Johnny, der Engel
Roman
Als der siebzehnjährige Johnny bei einem Unfall ums Leben kommt, verlieren seine Mutter und sein jüngerer Bruder jeden Lebensmut. Nur ein Wunder vermag den beiden neue Glücksmomente zu schenken und ihnen die Augen für die...
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Produktinformationen zu „Johnny, der Engel “
Als der siebzehnjährige Johnny bei einem Unfall ums Leben kommt, verlieren seine Mutter und sein jüngerer Bruder jeden Lebensmut. Nur ein Wunder vermag den beiden neue Glücksmomente zu schenken und ihnen die Augen für die Verheißungen der Zukunft zu öffnen - ein Wunder, das Johnny, der Engel, heißt!
Klappentext zu „Johnny, der Engel “
Als der siebzehnjährige Johnny bei einem Unfall ums Leben kommt, verlieren seine Mutter und sein jüngerer Bruder jeden Lebensmut. Nur ein Wunder vermag den beiden neue Glücksmomente zu schenken und ihnen die Augen für die Verheissungen der Zukunft zu öffnen - ein Wunder, das Johnny, der Engel, heisst!
Lese-Probe zu „Johnny, der Engel “
Johnny, der Engel von Danielle Steele1
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Es war ein strahlend schöner, heißer Junitag in San Dimas, einem abgelegenen Vorort von Los
Angeles. Die quirlige Großstadt mit der Extravaganz Hollywoods schien Lichtjahre entfernt zu sein. In diesem friedlichen Städtchen, unbeachtet von der übrigen Welt, durften die Kinder noch Kinder sein. Wieder neigte sich ein Schuljahr dem Ende zu. Die Sommerferien standen vor der Tür, und die Vorbereitungen für den Abschlussball der Highschool liefen auf Hochtouren.
Johnny Peterson, bester Schüler der Abschlussklasse und Star des Footballteams, sollte bei der feierlichen Zeugnisüberreichung die Eröffnungsrede halten. Jetzt stand er zusammen mit ein paar Freunden auf den Eingangsstufen der Schule und sein hochgewachsener, schlanker Körper neigte sich ganz leicht Becky Adams zu. Ihre Blicke trafen sich von Zeit zu Zeit. Die beiden waren seit vier Jahren ein Paar, und wie so viele Jugendliche ihres Alters teilten sie jenes offene Geheimnis Verliebter: vor einem Jahr hatten sie angefangen, miteinander zu schlafen. Es verband sie eine dieser Teenagerlieben mit vagen, unausgesprochenen Plänen, eines Tages zu heiraten. Becky war im Mai achtzehn geworden, und Johnny würde seinen achtzehnten Geburtstag im Juli feiern, kurz vor Beginn des College.
Sein braunes Haar und die dunklen Augen schimmerten im Sonnenlicht. Er war groß, breitschultrig, sportlich, mit perfekten Zähnen und einem strahlenden Lächeln. So wünschte sich jeder Junge auszusehen. Außerdem war er ein netter Kerl und ein verlässlicher Freund. Seine Eltern hatten es mit drei Kindern finanziell nicht leicht und waren immer gerade so über die Runden gekommen, weswegen Johnny sich schon früh Geld mit Nebenjobs dazuverdient hatte. Er wäre gern Profifootballspieler geworden - und er hatte auch das Zeug dazu -, fand es jedoch vernünftiger, mit einem Stipendium ein staatliches College zu besuchen und Betriebswirtschaft zu studieren, um später mit in die kleine Firma seines Vaters einzusteigen. Der hatte seine Arbeit als Steuerberater nie sonderlich gemocht. Johnny dagegen tat sich mit der Materie nicht schwer. Er war ein Naturtalent in Mathe matik und verfügte außerdem über hervorragende Computerkenntnisse. Johnnys Mutter arbeitete schon lange nicht mehr in ihrem Beruf als Krankenschwester. Sie wollte sich um die Kinder kümmern, was sich insbesondere während der letzten fünf Jahre als Fulltimejob entpuppt hatte. Johnnys jüngere Schwester Charlotte war gerade vierzehn geworden und sollte im Herbst mit der Highschool beginnen, und der neunjährige Bobby benötigte besondere Betreuung.
Becky war ein hübsches Mädchen mit blondem Haar und himmelblauen Augen. Der Tod ihres Vaters vor zwei Jahren stellte ihr Leben und das ihrer vier Geschwister komplett auf den Kopf. Mike Adams war Bauarbeiter gewesen und bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen. Er hinterließ seine Familie praktisch mittellos. Von der Lebensversicherung hatten sie nur einen lächerlich kleinen Geldbetrag erhalten und seitdem harte Zeiten durchgemacht. Auch Becky hatte neben der Schule immer mindestens einen Job. Jeder Cent, den sie dazuverdiente, wurde gebraucht, und im Gegensatz zu Johnny hatte sie kein Stipendium bekommen. Deshalb hatte sie sich entschieden, nach dem Abschluss ein Jahr lang ganztags im Drugstore zu arbeiten und sich dann erneut um ein Stipendium zu bewerben. Sie war längst nicht so gut in der Schule wie Johnny und eigentlich froh, ein Jahr Pause vom Lernen zu haben. Becky arbeitete gern, liebte ihre beiden Brüder und Schwestern und war froh, ihre Mutter ein bisschen unterstützen zu können.
Johnny war der Lichtblick in ihrem Leben, und Becky hatte ein bisschen Angst, dass er am College
andere Mädchen kennenlernen würde. Andererseits wusste sie ja, dass er sie liebte. Jeder in ihrer Klasse war der Ansicht, dass sie das perfekte Paar seien. Sie verbrachten jede freie Minute miteinander, lachten viel, redeten über alles und stritten sich nie. Sie waren nicht nur ein Liebespaar, sondern füreinander auch die besten Freunde.
