Dein Wille geschehe / Joe O'Loughlin & Vincent Ruiz Bd.4
Psychothriller
Eine äußerst bizarre Selbstmordreihe stellt den Psychologen Joe O'Loughlin vor ein großes Rätsel. Es scheint, dass die Opfer per Handy in den Tod getrieben wurden. Schnell weiß Joe: Hier ist ein teuflisch gefährlicher Psychopath am Werk.
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Produktinformationen zu „Dein Wille geschehe / Joe O'Loughlin & Vincent Ruiz Bd.4 “
Eine äußerst bizarre Selbstmordreihe stellt den Psychologen Joe O'Loughlin vor ein großes Rätsel. Es scheint, dass die Opfer per Handy in den Tod getrieben wurden. Schnell weiß Joe: Hier ist ein teuflisch gefährlicher Psychopath am Werk.
Klappentext zu „Dein Wille geschehe / Joe O'Loughlin & Vincent Ruiz Bd.4 “
"Michael Robothams Thrillerreihe um den an Parkinson erkrankten Psychotherapeuten Joe O'Loughlin ist ultraspannend." Sebastian FitzekAuf der Clifton Bridge in Bristol steht eine nackte Frau, ein Handy am Ohr. Sie wirkt ferngesteuert, willenlos - und springt in den Tod. Wurde die Frau von ihrem Anrufer in den Selbstmord getrieben? Als eine Freundin der Toten erfroren aufgefunden wird, unbekleidet und mit einem Handy zu ihren Füssen, versteht Psychotherapeut Joe O'Loughlin, dass hier ein Experte für Menschenmanipulation am Werk sein muss. Gemeinsam mit Detective Inspector Vincent Ruiz versucht er dem "Seelenbrecher" auf die Spur zu kommen und ahnt nicht, dass er selbst bereits ins Visier des Mörders geraten ist ...
Der vierte Band der Erfolgsserie um den Psychologen Joe O'Loughlin.
Lese-Probe zu „Dein Wille geschehe / Joe O'Loughlin & Vincent Ruiz Bd.4 “
Dein Wille geschehe von Michael RobothamEs gibt einen Moment, in dem alle Hoffnung vergeht,
aller Stolz schwindet, alle Erwartung, aller Glaube, alles
Sehnen. Dieser Moment gehört mir. Dann höre ich den
Klang einer zerbrechenden Seele.
Es ist kein lautes Knacken wie von splitternden
Knochen, wenn ein Rückgrat bricht oder ein Schädel
birst. Auch nicht weich und feucht wie ein gebrochenes
Herz. Es ist ein Klang, bei dem man sich fragt, wie viel
Schmerz ein Mensch ertragen kann; ein Laut, der das
Gedächtnis zerschmettert und die Vergangenheit in die
Gegenwart sickern lässt; ein Ton, so hoch, dass nur die
Hunde der Hölle ihn hören können.
Hört ihr das? Jemand hat sich zu einer winzigen Kugel
zusammengerollt und weint leise in eine endlose Nacht.
... mehr
1
Universität Bath
Es ist elf Uhr morgens, Ende September, und es regnet so
heftig, dass Kühe in den Flüssen treiben und Vögel auf den aufgeblähten
Kadavern hocken.
Der Hörsaal ist voll. Zwischen den Treppen zu beiden Seiten
des Raums erstrecken sich ansteigende Sitzreihen, so hoch,
bis sie sich in der Dunkelheit verlieren. Mein Auditorium sieht
blass aus, ernst, jung und verkatert. Die Orientierungswoche
mit ihren zahlreichen Erstsemesterpartys ist in vollem Gange,
und viele der Anwesenden haben offenbar heftig mit sich gerungen,
ob sie heute zu den Vorlesungen kommen oder wieder
ins Bett gehen sollten. Vor einem Jahr haben sie noch Teenie-
Filme geschaut und mit Popcorn gekrümelt. Jetzt leben sie weit
weg von zu Hause, betrinken sich mit subventioniertem Alkohol
und sind gespannt darauf, etwas zu lernen.
Ich betrete das Podium und klammere mich mit beiden Händen
am Rednerpult fest, als hätte ich Angst umzufallen.
»Mein Name ist Joseph O'Loughlin. Ich bin klinischer
Psychologe und werde Sie durch diesen Einführungskurs in die
Verhaltenspsychologie begleiten.«
Ich mache eine Pause und blinzele in die Lichter. Ich hätte
nicht gedacht, dass es mich nervös machen würde, wieder zu
lehren, aber plötzlich zweifle ich daran, irgendetwas Wissenswertes
vermitteln zu können. Ich habe noch Bruno Kaufmans
Rat im Ohr. (Bruno ist der Chef des psychologischen Instituts
der Universität und mit einem perfekten teutonischen Namen
für diese Position ausgestattet.) »Nichts von dem, was wir ihnen
beibringen, nützt ihnen in der wirklichen Welt irgendwas,
alter Junge«, hat er gesagt. »Unsere Aufgabe besteht lediglich
darin, ihnen ein Bluffometer an die Hand zu geben.«
»Ein was?«
»Wenn sie fleißig sind und ein bisschen was kapieren, lernen
sie zu erkennen, ob ihnen jemand kompletten Schwachsinn erzählt.«
Bruno hatte gelacht, und ich hatte unwillkürlich eingestimmt.
»Geh es locker an«, fügte er hinzu. »Noch sind sie sauber,
munter und wohlgenährt. In einem Jahr reden sie dich mit Vornamen
an und denken, sie wüssten alles.«
Wie soll ich es locker angehen?, will ich ihn jetzt fragen. Ich
bin doch selbst ein Novize. Ich atme tief ein und beginne.
»Warum steuert ein eloquenter Hochschulabsolvent, der
Stadtplanung studiert hat, ein Passagierflugzeug in einen Wolkenkratzer
und tötet Tausende von Menschen? Warum schießt
ein Junge im Teenageralter auf einem Schulhof wahllos um
sich, oder warum bringt ein minderjähriges Mädchen in einer
Toilette ein Baby zur Welt und lässt es im Mülleimer liegen?«
Schweigen.
»Wie hat sich ein unbehaarter Primat zu einer Spezies entwickelt,
die Atomwaffen konstruiert, sich Big Brother anschaut
und fragt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und wie wir hier
hergekommen sind? Warum weinen wir? Warum sind manche
Witze komisch? Warum neigen wir dazu, an Gott zu glauben
oder auch nicht? Warum erregt es uns, wenn jemand an unseren
Zehen nuckelt? Warum haben wir Probleme, uns an manche
Dinge zu erinnern, während wir einen nervtötenden Britney-
Spears-Song nicht mehr aus dem Kopf bekommen? Was bewegt
uns, zu lieben oder zu hassen? Und nicht zuletzt: Warum sind
wir alle so verschieden?«
Ich blicke in die Gesichter in den vorderen Reihen. Ich habe
ihre Aufmerksamkeit gewonnen, zumindest für einen Moment.
»Wir Menschen beschäftigen uns nun schon seit Tausenden
von Jahren mit uns selbst, entwickeln zahllose Theorien und
Philosophien, erschaffen erstaunliche Meisterwerke der Kunst,
der Technik und originelle Gedankengebäude; aber in all der
Zeit haben wir ungefähr so viel gelernt.« Mit Daumen und
Zeigefinger deute ich einen Zentimeter an.
»Sie sind hier, um Psychologie zu studieren - die Wissenschaft
von der menschlichen Seele; die Wissenschaft, die sich
mit Erkenntnis, Glauben, Gefühl und Begehren befasst, die
unverstandenste Wissenschaft von allen.«
Mein herabhängender linker Arm zittert.
»Haben Sie das gesehen?«, frage ich und hebe den anstößigen
Arm. »Das macht er gelegentlich. Manchmal denke ich, er
habe einen eigenen Willen, aber das ist natürlich unmöglich.
Unser Wille wohnt nicht in einem Arm oder Bein.
Hier ist meine erste Frage: Eine Frau kommt in eine Klinik.
Sie ist mittleren Alters, gebildet, redegewandt und gut gekleidet.
Plötzlich schnellt ihr linker Arm hoch, und ihre Finger
krallen sich um ihren Hals. Ihr Gesicht läuft rot an. Ihre Augen
treten hervor. Sie wird gewürgt. Und dann kommt ihre rechte
Hand zu ihrer Rettung. Sie schält die Finger der linken von ihrem
Hals und drückt die Hand wieder an die Seite. Was sollte ich tun?«
Schweigen.
Ein Mädchen in der ersten Reihe hebt nervös den Arm.
