Im Tal des Vajont
Roman
'Magisch, märchenhaft und von kruder, elementarer Wahrheit.' Claudio Magris
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Tal des Vajont “
'Magisch, märchenhaft und von kruder, elementarer Wahrheit.' Claudio Magris
Klappentext zu „Im Tal des Vajont “
Severino, genannt Zino, wächst als Waise in einem kleinen Dorf im Friaul auf. Als er später den jungen Raggio kennenlernt und sich mit ihm anfreundet, beschliessen die beiden, eine Käserei aufzumachen. Die floriert auch bald - aber da verführt Raggios Frau Zino. Ein Drama von biblischem Ausmass nimmt seinen Lauf ...
Lese-Probe zu „Im Tal des Vajont “
Im Tal des Vajont von Mauro Corona PROLOG
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AM FRÜHEN NACHMITTAG des 27. November 2003 trat ein Mann mittleren Alters in mein Bildhaueratelier in Erto. In seiner Hand hielt er ein zylinderförmiges, in Zeitungspapier eingepacktes Paket. Er gab mir die Hand und stellte sich vor. Er kam aus San Michele al Tagliamento, einer Kleinstadt in Venetien, dicht an der Grenze zum unteren Friaul.
»Ich wollte Ihnen das hier schenken«, sagte er und wickelte dabei das Bündel aus dem Zeitungspapier. Dann weiter: »Ihr Familienname ist Corona, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete ich, einigermaßen neugierig geworden, »aber hier heißen wir fast alle Corona.«
»Sie sind doch der Schriftsteller?«, fragte er.
»Ja, das stimmt, ich habe ein paar Bücher geschrieben, aber das bedeutet nicht, dass ich mich als ›Schriftsteller‹ fühle«, sagte ich. Ich mag mich selbst nicht so bezeichnen, das ist mir zu pompös, und es steht mir auch gar nicht zu.
»Ich habe etwas, was Sie interessieren könnte«, sprach der Unbekannte und hatte nun den geheimnisvollen Gegen stand vollständig ausgepackt.
Zum Vorschein kam ein Metallzylinder, der nichts anderes war als der alte Behälter einer Gasschutzmaske,
ganz verkrustet und verrostet. Er öffnete ihn und zog eine Rolle heraus. Es war ein großes Heft, eingeschlagen in einen zerschlissenen karierten Stofflumpen und mit einer Schnur zugebunden. Er reichte es mir. Die Ecken des schwarzen Einbands waren ganz abgestoßen.
»Ich fand es bei der Renovierung des Stallgebäudes meines Vaters unter dem Futtertrog«, sagte der Mann. »Und ich wollte es Ihnen schenken. Es enthält die Geschichte eines gewissen Severino Corona, genannt Zino, von ihm selbst geschrieben. Vielleicht ist es ja ein Verwandter von Ihnen. Ich habe natürlich nicht alles gelesen, nur ein paar Seiten am Anfang, aber von dem bisschen habe ich schon verstanden, dass er ein fahrender Händler war und von hier stammte, aus Ihrem Dorf, aus Erto.«
Äußerst neugierig geworden, fing ich an, das Heft zu durchblättern, aber viele Seiten klebten so fest zusammen wie versteinerte Liebende. Trotz Metallhülle und Stofflumpen, in denen das Heft seit wer weiß wie vielen Jahren eingewickelt war, hatten Feuchtigkeit und Dunkelheit der Bleistiftschrift arg zugesetzt, auch das Papier war ganz brüchig geworden. Aber nachdem ich die ersten zwanzig Seiten mit der Taschenmesserspitze sorgsam voneinander gelöst hatte, ließ sich die Schrift sehr gut lesen. Hin und wieder fehlten zwar halbe Wörter an den Seitenecken; die Geschichte war aber so klar erzählt, dass man leicht den Sinn rekonstruieren konnte oder auch gleich das fehlende Wort. Es war ein dickes Heft, eng liniert und mit einem schwarzen Einband. Schon die wenigen Wörter auf der ersten Seite ließen mich erschauern: »20. Juli 1920. Draußen ist es sehr heiß, aber ich fühle nur Kälte, und ich spüre Schnee, überall Schnee.«
Eine Schrift wie gestochen, in kleinen Blockbuchstaben. Ich konnte es kaum erwarten, meinen unge-
wöhnlichen Wohltäter zu verabschieden, der mir ein so kost bares Geschenk gemacht hatte. Gleich wollte ich lesen, was dieser unbekannte und inzwischen verstorbene Landsmann von mir vor fünfundachtzig Jahren geschrieben hatte. Da der Fremde keinerlei Entgelt wollte, schenkte ich ihm, zu seiner Freude, ein Holzkäuzchen, das einen Waldgeist umarmt.
