Die Zahlen der Toten / Kate Burkholder Bd.1
Thriller | Kate Burkholder ermittelt bei den Amischen: Band 1 der SPIEGEL-Bestseller-Reihe
Die brutal zugerichtete Leiche einer Frau wird gefunden, in den Bauch wurde ihr eine römische Zahl geritzt. Polizeichefin Kate Burkholder ist entsetzt. Ist etwa der "Schlächter" wieder zurück, der vor 16 Jahren mehrere Frauen tötete? Kate hat keine Zeit zu verlieren.
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Produktinformationen zu „Die Zahlen der Toten / Kate Burkholder Bd.1 “
Die brutal zugerichtete Leiche einer Frau wird gefunden, in den Bauch wurde ihr eine römische Zahl geritzt. Polizeichefin Kate Burkholder ist entsetzt. Ist etwa der "Schlächter" wieder zurück, der vor 16 Jahren mehrere Frauen tötete? Kate hat keine Zeit zu verlieren.
Klappentext zu „Die Zahlen der Toten / Kate Burkholder Bd.1 “
Die verstümmelte Leiche der jungen Frau liegt auf einem schneebedeckten Feld. Ihr Mörder hat sie regelrecht abgeschlachtet und ihr eine römische Zahl in den Bauch geritzt. Fassungslos steht Kate Burkholder, die neue Polizeichefin im verschlafenen Painters Mill, Ohio, vor der grausig anmutenden Szenerie. Kann es wahr sein? Ist der, den sie damals den "Schlächter" nannten, und der vor 16 Jahren mehrere junge Frauen auf bestialische Weise tötete, wieder zurück? Für Kate steht jetzt alles auf dem Spiel: Sie muss den Mörder so schnell wie möglich finden. Doch dann muss sie auch ein Geheimnis preisgeben, das sie ihre Familie und ihren Job kosten könnte.
Lese-Probe zu „Die Zahlen der Toten / Kate Burkholder Bd.1 “
Die Zahlen der Toten von Linda CastilloPROLOG
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Mit sechs hatte sie aufgehört, an Monster zu glauben, und ihre Mutter musste abends nicht mehr unterm Bett und im Schrank nachsehen. Jetzt, mit einundzwanzig, lag sie nackt, gefesselt und grausam gequält auf einem eiskalten Betonboden und wurde eines Besseren belehrt.
Um sie herum war es stockdunkel. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie zitterte am ganzen Leib. Ihre Zähne klapperten. Bei jedem auch noch so kleinen Geräusch fürchtete sie die Rückkehr des Ungeheuers.
Anfangs hatte sie noch gehofft, sie könnte fliehen oder ihren Entführer überreden, sie laufen zu lassen. Doch inzwischen hatte die Realität sie eingeholt. Sie wusste, dass das hier nicht gut enden konnte. Es würde keine Verhandlungen geben, keine Rettung durch die Polizei, keine Begnadigung in letzter Minute. Das Monster würde sie töten. Die Frage war nur noch, wann. Aber das Warten war fast so höllisch wie der Tod selbst.
Sie wusste nicht, wo sie war oder wie lange das alles schon dauerte, hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Allein den Gestank nach verrottetem Fleisch und das höhlenartige Echo noch des kleinsten Lautes nahm sie überdeutlich wahr.
Sie war heiser vom Schreien, erschöpft vom Kämpfen und demoralisiert von den Qualen, die er ihr zugefügt hatte. Eigentlich wollte sie einfach nur noch schnell sterben, aber lieber Gott, wie sehr sie doch am Leben hing ...
»Mama«, flüsterte sie.
Über den Tod hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Sie war voller Träume gewesen, hatte der Zukunft hoffnungsvoll entgegengesehen und fest daran geglaubt, dass es morgen noch schöner sein würde als heute. Doch jetzt lag sie in der kalten Lache ihres eigenen Urins und akzeptierte, dass es kein Morgen mehr für sie gab. Keine Hoffnung und keine Zukunft. Nur das Grauen über ihren bevorstehenden Tod und dessen Unausweichlichkeit.
