jahren. Wenn ich früher gut bei Kasse war, trug ich nur maßgeschneiderte Anzüge. Und Seidenhemden. Von D'Andrea Brothers.
Er erinnert sich noch an die Adresse: Fifth Avenue 587. Und an die Telefonnummer. Murray Hill 5-5332.
Ja, sagt Schneider, D'Andrea, die waren wirklich gut. Ich hab noch einen Smoking von D'Andrea. Steig mal auf das Podest.
Sutton gehorcht ächzend. Ein Anzug, sagt er. Mein Gott, und ich dachte, das nächste Mal nehmen sie für mein Leichenhemd Maß.
Ich mach keine Leichenhemden, sagt Schneider. Da sieht ja keiner meine Arbeit.
Sutton schaut stirnrunzelnd auf die drei gespiegelten Schneider. Reicht es nicht, wenn man gute Arbeit leistet? Muss man sie unbedingt sehen?
Schneider legt sein Maßband quer über Suttons Schultern, dann längs über den Arm. Zeig mir einen Künstler, sagt er, der nicht gelobt werden will.
Sutton nickt. So ging's mir früher auch mit meinen Banküberfällen.
Schneider betrachtet das Triptychon der gespiegelten Suttons und zwinkert dem mittleren zu. Dann legt er das Maßband über Suttons schlimmes Bein. Innenbeinlänge sechsundsiebzig, verkündet er. Jacke achtundvierzig.
Als ich hier ankam, hatte ich Größe fünfzig. Ich sollte sie verklagen.
Schneider lacht leise und hustet. Welche Farbe möchtest du, Willie?
Alles außer Grau.
Dann Schwarz. Ich bin froh, dass sie dich rauslassen, Willie. Du hast deine Schuld gezahlt.
Vergib uns unsere Schuld, sagt Willie, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Schneider bekreuzigt sich.
Ist das aus deinem Roman?, fragt Rechter Wärter.
Sutton und Schneider sehen sich an.
Schneider richtet eine Fingerpistole auf Sutton. Frohe Weihnachten, Willie.
Gleichfalls, Kumpel.
Sutton richtet eine Fingerpistole auf Schneider und spannt den Hahn. Peng.
Die Reporter unterhalten sich über Sex, Geld und aktuelle Ereignisse. Altamont, das irre Konzert, wo vier Hippies im Drogenrausch starben - wer ist schuld? Mick Jagger? Die Hells Angels? Dann plaudern sie über ihre erfolgreicheren Kollegen, angefangen bei Norman Mailer. Mailer kandidiert nicht nur als Bürgermeister von New York, er hat außerdem gerade eine Million Dollar Vorschuss für ein Buch über die Mondlandung gekriegt. Mailer - der Typ macht Geschichte zu Fiktion und Fiktion zu Geschichte, und dann bringt er sich noch überall selbst mit ein. Er spielt nach seinen eigenen Regeln, während seine regelgebundenen Kollegen nach Attica geschickt werden und sich die Eier abfrieren. Scheiß Mailer, da sind sich alle einig.
Und scheiß Mond.
Sie pusten sich auf die Finger, ziehen die Krägen hoch und schließen Wetten ab, ob der Gefängnisdirektor wohl jemals öffentlich als Transvestit entlarvt wird. Außerdem wetten sie darauf, was zuerst passiert - ob Sutton entlassen wird oder ob Sutton abkratzt. Der Reporter von der New York Post sagt, Sutton stehe nicht nur an der Schwelle des Todes, er läute auch schon die Glocke und streife sich die Füße auf der Matte ab. Der Reporter von Newsday sagt, die Arterie in Suttons Bein sei irreversibel verstopft, das wisse er von einem Arzt, der mit seinem Schwager Racquetball spielt. Der Reporter von Look sagt, er habe von einem befreundeten Cop in der Bronx gehört, dass Sutton immer noch überall in der Stadt Knete versteckt hält. Die Gefängnisbehörde lässt Sutton frei, und die Cops folgen ihm dann zum Geld.
Auch eine Möglichkeit, die Haushaltskrise zu lösen, sagt der Mann von der Times Union in Albany.
