Im Schatten der Königin
Roman
England, 1560: Als die junge Amy Robsart tot aufgefunden wird, glaubt ganz Europa, den Mörder zu kennen: ihren Ehemann Robert, der sich Hoffnungen auf die Hand von Königin Elizabeth I. macht. Musste Amy deswegen sterben?
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Produktinformationen zu „Im Schatten der Königin “
England, 1560: Als die junge Amy Robsart tot aufgefunden wird, glaubt ganz Europa, den Mörder zu kennen: ihren Ehemann Robert, der sich Hoffnungen auf die Hand von Königin Elizabeth I. macht. Musste Amy deswegen sterben?
Klappentext zu „Im Schatten der Königin “
Als am 8. September 1560 die junge Amy Robsart tot am Fusse einer Treppe gefunden wird, ist ganz Europa sicher, den Mörder zu kennen: ihren ehrgeizigen Ehemann Robert, den Favoriten von Elizabeth I., der sich Hoffnungen auf die Hand der Königin macht. Musste Amy deswegen sterben? Und welches Geheimnis hat die Frau, die wie keine andere im Schatten der Königin stand, mit ins Grab genommen? »Dass sie eine grossartige Autorin ist, hat Kinkel längst bewiesen. Doch mit diesem Roman übertrifft sich die 40-Jährige selbst: Sie schreibt mit so lässiger Eleganz, so heiter, einfühlsam und spannend. Ein aussergewöhnliches Buch!« Für Sie
Als am 8. September 1560 die junge Amy Robsart tot am Fusse einer Treppe gefunden wird, ist ganz Europa sicher, den Mörder zu kennen: ihren ehrgeizigen Ehemann Robert, den Favoriten von Elizabeth I., der sich Hoffnungen auf die Hand der Königin macht. Musste Amy deswegen sterben? Und welches Geheimnis hat die Frau, die wie keine andere im Schatten der Königin stand, mit ins Grab genommen?
"Dass sie eine grossartige Autorin ist, hat Kinkel längst bewiesen. Doch mit diesem Roman übertrifft sich die 40-Jährige selbst: Sie schreibt mit so lässiger Eleganz, so heiter, einfühlsam und spannend. Ein aussergewöhnliches Buch!" -- Für Sie
"Dass sie eine grossartige Autorin ist, hat Kinkel längst bewiesen. Doch mit diesem Roman übertrifft sich die 40-Jährige selbst: Sie schreibt mit so lässiger Eleganz, so heiter, einfühlsam und spannend. Ein aussergewöhnliches Buch!" -- Für Sie
Lese-Probe zu „Im Schatten der Königin “
Im Schatten der Königin von Tanja Kinkel Kapitel 1
Montag, 9. September 1560
... mehr
Gott vergebe mir, aber das Erste, was ich dachte, als Robin Dudley mir sagte, seine Gemahlin sei tot, war: Warum jetzt? Für mich und die Meinen war es eine gute Zeit, und eine, auf die wir lange hatten warten müssen. Seit meine Base Jane vor vierzig Jahren John Dudley geheiratet hatte, waren wir miteinander im Rad der Fortuna gefangen gewesen und hatten uns nicht mehr lösen können, ganz gleich, ob es uns hoch oder abwärts trug. Ich wurde an Janes Hochzeitstag geboren, und sie hat das immer als Grund gesehen, sich wie eine Patin um mich zu kümmern. Da meine eigene Mutter von Fehlgeburt zu Fehlgeburt immer schwächer wurde und starb, noch ehe ich acht Jahre alt war, gab es lange Zeit niemanden, der für mich so wichtig war wie Jane. Es gab einen Lehrer, John Ferlingham, der mich bis aufs Blut quälte. Es bereitete ihm offensichtlich Spaß, bei jedem noch so kleinen Fehler, den ich im Unterricht machte, seinen Rohrstock auf meinem nackten Hintern tanzen zu lassen. Doch schlimmer als der Stock war es, seine Hände auch dort zu spüren. Ich wusste damals noch nichts davon, dass manche Männer es auch mit Jungen treiben wollten, aber mir war klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Sosehr ich es auch versuchte, ich fand keine Ausrede, die mich davor schützte, nach der Schule zu ihm zu gehen, um meine Gebete mit ihm zu sprechen, wie er das wünschte. Mein Vater bemerkte nichts; eine Tracht Prügel zur rechten Zeit habe noch niemandem geschadet, so lautete seine Überzeugung, die er noch von seinem Urgroßvater hatte, der über Jahrzehnte Sheriff von Shropshire gewesen war. Ich wäre damals lieber gestorben, als ihm einzugestehen, dass ich nicht Angst vor den Schlägen hatte, sondern vor den Händen des Lehrers an meinem Arsch. Jane dagegen gab sich nicht damit zufrieden, meine wirkungslosen Ausreden als kindliche Bockigkeit abzutun. Es gelang ihr, die Wahrheit aus mir herauszulocken. »Das, was er tut, ist Unrecht«, sagte sie mit ernster Stimme. Ich spürte, dass ich den Tränen nahe war. »Ich ... ich kann nichts dagegen tun.« »Nun, Tom, nicht jedes Unrecht kann aus der Welt geschafft werden - aber das heißt nicht, dass man es nicht versuchen muss.« Mein Vater konnte sich keinen persönlichen Lehrer leisten, das wusste Jane, und ihr war auch klar, dass er ein Angebot ihrerseits, für einen Lehrer zu zahlen, nicht angenommen hätte; mein Vater war ein stolzer Mann. Ihr war auch bewusst, dass er mir nie verziehen hätte, wenn sie mit mir zu einer Amtsperson gegangen wäre; er hätte es als den Versuch seines Sohnes gesehen, sich mit einer besonders abenteuerlichen Lüge vor dem Unterricht zu drücken und Schande über seinen Namen zu bringen. Also brachte Jane einen gelehrten Schützling ihres Gemahls dazu, sich in meinem Heimatort Kidderminster niederzulassen und der Gemeinde seine Dienste als zweiter Lehrer anzubieten. Dann gab sie mir einen Rat bezüglich Master Ferlinghams. Nachdem ich sein Haus über viele Abende beobachtet und durch das Fenster gesehen hatte, was er dort mit anderen Jungen tat, lief ich zum nächsten erreichbaren Mitglied des Stadtrats und bat ihn, meine Base Jane bei Mr. Ferlingham zu treffen, just zu dem Zeitpunkt, als der sich am kleinen Nick zu schaffen machte. Mr. Ferlingham hat das nicht lange überlebt. Das Gefühl, sich durch eigenes Handeln gegen ein Unrecht wehren zu können, war weit befriedigender als die Aussicht, nicht länger von Ferlingham verprügelt zu werden. Damals schwor ich mir, meiner Base Jane immer zu helfen, sollte sie jemals in Not geraten, koste es, was es wolle. Nicht, dass es in meiner Jugend danach aussah, als ob Jane meine Hilfe je brauchen würde. Ihr Gemahl war zwar der Sohn eines hingerichteten Verräters, aber er arbeitete sich Schritt für Schritt an die Spitze des Königreichs hoch: John Dudley zeichnete sich auf dem Feld und zur See aus, fand mit viel Geschick die richtigen Förderer zur richtigen Zeit - von Kardinal Wolsey über Thomas Cromwell bis zum König selbst - und wurde schließlich zum Herzog von Northumberland und mächtigsten Mann im Königreich. Der einzige Kummer, den