Sie lag auf der Seite, die Knie bis zur Brust hochgezogen. Ihre Handgelenke waren auf dem Rücken mit Draht zusammengebunden, und anfangs war der Schmerz fast unerträglich gewesen, doch jetzt spürte sie ihn kaum mehr. Sie wollte nicht daran denken, was er ihr alles angetan hatte. Zuerst die Vergewaltigung, die ihr jedoch angesichts der späteren Ungeheuerlichkeiten, die sie noch hatte erleiden müssen, eher unbedeutend schien.
Das Knistern von Elektrizität hallte ihr noch in den Ohren. Die Erinnerung an den Stromstoß, der ihren Körper durchfahren und ihr Gehirn durchgerüttelt hatte, war noch frisch. Auch den tierischen Klang ihrer eigenen Schreie konnte sie weiterhin hören. Das Rauschen des adrenalingetriebenen Blutes in ihren Adern. Das wilde Hämmern ihres Herzens. Und dann hatte sie wieder das Messer vor Augen.
Er war mit der Konzentration eines makabren Künstlers ans Werk gegangen und ihr dabei so nahe gewesen, dass sie seinen Atem auf der Haut gespürt hatte. Wenn sie schrie, hatte er ihr einen Stromstoß verpasst, und wenn sie mit den Füßen trat, auch. Am Ende hatte sie einfach nur dagelegen und die Marter schweigend ertragen. Für ein paar Minuten waren ihre Gedanken zu dem Strand in Florida gedriftet, wo sie vor zwei Jahren mit ihren Eltern gewesen war. Weißer Sand unter ihren Füßen, eine Brise so feucht und warm, dass sie den Atem Gottes auf ihrer Seele zu spüren glaubte.
»Hilf mir, Mama ...«
Stiefelschritte auf Beton rissen sie aus ihrem Tagtraum. Sie hob den Kopf und blickte wild um sich, konnte aber durch die Augenbinde nichts erkennen. Sie atmete stoßweise, wie ein wildes Tier, das man jagte, um es zu schlachten. Sie hasste ihn. Ihn und was er ihr angetan hatte. Wenn sie doch nur ihre Fesseln lösen und wegrennen könnte ...
»Lass mich in Ruhe, du Scheißkerl!«, schrie sie. »Lass mich in Ruhe!«
Doch sie wusste, das würde er nicht tun.
Eine behandschuhte Hand strich über ihre Hüfte. Sie wand sich und trat mit beiden Füßen in seine Richtung. Ein flüchtiges Gefühl von Befriedigung, als ihr Peiniger aufstöhnte. Dann das Aufblitzen von Licht. Schmerz durchzuckte ihren Körper, wie nach einem Peitschenhieb. Einen Moment lang war die Welt um sie herum lautlos und grau. Vage spürte sie Hände an ihren Füßen. Hörte in der Ferne Eisen über Beton kratzen. Die Kälte, die sie jetzt durchdrang, ließ ihren ganzen Körper hemmungslos zittern.
Als ihr kurz darauf bewusst wurde, dass das Monster ihr eine Eisenkette um die Fußgelenke gewickelt hatte, erfasste sie purer Horror. Er zog die Kette fest, und die kalten Glieder gruben sich in ihre Haut. Sie versuchte zu treten, ihre Beine freizubekommen, ein letztes verzweifeltes Aufbäumen gegen den drohenden Tod.
Doch es war zu spät.