Sie hat kurze rotblonde Haare, die sich federngleich um ihren
glatten Nacken schmiegen. »Eine detaillierte Krankengeschichte
aufnehmen?«
»Das ist bereits geschehen. Sie hat keine Vorgeschichte psychischer
Erkrankungen.«
Eine weitere Hand geht hoch. »Es ist ein Fall von selbstverletzendem
Verhalten.«
»Offensichtlich, aber sie erwürgt sich nicht freiwillig. Es geschieht
ungewollt. Ist beunruhigend. Sie sucht Hilfe.«
Ein Mädchen mit dick getuschten Wimpern streicht mit einer
Hand ihre Haare hinters Ohr. »Vielleicht hat sie Suizidneigungen.«
»Ihre linke Hand ja. Ihre rechte Hand ist aber offensicht-
lich anderer Ansicht. Es ist wie in einem Monty-Python-Sketch.
Manchmal muss sie sich auf ihre linke Hand setzen, um sie unter
Kontrolle zu halten.«
»Ist sie depressiv?«, fragt ein Junge mit Zigeunerohrring und
Gel im Haar.
»Nein. Sie hat Angst, aber sie kann auch den komischen Aspekt
ihrer Lage erkennen. Es kommt ihr lächerlich vor. Trotzdem
erwägt sie in ihren schlimmsten Momenten eine Amputation.
Was, wenn ihre linke Hand sie in der Nacht erwürgt,
während ihre rechte Hand schläft?«
»Ein Hirnschaden?«
»Es gibt keine erkennbaren neurologischen Defekte - keine
Lähmung oder übertriebene Reflexe.«
Die Stille dehnt sich und steigt über unseren Köpfen auf, wo
sie sich wie Spinnwebenfäden in der warmen Luft bewegt.
Eine Stimme aus der Dunkelheit füllt das Vakuum. »Sie hatte
einen Schlaganfall.«
Ich erkenne die Stimme. Bruno macht an meinem ersten Tag
einen kleinen Kontrollbesuch. Ich kann sein Gesicht in der Dunkelheit
nicht sehen, aber ich weiß, dass er lächelt.
»Geben Sie diesem Mann eine Zigarre«, erkläre ich.
Das eifrige Mädchen in der ersten Reihe schmollt. »Aber Sie
haben gesagt, es läge kein Hirnschaden vor.«
»Ich sagte, es gäbe keine erkennbaren neurologischen Defekte.
Diese Frau hat einen leichten Schlaganfall in der rechten
Gehirnhälfte erlitten, in einem Bereich, der für die Emotionen
zuständig ist. Normalerweise kommunizieren unsere beiden Gehirnhälften
miteinander und kommen zu einer Übereinkunft,
was jedoch in diesem Fall nicht geschah. So musste ihr Gehirn
einen dauernden physischen Kampf unter Benutzung der beiden
Körperhälften ausfechten.
Dieser Fall ist fünfzig Jahre alt und einer der berühmtesten
der Hirnforschung. Mit seiner Hilfe entwickelte ein Neurologe
namens Dr. Kurt Goldstein eine der ersten Theorien über das
geteilte Hirn.«
Mein linker Arm zittert erneut, aber diesmal ist das Zittern
eigenartig beruhigend.
»Vergessen Sie alles, was man Ihnen über Psychologie erzählt
hat. Sie werden dadurch nicht zu einem besseren Pokerspieler,
und sie hilft Ihnen auch nicht, Mädchen anzumachen
oder sie besser zu verstehen. Ich lebe mit dreien zusammen,
und sie sind mir alle ein vollständiges Rätsel.
Es geht nicht um Traumdeutung, ESP, multiple Persönlichkeiten,
Gedankenlesen, Rohrschach-Tests, Phobien, wiedergefundene
Erinnerungen oder Verdrängung. Und am allerwichtigsten
- es geht nicht darum, besser mit sich selbst in
Kontakt zu kommen. Falls das Ihr Ehrgeiz ist, schlage ich vor,
Sie kaufen sich einen Playboy und suchen sich ein stilles Eckchen.«
Hier und da erhebt sich schnaubendes Gelächter.
»Ich kenne noch niemanden von Ihnen, aber ich weiß schon
einiges über Sie. Einige von Ihnen möchten aus der Menge hervorstechen,
andere lieber darin verschwinden. Möglicherweise
sichten Sie die Kleider, die Ihre Mutter für Sie eingepackt hat,
und planen gleich morgen einen Ausflug zu H&M, wo sie sich
maschinell zerknitterte Klamotten kaufen, die Ihre Individualität
ausdrücken, indem sie Sie so aussehen lassen wie alle anderen
auf dem Campus.
Andere fragen sich vielleicht, ob man von einem einzigen
Besäufnis schon einen Leberschaden davontragen kann, oder
spekulieren darüber, wer heute früh um drei Uhr im Studentenwohnheim
den Feueralarm ausgelöst hat. Sie wollen wissen,
ob ich streng zensiere oder Ihnen für Referate eine Fristverlängerung
gebe. Möglicherweise überlegt die eine oder der andere
auch, ob er nicht besser Politik statt Psychologie gewählt hätte.
Bleiben Sie dabei, dann bekommen Sie ein paar Antworten -
heute jedoch nicht mehr.«
Ich stolpere leicht, als ich zur Bühnenmitte gehe.
»Ich werde Sie mit einem Gedanken allein lassen. Ein Stück
des menschlichen Gehirns von der Größe eines Sandkorns ent-
hält einhunderttausend Neuronen, zwei Millionen Axonen und
eine Milliarde Synapsen, die alle miteinander reden. Die Zahl
der Permutationen und Kombinationen von Aktivität, die in
jedem unserer Köpfe theoretisch möglich sind, übersteigt die
Zahl der Elementarteilchen im Universum insgesamt.«
Ich mache eine Pause, um die Zahlen über sie hinwegrollen
zu lassen. »Willkommen im großen Unbekannten.«
»Brillant, alter Junge, du hast ihnen einen gehörigen Schrecken
eingejagt«, sagt Bruno, während ich meine Unterlagen einpacke.
»Ironisch. Leidenschaftlich. Amüsant. Inspirierend.«
»Na ja, nicht direkt, Mr. Chips.«
»Sei nicht so bescheiden. Keiner dieser jungen Banausen hat
je von Mr. Chips gehört. Sie sind mit der Lektüre von Harry
Potter und der Weinstein aufgewachsen.«
»Ich glaube, es heißt ›Stein der Weisen‹.«
»Egal. Mit deiner kleinen Marotte hast du alles, was man
braucht, um ausgesprochen beliebt zu werden, Joseph.«
»Meine Marotte?«
»Dein Parkinson.«
Er verzieht keine Miene, als ich ihn ungläubig ansehe. Ich
klemme meine ramponierte Aktentasche unter den Arm und
gehe zum Seitenausgang des Hörsaals.
»Nun, es freut mich, dass du glaubst, sie hätten zugehört«,
sage ich.
»Oh, zuhören tun sie nie«, erwidert Bruno. »Wenn manchmal
etwas durch ihren Alkoholnebel dringt, geschieht das per
Osmose. Aber du hast dafür gesorgt, dass sie garantiert wiederkommen.«
»Wie das?«
»Sie wissen nicht, wie sie dich anlügen sollen.«
Seine Augen verschwinden beinahe zwischen den Falten.
Bruno trägt eine Hose ohne Taschen. Aus irgendeinem Grund
habe ich einem Mann, der keine Hosentaschen braucht, nie getraut.
Was macht er mit seinen Händen?
Die Flure undWege sind voller Studenten. Ein Mädchen, das
ich aus der Vorlesung wiedererkenne, kommt auf mich zu. Sie
hat glatte Haut und trägt Desert Boots und schwarze Jeans.
Der dicke dunkle Lidschatten lässt sie aussehen wie einWaschbär
mit einem traurigen Geheimnis.
»Glauben Sie an das Böse, Professor?«
»Verzeihung?«
Sie wiederholt ihre Frage und drückt ein Notizbuch an ihre
Brust.
»Ich glaube, das Wort ›böse‹ wird zu häufig verwendet und
hat dadurch anWert verloren.«
»Werden Menschen böse geboren oder von der Gesellschaft
dazu gemacht?«
»Sie werden dazu gemacht.«
»Es gibt also keine Psychopathen von Geburt an?«
»Ihre Zahl ist zu gering, um sie zu quantifizieren.«
»Was für eine Antwort ist das denn?«
»Die richtige.«
Sie möchte mich noch etwas fragen, kämpft aber noch mit
sich, den Mut dazu aufzubringen. »Würden Sie ein Interview
geben?«, platzt sie dann plötzlich heraus.