Hin und wieder schaute der Unbekannte auf die Berge hinaus und sagte, dass ihm der Ort sehr gefiele. Um seinen Besuch abzukürzen, lud ich ihn dann auf ein Glas Wein in der Bar Stella di Sabina ein. Ich wollte endlich das Heft zur Hand nehmen, und dazu musste ich ihn loswerden. Aber das ging nicht so schnell. Der Mann war ein exzellenter Trinker, und so gab ein Glas das nächste, ein Wort das nächste, und schon war es Abend. Es drängte mich, diese Seiten zu lesen, aber nach dem fünften Roten wurde der Rausch immer stärker und die Neugier immer schwächer, und so verschob ich alles auf den nächsten Tag. Wir sprachen über den Vajont. Er hatte auch das Theaterstück von Paolini und den Film von Martinelli gesehen. Gegen Mitternacht erhob sich mein Trinkkumpan dann, reichte mir die Hand und verabschiedete sich auf eine Weise, als hätte er nicht Wein, sondern frisches Wasser getrunken. Er stieg in seinen Wagen, um zurück ins untere Friaul zu fahren. Während er mir die Hand gab, betrachtete ich den Ring, den er an einem Kettchen um den Hals trug. Ein kleiner Goldring mit einem Kreuz. Als der Mann meine Neugier bemerkte, sagte er, ohne dass ich ihn gefragt hätte: »Dieser Ring gehörte meiner Großmutter, dann ihrer Tochter, das heißt meiner Mutter. Sie gab ihn mir, bevor sie starb, und jetzt trage ihn wie eine Reliquie.« Darauf fuhr er los.
Ich trank noch ein paar Gläser allein weiter, bevor ich schließlich in mein Atelier zurückwankte und mich zum
Schlafen auf die Bank legte. Neben mir auf den Lärchenholzklotz, der mir als Nachttischchen dient, legte ich gut sichtbar das Heft, damit ich es wenigstens mit den Augen studieren konnte, denn betrunken, wie ich war, wollte ich es nicht einmal durchblättern aus Angst, dabei die Seiten zu beschädigen. Denn manche von ihnen wirkten, als würden sie gleich zu Asche zerfallen. Tags darauf stand ich früh auf, zündete den Heizofen an, stürzte einen Becher Kaffee mit Fernet gegen den Kater hinunter und nahm endlich das geheimnisvolle Heft in die Hand.
Ich brauchte drei Tage, bis ich es zu Ende gelesen hatte. Je weiter ich las, desto stärker schlug mein Herz vor Ergriffenheit. Es war eine traurige und zugleich schöne Geschichte, wie ich sie als Kind schon ähnlich von meinem GroRvater gehört hatte. Sie ist hier genauso aufgezeichnet, wie ich sie gelesen habe. Nur ab und zu habe ich offensichtliche Fehler korrigiert oder Wörter auf Ertanisch erläutert, die sonst das Verständnis zu sehr erschwert hätten. Und ich habe Absätze eingefügt, denn Zino hatte mit seinem einfachen, wie holzgeschnitzten Italienisch von der ersten bis zur letzten Zeile nicht abgesetzt, als habe er keine Zeit zum Atemholen gehabt oder Angst, nicht rechtzeitig fertig zu werden. Zwischen den letzten Seiten des Heftes war eine herausgerissen. Ich fragte mich, warum.