Jane in dieser Zeit hatte, war, dass nicht alle ihrer dreizehn Kinder überlebten. Anders als meine eigene Mutter erholte sie sich jedoch sehr schnell von jeder Geburt. Trotz der sieben Kinder, denen es gelang, heranzuwachsen, fand sie auch immer noch Zeit für mich. »Du bist eigentlich mein Ältester, Tom«, pflegte sie zu sagen. Als ich erwachsen war, sorgte sie dafür, dass ihr Gemahl mir eine Stelle in seinem Haushalt gab. Zu diesem Zeitpunkt wusste jeder in ganz England, wer John Dudley war, und mein eigener Vater in Kidderminster sonnte sich im Glanz der Verwandtschaft. Ich nahm ihm das damals fast ein wenig übel, hatte er doch nichts getan, um seinerseits zum Aufstieg unserer Familie beizutragen. Für mich, das nahm ich mir fest vor, sollte das anders sein. Ich würde mir meinen Platz an der Sonne verdienen. Wenn John mich förderte, dann sollte es nicht nur geschehen, um seiner Gemahlin einen Gefallen zu tun, sondern weil ich ihm durch harte Arbeit unentbehrlich geworden war. Das ging so lange gut, bis John vor sechs Jahren versuchte, die Thronfolge zu bestimmen. Er verlor seinen Kopf, und seine Familie stürzte mit ihm. Es war das Jahr 1554. Johns Söhne warteten im Tower darauf, das gleiche Schicksal zu erleiden wie ihr Vater. Ich hatte Glück, selbst nicht als Verräter im Kerker zu sitzen, aber meinen Besitz war ich dennoch los, und meiner Base Jane erging es noch übler: Sie verlor mit dem Tod ihres Gemahls sämtliche Güter und verbrachte ihre Zeit damit, mittellos nach Fürsprechern bei Hofe zu suchen, um wenigstens das Leben ihrer Söhne zu retten. Ich hätte damals nach Worcestershire zurückkehren können, zu meiner Gemahlin Margery und dem Kind, das sie erwartete, denn Margerys Mitgift hatte die Krone nicht eingezogen. Aber Jane brauchte mich. Wann, wenn nicht in dieser dunklen Stunde, war die Zeit gekommen, um ihr dafür zu danken, dass sie mir geholfen hatte, ein Mann zu werden, den andere achteten, und der sich selbst achten konnte? So viele der Schranzen, die sich in den letzten Jahren um John Dudley geschart hatten, waren verschwunden, und Jane musste jeden Morgen mit der Furcht erwachen, dass der beginnende Tag der letzte für ihre verbliebenen Söhne sein könnte; Guildford, der Jüngste, hatte schon für den Ehrgeiz seines Vaters mit seinem Kopf bezahlt. Also blieb ich an der Seite meiner Base und versuchte, ihre unerschütterliche Hoffnung zu teilen, während sie von einem Höfling nach dem andern abgewiesen wurde, Tag auf Tag, immer wieder. Es lag nicht nur an den Feinden, die sich John Dudley durch seinen raschen Aufstieg gemacht hatte. Sich bei der neuen Königin für die Witwe und die Söhne des Mannes einzusetzen, der sein Bestes getan hatte, um zu verhindern, dass sie auf den Thron kam, bedeutete, viel für nichts zu riskieren, denn dass ein Dudley unter Mary Tudor je wieder zu Ansehen und Ehren kam, war wirklich nicht zu erwarten. Jane pflegte damals vor jedem vergeblichen Bittgang die Namen ihrer lebenden Söhne zu murmeln wie ein Gebet - Ambrose, John, Robin und Henry. Als sie erfuhr, dass John im Tower an einem Fieber dahinsiechte, das ihn noch vor dem Henker vom Leben in den Tod befördern würde, brach sie zusammen und weinte in meinen Armen. Da ich meine Base während meines ganzen Lebens nie anders als stark erlebt hatte, fühlte ich mich einen Moment lang, als hätte sich die Welt von unten nach oben gekehrt und der Boden unter meinen Füßen aufgetan, um uns alle zu verschlingen. »My lady«, sagte ich schließlich zu ihr, absichtlich so formell wie möglich, um ihr Selbstbewusstsein wieder zu stärken, denn ihr Titel als Herzogin von Northumberland war eines der wenigen Dinge, die Jane nicht genommen worden waren, »wenn kein Engländer Euch helfen will, dann sollten wir es mit einem der gottverfluchten Spanier versuchen.« Jane sah mich ausdruckslos an. »Die Spanier, my lady, sind schließlich nicht nur hier, um uns mit ihrer Arroganz den letzten Nerv zu rauben, sondern als Teil der Gefolgschaft des Prinzgemahls gewissermaßen Gäste in unserem Land«, erinnerte ich sie. Sie verstand, und das rief ihre Lebensgeister zurück. »Darum brauchen sie um keine eigenen Güter zu fürchten, wenn sie für uns sprechen«, vollendete Jane meinen Satz. »Außerdem weiß doch jeder, dass die Königin Wachs in Philipps Händen ist. Vielleicht gilt das auch für die Edelleute aus seinem Gefolge.« Jane legte mir ihre Finger auf die Lippen und sagte mir, ich sollte nicht so respektlos von der Königin sprechen, aber sie hörte auf mich. Nach einer Woche, in der sie jeden spanischen Edelmann und jede spanische Hofdame aufsuchte, die sich in unserem Land herumtrieben, weil ihr Prinz unsere Königin geheiratet hatte, zeigte sich das Schicksal endlich wieder etwas gnädiger. Das Schicksal - und das Interesse der Spanier an Informationen, mit denen sie ihren portugiesischen Rivalen eins auswischen konnten. Ich übergab meiner Base daher einige Briefe über die Nordostpassage nach China und Indien, die mir John Dudley während der letzten Wochen an der Spitze des Kronrats überlassen hatte, weil er zu beschäftigt damit war, seinen Staatsstreich vorzubereiten. Meine Aufgabe war es gewesen, Geldgeber für eine Gesellschaft zu finden, die bereit waren, für die Suche nach diesem Seeweg Summen in beträchtlicher Höhe zur Verfügung zu stellen, um mehrere Schiffe auszurüsten. John der Jüngere starb zwar dennoch in der Gefangenschaft am Fieber, ehe die Spanier auf unseren Vorschlag eingingen, aber für Ambrose, Robin und Henry war es noch nicht zu spät. Sie wurden freigelassen. Allerdings nicht ohne Bedingungen. Binnen kurzem sollte ich mich gemeinsam mit ihnen im französischen Schlamm vor St. Quintin wiederfinden, wo sechstausend Engländer für Philipp von Spanien fochten. Manchmal träume ich noch heute davon, und es sind keine guten Träume. Ich tat damals mein Bestes, um nicht nur meine eigene Haut zu retten, sondern auch auf Janes Jungen achtzugeben. Das war ich ihr schuldig. Janes so lange Jahre unerschütterliche Gesundheit war dahin; die Freude, ihre Söhne frei zu sehen, währte nur kurz, und die Angst, sie gleich wieder durch den Krieg zu verlieren, zehrte an ihr. Sie konnte sich von uns allen nur auf dem Krankenbett verabschieden. Margery war aus Kidderminster gekommen, um sie zu pflegen, und gradlinig, wie es ihre Art ist, sagte sie mir, ihrer Meinung nach stünde es nicht gut um Jane. »Sie ist alt genug, um deine Mutter zu sein, Tom«, schloss sie. »Ich glaube, das vergisst du manchmal.