Sie schrie so lange, bis ihr die Luft ausging. Sie zappelte und wand sich, aber vergebens. Eisen scharrte über Eisen, als ihre Füße langsam von der Kette hochgehoben wurden. »Warum machen Sie das?«, schrie sie. »Warum?«
Die Kette zog knarrend ihre Füße nach oben, höher und höher, bis sie mit dem Kopf nach unten über dem Boden hing. »Hilfe! Helft mir doch! Irgendwer!«
Panik ergriff sie, als die Handschuhhand ihre Haare packte und den Kopf nach hinten zog. Ein Schrei entwich ihren Lungen. Der Schnitt des Messers, die plötzliche Hitze an ihrer Kehle. Wie aus weiter Ferne drang Wasserrauschen an ihr Ohr, als würde es von den Kacheln einer Dusche widerhallen. Sie starrte in die dunkle Augenbinde und spürte das Blut aus sich herausströmen. Das bildete sie sich bestimmt ein, so was konnte gar nicht passieren. Nicht hier. Nicht in Painters Mill.
Und dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, schwanden ihr die Sinne. Ihr Gesicht wurde heiß und ihr Körper kalt. Die Panik verebbte. Der Schmerz verpuffte im Nichts. Ihre Muskeln erschlafften und ihre Glieder wurden taub.
Er tut mir also doch nicht weh, dachte sie.
Und sie entfloh zu dem weißen Sandstrand, wo schlanke Palmen sich wie graziöse Flamencotänzer im Wind wiegten. Noch nie hatte sie so blaues Wasser gesehen, so weit das Auge reichte.
1. KAPITEL
Das Blaulicht auf dem Dach des Streifenwagens flackerte über die kahlen Winterbäume. Officer T. J. Banks hielt auf dem Seitenstreifen. Er schaltete den Suchscheinwerfer ein und leuchtete den Rand des Feldes ab, wo Getreidehalme in der Kälte zitterten. Etwa zwanzig Meter entfernt standen sechs Jersey-Rinder im Wassergraben und käuten in aller Ruhe wieder.
»Blöde Viecher«, murmelte er. Genau wie Hühner gehörten Rinder bestimmt mit zu den dümmsten Tieren der Welt.
Er aktivierte das Funksprechgerät. »Zentrale, siebenundvierzig hier.«
»Was gibt's, T. J.?«, fragte Mona, die nachts in der Telefonzentrale arbeitete.
»Ich hab hier 'nen 10-54. Stutz' verdammte Kühe sind wieder mal ausgebrochen.«
»Das ist das zweite Mal in einer Woche.«
»Und immer in meiner Schicht.«
»Was willst du machen? Er hat kein Telefon.«
Der Blick auf die Uhr im Armaturenbrett verriet ihm, dass es fast zwei war. »Also, ich bleib bestimmt nicht hier draußen in der Scheißkälte und passe auf die dämlichen Viecher auf.«
»Vielleicht solltest du sie einfach erschießen.«
»Bring mich nicht in Versuchung.« Er blickte sich um und seufzte. Um diese Uhrzeit stellten Tiere auf der Straße ein großes Unfallrisiko dar. Es brauchte nur einer zu schnell um die Kurve kommen und schon war's passiert. Er dachte an den ganzen Papierkram, den ein Unfall nach sich zog, und schüttelte den Kopf. »Ich stell ein paar Warnleuchten auf, fahr zu Stutz und hol seinen amischen Arsch aus dem Bett.«
»Melde dich, wenn du Hilfe brauchst.« Sie kicherte.
Er zerrte den Reißverschluss seiner Jacke bis hoch zum Kinn, nahm die Taschenlampe aus der Vertiefung neben dem Sitz und verließ den Streifenwagen. Es war so kalt, dass ihm die Nasenhaare gefroren. Beim Gehen knirschten seine Stiefel im Schnee und sein Atem formte weiße Wölkchen in der Luft. Die Nachtschicht war ihm fast so verhasst wie der Winter.
Er leuchtete mit der Taschenlampe den Zaun ab und fand in zirka sechs Metern Entfernung tatsächlich eine Stelle, wo der Stacheldraht lose am knorrigen Pfahl hing. Zahlreiche Hufabdrücke belegten, dass auch die Kühe die Öffnung entdeckt hatten.