Wie schon erwähnt, sind auf der ersten Seite nur ein Datum und der Satz zu lesen: »20. Juli 1920. Draußen ist es sehr heiß, aber ich fühle nur Kälte, und ich spüre Schnee, überall Schnee.«
ICH HEISSE SEVERINO CORONA, genannt Zino. Ich wurde am 13. September 1879 in Erto geboren und habe immer auf diesem wilden und bergigen Flecken Erde gewohnt, wo es außer Arbeit nichts Gutes gibt, aber trotzdem lebe ich sehr gern hier. Wie traurig und gottverlassen diese Gegend ist, habe ich erst Jahre später verstanden, als ich ins Friaul ging, um Holz zu verkaufen, und dort die fruchtbaren und viehreichen Ebenen sah. Aber damals war ich schon vierzig Jahre alt, und ich wäre nie von zu Hause weggegangen, hätte mich nicht eine höhere Gewalt dazu gezwungen. Es gibt nichts Schlimmeres, als seine Heimat zu verlassen, den Ort, wo man geboren wurde, mit Eltern und Freunden zusammenlebte und wo man in den Wäldern das Holz schlug, auf den Feldern das Heu mähte, den Herbst herannahen sah und am Feuer das Weihnachtsfest erwartete. Dort, wo man auch den hölzernen San Bartolomeo durch die Straßen trägt und vieles andere mehr, was mir jetzt nicht mehr einfällt, aber deswegen nicht weniger schön war. Die Menschen fühlen sich wohl bei sich zu Hause, aber können auch nicht für immer dort bleiben. Ich beneide die, welche das können, und es macht mich wütend, wenn sie sich ständig beklagen und sagen, sie würden lieber weggehen. Dabei wissen sie nicht, was für ein Glück es bedeutet, ein Zuhause zu haben. Es ist zum Weinen, wenn du deinem Dorf den
Rücken kehrst. Man sollte nie von seinem Zuhause fort- gehen.
Ich habe einen acht Jahre jüngeren Bruder, der Sebastian heißt und auch Bastianin von der Smita gerufen wird, weil er als Schmied arbeitet, und die Schmiede heißt auf Ertanisch smita. Während ich das alles hier wahrheitsgemäß aufschreibe, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Auch letztes Weihnachten bin ich hierher zurückgekehrt, draußen lag der Schnee einen Meter hoch, und es war so kalt, dass die Vögel vom Himmel fielen und die Buchen aufplatzten. Ein letztes Mal wollte ich hier noch Weihnachten verbringen. Ich blieb nur für wenige Tage, dann ging ich wieder in die friaulische Tiefebene hinunter, wo ich jetzt schon seit Monaten umherziehe, seit jenem vermaledeiten Tag, an dem ich fortgehen musste, weil mich die Gewissensbisse verfolgten wie Hunde, die mich bei lebendigem Leibe fressen wollten. Nie mehr werde ich in mein Dorf zurückkehren, aber in Gedanken tue ich das ständig, denn ich denke Tag und Nacht daran.