Die Reporter erzählen sich, was sie von Sutton wissen, geben Fakten und Geschichten weiter wie kalte Verpflegung, mit der sie die Nacht durchstehen müssen. Was sie nicht gelesen haben oder aus dem Fernsehen kennen, haben sie von ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gehört. Sutton ist der erste Bankräuber in der Geschichte, dessen Wirkungskreis mehr als eine Generation umspannt, der erste mit einer Langzeitkarriere, die vier Jahrzehnte umfasst. In seiner Glanzzeit war Sutton das Gesicht des amerikanischen Verbrechens, einer von wenigen, die den Sprung vom Staatsfeind zum Volkshelden schafften. Sutton war schlauer als Machine Gun Kelly, vernünftiger als Pretty Boy Floyd, sympathischer als Legs Diamond, friedfertiger als Dutch Schulz, romantischer als Bonnie und Clyde. Er sah Bankraub als hohe Kunst und übte ihn mit der zielstrebigen Leidenschaft eines Künstlers aus. Er glaubte an Analyse, Planung, harte Arbeit. Aber er war auch kreativ, ein Erneuerer, und wie alle großen Künstler erwies er sich als zäher Überlebender. Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen, entwischte jahrelang Polizisten und FBI-Agenten. Er war eine Mischung aus Henry Ford und John Dillinger - mit einem Hauch Houdini, Picasso und Rasputin. Die Reporter wissen alles über seine elegante Kleidung, sein schelmisches Lächeln, seine Liebe zu guten Büchern, das übermütige Schimmern in seinen strahlend blauen Augen, so blau, dass sie in einer Pressemitteilung des FBI einmal als azurblau beschrieben wurden. Nur ein besonderer Bankräuber entlockt dem FBI solche lyrischen Worte.
Was die Reporter nicht wissen und was sie wie die meisten Amerikaner immer gern gewusst hätten: War der für seine Gewaltlosigkeit berühmte Sutton an dem brutalen Unterweltmord an Arnold Schuster beteiligt? Schuster, ein jung aussehender Vierundzwanzigjähriger aus Brooklyn, Baseball-Fan und Veteran der Küstenwache, stieg eines Nachmittags in die falsche U-Bahn und sah sich Sutton gegenüber, dem damals meistgesuchten Mann Amerikas. Drei Wochen später war Schuster tot, und der Mord an ihm ist vielleicht der peinsamste ungeklärte Fall in der New Yorker Kriminalgeschichte. Zumindest ist er der peinsamste Teil der Legende um Sutton.
Die Wärter führen Sutton zurück zur Verwaltung. Ein Beamter stellt ihm zwei Schecks aus. Einen über 146 Dollar, der Lohn für siebzehn Jahre in unterschiedlichen Gefängnisjobs, abzüglich Steuern. Und einen über 40 Dollar, die Kosten für eine Busfahrkarte nach Manhattan. Jeder Haftentlassene bekommt Busgeld nach Manhattan. Sutton nimmt die Schecks - es ist also wirklich so weit. Sein Herz fängt an zu pochen. Sein Bein ebenfalls. Sie pochen sich wechselseitig an wie männliche und weibliche Hauptdarsteller in einer italienischen Oper.
Die Wärter führen ihn zurück in seine Zelle. Du hast fünfzehn Minuten, sagen sie und reichen ihm eine Einkaufstüte.
Er steht in der Mitte seiner Zelle, seinem 2,50 × 1,80 Meter großen Zuhause in den vergangenen siebzehn Jahren. Ist es möglich, dass er heute Nacht nicht hier schläft? Dass er in einem weichen Bett mit sauberen Laken und einem richtigen Kissen schläft, ohne gequälte Seelen über und unter ihm, die vor Ohnmacht, Wut und Raserei heulen, fluchen und flehen? Geräusche von Männern hinter Gittern sind mit nichts vergleichbar. Er stellt die Einkaufstüte auf den Schreibtisch und packt vorsichtig sein Romanmanuskript ein. Dann die Spiralblocks aus seinen Kursen in kreativem Schreiben. Dann die Ausgaben von Dante, Shakespeare, Platon. Dann Kerouac. Im Gefängnis schwört man sich ein Recht auf Leben. Ein Satz, der Sutton durch viele lange Nächte gerettet hat. Dann das Zitatelexikon mit dem berühmtesten Satz des berühmtesten Bankräubers Amerikas: Willie Sutton alias Slick Willie alias Willie the Actor.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Er schreibt gerade, als sie ihn holen kommen.