»Verdammte Mistviecher.«
T. J. ging zum Streifenwagen zurück, holte zwei Warnleuchten aus dem Kofferraum und platzierte sie auf dem Mittelstreifen, um die Autofahrer zu warnen. Gerade wollte er umkehren, da bemerkte er auf der Standspur der gegenüberliegenden Straßenseite etwas im Schnee. Neugierig ging er hin. Ein einzelner Frauenschuh, der in Anbetracht des guten Zustands und der fehlenden Schneeschicht darauf noch nicht lange dort liegen konnte. Wahrscheinlich Teenager. Der einsame Straßenabschnitt war beliebt, um ungestört Haschisch zu rauchen und Sex zu haben. Die Kids waren fast so dumm wie die Kühe.
Missbilligend runzelte er die Stirn, stieß mit dem Fuß an den Schuh. Erst da bemerkte er die Schleifspur. Anscheinend war hier etwas durch den Schnee gezogen worden. Mit dem Schein der Taschenlampe folgte er der Spur bis zum Zaun und weiter ins Feld dahinter. Plötzlich tauchte Blut im Lichtkegel auf. Viel Blut. Ihm sträubten sich die Nackenhaare.
»Was zum Teufel ist das denn?«
Er stapfte durch den Wassergraben, wo verdörrtes Gras aus der Schneeschicht ragte, und kletterte über den Zaun. Dahinter fand er noch mehr Blut, dunkel und glänzend im blütenweißen Schnee. So viel, dass einem ganz anders werden konnte.
Die Schleifspur führte ihn in die Nähe einer Gruppe kahler Milchorangenbäume am Rande eines Kornfelds. T. 1. konnte seinen eigenen Atem hören, begleitet vom Wispern der abgestorbenen Getreidehalme um ihn herum. Die Hand auf dem Revolver, leuchtete er mit der Taschenlampe einen Radius von dreihundertsechzig Grad ab. Und sah wieder etwas im Schnee.
Vielleicht doch ein angefahrenes Tier, das sich bis hierhin geschleppt hatte und dann verendet war. Aber als er näher kam, blieb der Strahl seiner Taschenlampe auf etwas ganz anderem hängen - bleichem Fleisch, dunklen Haaren, einem nackten Fuß. Bei dem Anblick wurde ihm übel. »Heilige Scheiße.«
Einen Moment lang war T. 1. unfähig, sich zu rühren. Wie gebannt starrte er auf die dunkle Blutlache und das bleiche Fleisch. Dann riss er sich zusammen und ging neben dem Körper in die Hocke. War es möglich, dass sie noch lebte? Er streckte die Hand aus und berührte die nackte Schulter. Ihre Haut war eiskalt. Er drehte sie trotzdem um, sah aber nur mehr Blut, fahles Fleisch und glasige Augen, die ihn anzustarren schienen.
Erschüttert wich er zurück. Seine Hand zitterte, als er nach dem Ansteckmikro am Kragen tastete. »Zentrale! Siebenundvierzig hier!«
»Was denn jetzt noch, T. J.? Hat 'ne Kuh dir Beine gemacht und dich einen Baum hochgejagt?«
»Auf Stutz' Weide liegt 'ne Leiche.«
»Was?«
Sie benutzten in Painters Mill das Zehn-Code-System, aber die Nummer für einen Leichenfund fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Die hatte er noch nie gebraucht. »Ich hab gesagt, hier liegt eine Leiche.«
»Das hab ich schon verstanden.« Schweigen. Anscheinend hatte es ihr die Sprache verschlagen. Dann: »Was ist dein Zwanzig?«
»Dog Leg Road, gleich südlich der überdachten Brücke.« Erneute Pause. »Wer ist es?«
In Painters Mill kannte jeder jeden, doch diese Frau hatte er noch nie gesehen. »Ich weiß es nicht. Eine Frau. Nackt wie Gott sie schuf und toter als Elvis.«
»Ein Autounfall?«
»Das war kein Unfall.« T. J. legte die Hand auf den Griff seiner .38er und ließ den Blick zu den Schatten zwischen den Bäumen wandern. Sein Herz klopfte heftig. »Ruf lieber den Chief an, Mona. Ich glaube, sie ist ermordet worden.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
Mit sechs hatte sie aufgehört, an Monster zu glauben, und ihre Mutter musste abends nicht mehr unterm Bett und im Schrank nachsehen. Jetzt, mit einundzwanzig, lag sie nackt, gefesselt und grausam gequält auf einem eiskalten Betonboden und wurde eines Besseren belehrt.