Wir waren noch sehr jung, als ich und mein Bruder Bastianin zu Waisenkindern wurden. Ich war fünfzehn und er sieben, als unser Vater Zolian starb. Man fand ihn auf dem Köhlerweg mit mehrfach gespaltenem Kopf. Er war ermordet worden, und man hatte deswegen einen aus der Siedlung Pineda verurteilt, der dann zwanzig Jahre im Gefängnis von Udine absitzen musste. Zur selben Zeit wohnte in Erto auf dem Col delle Cavalle ein Holzarbeiter, der nach dem Tod unseres Vaters immer wieder ein bestimmtes Lied sang, aber nur wenn er betrunken war. Es lautete ungefähr so: »Ach, wie gut, dass niemand weiß ... und keiner wird es je erfahren, weil ich allein war.« In der Tat wusste es niemand, und keiner hegte den geringsten
Verdacht, dass gerade er es war, der unseren Vater abgeschlachtet hatte. Erst auf dem Totenbett gestand er es dem Dorfpriester. Er hatte ihn rufen lassen, um ihm zu sagen, dass er es war, der Giuliano Corona, genannt Zolian della Cuaga, umgebracht hatte. Und er sagte auch, wie. Er hatte ihn mit einem pilòt getötet, einem kurzstieligen, am Ende abgerundeten Schlagholz aus Buche, das zum Dreschen von Weizen verwendet wurde. Es sieht genauso aus wie ein Salzstößel, nur fünfmal so groß. Er selbst fertigte sie an seiner Drehbank. Er war ein Experte an der Drehbank und hatte sich auf die pilòts spezialisiert. Als der Priester ihn fragte, warum er Zolian della Cuaga umgebracht hätte, antwortete dieser, dass es um eine Frauengeschichte ging, aber mehr wollte er dazu nicht sagen. Ich glaube, dass ihm unsere Mutter gefiel, aber die wollte nichts von ihm wissen, weil sie ja schon ihren Zolian hatte, unseren Vater. Daher dachte sich der Mann vom Col delle Cavalle, es wäre ein guter Plan, sie zur Witwe zu machen, dann könnte er sie sich selber schnappen. Aber der Plan misslang, weil unsere Mutter, sie hieß Lucia wie ihre Großmutter, wenige Monate später an gebrochenem Herzen starb. So hatte der Schurke mit einem Schlag gleich zwei Menschen getötet und musste dafür nicht einmal einen Tag ins Gefängnis, während der aus Pineda schon zwanzig Jahre abgesessen hatte. Er war eingesperrt worden, weil er sich mit unserem Vater immer um den Grenzverlauf auf der Cuagahöhe gestritten hatte. Damals wohnten wir dort, jetzt wohnen wir etwas weiter oben, näher am Dorf. Auch in der Osteria von Pilin hatte er ihn schon bedroht, zu jener Zeit nannte sie sich noch Il Merlo Bianco, Zur weißen Amsel, denn dort hielten sie sich eine weiße Amsel im Käfig. Viele Zeugen aus Casso hatten am Todestag meines Vaters den Mann aus Pineda gesehen, als er vom Köhlerweg her mit einem Bündel von Stöcken für den Bohnenanbau ins Dorf kam. Es war Juni, und man ging auf die Suche nach geeigneten Bohnenstangen. So wurde er beschuldigt. Man sagte, er hätte meinen Vater mit der Hippe zum Ästeschneiden erschlagen, aber ich glaube, bei näherem Hinsehen hätte jeder begriffen, dass die Schläge, die meinen Vater getötet hatten, nicht von einer Hippe stammten. Doch die Hosen von dem aus Pineda waren mit Blut verschmiert, und niemand glaubte ihm, dass es das Blut einer Gämse war, die er zwei Tage zuvor erlegt und an einen Waldbewohner verkauft hatte, der zufällig mit seinem Pferdekarren voll Saatgut des Wegs kam. So will es das Schicksal, dass manchmal auch Unschuldige verurteilt werden. Und wenn dieser Schurke vom Col delle Cavalle nicht krank geworden und fast daran gestorben wäre, hätte er auch nichts gestanden, und der Mann aus Pineda, der übrigens Giulio hieß, wäre bis zu seinem Tode im Gefängnis geblieben. Was für ein erbärmlicher Feigling! Nicht nur unsere Familie hat er zerstört, auch die von Giulio aus Pineda, der verheiratet war und zudem zwei kleine Mädchen hatte. Zwanzig Jahre lang hat er sie nicht gesehen, und seine Frau sah er überhaupt nie wieder, weil die arme Seele, zwölf Jahre nachdem man ihn eingesperrt hatte, an Tuberkulose starb.