« »Wenn es ihr so schlechtgeht, dann sollte ich bleiben«, überlegte ich. Margery schüttelte den Kopf. »Was, und die Jungen alleine nach Frankreich gehen lassen? Dann sinkt sie mit Sicherheit bereits morgen vor Sorge ins Grab. Wenn zudem einer von ihnen in Frankreich stirbt, dann wirst du für den Rest deines Lebens glauben, du hättest es verhindern können. Ich kenne dich, Tom.« Hoffte ich insgeheim trotzdem, Jane würde mich bitten, bei ihr zu bleiben? Doch es ist müßig, darüber nachzudenken; sie drückte meine Hand und flüsterte, wie zu den Zeiten ihrer Bittgänge, die Namen ihrer noch lebenden Söhne vor sich hin. Ambrose, Robin, Henry. Da wusste ich, dass Margery recht hatte. »Ich werde mich um sie kümmern«, versprach ich ihr, und Jane lächelte. »Das weiß ich. Du bist doch mein Ältester«, murmelte sie. Dieses Lächeln ist es, was mir von ihr am besten in Erinnerung geblieben ist. Wie sich später herausstellte, hatte ich sie an jenem Tag zum letzten Mal gesehen, denn sie starb, während wir in Frankreich kämpften, und nach meiner Rückkehr fand ich nur noch ihr Grab vor. Wenigstens hat sie nie erfahren, dass ich einen weiteren ihrer Söhne verloren habe. Ambrose, Robin und Henry waren zu jung, um mit ihrem Vater auf dem Feld gewesen zu sein, wie das bei mir der Fall gewesen war, obwohl sie natürlich wie die meisten jungen Edelleute bereits in Turnieren gefochten hatten. Doch die lange Zeit im Tower hatte sie Kraft und einen Teil ihrer Behendigkeit gekostet. Ein Feldzug bietet keine Gelegenheit, um beides wieder zurückzugewinnen, ehe es ernst wird. Ambrose, der nunmehr Älteste, focht immerhin bedachtsam; Robin und Henry schienen beide beweisen zu wollen, dass dem Henker entkommen zu sein ihnen Unsterblichkeit verliehen hatte. Vielleicht waren es aber auch die höhnischen Bemerkungen von Seiten ihrer Kameraden über die Feigheit ihres Vaters, die sie vorantrieben. John hatte am Ende versucht, durch den Übertritt zum Katholizismus sein Leben zu retten, obwohl es doch die ganze Rechtfertigung für seinen Eingriff in die Thronfolge gewesen war, dass er keine Katholikin auf Englands Thron sehen wollte. »Heute hier, morgen dort, aber nie da, wenn man auf sie zählt«, so spottete mehr als einer im Heer, »so sind die Dudleys.« Oder: »Was ist der Unterschied zwischen einem Wurm und einem Dudley? Aus dem Dreck kommen beide, aber der Wurm hat mehr Rückgrat!« Ambrose stellte sich taub, Robin fi ng Streit mit den Betreffenden an, und Henry, Henry meldete sich freiwillig, um in St. Quintin in vorderster Front zu stehen. Als ich das hörte, schnappte ich mir seinen Befehlshaber und schrie etwas davon, dass Henry einfach nur jung und dumm war und auf keinen Fall so eingesetzt werden dürfte. »Das gilt für die meisten in diesem Heer«, sagte der Spanier unbeeindruckt. »Und wer glaubt Ihr zu sein, dass Ihr Euch diesen Ton herausnehmt? Ich glaube, es wird Euch guttun, zusammen mit Eurem jungen Vetter zu stehen. Euch und seinen Brüdern. Dann lernt Ihr vielleicht, was für ein Privileg es für die Überbleibsel eines toten ketzerischen Verräters ist, ihre Schande im ehrenhaften Dienst für die heilige Sache wiedergutmachen zu dürfen.« Die Erinnerung an jenen Tag ist noch so lebendig in mir, als wäre er erst gestern gewesen, und ich wünschte, es wäre nicht so. Das Wetter war schlecht bei St. Quintin; in der Nacht hatte es wie aus Eimern geregnet, und noch der Morgen war diesig, feucht und kalt. Pferde und Männer stakten knietief durch den Schlamm, während ich Henry nicht zum ersten Mal den Kopf wusch ob seiner Tollkühnheit, die uns alle das Leben kosten konnte. »Unsinn, Vetter Blount«, sagte er übermütig, »es wird alles gut werden. Wir kehren als Helden zurück!« Er preschte zum Flaggenträger und griff sich die Flagge. »Für England!«, rief er und hielt sie hoch. »Für Sankt Georg!« »Er ist verrückt«, entfuhr es Ambrose entgeistert. »Nein, er hat recht«, sagte Robin heftig und machte Anstalten, sich zu Henry zu gesellen. Ich schaffte es gerade noch, seinen Arm zu packen. »Lass mich los«, rief er aufgebracht - und in diesem Moment hörten wir das Donnern. Die ersten Kanonenkugeln schlugen in unserer Nähe ein. Keiner von uns hat Henry schreien hören. Er hatte nicht mehr die Zeit dazu. Henry wurde direkt getroffen, und anschließend blieben nur noch Fetzen von ihm. Dafür schrie sonst eigentlich jeder, weil die Franzosen mit ihrem Angriff schneller als erwartet begonnen hatten. Die feuchte, kalte Luft dröhnte vom Gebrüll unserer Männer, die fluchten, wirre Befehle zu geben versuchten oder nach ihren Vätern und Müttern schrien. Schon nach wenigen Augenblicken roch es wie in einem Schlachthaus. Nach der Schlacht bestand Robin zuerst darauf, dass Henry noch am Leben war. »Die Kugel ist nur in seiner Nähe eingeschlagen, und dadurch wurde er fortgeschleudert«, beharrte er. »Henry ist bewusstlos und liegt irgendwo unter den Leichen. Wir müssen ihn finden.« »Rob, er ist tot«, sagte Ambrose tonlos und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. »Wir haben doch gesehen, dass ...« »Nichts haben wir gesehen!«, wies Robin den Einwand scharf zurück. »Er ist nur fortgeschleudert worden und wartet darauf, dass wir ihn finden. Oder er ist in französischer Gefangenschaft.« »Wir werden ihn suchen«, sagte ich begütigend, »und finden, so oder so.« Natürlich musste ich, dass Ambrose recht hatte. Jane, dachte ich, Jane, verzeih mir. Margerys Brief über ihren Tod war erst am Vortag eingetroffen. Ich hatte es den Jungen noch nicht gesagt, weil ich es selbst nicht wahrhaben wollte. Und nun hatte ich mein letztes Versprechen an sie nicht einhalten können. Wir waren beileibe nicht die Einzigen, die auf dem Schlachtfeld nach Leichen suchten; einige Männer hatten gesehen, was mit Henry passiert war, und so ernteten wir verwunderte Blicke, doch keinen Hohn. Dann fand Ambrose eine Hand, nichts als eine Hand, mit einem Ring, den wir alle erkannten. Wie alle Dudley-Söhne hatte Henry jung geheiratet, in den Zeiten, als John Dudley der erste Mann im Königreich gewesen war, und seine Gattin, Lady Audley, hatte ihm diesen Ring geschenkt, der eigentlich der Siegelring ihres Vaters gewesen war; die Brüder hatten Henry deswegen immer geneckt. Ambrose fiel auf die Knie und begann, sich die Seele aus dem Leib zu würgen; ich muss gestehen, dass auch meine Knie weich wurden. Robin dagegen stand ganz einfach neben mir und sagte: »Das beweist noch gar nichts. Es ist nur die Hand. Man kann den Verlust einer Hand überleben.