»Wem?«
»Der Studentenzeitung. Professor Kaufman sagt, Sie wären
gewissermaßen prominent.«
»Ich glaube kaum...«
»Er sagt, Sie wären angeklagt worden, eine ehemalige Patientin
ermordet zu haben, und hätten sich rausgewunden.«
»Ich war unschuldig.«
Die Unterscheidung scheint zu subtil für sie. Sie wartet noch
immer auf meine Antwort.
»Ich gebe keine Interviews, tut mir leid.«
Sie wendet sich achselzuckend zum Gehen, bevor ihr noch
etwas einfällt. »Ihre Vorlesung hat mir gefallen.«
»Danke.«
Sie verschwindet den Flur hinunter. Bruno sieht mich verle-
gen an. »Ich weiß nicht, wovon sie redet, alter Junge. Da muss
sie irgendwas falsch verstanden haben.«
»Was erzählst du den Leuten?«
»Nur Gutes. Sie heißt Nancy Ewers und ist ein intelligentes
junges Ding. Studiert Russisch und Politik.«
»Warum schreibt sie für die Zeitung?«
»Wissen ist kostbar, egal, ob es auch nur den geringsten
menschlichen Nutzen hat oder nicht.«
»Wer hat das gesagt?«
»A.E. Housman.«
»War der nicht Kommunist?«
»Er war eine Schwuchtel.«
Es regnet immer noch. Es gießt, genauer gesagt, in Strömen.
So geht das jetzt schon seitWochen.Vierzig Tage und vierzig
Nächte müssten beinahe vorüber sein. Eine ölige Flut aus
Schlamm, Schutt und Matsch, die über den Südwesten Englands
schwappt, macht Straßen unpassierbar und verwandelt
Keller in Swimmingpools. Es gibt Radioberichte über Überschwemmungen
im Malago Valley, Hartcliffe Way und Bedminster.
Für den Avon, der in Evesham über die Ufer getreten
ist, sind weitereWarnungen ausgegeben worden. Schleusen
und Dämme sind gefährdet.Menschen werden evakuiert. Tiere
ersaufen.
Der Regen fällt, gepeitscht von seitlichen Böen, auf den Hof.
Studenten suchen Schutz unter Schirmen oder hüllen sich fest
in ihre Mäntel, wenn sie zur nächsten Vorlesung oder in die
Bibliothek hasten. Andere bleiben, wo sie sind, und drängeln
sich in der Halle. Bruno beobachtet die hübscheren Mädchen,
ohne sich aber je zu verraten dabei.
Es war sein Vorschlag, dass ich als Dozent arbeite - zwei
Stunden proWoche plus vier halbstündige Tutorien. Sozialpsychologie.
Wie schwer konnte das sein?
»Hast du einen Schirm?«, fragt er.
»Ja.«
»Wir teilen ihn uns.«
Binnen Sekunden sind meine Schuhe voll Wasser. Bruno hält
den Schirm und drängt mich im Laufen beiseite. Vor dem Psychologischen
Institut steht ein Streifenwagen in einer Nothaltebucht.
Ein junger schwarzer Constable im Regenmantel tritt
aus dem Gebäude. Er ist groß und kurzhaarig, seine Schultern
sind leicht gebeugt, als hätte der Regen sie niedergedrückt.
»Dr. Kaufman?«
Bruno nickt kaum merklich.
»Wir haben eine Notsituation auf der Clifton Bridge.«
Bruno stöhnt. »Nein, nein, nicht jetzt.«
Eine Weigerung hat der Constable nicht erwartet. Bruno
drängt, noch immer meinen Schirm in der Hand, an ihm vorbei
zur Glastür des Psychologischen Instituts.
»Wir haben versucht, Sie telefonisch zu erreichen«, ruft der
Polizist. »Ich habe den Auftrag, Sie abzuholen.«
Bruno bleibt stehen und wendet sich, Kraftausdrücke murmelnd,
um. »Es muss doch noch jemand anderen geben. Ich
habe keine Zeit.«
Regentropfen kullern über meine Wange. Ich frage Bruno,
was los sei.
Seine Miene hellt sich plötzlich auf. Er springt über eine
Pfütze und gibt mir meinen Regenschirm zurück, als würde er
die olympische Fackel weiterreichen.
»Das ist der Mann, den Sie eigentlich suchen«, sagt er zu
dem Polizisten. »Mein geschätzter Kollege, Professor Joseph
O'Loughlin, ein klinischer Psychologe mit herausragendem
Ruf. Ein alter Hase mit großer Erfahrung in diesen Dingen.«
»In welchen Dingen?«
»Na, mit Leuten, die springen.«
»Verzeihung?«
»Auf der Clifton Suspension Bridge«, fügt Bruno hinzu.
»Irgendein Schwachkopf, der nicht genug Grips hat, bei dem
Regen zu Hause zu bleiben.«
Der Constable öffnet mir die Beifahrertür. »Weiblich. Anfang
vierzig«, präzisiert er.
Ich begreife noch immer nicht.
»Komm schon, alter Junge«, fügt Bruno hinzu. »Das ist
Dienst an der Allgemeinheit.«
»Warum machst du es nicht?«
»Wichtige Termine. Ein Treffen aller Institutsleiter mit dem
Rektor.« Er lügt. »Keine falsche Bescheidenheit, alter Junge.
Was ist mit dem jungen Burschen, dem du in London das Leben
gerettet hast? Wohlverdiente Lorbeeren. Du bist ungleich
besser qualifiziert als ich. Mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich
springt sie eh, bevor du da bist.«
Ich frage mich, ob er sich manchmal selbst reden hört.
»Ich muss mich sputen. Viel Glück.« Er stößt die Glastür auf
und verschwindet in dem Gebäude.
Der Polizist hält noch immer die Wagentür auf. »Die Brücke
ist abgesperrt worden«, erklärt er. »Wir müssen uns wirklich
beeilen, Sir.«
Die Scheibenwischer schlagen hin und her, eine Sirene heult.
Im Innern des Wagens klingt sie eigenartig gedämpft, sodass
ich mich immer wieder nach einem Streifenwagen umsehe. Es
dauert eine Weile, bis ich begreife, dass die Sirene noch viel
näher ist, nämlich auf dem Dach über mir.
Gemauerte Türme tauchen am Horizont auf. Die Clifton
Suspension Bridge ist Brunels Meisterwerk, ein Wunderwerk
der Ingenieurskunst im Dampfzeitalter. Rücklichter verschwimmen.
Der Verkehr staut sich länger als eine Meile vor der Auffahrt
zur Brücke. Auf dem Randstreifen fahren wir an den stehenden
Fahrzeugen vorbei bis zur Straßensperre der Polizei.
Der Constable öffnet mir die Tür und gibt mir meinen Regenschirm.
Eine Böe weht mir den Regen seitlich ins Gesicht
und reißt mir den Schirm fast aus der Hand. Vor mir liegt die
verlassene Brücke. Die gemauerten Türme stützen die gigantischen
verketteten Trägerkabel, die sich anmutig bis zur Fahrbahn
schwingen und zum gegenüberliegenden Ufer hin wieder
ansteigen.
Eine Eigenschaft von Brücken besteht darin, dass sie die
Möglichkeit bieten, eine Überquerung zu beginnen, ohne je
auf der anderen Seite anzukommen. Für Menschen, die das so
sehen, ist eine Brücke virtuell, ein offenes Fenster, an dem sie
vorbeigehen oder durch das sie hinausklettern können.
Die Clifton Suspension Bridge ist eine Sehenswürdigkeit, eine
Touristenattraktion und eine bekannte Selbstmörderbrücke.
Gut ausgelastet, häufig benutzt; »beliebt« wäre aber vielleicht
eine zu unglückliche Wortwahl. Manche Leute sagen, auf der
Brücke spukten die Geister früherer Selbstmörder, auf der
Fahrbahn wurden unheimliche Schatten gesichtet.
Heute gibt es keine Schatten. Und der einzige Geist auf der
Brücke ist aus Fleisch und Blut: Eine nackte Frau steht auf der
anderen Seite des Sicherheitszauns, den Rücken an das Metallgitter
gepresst. Die Absätze ihrer roten Schuhe balancieren auf
der Kante.
Wie bei einer Figur auf einem surrealistischen Gemälde wirkt
ihre Blöße nicht besonders schockierend oder unpassend. Sie
steht mit steifer Würde aufrecht und starrt mit der Miene eines
Menschen aufs Wasser, der sich von der Welt abgekoppelt hat.