(c) List TB Verlag
AM FRÜHEN NACHMITTAG des 27. November 2003 trat ein Mann mittleren Alters in mein Bildhaueratelier in Erto. In seiner Hand hielt er ein zylinderförmiges, in Zeitungspapier eingepacktes Paket. Er gab mir die Hand und stellte sich vor. Er kam aus San Michele al Tagliamento, einer Kleinstadt in Venetien, dicht an der Grenze zum unteren Friaul.
»Ich wollte Ihnen das hier schenken«, sagte er und wickelte dabei das Bündel aus dem Zeitungspapier. Dann weiter: »Ihr Familienname ist Corona, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete ich, einigermaßen neugierig geworden, »aber hier heißen wir fast alle Corona.«
»Sie sind doch der Schriftsteller?«, fragte er.
»Ja, das stimmt, ich habe ein paar Bücher geschrieben, aber das bedeutet nicht, dass ich mich als ›Schriftsteller‹ fühle«, sagte ich. Ich mag mich selbst nicht so bezeichnen, das ist mir zu pompös, und es steht mir auch gar nicht zu.
»Ich habe etwas, was Sie interessieren könnte«, sprach der Unbekannte und hatte nun den geheimnisvollen Gegen stand vollständig ausgepackt.
Zum Vorschein kam ein Metallzylinder, der nichts anderes war als der alte Behälter einer Gasschutzmaske,
ganz verkrustet und verrostet. Er öffnete ihn und zog eine Rolle heraus. Es war ein großes Heft, eingeschlagen in einen zerschlissenen karierten Stofflumpen und mit einer Schnur zugebunden. Er reichte es mir. Die Ecken des schwarzen Einbands waren ganz abgestoßen.
»Ich fand es bei der Renovierung des Stallgebäudes meines Vaters unter dem Futtertrog«, sagte der Mann. »Und ich wollte es Ihnen schenken. Es enthält die Geschichte eines gewissen Severino Corona, genannt Zino, von ihm selbst geschrieben. Vielleicht ist es ja ein Verwandter von Ihnen. Ich habe natürlich nicht alles gelesen, nur ein paar Seiten am Anfang, aber von dem bisschen habe ich schon verstanden, dass er ein fahrender Händler war und von hier stammte, aus Ihrem Dorf, aus Erto.«
Äußerst neugierig geworden, fing ich an, das Heft zu durchblättern, aber viele Seiten klebten so fest zusammen wie versteinerte Liebende. Trotz Metallhülle und Stofflumpen, in denen das Heft seit wer weiß wie vielen Jahren eingewickelt war, hatten Feuchtigkeit und Dunkelheit der Bleistiftschrift arg zugesetzt, auch das Papier war ganz brüchig geworden. Aber nachdem ich die ersten zwanzig Seiten mit der Taschenmesserspitze sorgsam voneinander gelöst hatte, ließ sich die Schrift sehr gut lesen. Hin und wieder fehlten zwar halbe Wörter an den Seitenecken; die Geschichte war aber so klar erzählt, dass man leicht den Sinn rekonstruieren konnte oder auch gleich das fehlende Wort. Es war ein dickes Heft, eng liniert und mit einem schwarzen Einband. Schon die wenigen Wörter auf der ersten Seite ließen mich erschauern: »20. Juli 1920. Draußen ist es sehr heiß, aber ich fühle nur Kälte, und ich spüre Schnee, überall Schnee.«
Eine Schrift wie gestochen, in kleinen Blockbuchstaben. Ich konnte es kaum erwarten, meinen unge-
wöhnlichen Wohltäter zu verabschieden, der mir ein so kost bares Geschenk gemacht hatte. Gleich wollte ich lesen, was dieser unbekannte und inzwischen verstorbene Landsmann von mir vor fünfundachtzig Jahren geschrieben hatte. Da der Fremde keinerlei Entgelt wollte, schenkte ich ihm, zu seiner Freude, ein Holzkäuzchen, das einen Waldgeist umarmt.