« Janes Tod, Henrys Tod und das ganze Elend schlugen über mir zusammen, und mir riss der Geduldsfaden. Ohne darüber nachzudenken, hob ich meine Hand und schlug Robin ins Gesicht, nicht mit der Faust, sondern mit der geöffneten Handfläche, wie man es bei einem Kind tut. »Wach auf«, schrie ich. »Dein Bruder ist tot.« Ich bin nicht stolz darauf; es war das Einzige, was ich tun konnte. Plötzlich beneidete ich Ambrose, der seiner Übelkeit wenigstens Ausdruck verleihen konnte. Robin starrte mich an. »Nein«, sagte er dann unbeirrt, »nein, ich werde ihn finden. Du wirst sehen.« Er wandte sich von mir ab und begann, weiter das Schlachtfeld abzusuchen. Ich schickte Ambrose in das Zelt zurück, das wir alle teilten, und folgte Robin. Wir fanden kaum genügend Überbleibsel für ein christliches Begräbnis. Henrys Kopf gehörte nicht dazu. Bei manchen Gliedmaßen war ich mir nicht sicher, ob sie ihm gehört hatten, und ich vermutete, dass Robin es auch nicht war. Aber nachdem er sich eingestehen musste, dass es keine Hoffnung mehr für Henry gab, bestand er darauf, dass es sich bei dem, was wir fanden, um den Oberarm, um die Füße, um das Bein seines Bruders handelte. »Meine Mutter«, begann er, und sein starrer Gesichtsausdruck machte mir mehr Sorgen, als es Ambrose' offener Zusammenbruch getan hatte, »meine Mutter hätte gewollt, dass Henry ein ordentliches Begräbnis bekommt.« Es lag mir auf der Zunge, ihm die Wahrheit über Jane zu sagen, da fi el mir auf, dass er in der Vergangenheitsform von ihr gesprochen hatte, und ich begriff, dass er bereits wusste, was geschehen war. »Woher ...« »Du bist nicht der Einzige, der Briefe aus England bekommt, Vetter«, sagte Robin, und die steinerne Haltung, in die er sich seit Beginn der Schlacht geflüchtet hatte, begann endlich etwas aufzubrechen, als er einen blutbefleckten Hut, der tatsächlich Henrys gewesen sein konnte, vom Boden auflas. Er hielt ihn in den Händen, und ich konnte sehen, dass er wiederholt schluckte, als versuche er mit Gewalt, Tränen zu unterdrücken. Ich dachte daran, wie ich vor meinem Vater nie hatte Schwäche zeigen wollen. Aber wenn es je einen Zeitpunkt gab, an dem mein zwölf Jahre jüngerer Vetter einen Anspruch darauf hatte, vor Gott und den Menschen einmal keine Stärke zeigen zu müssen, dann jetzt. Ich wusste nur nicht, wie ich das zum Ausdruck bringen konnte, ohne die falschen Worte zu gebrauchen und ihn womöglich zu kränken. »Ich glaube«, sagte ich stattdessen mit einem Blick auf den Hut, »wir haben nun genug gefunden, Vetter.« Er nickte stumm. Robin und ich legten das, was von Henry übrig war, in einen Sarg und hörten wenig später einen spanischen Pfaffen um Gottes Segen für ihn bitten. Danach nahm ich, was ich an Geld hatte, und ging mit Robin in den nächstgelegenen Ort. Dort liebte man zwar weder Engländer noch Spanier, aber sehr wohl klingende Münze; ich besorgte uns Branntwein und zwei Mädchen. Gewiss, Katholiken wie Protestanten sind sich einig, dass unser Herr den Ehebruch verdammt, aber meine eigene Auslegung war immer, dass dies nicht für Männer gilt, die ihre Gattin monatelang nicht zu Gesicht bekommen, und gewiss nicht für Soldaten. Sich im warmen, willigen Körper einer Frau zu verlieren, schafft Vergessen wie kaum etwas anderes, und für mich stand an jenem unseligen Tag fest, dass Janes Sohn und ich dringend Vergessen brauchten. Und sei es nur eine Stunde lang. In besseren, glücklicheren Zeiten war es einmal an mir gewesen, Robin und seinen Brüdern Ratschläge über Frauen zu erteilen. Als Henry das Mädchen, durch dessen Ring wir heute seine Hand wiedererkannt hatten, schwängerte und im Schnell verfahren heiraten musste, war John Dudley mit dem Coup gegen Edward Seymour beschäftigt gewesen und hatte mich gebeten, dafür zu sorgen, dass seine Söhne ihm keine solchen Streiche mehr spielten. Ich hatte John den Jüngeren, Ambrose, Robin und Guildford zur Seite genommen und ihnen erklärt, dass ein Mann, der seinen Verstand beisammen hatte, niemals ein Verhältnis mit einem unverheirateten Mädchen anfing. »Der Apostel Paulus meinte, es ist besser zu heiraten, als zu brennen«, hatte ich gesagt, »aber er war nicht verheiratet, und ein Heiliger ist ohnehin nicht von dieser Welt. Wenn ihr meine Meinung dazu hören wollt: Wenn man das Feuer nicht kontrollieren kann, so rät es sich doch, den Brand in ein sicheres Gefilde zu lenken.« Die Jungen, allesamt noch Jahre davon entfernt, als Männer zu gelten, aber durchaus alt genug, um Dummheiten zu begehen, hatten mich großäugig angestarrt und gefragt, wer denn als »sicher« bezeichnet werden könne. »Erzählt Eurer Mutter nie, was ich jetzt sage«, hatte ich erwidert, »aber die sicherste Frau ist immer eine verheiratete Frau. Wenn ihr vorsichtig vorgeht und nicht mit der Affäre herumprahlt, dann müsst ihr nicht fürchten, sie in Schande zu stürzen, weil kein Mensch etwas von der Sache erfährt. Wenn sie schwanger wird, dann freut sich der Gatte über einen neuen Erben, und ihr müsst nicht für das Kind aufkommen. Außerdem hat eine solche Frau keine Krankheiten, während man bei einer Hure nie sicher sein kann.« Es wäre anständiger gewesen zu sagen, dass sie gefälligst ihren Hosenlatz geschlossen halten sollten, bis ihr Vater sie verheiratet hätte, aber dergleichen wäre ihnen zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder herausgegangen. So zumindest hatte ich es empfunden, als mein Vater mir diese Predigt hielt. Damals schien der erboste Vater einer unverheirateten Tochter die größte Gefahr zu sein, die einem von Janes Söhnen drohen konnte. Nun hatte Guildford der Henker geholt, Henry war tot, Ambrose zusammengebrochen, und Robin und ich konnten noch von Glück sagen, wenn ein paar Französinnen uns halfen, die Nacht zu überstehen, ohne verrückt zu werden. An den Namen des Mädchens, wenn sie ihn mir denn verriet, kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich weiß noch, dass sie fl achsfarbenes Haar und einen Leberfleck über dem Bauchnabel hatte, und dass ich den Gestank der Leichen und des getrockneten Blutes in ihren Armen nicht mehr roch, sondern den gesunden, milchigen Schweiß einer Frau; den Duft des Lebens, nicht des Todes. Robin war mit seinem Mädchen bereits fertig oder hatte noch nicht angefangen, als ich wieder in den Schankraum kam; auf jeden Fall saß sie neben ihm, während er aus seinem Becher trank. Sein Gesicht war leicht gerötet, er trug sein Wams nicht mehr, und man konnte sehen, dass etwas von dem Blut dieses Tages einen Weg auf das Hemd darunter gefunden hatte. »Guildford ist in St. Peter ad Vincula beerdigt«, sagte er abrupt, als ich mich zu ihm setzte. »Der Kapelle im Tower. Als sie ihn holten, sagte er zu uns anderen, er hoffte, er müsse noch lange auf uns warten. Glaubst du, Henry ist jetzt bei ihm?