Der Einsatzleiter stellt sich vor. Er trägt Uniform. Sergeant
Abernathy. Seinen Vornamen bekomme ich nicht mit. Ein anderer
Polizist hält seinen Schirm. Wasser strömt von dessen
dunkler Nylonkuppel auf meine Schuhe.
»Was brauchen Sie?«, fragt Abernathy.
»Einen Namen.«
»Haben wir nicht. Sie spricht nicht mit uns.«
»Hat sie irgendwas gesagt?«
»Nein.«
»Möglicherweise steht sie unter Schock. Wo sind ihre Kleider?«
»Nichts gefunden.«
Ich blicke den Fußgängerweg hinunter. Er ist von beiden Seiten
eingezäunt mit fünf Bahnen Draht auf der Krone, sodass
man ihn nur mit Mühe überwinden kann. Der Regen fällt so
dicht, dass ich das andere Ende der Brücke kaum ausmachen
kann.
»Wie lange ist sie schon da draußen?«
»Etwa eine Stunde.«
»Haben Sie ein Fahrzeug gefunden?«
»Wir suchen noch.«
Wahrscheinlich ist sie von der dicht bewaldeten Ostseite aus
gekommen. Aber selbst wenn sie sich erst auf der Brücke ausgezogen
hat, müssen Dutzende von Fahrern sie gesehen haben.
Warum hat niemand sie aufgehalten?
Eine große Frau mit stoppelkurzen, schwarz gefärbten Haaren
unterbricht unsere Beratung. Sie zieht die Schultern hoch
und hat die Hände in den Taschen ihres Regenmantels vergraben,
der bis zu ihren Knien hängt. Sie ist riesig. Vierschrötig.
Und sie trägt Männerschuhe.
Abernathys Pose wird steifer. »Was machen Sie denn hier,
Mam?«
»Ich versuche bloß, nach Hause zu kommen, Sergeant. Und
nennen Sie mich nicht Mam. Ich bin nicht die verdammte
Queen.«
Sie blickt zu den Fernsehteams und Pressefotografen, die
sich auf dem begrasten Ufer versammelt haben und ihre Stative
und Lichter aufbauen. Schließlich wendet sie sich mir zu.
»Was zittern Sie denn so, Schätzchen? So unheimlich bin ich
auch nicht.«
»Tut mir leid. Ich habe Parkinson.«
»Schicksal. Kriegt man da eine Plakette?«
»Eine Plakette?«
»Für Behindertenparkplätze. Damit kann man praktisch
überall parken. Das Ding ist fast so gut, wie Detective zu sein,
nur dass wir auch noch Leute erschießen und schnell fahren
dürfen.«
Sie ist offensichtlich höherrangig als Abernathy.
Sie blickt zur Brücke. »Sie machen das schon, Doc, kein
Grund, nervös zu werden.«
»Ich bin Professor, kein Arzt.«
»Schade. Ich hatte Sie mir schon als Doctor Who vorgestellt
und mich als ihren weiblichen Komplizen. Sagen Sie, was
glauben Sie, wie die Daleks es geschafft haben, weite Teile des
Universums zu erobern, obwohl sie nicht mal Treppen steigen
konnten?«
»Ich nehme an, das ist eines der großen Rätsel des Lebens.«
»Davon kenne ich noch jede Menge.«
Ein Funkgerät wird unter meine Jacke geschoben, und man
legt mir einen reflektierenden Sicherheitsgurt an, der auf der
Brust zugeklickt wird. Die Frau zündet sich eine Zigarette an
und zupft einen Tabakkrümel von ihrer Zungenspitze. Obwohl
sie den Einsatz nicht leitet, strahlt sie natürliche Autorität aus,
sodass die uniformierten Beamten offenbar bereitwillig alles
befolgen, was sie sagt.
»Möchten Sie, dass ich mit Ihnen gehe?«, fragt sie.
»Ich komme schon zurecht.«
»Also gut, dann sagen Sie dem Hungerhaken da draußen,
dass ich ihr ein Diät-Muffin kaufe, wenn sie auf unsere Seite
des Zauns kommt.«
»Mache ich.«
Beide Zufahrten sind vorübergehend abgesperrt, die Brücke
ist bis auf zwei Krankenwagen und wartende Notärzte und Sanitäter
vollkommen leer. Autofahrer und Schaulustige drängen
sich unter Schirmen und Regenmänteln. Einige sind wegen der
besseren Sicht eine Böschung hinaufgestiegen.
Regen prasselt auf den Asphalt, Tropfen zerstieben in winzigen
pilzförmigen Wolken, bevor sie durch Gullys rauschen
und wie ein Vorhang aus Wasser vom Brückenrand fallen.
Ich ducke mich unter den Straßensperren durch und gehe
langsam auf die Brücke.Meine Hände sind nicht in den Taschen,
und mein linker Arm weigert sich zu schwingen. Das macht er
manchmal - er kommt beim Plansoll einfach nicht mit.
Vor mir sehe ich die Frau. Aus der Entfernung hatte ihre
Haut makellos ausgesehen, aber nun fällt mir auf, dass ihre
Schenkel zerkratzt und schlammverschmiert sind. Das Dreieck
ihres Schamhaars ist dunkler als ihr Haar, das sie in einem
locker geflochtenen Zopf im Nacken trägt. Und da ist noch
etwas - Buchstaben auf ihrem Bauch. Ein Wort. Als sie sich zu
mir umdreht, kann ich es lesen.
HURE.
Warum die Selbstanklage? Warum nackt? Das ist eine öffentliche
Erniedrigung. Vielleicht hatte sie eine Affäre und hat
einen geliebten Menschen verloren. Jetzt möchte sie sich selbst
bestrafen, um zu beweisen, dass es ihr wirklich leidtut. Oder
es könnte eine Drohung sein - das ultimative Spiel mit dem
Risiko: »Wenn du mich verlässt, bringe ich mich um.«
Nein, das ist zu extrem. Zu gefährlich. Teenager drohen bei
scheiternden Beziehungen manchmal, sich etwas anzutun. Es
ist ein Zeichen emotionaler Unreife. Diese Frau ist Ende dreißig
oder Anfang vierzig, mit kräftigen Schenkeln und kleinen
Zellulitedellen an Pobacken und Hüften. Eine Narbe fällt mir
ins Auge. Ein Kaiserschnitt. Sie ist Mutter.
Ich bin jetzt bis auf wenige Schritte herangekommen.
Sie drückt den Po fest gegen den Gitterzaun und hat den linken
Arm um einen der Drähte auf der Krone geschlungen. Mit
der anderen Hand presst sie ein Handy ans Ohr.
»Hallo. Ich heiße Joe. Und Sie?«
Sie antwortet nicht. Von einer kräftigen Böe erfasst, scheint
sie kurz das Gleichgewicht zu verlieren und nach vorne zu
schwanken. Der Draht schneidet in ihre Armbeuge, und sie
zieht sich zurück.
Ihre Lippen bewegen sich. Sie telefoniert. Ich muss ihre Aufmerksamkeit
gewinnen.
»Sagen Sie mir nur Ihren Namen. Das ist doch nicht so
schwer. Sie können mich Joe nennen, und ich kann Sie...«
Der Wind weht eine Haarsträhne in ihr Gesicht, sodass nur
ihr linkes Auge sichtbar ist.
Nagende Ungewissheit macht sich in meinem Magen breit.
Weshalb die hochhackigen Schuhe? War sie in einem Nacht-
club? Dafür ist es eigentlich schon zu spät am Tag. Ist sie betrunken?
Steht sie unter Drogen? Ecstasy kann psychotische
Zustände auslösen. LSD. Vielleicht Ice.
Ich schnappe Fetzen ihres Gespräches auf.
»Nein. Nein. Bitte. Nein.«
»Wer ist am Telefon?«, frage ich.
»Das mache ich. Versprochen. Ich habe alles getan. Bitte
verlangen Sie nicht...«
»Hören Sie mir zu. Sie wollen das nicht tun.«
Ich blicke nach unten. Gut siebzig Meter tiefer schiebt sich
ein breiter Lastkahn mit Maschinenkraft gegen die Strömung
flussaufwärts. Der angeschwollene Fluss leckt an den Ginster und Weißdornbüschen
am Ufer. Auf der Oberfläche treibt buntes
Konfetti aus Müll: Bücher, Äste und Plastikflaschen.
»Ihnen ist bestimmt kalt. Ich habe eine Decke.«
Wieder gibt sie keine Antwort. Ich muss dafür sorgen, dass
sie mich zur Kenntnis nimmt. Ein Nicken oder ein einziges zustimmendes
Wort ist schon genug. Ich muss sicherstellen, dass
sie mir zuhört.