Hin und wieder schaute der Unbekannte auf die Berge hinaus und sagte, dass ihm der Ort sehr gefiele. Um seinen Besuch abzukürzen, lud ich ihn dann auf ein Glas Wein in der Bar Stella di Sabina ein. Ich wollte endlich das Heft zur Hand nehmen, und dazu musste ich ihn loswerden. Aber das ging nicht so schnell. Der Mann war ein exzellenter Trinker, und so gab ein Glas das nächste, ein Wort das nächste, und schon war es Abend. Es drängte mich, diese Seiten zu lesen, aber nach dem fünften Roten wurde der Rausch immer stärker und die Neugier immer schwächer, und so verschob ich alles auf den nächsten Tag. Wir sprachen über den Vajont. Er hatte auch das Theaterstück von Paolini und den Film von Martinelli gesehen. Gegen Mitternacht erhob sich mein Trinkkumpan dann, reichte mir die Hand und verabschiedete sich auf eine Weise, als hätte er nicht Wein, sondern frisches Wasser getrunken. Er stieg in seinen Wagen, um zurück ins untere Friaul zu fahren. Während er mir die Hand gab, betrachtete ich den Ring, den er an einem Kettchen um den Hals trug. Ein kleiner Goldring mit einem Kreuz. Als der Mann meine Neugier bemerkte, sagte er, ohne dass ich ihn gefragt hätte: »Dieser Ring gehörte meiner Großmutter, dann ihrer Tochter, das heißt meiner Mutter. Sie gab ihn mir, bevor sie starb, und jetzt trage ihn wie eine Reliquie.« Darauf fuhr er los.
Ich trank noch ein paar Gläser allein weiter, bevor ich schließlich in mein Atelier zurückwankte und mich zum
Schlafen auf die Bank legte. Neben mir auf den Lärchenholzklotz, der mir als Nachttischchen dient, legte ich gut sichtbar das Heft, damit ich es wenigstens mit den Augen studieren konnte, denn betrunken, wie ich war, wollte ich es nicht einmal durchblättern aus Angst, dabei die Seiten zu beschädigen. Denn manche von ihnen wirkten, als würden sie gleich zu Asche zerfallen. Tags darauf stand ich früh auf, zündete den Heizofen an, stürzte einen Becher Kaffee mit Fernet gegen den Kater hinunter und nahm endlich das geheimnisvolle Heft in die Hand.
Ich brauchte drei Tage, bis ich es zu Ende gelesen hatte. Je weiter ich las, desto stärker schlug mein Herz vor Ergriffenheit. Es war eine traurige und zugleich schöne Geschichte, wie ich sie als Kind schon ähnlich von meinem GroRvater gehört hatte. Sie ist hier genauso aufgezeichnet, wie ich sie gelesen habe. Nur ab und zu habe ich offensichtliche Fehler korrigiert oder Wörter auf Ertanisch erläutert, die sonst das Verständnis zu sehr erschwert hätten. Und ich habe Absätze eingefügt, denn Zino hatte mit seinem einfachen, wie holzgeschnitzten Italienisch von der ersten bis zur letzten Zeile nicht abgesetzt, als habe er keine Zeit zum Atemholen gehabt oder Angst, nicht rechtzeitig fertig zu werden. Zwischen den letzten Seiten des Heftes war eine herausgerissen. Ich fragte mich, warum.