Zwischen den Schülern der Abschlussklasse drehten sich zur Zeit alle Gespräche um den Ball. Johnny hatte Beckys Kleid bezahlt, aber das behielten sie für sich. Ohne seine Unterstützung hätte sie nicht an dem Fest teilnehmen können. »Ich muss los, Jungs, die Arbeit ruft!« Johnny grinste seine Freunde an. An den Wochenenden arbeitete er bei seinem Vater im Büro, aber während der Woche jobbte er in einem nahe gelegenen Sägewerk. Er überwachte den Bestand, räumte das Lager auf und schnitt Holz zu. Die Arbeit war anstrengend, wurde aber gut bezahlt. Den ganzen Sommer über wollte er dort arbeiten und so viel wie möglich verdienen, bevor es dann mit dem College losging. Becky jobbte bereits im Drugstore und hatte ihre Stelle als Kellnerin in einem Café nahe der Schule gekündigt. Nur noch einen Job zu haben vereinfachte ihr Leben beträchtlich.
»Komm schon, Becky.« Johnny zog sie am Arm, um sie von den anderen Mädchen loszueisen. Sie diskutierten immer noch über ihre Kleider für den Ball. Für die meisten von ihnen stellte er das Ende und gleichzeitig den Höhepunkt einer Ära dar. Das war für Johnny und Becky nicht anders - aber sie mussten sich zumindest nicht den Kopf darüber zerbrechen, mit wem sie zu diesem wichtigen Ereignis gehen sollten.
Endlich verabschiedete sich Becky von ihren Freundinnen, sie warf ihr langes blondes Haar über die Schulter zurück und folgte Johnny zu seinem Auto. Er trug ihren Rucksack und verstaute ihn zusammen mit seinem auf dem Rücksitz. »Sollen wir noch schnell die Kleinen abholen?«, fragte er nach einem kurzen Blick auf die Armbanduhr.
»Hättest du denn noch Zeit?« Becky lächelte ihn dankbar an, denn Johnny versuchte, ihr diesen Gefallen so oft wie möglich zu tun. Im Grunde fühlten sie sich schon verheiratet und waren davon überzeugt, dass sie es eines Tages sein würden. Sie sprachen nicht darüber, und das war auch nicht nötig, denn oft verstanden sie einander ohne Worte.
»Aber klar.« Er zwinkerte Becky zu und schaltete das Radio ein, während sie sich auf den Beifahrersitz gleiten ließ. In puncto Musikgeschmack waren sie sich einig, außerdem hatten sie die gleichen Lieblingsgerichte und mochten dieselben Leute. Becky liebte es, Johnny beim Football zuzusehen, und er konnte gar nicht genug davon bekommen, mit ihr zu tanzen und zu reden. Meistens fuhr er nach Feierabend noch kurz bei ihr vorbei, und später, wenn er mit seinen Hausaufgaben fertig war, rief er sie an. Sie konnten stundenlang telefonieren. Seine Mutter sagte immer, die beiden seien wie siamesische Zwillinge.
Die Schule, die Beckys jüngere Geschwister besuchten, lag nur vier Blocks entfernt. Als sie dort ankamen, sah Becky die vier draußen auf dem Schulhof herumtoben. Sie winkte ihnen zu, und die Adams-Kinder kamen mit lautem Begrüßungsgeheul angelaufen. Becky klappte ihren Sitz vor, und alle kletterten ganz selbstverständlich auf die Rückbank.
»Hi, Johnny«, begrüßten ihn die Jungen wie aus einem Munde, und Peter, mit seinen zwölf Jahren der Älteste, bedankte sich fürs Mitnehmen. Mark war elf, Rachel zehn und Sandi sieben. Bei Adams ging es ziemlich turbulent zu, und obwohl ihr Dad jetzt schon zwei Jahre tot war, vermissten sie ihn wie am ersten Tag. Ihre Mutter schien während dieser Zeit um zehn Jahre gealtert zu sein. Sie arbeitete viel zu viel und tat ihr Bestes, um die fünf Kinder gut zu versorgen. Ihre Freunde ermahnten sie häufig, sie sollte endlich wieder einmal ausgehen. Pam sah sie dann verständnislos an und entgegnete, dass sie dazu keine Zeit habe. Aber Becky wusste, dass in Wahrheit noch ein anderer Grund dahintersteckte. Schon auf der Highschool hatte ihre Mutter immer nur Mike geliebt, und allein die Vorstellung, sich mit einem anderen Mann zu treffen, war ihr unerträglich.
Johnny setzte Becky und die Kinder ab. Bevor sie ausstieg, hauchte sie ihm rasch einen Kuss auf die Wange. Als Johnny losfuhr, winkte er noch einmal. Becky schob die Kinder ins Haus und kümmerte sich darum, dass sie einen Imbiss und etwas zu trinken bekamen, bevor sie selbst zur Arbeit gehen musste. Ihre Mutter würde erst in zwei Stunden nach Hause kommen. Pam leitete den örtlichen Schönheitssalon. Sie war eine hübsche Frau, deren Leben sich anders als erhofft entwickelt hatte. Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, im Alter von vierzig Jahren mit fünf Kindern und ohne Ehemann dazustehen.
Vier Stunden später war Johnny bereits wieder bei Becky. Er sah müde, aber zufrieden aus und blieb gerade lange genug, um mit ihr am Küchentisch ein Sandwich zu essen, mit ihrer Mom zu plaudern und mit den Kleinen herumzualbern. Um halb zehn machte er sich in der Regel auf den Heimweg. Seine Tage waren lang und ausgefüllt.
»Ich kann gar nicht glauben, dass ihr beiden jetzt schon euren Abschluss macht. Es kommt mir so vor, als sei es erst gestern gewesen, dass ihr als Fünfjährige an Halloween gemeinsam singen gegangen seid.« Pam Adams schüttelte lächelnd den Kopf. Johnny stand vom Küchenstuhl auf und streckte sich zu voller Größe. Im ersten Jahr an der Highschool hatte er Basketball gespielt und war ziemlich gut darin gewesen, aber Football und die Schule ließen ihm dann keine Zeit mehr dazu. Pam betrachtete ihn gerührt.
Sie hoffte, dass er und Becky eines Tages heirateten und ihm ein längeres Leben beschert sein würde als ihrem Mann. Aber sie bedauerte nichts, dafür waren die gemeinsamen Jahre mit Mike viel zu glücklich gewesen. »Danke übrigens für Beckys Kleid«, sagte sie leise. Sie war die Einzige, die davon wusste. Johnny hatte es nicht einmal seiner Mutter erzählt.