Er sitzt an seinem Metallschreibtisch, gebeugt über einen gelben Notizblock, spricht mit sich und mit ihr - wie immer mit ihr. Deshalb merkt er nicht, dass sie an der Tür stehen. Bis sie mit ihren Stöcken an den Gitterstäben rasseln.
Er blickt auf und rückt seine große verkratzte Brille mit dem oft geklebten Steg zurecht. Zwei Wärter stehen nebeneinander da - der linke dick, teigig und blass, wie aus Schmalz gemacht, der rechte groß und schlank, mit einem pfenniggroßen Leberfleck auf der rechten Wange.
Linker Wärter zieht seinen Hosenbund hoch. Auf die Füße, Sutton. Die Verwaltung will dich sprechen.
Sutton steht auf.
Rechter Wärter zeigt mit dem Schlagstock auf ihn. Was zum! Du heulst ja, Sutton.
Nein, Sir.
Lüg mich nicht an, Sutton. Ich seh, dass du geheult hast.
Sutton fasst sich an die Wange. Seine Finger werden nass. Mir war nicht bewusst, dass ich heule, Sir.
Rechter Wärter wedelt mit dem Schlagstock in Richtung Notizblock. Was ist das?
Nichts, Sir.
Er hat dich gefragt, was das ist, sagt Linker Wärter.
Sutton merkt, wie sein schlimmes Bein nachgibt, und beißt vor Schmerz die Zähne zusammen. Mein Roman, Sir.
Sie sehen sich in seiner mit Büchern gefüllten Zelle um. Er folgt ihrem Blick. Es ist nie gut, wenn die Wärter sich in deiner Zelle umsehen. Wenn sie wollen, finden sie immer was. Sie schauen erbost auf die Bücher am Boden, die Bücher auf dem Metallschrank, die Bücher am Kaltwasserbecken. Suttons Zelle ist die einzige in Attica, in der Ausgaben von Dante, Platon, Shakespeare und Freud stehen. Nein, seinen Freud haben sie konfisziert. Häftlinge dürfen keine Psychologiebücher besitzen. Der Direktor glaubt, sie könnten sich gegenseitig hypnotisieren.
Rechter Wärter grinst. Er stupst seinen Kollegen an - zieh dir das rein. Sein Roman! Wovon handelt er denn?
Ach, Sie wissen schon. Vom Leben, Sir.
Was zum Teufel weiß ein alter Knacki wie du schon vom Leben?
Sutton zuckt die Schultern. Sie haben recht, Sir. Aber was weiß überhaupt irgendjemand davon?
Es spricht sich schnell herum. Gegen Mittag sind bereits zehn, zwölf Zeitungsreporter da und stehen dichtgedrängt am Hauptportal, stampfen mit den Füßen, pusten sich auf die Finger. Einer sagt, er habe eben gehört, es gebe Schnee. Und nicht zu knapp. Mindestens zwanzig Zentimeter.
Sie stöhnen alle.
Es ist zu kalt zum Schneien, sagt der Veteran in der Gruppe, ein alter Haudegen einer Presseagentur in Hosenträgern und schwarzen orthopädischen Schuhen, der seit dem Scopes-Prozess bei UPI arbeitet. Er fluppt einen Spuckebatzen auf den gefrorenen Boden und blickt missmutig zu den Wolken, dann zum Hauptwachturm, der einige an das neue Dornröschenschloss in Disneyland erinnert.
Es ist zu kalt, um hier draußen zu stehen, sagt der Reporter der New York Post. Er nuschelt etwas Abfälliges über den Gefängnisdirektor, der den Pressevertretern dreimal den Zutritt zum Gefängnis verwehrt hat. Die Reporter könnten jetzt heißen Kaffee trinken. Sie könnten die Telefone benutzen, letzte Pläne für Weihnachten schmieden. Stattdessen will der Gefängnisdirektor irgendetwas beweisen. Warum, fragen sie alle, warum?
Weil der Gefängnisdirektor ein Arschloch ist, sagt der Reporter von Time, darum.