Wie schon erwähnt, sind auf der ersten Seite nur ein Datum und der Satz zu lesen: »20. Juli 1920. Draußen ist es sehr heiß, aber ich fühle nur Kälte, und ich spüre Schnee, überall Schnee.«
ICH HEISSE SEVERINO CORONA, genannt Zino. Ich wurde am 13. September 1879 in Erto geboren und habe immer auf diesem wilden und bergigen Flecken Erde gewohnt, wo es außer Arbeit nichts Gutes gibt, aber trotzdem lebe ich sehr gern hier. Wie traurig und gottverlassen diese Gegend ist, habe ich erst Jahre später verstanden, als ich ins Friaul ging, um Holz zu verkaufen, und dort die fruchtbaren und viehreichen Ebenen sah. Aber damals war ich schon vierzig Jahre alt, und ich wäre nie von zu Hause weggegangen, hätte mich nicht eine höhere Gewalt dazu gezwungen. Es gibt nichts Schlimmeres, als seine Heimat zu verlassen, den Ort, wo man geboren wurde, mit Eltern und Freunden zusammenlebte und wo man in den Wäldern das Holz schlug, auf den Feldern das Heu mähte, den Herbst herannahen sah und am Feuer das Weihnachtsfest erwartete. Dort, wo man auch den hölzernen San Bartolomeo durch die Straßen trägt und vieles andere mehr, was mir jetzt nicht mehr einfällt, aber deswegen nicht weniger schön war. Die Menschen fühlen sich wohl bei sich zu Hause, aber können auch nicht für immer dort bleiben. Ich beneide die, welche das können, und es macht mich wütend, wenn sie sich ständig beklagen und sagen, sie würden lieber weggehen. Dabei wissen sie nicht, was für ein Glück es bedeutet, ein Zuhause zu haben. Es ist zum Weinen, wenn du deinem Dorf den
Rücken kehrst. Man sollte nie von seinem Zuhause fort- gehen.
Ich habe einen acht Jahre jüngeren Bruder, der Sebastian heißt und auch Bastianin von der Smita gerufen wird, weil er als Schmied arbeitet, und die Schmiede heißt auf Ertanisch smita. Während ich das alles hier wahrheitsgemäß aufschreibe, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Auch letztes Weihnachten bin ich hierher zurückgekehrt, draußen lag der Schnee einen Meter hoch, und es war so kalt, dass die Vögel vom Himmel fielen und die Buchen aufplatzten. Ein letztes Mal wollte ich hier noch Weihnachten verbringen. Ich blieb nur für wenige Tage, dann ging ich wieder in die friaulische Tiefebene hinunter, wo ich jetzt schon seit Monaten umherziehe, seit jenem vermaledeiten Tag, an dem ich fortgehen musste, weil mich die Gewissensbisse verfolgten wie Hunde, die mich bei lebendigem Leibe fressen wollten. Nie mehr werde ich in mein Dorf zurückkehren, aber in Gedanken tue ich das ständig, denn ich denke Tag und Nacht daran.
Wir waren noch sehr jung, als ich und mein Bruder Bastianin zu Waisenkindern wurden. Ich war fünfzehn und er sieben, als unser Vater Zolian starb. Man fand ihn auf dem Köhlerweg mit mehrfach gespaltenem Kopf. Er war ermordet worden, und man hatte deswegen einen aus der Siedlung Pineda verurteilt, der dann zwanzig Jahre im Gefängnis von Udine absitzen musste. Zur selben Zeit wohnte in Erto auf dem Col delle Cavalle ein Holzarbeiter, der nach dem Tod unseres Vaters immer wieder ein bestimmtes Lied sang, aber nur wenn er betrunken war. Es lautete ungefähr so: »Ach, wie gut, dass niemand weiß ... und keiner wird es je erfahren, weil ich allein war.« In der Tat wusste es niemand, und keiner hegte den geringsten