»Vielleicht könnte ich versuchen, sie Ihnen über die Schulter
zu legen - nur um Sie zu wärmen.«
Ihr Kopf schnellt zu mir herum, und sie schwankt nach
vorne, als wolle sie loslassen. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
»Okay, ich komme keinen Schritt näher. Ich bleibe, wo ich
bin. Sagen Sie mir nur Ihren Namen.«
Sie wendet den Blick zum Himmel und blinzelt in den Regen
wie ein Gefangener auf dem Hof, der einen kurzen Moment
der Freiheit genießt.
»Was auch schiefgelaufen ist, was immer passiert ist oder
Sie aufgewühlt hat, wir können darüber reden. Ich möchte Ihnen
Ihre Entscheidung auch gar nicht ausreden. Ich will nur
verstehen, warum.«
Ihre Zehen sacken ab, und sie muss sich mit aller Kraft auf
ihre Absätze stellen, um das Gleichgewicht zu halten.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe ..
byWilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Printed in Germany
www.goldmann-verlag.de
1
Universität Bath
Es ist elf Uhr morgens, Ende September, und es regnet so
heftig, dass Kühe in den Flüssen treiben und Vögel auf den aufgeblähten
Kadavern hocken.
Der Hörsaal ist voll. Zwischen den Treppen zu beiden Seiten
des Raums erstrecken sich ansteigende Sitzreihen, so hoch,
bis sie sich in der Dunkelheit verlieren. Mein Auditorium sieht
blass aus, ernst, jung und verkatert. Die Orientierungswoche
mit ihren zahlreichen Erstsemesterpartys ist in vollem Gange,
und viele der Anwesenden haben offenbar heftig mit sich gerungen,
ob sie heute zu den Vorlesungen kommen oder wieder
ins Bett gehen sollten. Vor einem Jahr haben sie noch Teenie-
Filme geschaut und mit Popcorn gekrümelt. Jetzt leben sie weit
weg von zu Hause, betrinken sich mit subventioniertem Alkohol
und sind gespannt darauf, etwas zu lernen.
Ich betrete das Podium und klammere mich mit beiden Händen
am Rednerpult fest, als hätte ich Angst umzufallen.
»Mein Name ist Joseph O'Loughlin. Ich bin klinischer
Psychologe und werde Sie durch diesen Einführungskurs in die
Verhaltenspsychologie begleiten.«
Ich mache eine Pause und blinzele in die Lichter. Ich hätte
nicht gedacht, dass es mich nervös machen würde, wieder zu
lehren, aber plötzlich zweifle ich daran, irgendetwas Wissenswertes
vermitteln zu können. Ich habe noch Bruno Kaufmans
Rat im Ohr. (Bruno ist der Chef des psychologischen Instituts
der Universität und mit einem perfekten teutonischen Namen
für diese Position ausgestattet.) »Nichts von dem, was wir ihnen
beibringen, nützt ihnen in der wirklichen Welt irgendwas,
alter Junge«, hat er gesagt. »Unsere Aufgabe besteht lediglich
darin, ihnen ein Bluffometer an die Hand zu geben.«
»Ein was?«
»Wenn sie fleißig sind und ein bisschen was kapieren, lernen
sie zu erkennen, ob ihnen jemand kompletten Schwachsinn erzählt.«
Bruno hatte gelacht, und ich hatte unwillkürlich eingestimmt.
»Geh es locker an«, fügte er hinzu. »Noch sind sie sauber,
munter und wohlgenährt. In einem Jahr reden sie dich mit Vornamen
an und denken, sie wüssten alles.«
Wie soll ich es locker angehen?, will ich ihn jetzt fragen. Ich
bin doch selbst ein Novize. Ich atme tief ein und beginne.
»Warum steuert ein eloquenter Hochschulabsolvent, der
Stadtplanung studiert hat, ein Passagierflugzeug in einen Wolkenkratzer
und tötet Tausende von Menschen? Warum schießt
ein Junge im Teenageralter auf einem Schulhof wahllos um
sich, oder warum bringt ein minderjähriges Mädchen in einer
Toilette ein Baby zur Welt und lässt es im Mülleimer liegen?«
Schweigen.
»Wie hat sich ein unbehaarter Primat zu einer Spezies entwickelt,
die Atomwaffen konstruiert, sich Big Brother anschaut
und fragt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und wie wir hier
hergekommen sind? Warum weinen wir? Warum sind manche
Witze komisch? Warum neigen wir dazu, an Gott zu glauben
oder auch nicht? Warum erregt es uns, wenn jemand an unseren
Zehen nuckelt? Warum haben wir Probleme, uns an manche
Dinge zu erinnern, während wir einen nervtötenden Britney-
Spears-Song nicht mehr aus dem Kopf bekommen? Was bewegt
uns, zu lieben oder zu hassen? Und nicht zuletzt: Warum sind
wir alle so verschieden?«
Ich blicke in die Gesichter in den vorderen Reihen. Ich habe
ihre Aufmerksamkeit gewonnen, zumindest für einen Moment.
»Wir Menschen beschäftigen uns nun schon seit Tausenden
von Jahren mit uns selbst, entwickeln zahllose Theorien und
Philosophien, erschaffen erstaunliche Meisterwerke der Kunst,
der Technik und originelle Gedankengebäude; aber in all der
Zeit haben wir ungefähr so viel gelernt.« Mit Daumen und
Zeigefinger deute ich einen Zentimeter an.
»Sie sind hier, um Psychologie zu studieren - die Wissenschaft
von der menschlichen Seele; die Wissenschaft, die sich
mit Erkenntnis, Glauben, Gefühl und Begehren befasst, die
unverstandenste Wissenschaft von allen.«
Mein herabhängender linker Arm zittert.
»Haben Sie das gesehen?«, frage ich und hebe den anstößigen
Arm. »Das macht er gelegentlich. Manchmal denke ich, er
habe einen eigenen Willen, aber das ist natürlich unmöglich.
Unser Wille wohnt nicht in einem Arm oder Bein.
Hier ist meine erste Frage: Eine Frau kommt in eine Klinik.
Sie ist mittleren Alters, gebildet, redegewandt und gut gekleidet.
Plötzlich schnellt ihr linker Arm hoch, und ihre Finger
krallen sich um ihren Hals. Ihr Gesicht läuft rot an. Ihre Augen
treten hervor. Sie wird gewürgt. Und dann kommt ihre rechte
Hand zu ihrer Rettung. Sie schält die Finger der linken von ihrem
Hals und drückt die Hand wieder an die Seite. Was sollte ich tun?«
Schweigen.
Ein Mädchen in der ersten Reihe hebt nervös den Arm.
Sie hat kurze rotblonde Haare, die sich federngleich um ihren
glatten Nacken schmiegen. »Eine detaillierte Krankengeschichte
aufnehmen?«
»Das ist bereits geschehen. Sie hat keine Vorgeschichte psychischer
Erkrankungen.«
Eine weitere Hand geht hoch. »Es ist ein Fall von selbstverletzendem
Verhalten.«
»Offensichtlich, aber sie erwürgt sich nicht freiwillig. Es geschieht
ungewollt. Ist beunruhigend. Sie sucht Hilfe.«
Ein Mädchen mit dick getuschten Wimpern streicht mit einer
Hand ihre Haare hinters Ohr. »Vielleicht hat sie Suizidneigungen.«
»Ihre linke Hand ja. Ihre rechte Hand ist aber offensicht-
lich anderer Ansicht. Es ist wie in einem Monty-Python-Sketch.
Manchmal muss sie sich auf ihre linke Hand setzen, um sie unter
Kontrolle zu halten.«
»Ist sie depressiv?«, fragt ein Junge mit Zigeunerohrring und
Gel im Haar.
»Nein. Sie hat Angst, aber sie kann auch den komischen Aspekt
ihrer Lage erkennen. Es kommt ihr lächerlich vor. Trotzdem
erwägt sie in ihren schlimmsten Momenten eine Amputation.
Was, wenn ihre linke Hand sie in der Nacht erwürgt,
während ihre rechte Hand schläft?«
»Ein Hirnschaden?«
»Es gibt keine erkennbaren neurologischen Defekte - keine
Lähmung oder übertriebene Reflexe.«
Die Stille dehnt sich und steigt über unseren Köpfen auf, wo
sie sich wie Spinnwebenfäden in der warmen Luft bewegt.