« »Das weiß Gott allein«, sagte ich müde. »Meine Mutter ist es bestimmt. Obwohl sie die Einzige in der Familie sein dürfte, die ein Anrecht hat, geradewegs ins Paradies zu kommen. Aber ich - ich kann mir nicht vorstellen ...« Er ließ den Kopf sinken, seine Stimme wurde brüchiger, obwohl er sie immer noch zum Gehorsam zwang. »Ich kann mir nicht denken, dass sie ohne ihre Kinder zur Rechten Gottes sitzen wollte.« »Deine Mutter würde lieber das Fegefeuer in Kauf nehmen, als ohne ihre Kinder zu sein«, bestätigte ich und dachte an Jane, meine Base Jane, die in allem, was zählte, auch meine Mutter gewesen war. Robin hatte ihre Augen geerbt, was ihn, zusammen mit dem dunklen Haar seines Vaters, immer wie einen Südländer aussehen ließ, mehr als so manchen Spanier, den ich kannte. Ich versuchte, mir nicht vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, auch noch ihn und Ambrose unter die Erde zu bringen; in jener Nacht schien es, als gäbe es nur Unglück für uns alle. Dann schaute Robin erneut auf, und ich konnte sehen, dass etwas von der Jungenhaftigkeit, die er bis zu diesem Zeitpunkt noch gehabt hatte, verschwunden war. Zum ersten Mal konnte man ihm jedes Jahr seiner über zwei Jahrzehnte anmerken. »Vetter Blount«, sagte er und schob die Hand des Mädchens zurück, die ihm unter das Hemd fahren wollte, »so etwas wird nie wieder geschehen.« Es war eine jener Feststellungen, die man macht, wenn man zu viel getrunken hat, und die nüchtern betrachtet keinen großen Sinn ergeben. Jeder Mensch schuldet Gott einen Tod, und ob sein Bruder, seine beiden Schwestern, meine Gemahlin und mein gerade geborener Sohn nun alle hundert Jahre alt wurden oder morgen von uns gingen, sterben würden sie, ganz wie er und ich auch. Aber ich war selbst erschöpft, gebrochen und durchwärmt von Branntwein und dem Mädchen, das in meinen Armen gelegen hatte, und in diesem Zustand verstand ich, was er meinte. Es waren nicht nur die Todesfälle; es war der Umstand, dass die Familie so tief gestürzt war. Jane hätte niemals in die Bedrängnis kommen dürfen, um das Leben ihrer Söhne betteln zu müssen und als Frau eines hingerichteten Verräters auf ihre Verwandten angewiesen zu sein, was ein Dach über dem Kopf und Krankenpflege betraf, weil sie sich keinen Arzt mehr leisten konnte. »Nun, dein Vater ist tot«, gab ich zurück, gerade noch nüchtern genug, um nicht fortzufahren, dass John Dudley uns durch seinen Ehrgeiz erst zu Verrätern an der Krone gemacht und damit die Folgen heraufbeschworen hatte; es war auch so klar, worauf meine Bemerkung zielte, und seine Söhne hatten schon oft genug gehört, wie andere Menschen ihren Vater in die Hölle wünschten. An jedem anderen Tag hätte ich darum auch die Bitterkeit unterdrückt und mir eingestanden, dass ich John bereitwillig genug gefolgt war, solange er Erfolg hatte. Ja, er hatte sein Versprechen, uns alle auf den Gipfel der Macht zu führen, nicht erfüllt - so wie ich nicht in der Lage gewesen war, mein Versprechen Jane gegenüber zu halten und ihre Söhne zu beschützen, alle ihre Söhne. Gegen wen sollte ich also den größeren Groll hegen? »Mein Vater«, sagte Robin, und die Bitterkeit, die in mir brannte, fand sich auch in seiner Stimme, »hat die schlimmste Art von Verrat begangen - Verrat ohne Erfolg. Sonst würde man ihn nämlich als Retter des Landes preisen. Aber die Dudleys werden wieder aufsteigen, sie werden sicherer und mächtiger werden, als sie es zu Lebzeiten meines Herrn Vaters je waren, das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist.« Mir lag auf der Zunge, ihn darauf hinzuweisen, dass all das Ansehen und die Macht seinen Vater nicht gerettet, sondern nur auf den Pfad geführt hatte, der seinen Tod, den Tod von Guildford, Henry und John dem Jüngeren und die ganze jetzige Misere erst ermöglichte, aber ich konnte es nicht aussprechen. Und ich wollte es auch nicht. Der Mensch braucht Hoffnung, ich so gut wie er. Ich dachte an meine eigene Familie daheim und fragte mich, ob sie mich wohl dereinst verfluchen würde, weil ich unsere Geschicke so fest an die Familie eines geköpften Verräters geknüpft hatte. Dann erinnerte ich mich daran, dass wir sehr gut alle tot hätten sein können, ich so gut wie Robin, hingerichtet genau wie Janes Gatte und ihr jüngster Sohn oder in Stücke gerissen wie der arme Henry. Aber wir waren nicht tot, sondern am Leben. Dafür musste man Gott dankbar sein und etwas daraus machen. »Du hast uns immer treu zur Seite gestanden«, sagte Robin, als stünden mir meine Gedanken auf der Stirn geschrieben, »doch wenn es dich zurück nach Worcestershire zieht, würde ich das verstehen. Jetzt, wo du für ihren Gatten gefochten hast, wird die Königin dir gewiss etwas Land zurückgeben, und du und die deinen könnten dort in Frieden leben.