Verdacht, dass gerade er es war, der unseren Vater abgeschlachtet hatte. Erst auf dem Totenbett gestand er es dem Dorfpriester. Er hatte ihn rufen lassen, um ihm zu sagen, dass er es war, der Giuliano Corona, genannt Zolian della Cuaga, umgebracht hatte. Und er sagte auch, wie. Er hatte ihn mit einem pilòt getötet, einem kurzstieligen, am Ende abgerundeten Schlagholz aus Buche, das zum Dreschen von Weizen verwendet wurde. Es sieht genauso aus wie ein Salzstößel, nur fünfmal so groß. Er selbst fertigte sie an seiner Drehbank. Er war ein Experte an der Drehbank und hatte sich auf die pilòts spezialisiert. Als der Priester ihn fragte, warum er Zolian della Cuaga umgebracht hätte, antwortete dieser, dass es um eine Frauengeschichte ging, aber mehr wollte er dazu nicht sagen. Ich glaube, dass ihm unsere Mutter gefiel, aber die wollte nichts von ihm wissen, weil sie ja schon ihren Zolian hatte, unseren Vater. Daher dachte sich der Mann vom Col delle Cavalle, es wäre ein guter Plan, sie zur Witwe zu machen, dann könnte er sie sich selber schnappen. Aber der Plan misslang, weil unsere Mutter, sie hieß Lucia wie ihre Großmutter, wenige Monate später an gebrochenem Herzen starb. So hatte der Schurke mit einem Schlag gleich zwei Menschen getötet und musste dafür nicht einmal einen Tag ins Gefängnis, während der aus Pineda schon zwanzig Jahre abgesessen hatte. Er war eingesperrt worden, weil er sich mit unserem Vater immer um den Grenzverlauf auf der Cuagahöhe gestritten hatte. Damals wohnten wir dort, jetzt wohnen wir etwas weiter oben, näher am Dorf. Auch in der Osteria von Pilin hatte er ihn schon bedroht, zu jener Zeit nannte sie sich noch Il Merlo Bianco, Zur weißen Amsel, denn dort hielten sie sich eine weiße Amsel im Käfig. Viele Zeugen aus Casso hatten am Todestag meines Vaters den Mann aus Pineda gesehen, als er vom Köhlerweg her mit einem Bündel von Stöcken für den Bohnenanbau ins Dorf kam. Es war Juni, und man ging auf die Suche nach geeigneten Bohnenstangen. So wurde er beschuldigt. Man sagte, er hätte meinen Vater mit der Hippe zum Ästeschneiden erschlagen, aber ich glaube, bei näherem Hinsehen hätte jeder begriffen, dass die Schläge, die meinen Vater getötet hatten, nicht von einer Hippe stammten. Doch die Hosen von dem aus Pineda waren mit Blut verschmiert, und niemand glaubte ihm, dass es das Blut einer Gämse war, die er zwei Tage zuvor erlegt und an einen Waldbewohner verkauft hatte, der zufällig mit seinem Pferdekarren voll Saatgut des Wegs kam. So will es das Schicksal, dass manchmal auch Unschuldige verurteilt werden. Und wenn dieser Schurke vom Col delle Cavalle nicht krank geworden und fast daran gestorben wäre, hätte er auch nichts gestanden, und der Mann aus Pineda, der übrigens Giulio hieß, wäre bis zu seinem Tode im Gefängnis geblieben. Was für ein erbärmlicher Feigling! Nicht nur unsere Familie hat er zerstört, auch die von Giulio aus Pineda, der verheiratet war und zudem zwei kleine Mädchen hatte. Zwanzig Jahre lang hat er sie nicht gesehen, und seine Frau sah er überhaupt nie wieder, weil die arme Seele, zwölf Jahre nachdem man ihn eingesperrt hatte, an Tuberkulose starb.
(c) List TB Verlag
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Autoren-Porträt von Mauro Corona
Corona, MauroMauro Corona, geboren 1950 in einem Bergdorf im Friaul als Sohn von fahrenden Händlern, ist Bildhauer, Bergsteiger und Schriftsteller. Die Geschichten, die er erzählt, stammen allesamt aus dem abgelegenen Tal seiner Kindheit. Mauro Corona hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht und zählt heute zu den erfolgreichsten Schriftstellern Italiens. Er lebt in Erto im Friaul.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mauro Corona
- 304 Seiten, Masse: 11,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Moysich, Helmut
- Übersetzer: Helmut Moysich
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611524
- ISBN-13: 9783548611525
- Erscheinungsdatum: 09.08.2013
Rezension zu „Im Tal des Vajont “
"Mit magischem Blick entsteht eine urtümliche Welt, in der Aberglaube und Bräuche fortleben.", OSTTHÜRINGER ZEITUNG, Annerose Kirchner, 02.06.2012
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