Der Reporter von Look hält Daumen und Zeigefinger knapp auseinander. Gib einem Bürokraten so viel Macht, sagt er, und dann Vorsicht. Zieh dich warm an.
Nicht nur Bürokraten sind so gestrickt, sagt der Reporter der New York Times. Alle Chefs werden irgendwann Faschisten. Das ist die menschliche Natur.
Die Reporter tauschen Horrorgeschichten über ihre Chefs und Ressortleiter aus, elende Schwachköpfe, die ihnen diesen gottverdammten Auftrag eingebrockt haben. Unter Journalisten gibt es einen neuen Ausdruck, der erst in diesem Jahr aus dem Krieg in Asien übernommen wurde und oft für solche Einsätze verwendet wird, Einsätze, bei denen man im Pulk wartet, gewöhnlich im Freien, Wind und Wetter ausgesetzt, im vollen Bewusstsein, dass man nichts Nennenswertes erfährt und schon gar nichts, was der Rest nicht auch erfahren würde. Der Ausdruck heißt Clusterfuck. Jeder Reporter gerät hin und wieder in einen Clusterfuck, das gehört zum Job, aber ein Clusterfuck an Heiligabend? Vor der Attica Correctional Facility? Das ist uncool, sagt der Reporter von der Village Voice. Sehr uncool.
Besonders sauer sind die Reporter auf den Oberboss, Gouverneur Nelson Rockefeller. Der mit seiner Buddy-Holly-Brille und der chronischen Unentschiedenheit. Gouverneur Hamlet, sagt der Reporter von UPI und grinst in Richtung Mauer. Bringt er es oder nicht?
Er brüllt in Richtung Dornröschenschloss: Mach zu oder komm runter vom Pott, Nelson! Stuhlgang oder Abgang!
Die Reporter nicken, grummeln, nicken. Sie werden unruhig, genau wie die Häftlinge auf der anderen Seite der neun Meter hohen Mauer. Die Häftlinge wollen raus, die Reporter wollen rein, und Schuld geben beide Gruppen der Polizei. Frierend, müde, wütend und von der Gesellschaft geächtet, stehen beide Gruppen kurz vor dem Aufruhr. Und beide sehen nicht den schönen Mond, der langsam über dem Gefängnis aufgeht.
Ein Vollmond.
Die Wärter führen Sutton von seiner Zelle in Block D durch eine Gittertür in einen Tunnel und zur Kommandozentrale - von den Häftlingen Times Square genannt -, die zu allen Zellenblocks und Büros führt. Vom Times Square wird Sutton zum Büro des stellvertretenden Gefängnisdirektors gebracht. Es ist das zweite Mal, dass er in diesem Monat zum Vize gerufen wird. Letzte Woche teilte man ihm mit, dass sein Begnadigungsgesuch abgelehnt worden sei - ein böser Schlag. Sutton und seine Anwälte waren sich ihrer Sache so sicher gewesen. Sie hatten die Fürsprache prominenter Richter gewonnen, hatten Schwachstellen in den Schuldsprüchen entdeckt und Briefe von Ärzten gesammelt, die attestierten, dass Sutton todkrank war. Doch die dreiköpfige Begnadigungskommission sagte nein.
Der Vize sitzt an seinem Schreibtisch und schenkt sich die Mühe aufzublicken. Hallo, Willie.
Hallo, Sir.
Sieht so aus, als hätten wir Startfreigabe.
Sir?
Der Vize deutet mit wedelnder Hand über die verstreuten Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Das sind deine Papiere. Du wirst entlassen.
Sutton blinzelt und massiert sein Bein. Ent-lassen? Von wem, Sir?
Der Vize blickt auf und seufzt. Vom Leiter der Gefängnisbehörde. Oder von Rockefeller. Oder von beiden. Albany hat noch nicht entschieden, wie sie die Sache verkaufen wollen. Als Ex-Banker weiß der Gouverneur nicht so recht, ob er seinen Namen druntersetzen soll. Aber der Leiter der Gefängnisbehörde will sich nicht über den Begnadigungsausschuss hinwegsetzen. So oder so, sie lassen dich laufen.
Laufen? Warum?
Woher soll ich das wissen. Ist mir scheißegal.
Und wann, Sir?