»Es steht ihr unheimlich gut.« Johnny versuchte schnell darüber hinwegzugehen, weil ihn der dankbare Ausdruck in Pams Augen verlegen machte. »Es wird sicher ein toller Abend.«
»Bestimmt. Beckys Dad und ich haben uns auf dem Abschlussball verlobt«, erinnerte sich Pam wehmütig, ohne dass es für Johnny ein Wink mit dem Zaunpfahl sein sollte. Dafür war viel zu offensichtlich, dass die beiden ohnehin auf eine gemeinsame Zukunft zu steuerten.
»Bis morgen«, verabschiedete sich Johnny. Becky folgte ihm nach draußen. Sie standen noch ein paar Minuten neben seinem Auto und redeten, dann zog Johnny sie in die Arme. Sie küssten sich voller Leidenschaft und mit der ungezügelten Energie ihrer Jugend, bis Becky ganz außer Atem war.
»Du solltest besser gehen, bevor ich dich hinter den nächstbesten Busch schleife, Johnny Peterson«, flüsterte¬ sie kichernd und mit diesem Lächeln, das ihn immer noch um den Verstand brachte.
»Klingt verlockend, aber dann fällt deine Mom in Ohnmacht«, zog er sie auf. Beide nahmen an, ihre Eltern hätten nicht die geringste Ahnung, wie weit die Dinge zwischen ihnen bereits gediehen waren. Dabei wussten ihre Mütter längst Bescheid. Irgendwann hatte Pam mit Becky ein Mutter-Tochter-Gespräch geführt und ihr eindringlich nahegelegt, vorsichtig zu sein. Aber so vernünftig waren Becky und Johnny auch von allein. Becky hatte nicht die geringste Lust, schwanger zu werden, bevor sie verheiratet waren - und da sie erst das Studium beenden wollten, lag das in weiter Ferne. »Ich ruf dich nachher an«, versprach er und stieg ein. Seine Mutter wartete bestimmt wieder mit dem Essen auf ihn.
Johnny wohnte zwei Meilen von Becky entfernt und brauchte für den Heimweg nur fünf Minuten. Er stellte seinen Wagen hinter dem seines Vaters in der Einfahrt ab. Als er den Garten in Richtung Hintereingang durchquerte, sah er, dass seine Schwester Charlotte ganz allein Korbwürfe mit dem Basketball trainierte - so wie er es auch immer getan hatte. Sie war das Ebenbild ihrer Mutter, obwohl sie ihn mit dem langen blonden Haar und den großen blauen Augen manchmal auch an Becky erinnerte. Charlotte trug Shorts und ein Tanktop. Mit ihren langen Beinen war sie ungewöhnlich groß für ihr Alter und zudem sehr hübsch. Aber das bedeutete ihr nichts. Für Charlotte zählte nur der Sport. Ob sie aß, schlief oder träumte - sie dachte an nichts anderes als Baseball, Football und Basketball. Sie war ein sportliches Allroundtalent und gehörte so vielen Teams an, wie sie zeitlich gerade einrichten konnte. Während der letzten Jahre war sie Johnny älter vorgekommen, als sie tatsächlich war. Nicht nur wegen ihrer Größe - sie war ihren Altersgenossen an Reife und Verständigkeit weit voraus.
»Hi, Charlie, wie läuft's?«, rief Johnny und fing den Ball, der ihm mit großer Wucht entgegengeflogen kam. Sie warf so hart wie ein Junge, und Johnny musste jedes Mal lächeln, wenn sie ihm eine Kostprobe gab.
»Wie üblich.« Sie sah Johnny kurz über die Schulter hinweg an, und nachdem er ihr den Ball wieder zugespielt hatte, plazierte sie ihn zielsicher im Korb. Ihr Blick wirkte traurig.
»Was ist los?« Als Johnny sie in den Arm nahm, hielt sie den Ball fest und schmiegte sich an ihren Bruder. Er konnte ihren Kummer förmlich spüren.
»Ach nichts.«
»Ist Dad zu Hause?« Natürlich war er das, Johnny hatte das Auto in der Einfahrt stehen sehen, und er wusste auch ganz genau, was seiner Schwester zu schaffen machte.
»Sicher.« Sie nickte und fing an zu dribbeln. Johnny sah ihr einen Moment lang zu, dann schnappte er sich den Ball, und sie machten abwechselnd Korbwürfe. Charlotte beeindruckte ihren großen Bruder jedes Mal aufs Neue mit ihrem spielerischen Können. Sie hatte sich immer gewünscht, wie er zu sein. Johnny - ihr Held und großes Vorbild. Sie hatte beinahe jedes seiner Spiele während der Highschool-Zeit gesehen und hatte ihn leidenschaftlich angefeuert.
Die beiden spielten gut zehn Minuten, bis Johnny schließlich ins Haus ging. Seine Mutter stand in der Küche und trocknete Geschirr ab, und sein kleiner Bruder Bobby sah ihr vom Küchentisch aus zu. Sein Vater saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher.
»Hi, Mom.« Johnny küsste seine Mutter zur Begrüßung flüchtig auf den Scheitel. Sie lächelte. Alice Peterson liebte ihre Kinder über alles. Der Tag von Johnnys Geburt war einer der glücklichsten ihres Lebens gewesen. Und wenn sie ihn heute ansah, überkam sie immer noch dieses Gefühl.
»Hallo, Schatz, was gibt's Neues?« Wie jeden Abend begannen ihre Augen zu strahlen, wenn sie ihren Ältesten sah.
»Stell dir vor: Montag bekommen wir Zeugnisse, und in zwei Tagen ist Abschlussball.« Sie lachte, während Bobby ihn schweigend ansah.
»Hör auf, mich zu veralbern. Wie könnte ich das vergessen?« Seit Monaten redeten sie über nichts anderes. »Wie geht es Becky?«
»Gut.« Johnny wandte sich Bobby zu, der sofort anfing zu lächeln, als sein großer Bruder auf ihn zukam.
»Na, Kleiner, schönen Tag gehabt?« Bobby erwiderte nichts, strahlte jedoch, als Johnny ihm durchs Haar fuhr.