Eine Stimme aus der Dunkelheit füllt das Vakuum. »Sie hatte
einen Schlaganfall.«
Ich erkenne die Stimme. Bruno macht an meinem ersten Tag
einen kleinen Kontrollbesuch. Ich kann sein Gesicht in der Dunkelheit
nicht sehen, aber ich weiß, dass er lächelt.
»Geben Sie diesem Mann eine Zigarre«, erkläre ich.
Das eifrige Mädchen in der ersten Reihe schmollt. »Aber Sie
haben gesagt, es läge kein Hirnschaden vor.«
»Ich sagte, es gäbe keine erkennbaren neurologischen Defekte.
Diese Frau hat einen leichten Schlaganfall in der rechten
Gehirnhälfte erlitten, in einem Bereich, der für die Emotionen
zuständig ist. Normalerweise kommunizieren unsere beiden Gehirnhälften
miteinander und kommen zu einer Übereinkunft,
was jedoch in diesem Fall nicht geschah. So musste ihr Gehirn
einen dauernden physischen Kampf unter Benutzung der beiden
Körperhälften ausfechten.
Dieser Fall ist fünfzig Jahre alt und einer der berühmtesten
der Hirnforschung. Mit seiner Hilfe entwickelte ein Neurologe
namens Dr. Kurt Goldstein eine der ersten Theorien über das
geteilte Hirn.«
Mein linker Arm zittert erneut, aber diesmal ist das Zittern
eigenartig beruhigend.
»Vergessen Sie alles, was man Ihnen über Psychologie erzählt
hat. Sie werden dadurch nicht zu einem besseren Pokerspieler,
und sie hilft Ihnen auch nicht, Mädchen anzumachen
oder sie besser zu verstehen. Ich lebe mit dreien zusammen,
und sie sind mir alle ein vollständiges Rätsel.
Es geht nicht um Traumdeutung, ESP, multiple Persönlichkeiten,
Gedankenlesen, Rohrschach-Tests, Phobien, wiedergefundene
Erinnerungen oder Verdrängung. Und am allerwichtigsten
- es geht nicht darum, besser mit sich selbst in
Kontakt zu kommen. Falls das Ihr Ehrgeiz ist, schlage ich vor,
Sie kaufen sich einen Playboy und suchen sich ein stilles Eckchen.«
Hier und da erhebt sich schnaubendes Gelächter.
»Ich kenne noch niemanden von Ihnen, aber ich weiß schon
einiges über Sie. Einige von Ihnen möchten aus der Menge hervorstechen,
andere lieber darin verschwinden. Möglicherweise
sichten Sie die Kleider, die Ihre Mutter für Sie eingepackt hat,
und planen gleich morgen einen Ausflug zu H&M, wo sie sich
maschinell zerknitterte Klamotten kaufen, die Ihre Individualität
ausdrücken, indem sie Sie so aussehen lassen wie alle anderen
auf dem Campus.
Andere fragen sich vielleicht, ob man von einem einzigen
Besäufnis schon einen Leberschaden davontragen kann, oder
spekulieren darüber, wer heute früh um drei Uhr im Studentenwohnheim
den Feueralarm ausgelöst hat. Sie wollen wissen,
ob ich streng zensiere oder Ihnen für Referate eine Fristverlängerung
gebe. Möglicherweise überlegt die eine oder der andere
auch, ob er nicht besser Politik statt Psychologie gewählt hätte.
Bleiben Sie dabei, dann bekommen Sie ein paar Antworten -
heute jedoch nicht mehr.«
Ich stolpere leicht, als ich zur Bühnenmitte gehe.
»Ich werde Sie mit einem Gedanken allein lassen. Ein Stück
des menschlichen Gehirns von der Größe eines Sandkorns ent-
hält einhunderttausend Neuronen, zwei Millionen Axonen und
eine Milliarde Synapsen, die alle miteinander reden. Die Zahl
der Permutationen und Kombinationen von Aktivität, die in
jedem unserer Köpfe theoretisch möglich sind, übersteigt die
Zahl der Elementarteilchen im Universum insgesamt.«
Ich mache eine Pause, um die Zahlen über sie hinwegrollen
zu lassen. »Willkommen im großen Unbekannten.«
»Brillant, alter Junge, du hast ihnen einen gehörigen Schrecken
eingejagt«, sagt Bruno, während ich meine Unterlagen einpacke.
»Ironisch. Leidenschaftlich. Amüsant. Inspirierend.«
»Na ja, nicht direkt, Mr. Chips.«
»Sei nicht so bescheiden. Keiner dieser jungen Banausen hat
je von Mr. Chips gehört. Sie sind mit der Lektüre von Harry
Potter und der Weinstein aufgewachsen.«
»Ich glaube, es heißt ›Stein der Weisen‹.«
»Egal. Mit deiner kleinen Marotte hast du alles, was man
braucht, um ausgesprochen beliebt zu werden, Joseph.«
»Meine Marotte?«
»Dein Parkinson.«
Er verzieht keine Miene, als ich ihn ungläubig ansehe. Ich
klemme meine ramponierte Aktentasche unter den Arm und
gehe zum Seitenausgang des Hörsaals.
»Nun, es freut mich, dass du glaubst, sie hätten zugehört«,
sage ich.
»Oh, zuhören tun sie nie«, erwidert Bruno. »Wenn manchmal
etwas durch ihren Alkoholnebel dringt, geschieht das per
Osmose. Aber du hast dafür gesorgt, dass sie garantiert wiederkommen.«
»Wie das?«
»Sie wissen nicht, wie sie dich anlügen sollen.«
Seine Augen verschwinden beinahe zwischen den Falten.
Bruno trägt eine Hose ohne Taschen. Aus irgendeinem Grund
habe ich einem Mann, der keine Hosentaschen braucht, nie getraut.
Was macht er mit seinen Händen?
Die Flure undWege sind voller Studenten. Ein Mädchen, das
ich aus der Vorlesung wiedererkenne, kommt auf mich zu. Sie
hat glatte Haut und trägt Desert Boots und schwarze Jeans.
Der dicke dunkle Lidschatten lässt sie aussehen wie einWaschbär
mit einem traurigen Geheimnis.
»Glauben Sie an das Böse, Professor?«
»Verzeihung?«
Sie wiederholt ihre Frage und drückt ein Notizbuch an ihre
Brust.
»Ich glaube, das Wort ›böse‹ wird zu häufig verwendet und
hat dadurch anWert verloren.«
»Werden Menschen böse geboren oder von der Gesellschaft
dazu gemacht?«
»Sie werden dazu gemacht.«
»Es gibt also keine Psychopathen von Geburt an?«
»Ihre Zahl ist zu gering, um sie zu quantifizieren.«
»Was für eine Antwort ist das denn?«
»Die richtige.«
Sie möchte mich noch etwas fragen, kämpft aber noch mit
sich, den Mut dazu aufzubringen. »Würden Sie ein Interview
geben?«, platzt sie dann plötzlich heraus.
»Wem?«
»Der Studentenzeitung. Professor Kaufman sagt, Sie wären
gewissermaßen prominent.«
»Ich glaube kaum...«
»Er sagt, Sie wären angeklagt worden, eine ehemalige Patientin
ermordet zu haben, und hätten sich rausgewunden.«
»Ich war unschuldig.«
Die Unterscheidung scheint zu subtil für sie. Sie wartet noch
immer auf meine Antwort.
»Ich gebe keine Interviews, tut mir leid.«
Sie wendet sich achselzuckend zum Gehen, bevor ihr noch
etwas einfällt. »Ihre Vorlesung hat mir gefallen.«
»Danke.«
Sie verschwindet den Flur hinunter. Bruno sieht mich verle-
gen an. »Ich weiß nicht, wovon sie redet, alter Junge. Da muss
sie irgendwas falsch verstanden haben.«
»Was erzählst du den Leuten?«
»Nur Gutes. Sie heißt Nancy Ewers und ist ein intelligentes
junges Ding. Studiert Russisch und Politik.«
»Warum schreibt sie für die Zeitung?«
»Wissen ist kostbar, egal, ob es auch nur den geringsten
menschlichen Nutzen hat oder nicht.«
»Wer hat das gesagt?«
»A.E. Housman.«
»War der nicht Kommunist?«
»Er war eine Schwuchtel.«
Es regnet immer noch. Es gießt, genauer gesagt, in Strömen.
So geht das jetzt schon seitWochen.Vierzig Tage und vierzig
Nächte müssten beinahe vorüber sein. Eine ölige Flut aus
Schlamm, Schutt und Matsch, die über den Südwesten Englands
schwappt, macht Straßen unpassierbar und verwandelt
Keller in Swimmingpools. Es gibt Radioberichte über Überschwemmungen
im Malago Valley, Hartcliffe Way und Bedminster.