Heute Abend. Wenn das Telefon aufhört zu klingeln und die Reporter mir nicht mehr im Nacken hängen, dass sie mein Gefängnis als privates Fernsehzimmer benutzen wollen. Wenn die verfluchten Formulare ausgefüllt sind.
Sutton mustert den Vize. Dann die Wärter. Soll das ein Scherz sein? Nein, sie wirken ganz ernst.
Der Vize wendet sich wieder seinen Papieren zu. Viel Glück, Willie.
Die Wärter führen Sutton zum Anstaltsschneider. Jeder Mann, der aus einem Gefängnis im Staat New York entlassen wird, bekommt einen Entlassungsanzug, eine mindestens hundert Jahre zurückreichende Tradition. Das letzte Mal hatte man Suttons Maße für einen Entlassungsanzug genommen, als Calvin Coolidge Präsident war.
Sutton steht vor dem dreiteiligen Spiegel des Schneiders. Ein Schock. In den letzten Jahren stand er nicht oft vor Spiegeln, und er kann nicht glauben, was er sieht. Da ist sein rundes Gesicht, das glatte graue Haar, die verhasste Nase - zu groß, zu breit, mit unterschiedlich großen Nasenlöchern -, und da ist die große rote Verdickung auf seinem Augenlid, die in jedem Polizeibericht und FBI- Flugblatt kurz nach dem Ersten Weltkrieg erwähnt wurde. Aber das ist nicht er - unmöglich. Sutton hatte sich immer viel auf eine gewisse Verwegenheit in seinem Äußeren eingebildet, auch in Handschellen. Und selbst in Gefängniskluft war es ihm stets gelungen, elegant und weltgewandt zu erscheinen. Jetzt dagegen, mit achtundsechzig Jahren, sieht er in dem dreiteiligen Spiegel nichts mehr von Verwegenheit, Eleganz und Weltgewandtheit. Er ist ein Strichmännchen mit Tränensäcken. Er sieht aus wie Felix der Kater. Selbst der bleistiftdünne Schnurrbart, auf den er früher so stolz war, ähnelt den Schnurrhaaren des Cartoonkaters.
Der Schneider, mit einem grünen Maßband um den Hals, tritt zu Sutton. Er ist ein alter Italiener aus der Bronx mit zwei fingerhutgroßen Schneidezähnen. Beim Reden klimpert er mit einer Handvoll Knöpfen und Münzen in seiner Tasche.
Sie lassen dich also raus, Willie.
Sieht so aus.
Wie lange warst du hier?
Siebzehn Jahre.
Und wann hattest du das letzte Mal einen neuen Anzug?
Oh. Vor zwanzig Jahren. Wenn ich früher gut bei Kasse war, trug ich nur maßgeschneiderte Anzüge. Und Seidenhemden. Von D'Andrea Brothers.
Er erinnert sich noch an die Adresse: Fifth Avenue 587. Und an die Telefonnummer. Murray Hill 5-5332.
Ja, sagt Schneider, D'Andrea, die waren wirklich gut. Ich hab noch einen Smoking von D'Andrea. Steig mal auf das Podest.
Sutton gehorcht ächzend. Ein Anzug, sagt er. Mein Gott, und ich dachte, das nächste Mal nehmen sie für mein Leichenhemd Maß.
Ich mach keine Leichenhemden, sagt Schneider. Da sieht ja keiner meine Arbeit.
Sutton schaut stirnrunzelnd auf die drei gespiegelten Schneider. Reicht es nicht, wenn man gute Arbeit leistet? Muss man sie unbedingt sehen?
Schneider legt sein Maßband quer über Suttons Schultern, dann längs über den Arm. Zeig mir einen Künstler, sagt er, der nicht gelobt werden will.
Sutton nickt. So ging's mir früher auch mit meinen Banküberfällen.
Schneider betrachtet das Triptychon der gespiegelten Suttons und zwinkert dem mittleren zu. Dann legt er das Maßband über Suttons schlimmes Bein. Innenbeinlänge sechsundsiebzig, verkündet er. Jacke achtundvierzig.
Als ich hier ankam, hatte ich Größe fünfzig. Ich sollte sie verklagen.
Schneider lacht leise und hustet. Welche Farbe möchtest du, Willie?
Alles außer Grau.