Johnny konnte stundenlang mit seinem kleinen Bruder reden. Er fragte ihn, was er gemacht habe, und erzählte ihm, was er selbst erlebt hatte. Bobby antwortete nie. Seit seinem vierten Lebensjahr hatte er kein einziges Wort mehr gesprochen - und das lag jetzt fünf Jahre zurück. Er und sein Vater hatten damals einen Unfall gehabt. Sie waren mit dem Auto von einer Brücke in den Fluss gestürzt und beinahe ertrunken. Ein Spaziergänger hatte dem Jungen das Leben gerettet. Zwei Wochen lang lag der Kleine auf der Intensivstation, dann war er zwar über den Berg, blieb aber stumm, und keiner konnte ihnen sagen, ob er einen Hirnschaden davongetragen hatte, weil er so lange unter Wasser gewesen war, oder ob es sich um ein seelisches Trauma handelte. Die vielen Spezialisten und Therapien hatten nichts bewirkt. Bobby war geistig hellwach und registrierte genauestens, was um ihn herum passierte, aber er sprach nicht. Er ging auf eine Sonderschule für Behinderte, und obwohl er längst Schreiben gelernt hatte, teilte er sich auch auf diese Weise nicht mit, sondern kopierte lediglich Wörter oder Buchstaben. Als hätte er dieser Welt nichts mehr mitzuteilen. Sein Vater, der vor dem Unfall lediglich auf Partys gern ein bisschen getrunken hatte, betäubte sich seitdem jeden Abend mit Alkohol. Jim torkelte nicht lallend durch die Gegend, wurde auch nicht aggressiv oder gar gewalt tätig, er saß einfach nur vor dem Fernseher und betrank sich still und leise - seit nunmehr fünf Jahren jeden Abend.
Die Familie sprach nicht über seine Trunksucht. Am Anfang hatte Alice versucht, mit Jim zu reden, und gehofft, er würde irgendwann darüber hinwegkommen, so wie Bobby eines Tages auch. Aber dem war nicht so. Die beiden hatten sich, jeder auf seine Weise, in ihre eigene Welt zurückgezogen, und alle anderen litten darunter. Alice hatte Jim ein paarmal vorgeschlagen, zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen, aber das lehnte er strikt ab. Er würde dieses Thema nicht diskutieren, weder mit ihr noch mit Fremden. Er gestand sich ja nicht einmal selbst ein, dass er ein Problem hatte. »Hast du Hunger, mein Lieber?«, wandte sich Alice an Johnny. »Ich habe dir das Abendessen aufgehoben.«
»Danke, aber ich hatte schon ein Sandwich bei den Adams«, erwiderte er und strich Bobby zärtlich über die Wange. Ihn zu berühren schien die beste Art zu sein, mit ihm zu kommunizieren. Der Kleine hing so sehr an seinem großen Bruder, dass er ihm ständig hinterherlief und mit seinen großen blauen Augen jede von Johnnys Bewegungen verfolgte.
»Ich wünschte, du würdest wenigstens ab und zu hier essen«, beklagte sich Alice. »Wie wäre es mit
Nachtisch? Wir hatten Apfelkuchen.« Sein Lieblingsdessert, das sie deshalb auch möglichst oft zubereitete.
»Klingt gut.« Er wollte ihre Gefühle nicht verletzen. Manchmal aß er zwei komplette Mahlzeiten an einem Abend, erst bei Becky und dann zu Hause, nur um seiner Mutter eine Freude zu machen.
Während sich Johnny den Kuchen schmecken ließ, setzte sich Alice zu ihm an den Küchentisch. Sie sprachen über Charlottes Home Runs beim Spiel an diesem Nachmittag und den Abschlussball. Bobby hörte ihnen schweigend zu. Johnny wollte am nächsten Tag seinen Smoking beim Verleih abholen. Alice konnte es kaum erwarten, ihn darin zu sehen, und hatte noch schnell einen neuen Film für den Fotoapparat gekauft. Dieses Bild musste sie einfach festhalten. Als sie Johnny anbot, das Sträußchen für Becky zu besorgen, lehnte er lächelnd ab.
»Ist bereits bestellt. Trotzdem danke.« Er stand auf und sagte, dass er noch an seiner Rede arbeiten wolle. Alice war furchtbar stolz darauf, dass er bei der Abschlussfeier die Eröffnungsrede halten würde.
Bevor Johnny nach oben ging, sah er kurz ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief, und sein Vater saß schlafend davor. Ein vertrauter Anblick. Johnny schaltete das Gerät aus und stieg leise die Treppe hoch. In seinem Zimmer setzte er sich an den Schreibtisch und ging den Entwurf der Rede durch. Er brütete immer noch darüber, als sich die Tür leise öffnete und wieder schloss. Bobby war hereingekommen und setzte sich aufs Bett.
»Ich arbeite an einer Rede«, erklärte Johnny, »für die Abschlussfeier.« Bobby schwieg, und Johnny wandte sich erneut seinem Text zu. Er mochte es, wenn sein Bruder bei ihm im Zimmer saß, und Bobby schien es ebenfalls zu gefallen. Schließlich legte sich Bobby auf das Bett und starrte an die Decke. In solchen Momenten fragte sich Johnny immer, was ihm wohl durch den Kopf ging. Johnny hätte gern gewusst, ob sich Bobby an den Unfall erinnern konnte und ob es seine Entscheidung war, nicht zu sprechen, oder er gar keinen Einfluss darauf hatte.
Dieser Unfall lastete seit fünf Jahren wie ein Fluch auf ihnen allen. Charlotte und Johnny strengten sich in der Schule und im Sport umso mehr an, als wollten sie den Kummer der ganzen Familie wettmachen. Ihr Vater hatte sich aufgegeben. Er hasste seinen Job und sein Leben und war zerfressen von Schuldgefühlen. Und Johnny wusste, dass seine Mutter auf ihre Weise ebenfalls aufgegeben hatte. Sie glaubte im Grunde nicht mehr daran, dass Bobby jemals wieder sprechen würde oder Jim sich vergeben könnte. Alice hatte ihm nie Vorwürfe wegen des Unfalls gemacht. Bevor er von der Brücke abkam, hatte er ein paar Bier getrunken, aber das hielt sie ihm nicht vor. Jim Peterson hasste sich selbst schon genug dafür. Es war eine Tragödie, die man nicht rückgängig machen konnte.