Für den Avon, der in Evesham über die Ufer getreten
ist, sind weitereWarnungen ausgegeben worden. Schleusen
und Dämme sind gefährdet.Menschen werden evakuiert. Tiere
ersaufen.
Der Regen fällt, gepeitscht von seitlichen Böen, auf den Hof.
Studenten suchen Schutz unter Schirmen oder hüllen sich fest
in ihre Mäntel, wenn sie zur nächsten Vorlesung oder in die
Bibliothek hasten. Andere bleiben, wo sie sind, und drängeln
sich in der Halle. Bruno beobachtet die hübscheren Mädchen,
ohne sich aber je zu verraten dabei.
Es war sein Vorschlag, dass ich als Dozent arbeite - zwei
Stunden proWoche plus vier halbstündige Tutorien. Sozialpsychologie.
Wie schwer konnte das sein?
»Hast du einen Schirm?«, fragt er.
»Ja.«
»Wir teilen ihn uns.«
Binnen Sekunden sind meine Schuhe voll Wasser. Bruno hält
den Schirm und drängt mich im Laufen beiseite. Vor dem Psychologischen
Institut steht ein Streifenwagen in einer Nothaltebucht.
Ein junger schwarzer Constable im Regenmantel tritt
aus dem Gebäude. Er ist groß und kurzhaarig, seine Schultern
sind leicht gebeugt, als hätte der Regen sie niedergedrückt.
»Dr. Kaufman?«
Bruno nickt kaum merklich.
»Wir haben eine Notsituation auf der Clifton Bridge.«
Bruno stöhnt. »Nein, nein, nicht jetzt.«
Eine Weigerung hat der Constable nicht erwartet. Bruno
drängt, noch immer meinen Schirm in der Hand, an ihm vorbei
zur Glastür des Psychologischen Instituts.
»Wir haben versucht, Sie telefonisch zu erreichen«, ruft der
Polizist. »Ich habe den Auftrag, Sie abzuholen.«
Bruno bleibt stehen und wendet sich, Kraftausdrücke murmelnd,
um. »Es muss doch noch jemand anderen geben. Ich
habe keine Zeit.«
Regentropfen kullern über meine Wange. Ich frage Bruno,
was los sei.
Seine Miene hellt sich plötzlich auf. Er springt über eine
Pfütze und gibt mir meinen Regenschirm zurück, als würde er
die olympische Fackel weiterreichen.
»Das ist der Mann, den Sie eigentlich suchen«, sagt er zu
dem Polizisten. »Mein geschätzter Kollege, Professor Joseph
O'Loughlin, ein klinischer Psychologe mit herausragendem
Ruf. Ein alter Hase mit großer Erfahrung in diesen Dingen.«
»In welchen Dingen?«
»Na, mit Leuten, die springen.«
»Verzeihung?«
»Auf der Clifton Suspension Bridge«, fügt Bruno hinzu.
»Irgendein Schwachkopf, der nicht genug Grips hat, bei dem
Regen zu Hause zu bleiben.«
Der Constable öffnet mir die Beifahrertür. »Weiblich. Anfang
vierzig«, präzisiert er.
Ich begreife noch immer nicht.
»Komm schon, alter Junge«, fügt Bruno hinzu. »Das ist
Dienst an der Allgemeinheit.«
»Warum machst du es nicht?«
»Wichtige Termine. Ein Treffen aller Institutsleiter mit dem
Rektor.« Er lügt. »Keine falsche Bescheidenheit, alter Junge.
Was ist mit dem jungen Burschen, dem du in London das Leben
gerettet hast? Wohlverdiente Lorbeeren. Du bist ungleich
besser qualifiziert als ich. Mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich
springt sie eh, bevor du da bist.«
Ich frage mich, ob er sich manchmal selbst reden hört.
»Ich muss mich sputen. Viel Glück.« Er stößt die Glastür auf
und verschwindet in dem Gebäude.
Der Polizist hält noch immer die Wagentür auf. »Die Brücke
ist abgesperrt worden«, erklärt er. »Wir müssen uns wirklich
beeilen, Sir.«
Die Scheibenwischer schlagen hin und her, eine Sirene heult.
Im Innern des Wagens klingt sie eigenartig gedämpft, sodass
ich mich immer wieder nach einem Streifenwagen umsehe. Es
dauert eine Weile, bis ich begreife, dass die Sirene noch viel
näher ist, nämlich auf dem Dach über mir.
Gemauerte Türme tauchen am Horizont auf. Die Clifton
Suspension Bridge ist Brunels Meisterwerk, ein Wunderwerk
der Ingenieurskunst im Dampfzeitalter. Rücklichter verschwimmen.
Der Verkehr staut sich länger als eine Meile vor der Auffahrt
zur Brücke. Auf dem Randstreifen fahren wir an den stehenden
Fahrzeugen vorbei bis zur Straßensperre der Polizei.
Der Constable öffnet mir die Tür und gibt mir meinen Regenschirm.
Eine Böe weht mir den Regen seitlich ins Gesicht
und reißt mir den Schirm fast aus der Hand. Vor mir liegt die
verlassene Brücke. Die gemauerten Türme stützen die gigantischen
verketteten Trägerkabel, die sich anmutig bis zur Fahrbahn
schwingen und zum gegenüberliegenden Ufer hin wieder
ansteigen.
Eine Eigenschaft von Brücken besteht darin, dass sie die
Möglichkeit bieten, eine Überquerung zu beginnen, ohne je
auf der anderen Seite anzukommen. Für Menschen, die das so
sehen, ist eine Brücke virtuell, ein offenes Fenster, an dem sie
vorbeigehen oder durch das sie hinausklettern können.
Die Clifton Suspension Bridge ist eine Sehenswürdigkeit, eine
Touristenattraktion und eine bekannte Selbstmörderbrücke.
Gut ausgelastet, häufig benutzt; »beliebt« wäre aber vielleicht
eine zu unglückliche Wortwahl. Manche Leute sagen, auf der
Brücke spukten die Geister früherer Selbstmörder, auf der
Fahrbahn wurden unheimliche Schatten gesichtet.
Heute gibt es keine Schatten. Und der einzige Geist auf der
Brücke ist aus Fleisch und Blut: Eine nackte Frau steht auf der
anderen Seite des Sicherheitszauns, den Rücken an das Metallgitter
gepresst. Die Absätze ihrer roten Schuhe balancieren auf
der Kante.
Wie bei einer Figur auf einem surrealistischen Gemälde wirkt
ihre Blöße nicht besonders schockierend oder unpassend. Sie
steht mit steifer Würde aufrecht und starrt mit der Miene eines
Menschen aufs Wasser, der sich von der Welt abgekoppelt hat.
Der Einsatzleiter stellt sich vor. Er trägt Uniform. Sergeant
Abernathy. Seinen Vornamen bekomme ich nicht mit. Ein anderer
Polizist hält seinen Schirm. Wasser strömt von dessen
dunkler Nylonkuppel auf meine Schuhe.
»Was brauchen Sie?«, fragt Abernathy.
»Einen Namen.«
»Haben wir nicht. Sie spricht nicht mit uns.«
»Hat sie irgendwas gesagt?«
»Nein.«
»Möglicherweise steht sie unter Schock. Wo sind ihre Kleider?«
»Nichts gefunden.«
Ich blicke den Fußgängerweg hinunter. Er ist von beiden Seiten
eingezäunt mit fünf Bahnen Draht auf der Krone, sodass
man ihn nur mit Mühe überwinden kann. Der Regen fällt so
dicht, dass ich das andere Ende der Brücke kaum ausmachen
kann.
»Wie lange ist sie schon da draußen?«
»Etwa eine Stunde.«
»Haben Sie ein Fahrzeug gefunden?«
»Wir suchen noch.«
Wahrscheinlich ist sie von der dicht bewaldeten Ostseite aus
gekommen. Aber selbst wenn sie sich erst auf der Brücke ausgezogen
hat, müssen Dutzende von Fahrern sie gesehen haben.
Warum hat niemand sie aufgehalten?
Eine große Frau mit stoppelkurzen, schwarz gefärbten Haaren
unterbricht unsere Beratung. Sie zieht die Schultern hoch
und hat die Hände in den Taschen ihres Regenmantels vergraben,
der bis zu ihren Knien hängt. Sie ist riesig. Vierschrötig.
Und sie trägt Männerschuhe.