Dann Schwarz. Ich bin froh, dass sie dich rauslassen, Willie. Du hast deine Schuld gezahlt.
Vergib uns unsere Schuld, sagt Willie, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Schneider bekreuzigt sich.
Ist das aus deinem Roman?, fragt Rechter Wärter.
Sutton und Schneider sehen sich an.
Schneider richtet eine Fingerpistole auf Sutton. Frohe Weihnachten, Willie.
Gleichfalls, Kumpel.
Sutton richtet eine Fingerpistole auf Schneider und spannt den Hahn. Peng.
Die Reporter unterhalten sich über Sex, Geld und aktuelle Ereignisse. Altamont, das irre Konzert, wo vier Hippies im Drogenrausch starben - wer ist schuld? Mick Jagger? Die Hells Angels? Dann plaudern sie über ihre erfolgreicheren Kollegen, angefangen bei Norman Mailer. Mailer kandidiert nicht nur als Bürgermeister von New York, er hat außerdem gerade eine Million Dollar Vorschuss für ein Buch über die Mondlandung gekriegt. Mailer - der Typ macht Geschichte zu Fiktion und Fiktion zu Geschichte, und dann bringt er sich noch überall selbst mit ein. Er spielt nach seinen eigenen Regeln, während seine regelgebundenen Kollegen nach Attica geschickt werden und sich die Eier abfrieren. Scheiß Mailer, da sind sich alle einig.
Und scheiß Mond.
Sie pusten sich auf die Finger, ziehen die Krägen hoch und schließen Wetten ab, ob der Gefängnisdirektor wohl jemals öffentlich als Transvestit entlarvt wird. Außerdem wetten sie darauf, was zuerst passiert - ob Sutton entlassen wird oder ob Sutton abkratzt. Der Reporter von der New York Post sagt, Sutton stehe nicht nur an der Schwelle des Todes, er läute auch schon die Glocke und streife sich die Füße auf der Matte ab. Der Reporter von Newsday sagt, die Arterie in Suttons Bein sei irreversibel verstopft, das wisse er von einem Arzt, der mit seinem Schwager Racquetball spielt. Der Reporter von Look sagt, er habe von einem befreundeten Cop in der Bronx gehört, dass Sutton immer noch überall in der Stadt Knete versteckt hält. Die Gefängnisbehörde lässt Sutton frei, und die Cops folgen ihm dann zum Geld.
Auch eine Möglichkeit, die Haushaltskrise zu lösen, sagt der Mann von der Times Union in Albany.
Die Reporter erzählen sich, was sie von Sutton wissen, geben Fakten und Geschichten weiter wie kalte Verpflegung, mit der sie die Nacht durchstehen müssen. Was sie nicht gelesen haben oder aus dem Fernsehen kennen, haben sie von ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gehört. Sutton ist der erste Bankräuber in der Geschichte, dessen Wirkungskreis mehr als eine Generation umspannt, der erste mit einer Langzeitkarriere, die vier Jahrzehnte umfasst. In seiner Glanzzeit war Sutton das Gesicht des amerikanischen Verbrechens, einer von wenigen, die den Sprung vom Staatsfeind zum Volkshelden schafften. Sutton war schlauer als Machine Gun Kelly, vernünftiger als Pretty Boy Floyd, sympathischer als Legs Diamond, friedfertiger als Dutch Schulz, romantischer als Bonnie und Clyde. Er sah Bankraub als hohe Kunst und übte ihn mit der zielstrebigen Leidenschaft eines Künstlers aus. Er glaubte an Analyse, Planung, harte Arbeit. Aber er war auch kreativ, ein Erneuerer, und wie alle großen Künstler erwies er sich als zäher Überlebender. Er floh aus drei Hochsicherheitsgefängnissen, entwischte jahrelang Polizisten und FBI-Agenten. Er war eine Mischung aus Henry Ford und John Dillinger - mit einem Hauch Houdini, Picasso und Rasputin. Die Reporter wissen alles über seine elegante Kleidung, sein schelmisches Lächeln, seine Liebe zu guten Büchern, das übermütige Schimmern in seinen strahlend blauen Augen, so blau, dass sie in einer Pressemitteilung des FBI einmal als azurblau beschrieben wurden. Nur ein besonderer Bankräuber entlockt dem FBI solche lyrischen Worte.