« Es wäre an seinem Bruder Ambrose gewesen, als dem Ältesten und daher neuen Oberhaupt der Familie, mich entweder zu bitten zu bleiben oder mir mitzuteilen, ich könne gehen. Robin war nie mehr als der mittlere Sohn gewesen, weder der zukünftige Erbe seines Vaters noch das verwöhnte Nesthäkchen. Als John Dudley einen seiner Söhne mit dem Mädchen verheiratete, das er zur Königin von England machen wollte, da war es Guildford gewesen, nicht Robin. Was Jane betraf, so bestand sie darauf, keine Lieblinge zu haben und alle ihre Kinder gleich zu lieben, aber insgeheim war ich davon überzeugt, dass Henry ihr Favorit war. Ein mittlerer Sohn in einer großen Familie muss immer ein wenig aufgeweckter, schneller, besser als die anderen sein, um überhaupt aufzufallen. Es hätte mich also nicht wundern sollen, dass Robin derjenige der Dudleys sein würde, der sich in der Stunde der Niederlage und des tiefsten Verlustes aufraffte und begann, Pläne für die Zukunft zu machen. Die Frage war nun, ob ich ihm dabei folgen wollte. Er hatte recht. Nach meinem Kriegsdienst hier hatte ich gute Chancen, mein Land wieder zu bekommen und nicht mehr von Margerys Mitgift leben zu müssen. Ich konnte nach Hause gehen und den Rest meiner Tage in Kidderminster verbringen, mit ihr und unserem Kind, und ganz gleich, ob es Robin nun gelingen würde, die Dudleys wieder zu Glanz und Macht zu bringen, oder ob er sich nur ein Todesurteil einhandelte, es würde weder mein Verdienst noch meine Schuld sein. In diesem Moment, an dem knarrenden Holztisch in einem wenig ehrenhaften Gasthof in Frankreich, bot sich mir die einmalige Chance, die Geschicke der Blounts endgültig von denen der Dudleys zu trennen. Janes Stimme klang mir im Ohr, wie sie die Namen ihrer Söhne rezitierte und mich ihren Ältesten nannte. Kidderminster fiel mir ein, und wie in den zehn Jahren vor Johns Tod jede Heimkehr einem Triumphzug geglichen hatte, während dieser Tage jeder sehr vorsichtig war, wenn er mit uns sprach. Hoffnung, dachte ich, jeder von uns braucht Hoffnung und das Gefühl, nicht allein zu sein. Ich schaute auf Janes Sohn, dem ich nach dem Tod seines Bruders nicht mehr als Branntwein und ein Schankmädchen gegeben hatte. Mit dem Geschmack von Niederlage und französischem Branntwein im Mund sagte ich, und gebrauchte zum ersten Mal ihm gegenüber die respektvolle Anrede, die einem höhergestellten Mann gebührt, obwohl er durch den Tod seines Vaters allen Rang verloren hatte und wir gleichgestellt waren: »Ihr seid einer der Meinen ... my lord. Wie kann ich in Frieden leben, solange Ihr das nicht tut?« Ich musste einmal schlucken und fügte schnell hinzu: »Außerdem, wenn ich in Worcestershire sitze, während Ihr bei Hofe ein großer Mann seid, werde ich keinen Frieden haben, sondern nichts als Ärger in mir spüren, weil ich das verpasse.« »Danke für dein Vertrauen, Vetter«, sagte Robin. Dann legte er seinen Kopf auf den schmutzigen Holztisch einer miserablen französischen Schenke und weinte um seine toten Brüder, um seinen Vater, seine Mutter, und ich weinte mit ihm. Robin und ich sprachen später nie mehr über das, was an jenem Abend passiert war. Aber von diesem Zeitpunkt an ging es tatsächlich bergauf, in kleinen Schritten, zugegeben, aber immer bergauf. Weder er noch Ambrose noch ich selbst wurden in Frankreich verwundet, was auch daran lag, dass Robin und ich unser Talent dafür entdeckten, einander den Rücken zu decken. Als wir das nächste Mal in ein Hurenhaus gingen, war es nicht, um Vergessen vor Trauer und Entsetzen zu suchen, sondern, um zu feiern, dass Königin Mary uns wegen des Dienstes in Frankreich von begnadigten Verrätern wieder zu freien Männern von Rang erhoben hatte. Die französische Dirne, die wir dort trafen, ist mir nicht nur in Erinnerung geblieben, weil sie wirklich hinreißend aussah, sondern auch, weil sie von Robin zu mir schaute und dreist erklärte, wir sollten doch gleich zu zweit zu ihr kommen, denn englische Männer hätten nun einmal einzeln nicht die Ausdauer für eine Frau wie sie. Zuerst war ich gekränkt und drauf und dran, auf dem Absatz kehrtzumachen, aber Robin brach in Gelächter aus. »Sie hat recht, Thomas, sie hat recht«, stieß er zwischen zwei Salven hervor, und erst als ich mich anstecken ließ, wurde mir bewusst, wie lange es her war, dass einer von uns beiden über sich selbst hatte lachen können.
© 2010 Droemer Verlag.
Gott vergebe mir, aber das Erste, was ich dachte, als Robin Dudley mir sagte, seine Gemahlin sei tot, war: Warum jetzt? Für mich und die Meinen war es eine gute Zeit, und eine, auf die wir lange hatten warten müssen. Seit meine Base Jane vor vierzig Jahren John Dudley geheiratet hatte, waren wir miteinander im Rad der Fortuna gefangen gewesen und hatten uns nicht mehr lösen können, ganz gleich, ob es uns hoch oder abwärts trug. Ich wurde an Janes Hochzeitstag geboren, und sie hat das immer als Grund gesehen, sich wie eine Patin um mich zu kümmern. Da meine eigene Mutter von Fehlgeburt zu Fehlgeburt immer schwächer wurde und starb, noch ehe ich acht Jahre alt war, gab es lange Zeit niemanden, der für mich so wichtig war wie Jane. Es gab einen Lehrer, John Ferlingham, der mich bis aufs Blut quälte. Es bereitete ihm offensichtlich Spaß, bei jedem noch so kleinen Fehler, den ich im Unterricht machte, seinen Rohrstock auf meinem nackten Hintern tanzen zu lassen. Doch schlimmer als der Stock war es, seine Hände auch dort zu spüren. Ich wusste damals noch nichts davon, dass manche Männer es auch mit Jungen treiben wollten, aber mir war klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Sosehr ich es auch versuchte, ich fand keine Ausrede, die mich davor schützte, nach der Schule zu ihm zu gehen, um meine Gebete mit ihm zu sprechen, wie er das wünschte. Mein Vater bemerkte nichts; eine Tracht Prügel zur rechten Zeit habe noch niemandem geschadet, so lautete seine Überzeugung, die er noch von seinem Urgroßvater hatte, der über Jahrzehnte Sheriff von Shropshire gewesen war. Ich wäre damals lieber gestorben, als ihm einzugestehen, dass ich nicht Angst vor den Schlägen hatte, sondern vor den Händen des Lehrers an meinem Arsch. Jane dagegen gab sich nicht damit zufrieden, meine wirkungslosen Ausreden als kindliche Bockigkeit abzutun. Es gelang ihr, die Wahrheit aus mir herauszulocken. »Das, was er tut, ist Unrecht«, sagte sie mit ernster Stimme. Ich spürte, dass ich den Tränen nahe war. »Ich ... ich kann nichts dagegen tun.« »Nun, Tom, nicht jedes Unrecht kann aus der Welt geschafft werden - aber das heißt nicht, dass man es nicht versuchen muss.