Um sie herum war es stockdunkel. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie zitterte am ganzen Leib. Ihre Zähne klapperten. Bei jedem auch noch so kleinen Geräusch fürchtete sie die Rückkehr des Ungeheuers.
Anfangs hatte sie noch gehofft, sie könnte fliehen oder ihren Entführer überreden, sie laufen zu lassen. Doch inzwischen hatte die Realität sie eingeholt. Sie wusste, dass das hier nicht gut enden konnte. Es würde keine Verhandlungen geben, keine Rettung durch die Polizei, keine Begnadigung in letzter Minute. Das Monster würde sie töten. Die Frage war nur noch, wann. Aber das Warten war fast so höllisch wie der Tod selbst.
Sie wusste nicht, wo sie war oder wie lange das alles schon dauerte, hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Allein den Gestank nach verrottetem Fleisch und das höhlenartige Echo noch des kleinsten Lautes nahm sie überdeutlich wahr.
Sie war heiser vom Schreien, erschöpft vom Kämpfen und demoralisiert von den Qualen, die er ihr zugefügt hatte. Eigentlich wollte sie einfach nur noch schnell sterben, aber lieber Gott, wie sehr sie doch am Leben hing ...
»Mama«, flüsterte sie.
Über den Tod hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Sie war voller Träume gewesen, hatte der Zukunft hoffnungsvoll entgegengesehen und fest daran geglaubt, dass es morgen noch schöner sein würde als heute. Doch jetzt lag sie in der kalten Lache ihres eigenen Urins und akzeptierte, dass es kein Morgen mehr für sie gab. Keine Hoffnung und keine Zukunft. Nur das Grauen über ihren bevorstehenden Tod und dessen Unausweichlichkeit.
Sie lag auf der Seite, die Knie bis zur Brust hochgezogen. Ihre Handgelenke waren auf dem Rücken mit Draht zusammengebunden, und anfangs war der Schmerz fast unerträglich gewesen, doch jetzt spürte sie ihn kaum mehr. Sie wollte nicht daran denken, was er ihr alles angetan hatte. Zuerst die Vergewaltigung, die ihr jedoch angesichts der späteren Ungeheuerlichkeiten, die sie noch hatte erleiden müssen, eher unbedeutend schien.
Das Knistern von Elektrizität hallte ihr noch in den Ohren. Die Erinnerung an den Stromstoß, der ihren Körper durchfahren und ihr Gehirn durchgerüttelt hatte, war noch frisch. Auch den tierischen Klang ihrer eigenen Schreie konnte sie weiterhin hören. Das Rauschen des adrenalingetriebenen Blutes in ihren Adern. Das wilde Hämmern ihres Herzens. Und dann hatte sie wieder das Messer vor Augen.