...
Übersetzung: Silvia Kinkel
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2008 Knaur Verlag
Es war ein strahlend schöner, heißer Junitag in San Dimas, einem abgelegenen Vorort von Los
Angeles. Die quirlige Großstadt mit der Extravaganz Hollywoods schien Lichtjahre entfernt zu sein. In diesem friedlichen Städtchen, unbeachtet von der übrigen Welt, durften die Kinder noch Kinder sein. Wieder neigte sich ein Schuljahr dem Ende zu. Die Sommerferien standen vor der Tür, und die Vorbereitungen für den Abschlussball der Highschool liefen auf Hochtouren.
Johnny Peterson, bester Schüler der Abschlussklasse und Star des Footballteams, sollte bei der feierlichen Zeugnisüberreichung die Eröffnungsrede halten. Jetzt stand er zusammen mit ein paar Freunden auf den Eingangsstufen der Schule und sein hochgewachsener, schlanker Körper neigte sich ganz leicht Becky Adams zu. Ihre Blicke trafen sich von Zeit zu Zeit. Die beiden waren seit vier Jahren ein Paar, und wie so viele Jugendliche ihres Alters teilten sie jenes offene Geheimnis Verliebter: vor einem Jahr hatten sie angefangen, miteinander zu schlafen. Es verband sie eine dieser Teenagerlieben mit vagen, unausgesprochenen Plänen, eines Tages zu heiraten. Becky war im Mai achtzehn geworden, und Johnny würde seinen achtzehnten Geburtstag im Juli feiern, kurz vor Beginn des College.
Sein braunes Haar und die dunklen Augen schimmerten im Sonnenlicht. Er war groß, breitschultrig, sportlich, mit perfekten Zähnen und einem strahlenden Lächeln. So wünschte sich jeder Junge auszusehen. Außerdem war er ein netter Kerl und ein verlässlicher Freund. Seine Eltern hatten es mit drei Kindern finanziell nicht leicht und waren immer gerade so über die Runden gekommen, weswegen Johnny sich schon früh Geld mit Nebenjobs dazuverdient hatte. Er wäre gern Profifootballspieler geworden - und er hatte auch das Zeug dazu -, fand es jedoch vernünftiger, mit einem Stipendium ein staatliches College zu besuchen und Betriebswirtschaft zu studieren, um später mit in die kleine Firma seines Vaters einzusteigen. Der hatte seine Arbeit als Steuerberater nie sonderlich gemocht. Johnny dagegen tat sich mit der Materie nicht schwer. Er war ein Naturtalent in Mathe matik und verfügte außerdem über hervorragende Computerkenntnisse. Johnnys Mutter arbeitete schon lange nicht mehr in ihrem Beruf als Krankenschwester. Sie wollte sich um die Kinder kümmern, was sich insbesondere während der letzten fünf Jahre als Fulltimejob entpuppt hatte. Johnnys jüngere Schwester Charlotte war gerade vierzehn geworden und sollte im Herbst mit der Highschool beginnen, und der neunjährige Bobby benötigte besondere Betreuung.
Becky war ein hübsches Mädchen mit blondem Haar und himmelblauen Augen. Der Tod ihres Vaters vor zwei Jahren stellte ihr Leben und das ihrer vier Geschwister komplett auf den Kopf. Mike Adams war Bauarbeiter gewesen und bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen. Er hinterließ seine Familie praktisch mittellos. Von der Lebensversicherung hatten sie nur einen lächerlich kleinen Geldbetrag erhalten und seitdem harte Zeiten durchgemacht. Auch Becky hatte neben der Schule immer mindestens einen Job. Jeder Cent, den sie dazuverdiente, wurde gebraucht, und im Gegensatz zu Johnny hatte sie kein Stipendium bekommen. Deshalb hatte sie sich entschieden, nach dem Abschluss ein Jahr lang ganztags im Drugstore zu arbeiten und sich dann erneut um ein Stipendium zu bewerben. Sie war längst nicht so gut in der Schule wie Johnny und eigentlich froh, ein Jahr Pause vom Lernen zu haben. Becky arbeitete gern, liebte ihre beiden Brüder und Schwestern und war froh, ihre Mutter ein bisschen unterstützen zu können.
Johnny war der Lichtblick in ihrem Leben, und Becky hatte ein bisschen Angst, dass er am College
andere Mädchen kennenlernen würde. Andererseits wusste sie ja, dass er sie liebte. Jeder in ihrer Klasse war der Ansicht, dass sie das perfekte Paar seien. Sie verbrachten jede freie Minute miteinander, lachten viel, redeten über alles und stritten sich nie. Sie waren nicht nur ein Liebespaar, sondern füreinander auch die besten Freunde.
Zwischen den Schülern der Abschlussklasse drehten sich zur Zeit alle Gespräche um den Ball. Johnny hatte Beckys Kleid bezahlt, aber das behielten sie für sich. Ohne seine Unterstützung hätte sie nicht an dem Fest teilnehmen können. »Ich muss los, Jungs, die Arbeit ruft!« Johnny grinste seine Freunde an. An den Wochenenden arbeitete er bei seinem Vater im Büro, aber während der Woche jobbte er in einem nahe gelegenen Sägewerk. Er überwachte den Bestand, räumte das Lager auf und schnitt Holz zu. Die Arbeit war anstrengend, wurde aber gut bezahlt. Den ganzen Sommer über wollte er dort arbeiten und so viel wie möglich verdienen, bevor es dann mit dem College losging. Becky jobbte bereits im Drugstore und hatte ihre Stelle als Kellnerin in einem Café nahe der Schule gekündigt. Nur noch einen Job zu haben vereinfachte ihr Leben beträchtlich.
»Komm schon, Becky.« Johnny zog sie am Arm, um sie von den anderen Mädchen loszueisen. Sie diskutierten immer noch über ihre Kleider für den Ball. Für die meisten von ihnen stellte er das Ende und gleichzeitig den Höhepunkt einer Ära dar. Das war für Johnny und Becky nicht anders - aber sie mussten sich zumindest nicht den Kopf darüber zerbrechen, mit wem sie zu diesem wichtigen Ereignis gehen sollten.