Abernathys Pose wird steifer. »Was machen Sie denn hier,
Mam?«
»Ich versuche bloß, nach Hause zu kommen, Sergeant. Und
nennen Sie mich nicht Mam. Ich bin nicht die verdammte
Queen.«
Sie blickt zu den Fernsehteams und Pressefotografen, die
sich auf dem begrasten Ufer versammelt haben und ihre Stative
und Lichter aufbauen. Schließlich wendet sie sich mir zu.
»Was zittern Sie denn so, Schätzchen? So unheimlich bin ich
auch nicht.«
»Tut mir leid. Ich habe Parkinson.«
»Schicksal. Kriegt man da eine Plakette?«
»Eine Plakette?«
»Für Behindertenparkplätze. Damit kann man praktisch
überall parken. Das Ding ist fast so gut, wie Detective zu sein,
nur dass wir auch noch Leute erschießen und schnell fahren
dürfen.«
Sie ist offensichtlich höherrangig als Abernathy.
Sie blickt zur Brücke. »Sie machen das schon, Doc, kein
Grund, nervös zu werden.«
»Ich bin Professor, kein Arzt.«
»Schade. Ich hatte Sie mir schon als Doctor Who vorgestellt
und mich als ihren weiblichen Komplizen. Sagen Sie, was
glauben Sie, wie die Daleks es geschafft haben, weite Teile des
Universums zu erobern, obwohl sie nicht mal Treppen steigen
konnten?«
»Ich nehme an, das ist eines der großen Rätsel des Lebens.«
»Davon kenne ich noch jede Menge.«
Ein Funkgerät wird unter meine Jacke geschoben, und man
legt mir einen reflektierenden Sicherheitsgurt an, der auf der
Brust zugeklickt wird. Die Frau zündet sich eine Zigarette an
und zupft einen Tabakkrümel von ihrer Zungenspitze. Obwohl
sie den Einsatz nicht leitet, strahlt sie natürliche Autorität aus,
sodass die uniformierten Beamten offenbar bereitwillig alles
befolgen, was sie sagt.
»Möchten Sie, dass ich mit Ihnen gehe?«, fragt sie.
»Ich komme schon zurecht.«
»Also gut, dann sagen Sie dem Hungerhaken da draußen,
dass ich ihr ein Diät-Muffin kaufe, wenn sie auf unsere Seite
des Zauns kommt.«
»Mache ich.«
Beide Zufahrten sind vorübergehend abgesperrt, die Brücke
ist bis auf zwei Krankenwagen und wartende Notärzte und Sanitäter
vollkommen leer. Autofahrer und Schaulustige drängen
sich unter Schirmen und Regenmänteln. Einige sind wegen der
besseren Sicht eine Böschung hinaufgestiegen.
Regen prasselt auf den Asphalt, Tropfen zerstieben in winzigen
pilzförmigen Wolken, bevor sie durch Gullys rauschen
und wie ein Vorhang aus Wasser vom Brückenrand fallen.
Ich ducke mich unter den Straßensperren durch und gehe
langsam auf die Brücke.Meine Hände sind nicht in den Taschen,
und mein linker Arm weigert sich zu schwingen. Das macht er
manchmal - er kommt beim Plansoll einfach nicht mit.
Vor mir sehe ich die Frau. Aus der Entfernung hatte ihre
Haut makellos ausgesehen, aber nun fällt mir auf, dass ihre
Schenkel zerkratzt und schlammverschmiert sind. Das Dreieck
ihres Schamhaars ist dunkler als ihr Haar, das sie in einem
locker geflochtenen Zopf im Nacken trägt. Und da ist noch
etwas - Buchstaben auf ihrem Bauch. Ein Wort. Als sie sich zu
mir umdreht, kann ich es lesen.
HURE.
Warum die Selbstanklage? Warum nackt? Das ist eine öffentliche
Erniedrigung. Vielleicht hatte sie eine Affäre und hat
einen geliebten Menschen verloren. Jetzt möchte sie sich selbst
bestrafen, um zu beweisen, dass es ihr wirklich leidtut. Oder
es könnte eine Drohung sein - das ultimative Spiel mit dem
Risiko: »Wenn du mich verlässt, bringe ich mich um.«
Nein, das ist zu extrem. Zu gefährlich. Teenager drohen bei
scheiternden Beziehungen manchmal, sich etwas anzutun. Es
ist ein Zeichen emotionaler Unreife. Diese Frau ist Ende dreißig
oder Anfang vierzig, mit kräftigen Schenkeln und kleinen
Zellulitedellen an Pobacken und Hüften. Eine Narbe fällt mir
ins Auge. Ein Kaiserschnitt. Sie ist Mutter.
Ich bin jetzt bis auf wenige Schritte herangekommen.
Sie drückt den Po fest gegen den Gitterzaun und hat den linken
Arm um einen der Drähte auf der Krone geschlungen. Mit
der anderen Hand presst sie ein Handy ans Ohr.
»Hallo. Ich heiße Joe. Und Sie?«
Sie antwortet nicht. Von einer kräftigen Böe erfasst, scheint
sie kurz das Gleichgewicht zu verlieren und nach vorne zu
schwanken. Der Draht schneidet in ihre Armbeuge, und sie
zieht sich zurück.
Ihre Lippen bewegen sich. Sie telefoniert. Ich muss ihre Aufmerksamkeit
gewinnen.
»Sagen Sie mir nur Ihren Namen. Das ist doch nicht so
schwer. Sie können mich Joe nennen, und ich kann Sie...«
Der Wind weht eine Haarsträhne in ihr Gesicht, sodass nur
ihr linkes Auge sichtbar ist.
Nagende Ungewissheit macht sich in meinem Magen breit.
Weshalb die hochhackigen Schuhe? War sie in einem Nacht-
club? Dafür ist es eigentlich schon zu spät am Tag. Ist sie betrunken?
Steht sie unter Drogen? Ecstasy kann psychotische
Zustände auslösen. LSD. Vielleicht Ice.
Ich schnappe Fetzen ihres Gespräches auf.
»Nein. Nein. Bitte. Nein.«
»Wer ist am Telefon?«, frage ich.
»Das mache ich. Versprochen. Ich habe alles getan. Bitte
verlangen Sie nicht...«
»Hören Sie mir zu. Sie wollen das nicht tun.«
Ich blicke nach unten. Gut siebzig Meter tiefer schiebt sich
ein breiter Lastkahn mit Maschinenkraft gegen die Strömung
flussaufwärts. Der angeschwollene Fluss leckt an den Ginster und Weißdornbüschen
am Ufer. Auf der Oberfläche treibt buntes
Konfetti aus Müll: Bücher, Äste und Plastikflaschen.
»Ihnen ist bestimmt kalt. Ich habe eine Decke.«
Wieder gibt sie keine Antwort. Ich muss dafür sorgen, dass
sie mich zur Kenntnis nimmt. Ein Nicken oder ein einziges zustimmendes
Wort ist schon genug. Ich muss sicherstellen, dass
sie mir zuhört.
»Vielleicht könnte ich versuchen, sie Ihnen über die Schulter
zu legen - nur um Sie zu wärmen.«
Ihr Kopf schnellt zu mir herum, und sie schwankt nach
vorne, als wolle sie loslassen. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
»Okay, ich komme keinen Schritt näher. Ich bleibe, wo ich
bin. Sagen Sie mir nur Ihren Namen.«
Sie wendet den Blick zum Himmel und blinzelt in den Regen
wie ein Gefangener auf dem Hof, der einen kurzen Moment
der Freiheit genießt.
»Was auch schiefgelaufen ist, was immer passiert ist oder
Sie aufgewühlt hat, wir können darüber reden. Ich möchte Ihnen
Ihre Entscheidung auch gar nicht ausreden. Ich will nur
verstehen, warum.«
Ihre Zehen sacken ab, und sie muss sich mit aller Kraft auf
ihre Absätze stellen, um das Gleichgewicht zu halten.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe ..
byWilhelm Goldmann Verlag, München,
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Printed in Germany
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Autoren-Porträt von Michael Robotham
Michael Robotham wurde 1960 in New South Wales, Australien, geboren. Er war lange als Journalist tätig, bevor er sich ganz der Schriftstellerei widmete. Mit seinen Romanen stürmt er regelmässig die Bestsellerlisten und wurde bereits mit mehreren Preisen geehrt, unter anderem mit dem renommierten Gold Dagger. Michael Robotham lebt mit seiner Familie in Sydney.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Robotham
- 2010, 567 Seiten, Masse: 12,6 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Kristian Lutze
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442474582
- ISBN-13: 9783442474585
- Erscheinungsdatum: 13.10.2010
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