« Mein Vater konnte sich keinen persönlichen Lehrer leisten, das wusste Jane, und ihr war auch klar, dass er ein Angebot ihrerseits, für einen Lehrer zu zahlen, nicht angenommen hätte; mein Vater war ein stolzer Mann. Ihr war auch bewusst, dass er mir nie verziehen hätte, wenn sie mit mir zu einer Amtsperson gegangen wäre; er hätte es als den Versuch seines Sohnes gesehen, sich mit einer besonders abenteuerlichen Lüge vor dem Unterricht zu drücken und Schande über seinen Namen zu bringen. Also brachte Jane einen gelehrten Schützling ihres Gemahls dazu, sich in meinem Heimatort Kidderminster niederzulassen und der Gemeinde seine Dienste als zweiter Lehrer anzubieten. Dann gab sie mir einen Rat bezüglich Master Ferlinghams. Nachdem ich sein Haus über viele Abende beobachtet und durch das Fenster gesehen hatte, was er dort mit anderen Jungen tat, lief ich zum nächsten erreichbaren Mitglied des Stadtrats und bat ihn, meine Base Jane bei Mr. Ferlingham zu treffen, just zu dem Zeitpunkt, als der sich am kleinen Nick zu schaffen machte. Mr. Ferlingham hat das nicht lange überlebt. Das Gefühl, sich durch eigenes Handeln gegen ein Unrecht wehren zu können, war weit befriedigender als die Aussicht, nicht länger von Ferlingham verprügelt zu werden. Damals schwor ich mir, meiner Base Jane immer zu helfen, sollte sie jemals in Not geraten, koste es, was es wolle. Nicht, dass es in meiner Jugend danach aussah, als ob Jane meine Hilfe je brauchen würde. Ihr Gemahl war zwar der Sohn eines hingerichteten Verräters, aber er arbeitete sich Schritt für Schritt an die Spitze des Königreichs hoch: John Dudley zeichnete sich auf dem Feld und zur See aus, fand mit viel Geschick die richtigen Förderer zur richtigen Zeit - von Kardinal Wolsey über Thomas Cromwell bis zum König selbst - und wurde schließlich zum Herzog von Northumberland und mächtigsten Mann im Königreich. Der einzige Kummer, den Jane in dieser Zeit hatte, war, dass nicht alle ihrer dreizehn Kinder überlebten. Anders als meine eigene Mutter erholte sie sich jedoch sehr schnell von jeder Geburt. Trotz der sieben Kinder, denen es gelang, heranzuwachsen, fand sie auch immer noch Zeit für mich. »Du bist eigentlich mein Ältester, Tom«, pflegte sie zu sagen. Als ich erwachsen war, sorgte sie dafür, dass ihr Gemahl mir eine Stelle in seinem Haushalt gab. Zu diesem Zeitpunkt wusste jeder in ganz England, wer John Dudley war, und mein eigener Vater in Kidderminster sonnte sich im Glanz der Verwandtschaft. Ich nahm ihm das damals fast ein wenig übel, hatte er doch nichts getan, um seinerseits zum Aufstieg unserer Familie beizutragen. Für mich, das nahm ich mir fest vor, sollte das anders sein. Ich würde mir meinen Platz an der Sonne verdienen. Wenn John mich förderte, dann sollte es nicht nur geschehen, um seiner Gemahlin einen Gefallen zu tun, sondern weil ich ihm durch harte Arbeit unentbehrlich geworden war. Das ging so lange gut, bis John vor sechs Jahren versuchte, die Thronfolge zu bestimmen. Er verlor seinen Kopf, und seine Familie stürzte mit ihm. Es war das Jahr 1554. Johns Söhne warteten im Tower darauf, das gleiche Schicksal zu erleiden wie ihr Vater. Ich hatte Glück, selbst nicht als Verräter im Kerker zu sitzen, aber meinen Besitz war ich dennoch los, und meiner Base Jane erging es noch übler: Sie verlor mit dem Tod ihres Gemahls sämtliche Güter und verbrachte ihre Zeit damit, mittellos nach Fürsprechern bei Hofe zu suchen, um wenigstens das Leben ihrer Söhne zu retten. Ich hätte damals nach Worcestershire zurückkehren können, zu meiner Gemahlin Margery und dem Kind, das sie erwartete, denn Margerys Mitgift hatte die Krone nicht eingezogen. Aber Jane brauchte mich. Wann, wenn nicht in dieser dunklen Stunde, war die Zeit gekommen, um ihr dafür zu danken, dass sie mir geholfen hatte, ein Mann zu werden, den andere achteten, und der sich selbst achten konnte? So viele der Schranzen, die sich in den letzten Jahren um John Dudley geschart hatten, waren verschwunden, und Jane musste jeden Morgen mit der Furcht erwachen, dass der beginnende Tag der letzte für ihre verbliebenen Söhne sein könnte; Guildford, der Jüngste, hatte schon für den Ehrgeiz seines Vaters mit seinem Kopf bezahlt. Also blieb ich an der Seite meiner Base und versuchte, ihre unerschütterliche Hoffnung zu teilen, während sie von einem Höfling nach dem andern abgewiesen wurde, Tag auf Tag, immer wieder. Es lag nicht nur an den Feinden, die sich John Dudley durch seinen raschen Aufstieg gemacht hatte. Sich bei der neuen Königin für die Witwe und die Söhne des Mannes einzusetzen, der sein Bestes getan hatte, um zu verhindern, dass sie auf den Thron kam, bedeutete, viel für nichts zu riskieren, denn dass ein Dudley unter Mary Tudor je wieder zu Ansehen und Ehren kam, war wirklich nicht zu erwarten. Jane pflegte damals vor jedem vergeblichen Bittgang die Namen ihrer lebenden Söhne zu murmeln wie ein Gebet - Ambrose, John, Robin und Henry. Als sie erfuhr, dass John im Tower an einem Fieber dahinsiechte, das ihn noch vor dem Henker vom Leben in den Tod befördern würde, brach sie zusammen und weinte in meinen Armen. Da ich meine Base während meines ganzen Lebens nie anders als stark erlebt hatte, fühlte ich mich einen Moment lang, als hätte sich die Welt von unten nach oben gekehrt und der Boden unter meinen Füßen aufgetan, um uns alle zu verschlingen. »My lady«, sagte ich schließlich zu ihr, absichtlich so formell wie möglich, um ihr Selbstbewusstsein wieder zu stärken, denn ihr Titel als Herzogin von Northumberland war eines der wenigen Dinge, die Jane nicht genommen worden waren, »wenn kein Engländer Euch helfen will, dann sollten wir es mit einem der gottverfluchten Spanier versuchen.« Jane sah mich ausdruckslos an. »Die Spanier, my lady, sind schließlich nicht nur hier, um uns mit ihrer Arroganz den letzten Nerv zu rauben, sondern als Teil der Gefolgschaft des Prinzgemahls gewissermaßen Gäste in unserem Land«, erinnerte ich sie. Sie verstand, und das rief ihre Lebensgeister zurück. »Darum brauchen sie um keine eigenen Güter zu fürchten, wenn sie für uns sprechen«, vollendete Jane meinen Satz. »Außerdem weiß doch jeder, dass die Königin Wachs in Philipps Händen ist. Vielleicht gilt das auch für die Edelleute aus seinem Gefolge.