Was die Reporter nicht wissen und was sie wie die meisten Amerikaner immer gern gewusst hätten: War der für seine Gewaltlosigkeit berühmte Sutton an dem brutalen Unterweltmord an Arnold Schuster beteiligt? Schuster, ein jung aussehender Vierundzwanzigjähriger aus Brooklyn, Baseball-Fan und Veteran der Küstenwache, stieg eines Nachmittags in die falsche U-Bahn und sah sich Sutton gegenüber, dem damals meistgesuchten Mann Amerikas. Drei Wochen später war Schuster tot, und der Mord an ihm ist vielleicht der peinsamste ungeklärte Fall in der New Yorker Kriminalgeschichte. Zumindest ist er der peinsamste Teil der Legende um Sutton.
Die Wärter führen Sutton zurück zur Verwaltung. Ein Beamter stellt ihm zwei Schecks aus. Einen über 146 Dollar, der Lohn für siebzehn Jahre in unterschiedlichen Gefängnisjobs, abzüglich Steuern. Und einen über 40 Dollar, die Kosten für eine Busfahrkarte nach Manhattan. Jeder Haftentlassene bekommt Busgeld nach Manhattan. Sutton nimmt die Schecks - es ist also wirklich so weit. Sein Herz fängt an zu pochen. Sein Bein ebenfalls. Sie pochen sich wechselseitig an wie männliche und weibliche Hauptdarsteller in einer italienischen Oper.
Die Wärter führen ihn zurück in seine Zelle. Du hast fünfzehn Minuten, sagen sie und reichen ihm eine Einkaufstüte.
Er steht in der Mitte seiner Zelle, seinem 2,50 × 1,80 Meter großen Zuhause in den vergangenen siebzehn Jahren. Ist es möglich, dass er heute Nacht nicht hier schläft? Dass er in einem weichen Bett mit sauberen Laken und einem richtigen Kissen schläft, ohne gequälte Seelen über und unter ihm, die vor Ohnmacht, Wut und Raserei heulen, fluchen und flehen? Geräusche von Männern hinter Gittern sind mit nichts vergleichbar. Er stellt die Einkaufstüte auf den Schreibtisch und packt vorsichtig sein Romanmanuskript ein. Dann die Spiralblocks aus seinen Kursen in kreativem Schreiben. Dann die Ausgaben von Dante, Shakespeare, Platon. Dann Kerouac. Im Gefängnis schwört man sich ein Recht auf Leben. Ein Satz, der Sutton durch viele lange Nächte gerettet hat. Dann das Zitatelexikon mit dem berühmtesten Satz des berühmtesten Bankräubers Amerikas: Willie Sutton alias Slick Willie alias Willie the Actor.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
... weniger
Autoren-Porträt von J. R. Moehringer
Moehringer, J.R.J.R. Moehringer führte mit seinem ersten Buch 'Tender Bar' weltweit monatelang die Bestsellerlisten an. Er wurde 1964 in New York geboren, er studierte in Yale und war Reporter bei der Los Angeles Times. 2000 gewann er den Pulitzer-Preis.Jakobeit, Brigitte
Brigitte Jakobeit, Jahrgang 1955, lebt in Hamburg und übersetzt seit 1990 englischsprachige Literatur, darunter die Autobiographien von Miles Davis und Milos Forman sowie Bücher von John Boyne, Paula Fox, Alistair MacLeod, Audrey Niffenegger, J. R. Moehringer und Jonathan Safran Foer.
Bibliographische Angaben
- Autor: J. R. Moehringer
- 2014, 2. Aufl., Masse: 12,9 x 19,2 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Jakobeit, Brigitte
- Übersetzer: Brigitte Jakobeit
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596195837
- ISBN-13: 9783596195831
- Erscheinungsdatum: 24.04.2014
Rezension zu „Knapp am Herz vorbei “
nichts anderes als grosse Literatur. [...] Meister des Erzählens. Peter Huber Die Presse 20130413
Kommentar zu "Knapp am Herz vorbei"
0 Gebrauchte Artikel zu „Knapp am Herz vorbei“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
2 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Knapp am Herz vorbei".
Kommentar verfassen