Endlich verabschiedete sich Becky von ihren Freundinnen, sie warf ihr langes blondes Haar über die Schulter zurück und folgte Johnny zu seinem Auto. Er trug ihren Rucksack und verstaute ihn zusammen mit seinem auf dem Rücksitz. »Sollen wir noch schnell die Kleinen abholen?«, fragte er nach einem kurzen Blick auf die Armbanduhr.
»Hättest du denn noch Zeit?« Becky lächelte ihn dankbar an, denn Johnny versuchte, ihr diesen Gefallen so oft wie möglich zu tun. Im Grunde fühlten sie sich schon verheiratet und waren davon überzeugt, dass sie es eines Tages sein würden. Sie sprachen nicht darüber, und das war auch nicht nötig, denn oft verstanden sie einander ohne Worte.
»Aber klar.« Er zwinkerte Becky zu und schaltete das Radio ein, während sie sich auf den Beifahrersitz gleiten ließ. In puncto Musikgeschmack waren sie sich einig, außerdem hatten sie die gleichen Lieblingsgerichte und mochten dieselben Leute. Becky liebte es, Johnny beim Football zuzusehen, und er konnte gar nicht genug davon bekommen, mit ihr zu tanzen und zu reden. Meistens fuhr er nach Feierabend noch kurz bei ihr vorbei, und später, wenn er mit seinen Hausaufgaben fertig war, rief er sie an. Sie konnten stundenlang telefonieren. Seine Mutter sagte immer, die beiden seien wie siamesische Zwillinge.
Die Schule, die Beckys jüngere Geschwister besuchten, lag nur vier Blocks entfernt. Als sie dort ankamen, sah Becky die vier draußen auf dem Schulhof herumtoben. Sie winkte ihnen zu, und die Adams-Kinder kamen mit lautem Begrüßungsgeheul angelaufen. Becky klappte ihren Sitz vor, und alle kletterten ganz selbstverständlich auf die Rückbank.
»Hi, Johnny«, begrüßten ihn die Jungen wie aus einem Munde, und Peter, mit seinen zwölf Jahren der Älteste, bedankte sich fürs Mitnehmen. Mark war elf, Rachel zehn und Sandi sieben. Bei Adams ging es ziemlich turbulent zu, und obwohl ihr Dad jetzt schon zwei Jahre tot war, vermissten sie ihn wie am ersten Tag. Ihre Mutter schien während dieser Zeit um zehn Jahre gealtert zu sein. Sie arbeitete viel zu viel und tat ihr Bestes, um die fünf Kinder gut zu versorgen. Ihre Freunde ermahnten sie häufig, sie sollte endlich wieder einmal ausgehen. Pam sah sie dann verständnislos an und entgegnete, dass sie dazu keine Zeit habe. Aber Becky wusste, dass in Wahrheit noch ein anderer Grund dahintersteckte. Schon auf der Highschool hatte ihre Mutter immer nur Mike geliebt, und allein die Vorstellung, sich mit einem anderen Mann zu treffen, war ihr unerträglich.
Johnny setzte Becky und die Kinder ab. Bevor sie ausstieg, hauchte sie ihm rasch einen Kuss auf die Wange. Als Johnny losfuhr, winkte er noch einmal. Becky schob die Kinder ins Haus und kümmerte sich darum, dass sie einen Imbiss und etwas zu trinken bekamen, bevor sie selbst zur Arbeit gehen musste. Ihre Mutter würde erst in zwei Stunden nach Hause kommen. Pam leitete den örtlichen Schönheitssalon. Sie war eine hübsche Frau, deren Leben sich anders als erhofft entwickelt hatte. Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, im Alter von vierzig Jahren mit fünf Kindern und ohne Ehemann dazustehen.
Vier Stunden später war Johnny bereits wieder bei Becky. Er sah müde, aber zufrieden aus und blieb gerade lange genug, um mit ihr am Küchentisch ein Sandwich zu essen, mit ihrer Mom zu plaudern und mit den Kleinen herumzualbern. Um halb zehn machte er sich in der Regel auf den Heimweg. Seine Tage waren lang und ausgefüllt.
»Ich kann gar nicht glauben, dass ihr beiden jetzt schon euren Abschluss macht. Es kommt mir so vor, als sei es erst gestern gewesen, dass ihr als Fünfjährige an Halloween gemeinsam singen gegangen seid.« Pam Adams schüttelte lächelnd den Kopf. Johnny stand vom Küchenstuhl auf und streckte sich zu voller Größe. Im ersten Jahr an der Highschool hatte er Basketball gespielt und war ziemlich gut darin gewesen, aber Football und die Schule ließen ihm dann keine Zeit mehr dazu. Pam betrachtete ihn gerührt.
Sie hoffte, dass er und Becky eines Tages heirateten und ihm ein längeres Leben beschert sein würde als ihrem Mann. Aber sie bedauerte nichts, dafür waren die gemeinsamen Jahre mit Mike viel zu glücklich gewesen. »Danke übrigens für Beckys Kleid«, sagte sie leise. Sie war die Einzige, die davon wusste. Johnny hatte es nicht einmal seiner Mutter erzählt.
»Es steht ihr unheimlich gut.« Johnny versuchte schnell darüber hinwegzugehen, weil ihn der dankbare Ausdruck in Pams Augen verlegen machte. »Es wird sicher ein toller Abend.«
»Bestimmt. Beckys Dad und ich haben uns auf dem Abschlussball verlobt«, erinnerte sich Pam wehmütig, ohne dass es für Johnny ein Wink mit dem Zaunpfahl sein sollte. Dafür war viel zu offensichtlich, dass die beiden ohnehin auf eine gemeinsame Zukunft zu steuerten.
»Bis morgen«, verabschiedete sich Johnny. Becky folgte ihm nach draußen. Sie standen noch ein paar Minuten neben seinem Auto und redeten, dann zog Johnny sie in die Arme. Sie küssten sich voller Leidenschaft und mit der ungezügelten Energie ihrer Jugend, bis Becky ganz außer Atem war.
»Du solltest besser gehen, bevor ich dich hinter den nächstbesten Busch schleife, Johnny Peterson«, flüsterte¬ sie kichernd und mit diesem Lächeln, das ihn immer noch um den Verstand brachte.