Er war mit der Konzentration eines makabren Künstlers ans Werk gegangen und ihr dabei so nahe gewesen, dass sie seinen Atem auf der Haut gespürt hatte. Wenn sie schrie, hatte er ihr einen Stromstoß verpasst, und wenn sie mit den Füßen trat, auch. Am Ende hatte sie einfach nur dagelegen und die Marter schweigend ertragen. Für ein paar Minuten waren ihre Gedanken zu dem Strand in Florida gedriftet, wo sie vor zwei Jahren mit ihren Eltern gewesen war. Weißer Sand unter ihren Füßen, eine Brise so feucht und warm, dass sie den Atem Gottes auf ihrer Seele zu spüren glaubte.
»Hilf mir, Mama ...«
Stiefelschritte auf Beton rissen sie aus ihrem Tagtraum. Sie hob den Kopf und blickte wild um sich, konnte aber durch die Augenbinde nichts erkennen. Sie atmete stoßweise, wie ein wildes Tier, das man jagte, um es zu schlachten. Sie hasste ihn. Ihn und was er ihr angetan hatte. Wenn sie doch nur ihre Fesseln lösen und wegrennen könnte ...
»Lass mich in Ruhe, du Scheißkerl!«, schrie sie. »Lass mich in Ruhe!«
Doch sie wusste, das würde er nicht tun.
Eine behandschuhte Hand strich über ihre Hüfte. Sie wand sich und trat mit beiden Füßen in seine Richtung. Ein flüchtiges Gefühl von Befriedigung, als ihr Peiniger aufstöhnte. Dann das Aufblitzen von Licht. Schmerz durchzuckte ihren Körper, wie nach einem Peitschenhieb. Einen Moment lang war die Welt um sie herum lautlos und grau. Vage spürte sie Hände an ihren Füßen. Hörte in der Ferne Eisen über Beton kratzen. Die Kälte, die sie jetzt durchdrang, ließ ihren ganzen Körper hemmungslos zittern.
Als ihr kurz darauf bewusst wurde, dass das Monster ihr eine Eisenkette um die Fußgelenke gewickelt hatte, erfasste sie purer Horror. Er zog die Kette fest, und die kalten Glieder gruben sich in ihre Haut. Sie versuchte zu treten, ihre Beine freizubekommen, ein letztes verzweifeltes Aufbäumen gegen den drohenden Tod.
Doch es war zu spät.
Sie schrie so lange, bis ihr die Luft ausging. Sie zappelte und wand sich, aber vergebens. Eisen scharrte über Eisen, als ihre Füße langsam von der Kette hochgehoben wurden. »Warum machen Sie das?«, schrie sie. »Warum?«
Die Kette zog knarrend ihre Füße nach oben, höher und höher, bis sie mit dem Kopf nach unten über dem Boden hing. »Hilfe! Helft mir doch! Irgendwer!«
Panik ergriff sie, als die Handschuhhand ihre Haare packte und den Kopf nach hinten zog. Ein Schrei entwich ihren Lungen. Der Schnitt des Messers, die plötzliche Hitze an ihrer Kehle. Wie aus weiter Ferne drang Wasserrauschen an ihr Ohr, als würde es von den Kacheln einer Dusche widerhallen. Sie starrte in die dunkle Augenbinde und spürte das Blut aus sich herausströmen. Das bildete sie sich bestimmt ein, so was konnte gar nicht passieren. Nicht hier. Nicht in Painters Mill.
Und dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, schwanden ihr die Sinne. Ihr Gesicht wurde heiß und ihr Körper kalt. Die Panik verebbte. Der Schmerz verpuffte im Nichts. Ihre Muskeln erschlafften und ihre Glieder wurden taub.
Er tut mir also doch nicht weh, dachte sie.
Und sie entfloh zu dem weißen Sandstrand, wo schlanke Palmen sich wie graziöse Flamencotänzer im Wind wiegten. Noch nie hatte sie so blaues Wasser gesehen, so weit das Auge reichte.
1. KAPITEL
Das Blaulicht auf dem Dach des Streifenwagens flackerte über die kahlen Winterbäume. Officer T. J. Banks hielt auf dem Seitenstreifen. Er schaltete den Suchscheinwerfer ein und leuchtete den Rand des Feldes ab, wo Getreidehalme in der Kälte zitterten. Etwa zwanzig Meter entfernt standen sechs Jersey-Rinder im Wassergraben und käuten in aller Ruhe wieder.
»Blöde Viecher«, murmelte er. Genau wie Hühner gehörten Rinder bestimmt mit zu den dümmsten Tieren der Welt.
Er aktivierte das Funksprechgerät. »Zentrale, siebenundvierzig hier.«
»Was gibt's, T. J.?«, fragte Mona, die nachts in der Telefonzentrale arbeitete.
»Ich hab hier 'nen 10-54. Stutz' verdammte Kühe sind wieder mal ausgebrochen.«
»Das ist das zweite Mal in einer Woche.«
»Und immer in meiner Schicht.«
»Was willst du machen? Er hat kein Telefon.«
Der Blick auf die Uhr im Armaturenbrett verriet ihm, dass es fast zwei war. »Also, ich bleib bestimmt nicht hier draußen in der Scheißkälte und passe auf die dämlichen Viecher auf.«
»Vielleicht solltest du sie einfach erschießen.«
»Bring mich nicht in Versuchung.« Er blickte sich um und seufzte. Um diese Uhrzeit stellten Tiere auf der Straße ein großes Unfallrisiko dar. Es brauchte nur einer zu schnell um die Kurve kommen und schon war's passiert. Er dachte an den ganzen Papierkram, den ein Unfall nach sich zog, und schüttelte den Kopf. »Ich stell ein paar Warnleuchten auf, fahr zu Stutz und hol seinen amischen Arsch aus dem Bett.«
»Melde dich, wenn du Hilfe brauchst.« Sie kicherte.
Er zerrte den Reißverschluss seiner Jacke bis hoch zum Kinn, nahm die Taschenlampe aus der Vertiefung neben dem Sitz und verließ den Streifenwagen. Es war so kalt, dass ihm die Nasenhaare gefroren. Beim Gehen knirschten seine Stiefel im Schnee und sein Atem formte weiße Wölkchen in der Luft. Die Nachtschicht war ihm fast so verhasst wie der Winter.
Er leuchtete mit der Taschenlampe den Zaun ab und fand in zirka sechs Metern Entfernung tatsächlich eine Stelle, wo der Stacheldraht lose am knorrigen Pfahl hing. Zahlreiche Hufabdrücke belegten, dass auch die Kühe die Öffnung entdeckt hatten.
»Verdammte Mistviecher.«
T. J. ging zum Streifenwagen zurück, holte zwei Warnleuchten aus dem Kofferraum und platzierte sie auf dem Mittelstreifen, um die Autofahrer zu warnen. Gerade wollte er umkehren, da bemerkte er auf der Standspur der gegenüberliegenden Straßenseite etwas im Schnee. Neugierig ging er hin. Ein einzelner Frauenschuh, der in Anbetracht des guten Zustands und der fehlenden Schneeschicht darauf noch nicht lange dort liegen konnte. Wahrscheinlich Teenager. Der einsame Straßenabschnitt war beliebt, um ungestört Haschisch zu rauchen und Sex zu haben. Die Kids waren fast so dumm wie die Kühe.
Missbilligend runzelte er die Stirn, stieß mit dem Fuß an den Schuh. Erst da bemerkte er die Schleifspur. Anscheinend war hier etwas durch den Schnee gezogen worden. Mit dem Schein der Taschenlampe folgte er der Spur bis zum Zaun und weiter ins Feld dahinter. Plötzlich tauchte Blut im Lichtkegel auf. Viel Blut. Ihm sträubten sich die Nackenhaare.
»Was zum Teufel ist das denn?«
Er stapfte durch den Wassergraben, wo verdörrtes Gras aus der Schneeschicht ragte, und kletterte über den Zaun. Dahinter fand er noch mehr Blut, dunkel und glänzend im blütenweißen Schnee. So viel, dass einem ganz anders werden konnte.