»Klingt verlockend, aber dann fällt deine Mom in Ohnmacht«, zog er sie auf. Beide nahmen an, ihre Eltern hätten nicht die geringste Ahnung, wie weit die Dinge zwischen ihnen bereits gediehen waren. Dabei wussten ihre Mütter längst Bescheid. Irgendwann hatte Pam mit Becky ein Mutter-Tochter-Gespräch geführt und ihr eindringlich nahegelegt, vorsichtig zu sein. Aber so vernünftig waren Becky und Johnny auch von allein. Becky hatte nicht die geringste Lust, schwanger zu werden, bevor sie verheiratet waren - und da sie erst das Studium beenden wollten, lag das in weiter Ferne. »Ich ruf dich nachher an«, versprach er und stieg ein. Seine Mutter wartete bestimmt wieder mit dem Essen auf ihn.
Johnny wohnte zwei Meilen von Becky entfernt und brauchte für den Heimweg nur fünf Minuten. Er stellte seinen Wagen hinter dem seines Vaters in der Einfahrt ab. Als er den Garten in Richtung Hintereingang durchquerte, sah er, dass seine Schwester Charlotte ganz allein Korbwürfe mit dem Basketball trainierte - so wie er es auch immer getan hatte. Sie war das Ebenbild ihrer Mutter, obwohl sie ihn mit dem langen blonden Haar und den großen blauen Augen manchmal auch an Becky erinnerte. Charlotte trug Shorts und ein Tanktop. Mit ihren langen Beinen war sie ungewöhnlich groß für ihr Alter und zudem sehr hübsch. Aber das bedeutete ihr nichts. Für Charlotte zählte nur der Sport. Ob sie aß, schlief oder träumte - sie dachte an nichts anderes als Baseball, Football und Basketball. Sie war ein sportliches Allroundtalent und gehörte so vielen Teams an, wie sie zeitlich gerade einrichten konnte. Während der letzten Jahre war sie Johnny älter vorgekommen, als sie tatsächlich war. Nicht nur wegen ihrer Größe - sie war ihren Altersgenossen an Reife und Verständigkeit weit voraus.
»Hi, Charlie, wie läuft's?«, rief Johnny und fing den Ball, der ihm mit großer Wucht entgegengeflogen kam. Sie warf so hart wie ein Junge, und Johnny musste jedes Mal lächeln, wenn sie ihm eine Kostprobe gab.
»Wie üblich.« Sie sah Johnny kurz über die Schulter hinweg an, und nachdem er ihr den Ball wieder zugespielt hatte, plazierte sie ihn zielsicher im Korb. Ihr Blick wirkte traurig.
»Was ist los?« Als Johnny sie in den Arm nahm, hielt sie den Ball fest und schmiegte sich an ihren Bruder. Er konnte ihren Kummer förmlich spüren.
»Ach nichts.«
»Ist Dad zu Hause?« Natürlich war er das, Johnny hatte das Auto in der Einfahrt stehen sehen, und er wusste auch ganz genau, was seiner Schwester zu schaffen machte.
»Sicher.« Sie nickte und fing an zu dribbeln. Johnny sah ihr einen Moment lang zu, dann schnappte er sich den Ball, und sie machten abwechselnd Korbwürfe. Charlotte beeindruckte ihren großen Bruder jedes Mal aufs Neue mit ihrem spielerischen Können. Sie hatte sich immer gewünscht, wie er zu sein. Johnny - ihr Held und großes Vorbild. Sie hatte beinahe jedes seiner Spiele während der Highschool-Zeit gesehen und hatte ihn leidenschaftlich angefeuert.
Die beiden spielten gut zehn Minuten, bis Johnny schließlich ins Haus ging. Seine Mutter stand in der Küche und trocknete Geschirr ab, und sein kleiner Bruder Bobby sah ihr vom Küchentisch aus zu. Sein Vater saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher.
»Hi, Mom.« Johnny küsste seine Mutter zur Begrüßung flüchtig auf den Scheitel. Sie lächelte. Alice Peterson liebte ihre Kinder über alles. Der Tag von Johnnys Geburt war einer der glücklichsten ihres Lebens gewesen. Und wenn sie ihn heute ansah, überkam sie immer noch dieses Gefühl.
»Hallo, Schatz, was gibt's Neues?« Wie jeden Abend begannen ihre Augen zu strahlen, wenn sie ihren Ältesten sah.
»Stell dir vor: Montag bekommen wir Zeugnisse, und in zwei Tagen ist Abschlussball.« Sie lachte, während Bobby ihn schweigend ansah.
»Hör auf, mich zu veralbern. Wie könnte ich das vergessen?« Seit Monaten redeten sie über nichts anderes. »Wie geht es Becky?«
»Gut.« Johnny wandte sich Bobby zu, der sofort anfing zu lächeln, als sein großer Bruder auf ihn zukam.
»Na, Kleiner, schönen Tag gehabt?« Bobby erwiderte nichts, strahlte jedoch, als Johnny ihm durchs Haar fuhr.
Johnny konnte stundenlang mit seinem kleinen Bruder reden. Er fragte ihn, was er gemacht habe, und erzählte ihm, was er selbst erlebt hatte. Bobby antwortete nie. Seit seinem vierten Lebensjahr hatte er kein einziges Wort mehr gesprochen - und das lag jetzt fünf Jahre zurück. Er und sein Vater hatten damals einen Unfall gehabt. Sie waren mit dem Auto von einer Brücke in den Fluss gestürzt und beinahe ertrunken. Ein Spaziergänger hatte dem Jungen das Leben gerettet. Zwei Wochen lang lag der Kleine auf der Intensivstation, dann war er zwar über den Berg, blieb aber stumm, und keiner konnte ihnen sagen, ob er einen Hirnschaden davongetragen hatte, weil er so lange unter Wasser gewesen war, oder ob es sich um ein seelisches Trauma handelte. Die vielen Spezialisten und Therapien hatten nichts bewirkt. Bobby war geistig hellwach und registrierte genauestens, was um ihn herum passierte, aber er sprach nicht. Er ging auf eine Sonderschule für Behinderte, und obwohl er längst Schreiben gelernt hatte, teilte er sich auch auf diese Weise nicht mit, sondern kopierte lediglich Wörter oder Buchstaben. Als hätte er dieser Welt nichts mehr mitzuteilen. Sein Vater, der vor dem Unfall lediglich auf Partys gern ein bisschen getrunken hatte, betäubte sich seitdem jeden Abend mit Alkohol. Jim torkelte nicht lallend durch die Gegend, wurde auch nicht aggressiv oder gar gewalt tätig, er saß einfach nur vor dem Fernseher und betrank sich still und leise - seit nunmehr fünf Jahren jeden Abend.
Die Familie sprach nicht über seine Trunksucht. Am Anfang hatte Alice versucht, mit Jim zu reden, und gehofft, er würde irgendwann darüber hinwegkommen, so wie Bobby eines Tages auch. Aber dem war nicht so. Die beiden hatten sich, jeder auf seine Weise, in ihre eigene Welt zurückgezogen, und alle anderen litten darunter. Alice hatte Jim ein paarmal vorgeschlagen, zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen, aber das lehnte er strikt ab. Er würde dieses Thema nicht diskutieren, weder mit ihr noch mit Fremden. Er gestand sich ja nicht einmal selbst ein, dass er ein Problem hatte. »Hast du Hunger, mein Lieber?«, wandte sich Alice an Johnny. »Ich habe dir das Abendessen aufgehoben.«
»Danke, aber ich hatte schon ein Sandwich bei den Adams«, erwiderte er und strich Bobby zärtlich über die Wange. Ihn zu berühren schien die beste Art zu sein, mit ihm zu kommunizieren. Der Kleine hing so sehr an seinem großen Bruder, dass er ihm ständig hinterherlief und mit seinen großen blauen Augen jede von Johnnys Bewegungen verfolgte.
»Ich wünschte, du würdest wenigstens ab und zu hier essen«, beklagte sich Alice. »Wie wäre es mit
Nachtisch? Wir hatten Apfelkuchen.« Sein Lieblingsdessert, das sie deshalb auch möglichst oft zubereitete.
»Klingt gut.« Er wollte ihre Gefühle nicht verletzen. Manchmal aß er zwei komplette Mahlzeiten an einem Abend, erst bei Becky und dann zu Hause, nur um seiner Mutter eine Freude zu machen.
Während sich Johnny den Kuchen schmecken ließ, setzte sich Alice zu ihm an den Küchentisch. Sie sprachen über Charlottes Home Runs beim Spiel an diesem Nachmittag und den Abschlussball. Bobby hörte ihnen schweigend zu. Johnny wollte am nächsten Tag seinen Smoking beim Verleih abholen. Alice konnte es kaum erwarten, ihn darin zu sehen, und hatte noch schnell einen neuen Film für den Fotoapparat gekauft. Dieses Bild musste sie einfach festhalten. Als sie Johnny anbot, das Sträußchen für Becky zu besorgen, lehnte er lächelnd ab.
»Ist bereits bestellt. Trotzdem danke.« Er stand auf und sagte, dass er noch an seiner Rede arbeiten wolle. Alice war furchtbar stolz darauf, dass er bei der Abschlussfeier die Eröffnungsrede halten würde.
Bevor Johnny nach oben ging, sah er kurz ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief, und sein Vater saß schlafend davor. Ein vertrauter Anblick. Johnny schaltete das Gerät aus und stieg leise die Treppe hoch. In seinem Zimmer setzte er sich an den Schreibtisch und ging den Entwurf der Rede durch. Er brütete immer noch darüber, als sich die Tür leise öffnete und wieder schloss. Bobby war hereingekommen und setzte sich aufs Bett.
»Ich arbeite an einer Rede«, erklärte Johnny, »für die Abschlussfeier.« Bobby schwieg, und Johnny wandte sich erneut seinem Text zu. Er mochte es, wenn sein Bruder bei ihm im Zimmer saß, und Bobby schien es ebenfalls zu gefallen. Schließlich legte sich Bobby auf das Bett und starrte an die Decke. In solchen Momenten fragte sich Johnny immer, was ihm wohl durch den Kopf ging. Johnny hätte gern gewusst, ob sich Bobby an den Unfall erinnern konnte und ob es seine Entscheidung war, nicht zu sprechen, oder er gar keinen Einfluss darauf hatte.
Dieser Unfall lastete seit fünf Jahren wie ein Fluch auf ihnen allen. Charlotte und Johnny strengten sich in der Schule und im Sport umso mehr an, als wollten sie den Kummer der ganzen Familie wettmachen. Ihr Vater hatte sich aufgegeben. Er hasste seinen Job und sein Leben und war zerfressen von Schuldgefühlen. Und Johnny wusste, dass seine Mutter auf ihre Weise ebenfalls aufgegeben hatte. Sie glaubte im Grunde nicht mehr daran, dass Bobby jemals wieder sprechen würde oder Jim sich vergeben könnte. Alice hatte ihm nie Vorwürfe wegen des Unfalls gemacht. Bevor er von der Brücke abkam, hatte er ein paar Bier getrunken, aber das hielt sie ihm nicht vor. Jim Peterson hasste sich selbst schon genug dafür. Es war eine Tragödie, die man nicht rückgängig machen konnte.
...
Übersetzung: Silvia Kinkel
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2008 Knaur Verlag
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Autoren-Porträt von Danielle Steel
Steel, DanielleDanielle Steel ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt - mit rund 600 Millionen verkauften Büchern, die in knapp 50 Ländern erschienen sind. Nahezu jeder ihrer 78 Romane schaffte es auf die New-York-Times-Bestsellerliste. Neben dem Schreiben widmet sich die Mutter von neun Kindern intensiv ihrer Familie und engagiert sich für verschiedene soziale Stiftungen. Danielle Steel lebt heute in San Francisco und verbringt mehrere Monate des Jahres in Frankreich. Wenn Sie mehr über die Autorin wissen möchten, dann besuchen Sie sie auf ihrer Website unter www.daniellesteel.com.
Bibliographische Angaben
- Autor: Danielle Steel
- 2011, 192 Seiten, Masse: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Silvia Kinkel
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426503689
- ISBN-13: 9783426503683
- Erscheinungsdatum: 31.10.2011
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