Die Schleifspur führte ihn in die Nähe einer Gruppe kahler Milchorangenbäume am Rande eines Kornfelds. T. 1. konnte seinen eigenen Atem hören, begleitet vom Wispern der abgestorbenen Getreidehalme um ihn herum. Die Hand auf dem Revolver, leuchtete er mit der Taschenlampe einen Radius von dreihundertsechzig Grad ab. Und sah wieder etwas im Schnee.
Vielleicht doch ein angefahrenes Tier, das sich bis hierhin geschleppt hatte und dann verendet war. Aber als er näher kam, blieb der Strahl seiner Taschenlampe auf etwas ganz anderem hängen - bleichem Fleisch, dunklen Haaren, einem nackten Fuß. Bei dem Anblick wurde ihm übel. »Heilige Scheiße.«
Einen Moment lang war T. 1. unfähig, sich zu rühren. Wie gebannt starrte er auf die dunkle Blutlache und das bleiche Fleisch. Dann riss er sich zusammen und ging neben dem Körper in die Hocke. War es möglich, dass sie noch lebte? Er streckte die Hand aus und berührte die nackte Schulter. Ihre Haut war eiskalt. Er drehte sie trotzdem um, sah aber nur mehr Blut, fahles Fleisch und glasige Augen, die ihn anzustarren schienen.
Erschüttert wich er zurück. Seine Hand zitterte, als er nach dem Ansteckmikro am Kragen tastete. »Zentrale! Siebenundvierzig hier!«
»Was denn jetzt noch, T. J.? Hat 'ne Kuh dir Beine gemacht und dich einen Baum hochgejagt?«
»Auf Stutz' Weide liegt 'ne Leiche.«
»Was?«
Sie benutzten in Painters Mill das Zehn-Code-System, aber die Nummer für einen Leichenfund fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Die hatte er noch nie gebraucht. »Ich hab gesagt, hier liegt eine Leiche.«
»Das hab ich schon verstanden.« Schweigen. Anscheinend hatte es ihr die Sprache verschlagen. Dann: »Was ist dein Zwanzig?«
»Dog Leg Road, gleich südlich der überdachten Brücke.« Erneute Pause. »Wer ist es?«
In Painters Mill kannte jeder jeden, doch diese Frau hatte er noch nie gesehen. »Ich weiß es nicht. Eine Frau. Nackt wie Gott sie schuf und toter als Elvis.«
»Ein Autounfall?«
»Das war kein Unfall.« T. J. legte die Hand auf den Griff seiner .38er und ließ den Blick zu den Schatten zwischen den Bäumen wandern. Sein Herz klopfte heftig. »Ruf lieber den Chief an, Mona. Ich glaube, sie ist ermordet worden.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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Autoren-Porträt von Linda Castillo
Linda Castillo wuchs in Dayton im US-Bundesstaat Ohio auf, schrieb bereits in ihrer Jugend ihren ersten Roman und arbeitete viele Jahre als Finanzmanagerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit »Die Zahlen der Toten« (2010), dem ersten Kriminalroman mit Polizeichefin Kate Burkholder. Linda Castillo kennt die Welt der Amischen seit ihrer Kindheit und ist regelmässig zu Gast bei amischen Gemeinden. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und zwei Pferden auf einer Ranch in Texas. Helga Augustin hat in Frankfurt am Main Neue Philologie studiert. Von 1986 - 1991 studierte sie an der City University of New York und schloss ihr Studium mit einem Magister in Liberal Studies mit dem Schwerpunkt 'Translations' ab. Die Übersetzerin lebt in Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Linda Castillo
- 2010, 14. Aufl., 432 Seiten, Masse: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Helga Augustin
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596184401
- ISBN-13: 9783596184408
- Erscheinungsdatum: 05.08.2010
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