« Jane legte mir ihre Finger auf die Lippen und sagte mir, ich sollte nicht so respektlos von der Königin sprechen, aber sie hörte auf mich. Nach einer Woche, in der sie jeden spanischen Edelmann und jede spanische Hofdame aufsuchte, die sich in unserem Land herumtrieben, weil ihr Prinz unsere Königin geheiratet hatte, zeigte sich das Schicksal endlich wieder etwas gnädiger. Das Schicksal - und das Interesse der Spanier an Informationen, mit denen sie ihren portugiesischen Rivalen eins auswischen konnten. Ich übergab meiner Base daher einige Briefe über die Nordostpassage nach China und Indien, die mir John Dudley während der letzten Wochen an der Spitze des Kronrats überlassen hatte, weil er zu beschäftigt damit war, seinen Staatsstreich vorzubereiten. Meine Aufgabe war es gewesen, Geldgeber für eine Gesellschaft zu finden, die bereit waren, für die Suche nach diesem Seeweg Summen in beträchtlicher Höhe zur Verfügung zu stellen, um mehrere Schiffe auszurüsten. John der Jüngere starb zwar dennoch in der Gefangenschaft am Fieber, ehe die Spanier auf unseren Vorschlag eingingen, aber für Ambrose, Robin und Henry war es noch nicht zu spät. Sie wurden freigelassen. Allerdings nicht ohne Bedingungen. Binnen kurzem sollte ich mich gemeinsam mit ihnen im französischen Schlamm vor St. Quintin wiederfinden, wo sechstausend Engländer für Philipp von Spanien fochten. Manchmal träume ich noch heute davon, und es sind keine guten Träume. Ich tat damals mein Bestes, um nicht nur meine eigene Haut zu retten, sondern auch auf Janes Jungen achtzugeben. Das war ich ihr schuldig. Janes so lange Jahre unerschütterliche Gesundheit war dahin; die Freude, ihre Söhne frei zu sehen, währte nur kurz, und die Angst, sie gleich wieder durch den Krieg zu verlieren, zehrte an ihr. Sie konnte sich von uns allen nur auf dem Krankenbett verabschieden. Margery war aus Kidderminster gekommen, um sie zu pflegen, und gradlinig, wie es ihre Art ist, sagte sie mir, ihrer Meinung nach stünde es nicht gut um Jane. »Sie ist alt genug, um deine Mutter zu sein, Tom«, schloss sie. »Ich glaube, das vergisst du manchmal.« »Wenn es ihr so schlechtgeht, dann sollte ich bleiben«, überlegte ich. Margery schüttelte den Kopf. »Was, und die Jungen alleine nach Frankreich gehen lassen? Dann sinkt sie mit Sicherheit bereits morgen vor Sorge ins Grab. Wenn zudem einer von ihnen in Frankreich stirbt, dann wirst du für den Rest deines Lebens glauben, du hättest es verhindern können. Ich kenne dich, Tom.« Hoffte ich insgeheim trotzdem, Jane würde mich bitten, bei ihr zu bleiben? Doch es ist müßig, darüber nachzudenken; sie drückte meine Hand und flüsterte, wie zu den Zeiten ihrer Bittgänge, die Namen ihrer noch lebenden Söhne vor sich hin. Ambrose, Robin, Henry. Da wusste ich, dass Margery recht hatte. »Ich werde mich um sie kümmern«, versprach ich ihr, und Jane lächelte. »Das weiß ich. Du bist doch mein Ältester«, murmelte sie. Dieses Lächeln ist es, was mir von ihr am besten in Erinnerung geblieben ist. Wie sich später herausstellte, hatte ich sie an jenem Tag zum letzten Mal gesehen, denn sie starb, während wir in Frankreich kämpften, und nach meiner Rückkehr fand ich nur noch ihr Grab vor. Wenigstens hat sie nie erfahren, dass ich einen weiteren ihrer Söhne verloren habe. Ambrose, Robin und Henry waren zu jung, um mit ihrem Vater auf dem Feld gewesen zu sein, wie das bei mir der Fall gewesen war, obwohl sie natürlich wie die meisten jungen Edelleute bereits in Turnieren gefochten hatten. Doch die lange Zeit im Tower hatte sie Kraft und einen Teil ihrer Behendigkeit gekostet. Ein Feldzug bietet keine Gelegenheit, um beides wieder zurückzugewinnen, ehe es ernst wird. Ambrose, der nunmehr Älteste, focht immerhin bedachtsam; Robin und Henry schienen beide beweisen zu wollen, dass dem Henker entkommen zu sein ihnen Unsterblichkeit verliehen hatte. Vielleicht waren es aber auch die höhnischen Bemerkungen von Seiten ihrer Kameraden über die Feigheit ihres Vaters, die sie vorantrieben. John hatte am Ende versucht, durch den Übertritt zum Katholizismus sein Leben zu retten, obwohl es doch die ganze Rechtfertigung für seinen Eingriff in die Thronfolge gewesen war, dass er keine Katholikin auf Englands Thron sehen wollte. »Heute hier, morgen dort, aber nie da, wenn man auf sie zählt«, so spottete mehr als einer im Heer, »so sind die Dudleys.« Oder: »Was ist der Unterschied zwischen einem Wurm und einem Dudley? Aus dem Dreck kommen beide, aber der Wurm hat mehr Rückgrat!« Ambrose stellte sich taub, Robin fi ng Streit mit den Betreffenden an, und Henry, Henry meldete sich freiwillig, um in St. Quintin in vorderster Front zu stehen. Als ich das hörte, schnappte ich mir seinen Befehlshaber und schrie etwas davon, dass Henry einfach nur jung und dumm war und auf keinen Fall so eingesetzt werden dürfte. »Das gilt für die meisten in diesem Heer«, sagte der Spanier unbeeindruckt. »Und wer glaubt Ihr zu sein, dass Ihr Euch diesen Ton herausnehmt? Ich glaube, es wird Euch guttun, zusammen mit Eurem jungen Vetter zu stehen. Euch und seinen Brüdern. Dann lernt Ihr vielleicht, was für ein Privileg es für die Überbleibsel eines toten ketzerischen Verräters ist, ihre Schande im ehrenhaften Dienst für die heilige Sache wiedergutmachen zu dürfen.« Die Erinnerung an jenen Tag ist noch so lebendig in mir, als wäre er erst gestern gewesen, und ich wünschte, es wäre nicht so. Das Wetter war schlecht bei St. Quintin; in der Nacht hatte es wie aus Eimern geregnet, und noch der Morgen war diesig, feucht und kalt. Pferde und Männer stakten knietief durch den Schlamm, während ich Henry nicht zum ersten Mal den Kopf wusch ob seiner Tollkühnheit, die uns alle das Leben kosten konnte. »Unsinn, Vetter Blount«, sagte er übermütig, »es wird alles gut werden. Wir kehren als Helden zurück!« Er preschte zum Flaggenträger und griff sich die Flagge. »Für England!«, rief er und hielt sie hoch. »Für Sankt Georg!« »Er ist verrückt«, entfuhr es Ambrose entgeistert. »Nein, er hat recht«, sagte Robin heftig und machte Anstalten, sich zu Henry zu gesellen. Ich schaffte es gerade noch, seinen Arm zu packen. »Lass mich los«, rief er aufgebracht - und in diesem Moment hörten wir das Donnern. Die ersten Kanonenkugeln schlugen in unserer Nähe ein. Keiner von uns hat Henry schreien hören. Er hatte nicht mehr die Zeit dazu. Henry wurde direkt getroffen, und anschließend blieben nur noch Fetzen von ihm. Dafür schrie sonst eigentlich jeder, weil die Franzosen mit ihrem Angriff schneller als erwartet begonnen hatten. Die feuchte, kalte Luft dröhnte vom Gebrüll unserer Männer, die fluchten, wirre Befehle zu geben versuchten oder nach ihren Vätern und Müttern schrien. Schon nach wenigen Augenblicken roch es wie in einem Schlachthaus. Nach der Schlacht bestand Robin zuerst darauf, dass Henry noch am Leben war. »Die Kugel ist nur in seiner Nähe eingeschlagen, und dadurch wurde er fortgeschleudert«, beharrte er. »Henry ist bewusstlos und liegt irgendwo unter den Leichen. Wir müssen ihn finden.« »Rob, er ist tot«, sagte Ambrose tonlos und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. »Wir haben doch gesehen, dass ...« »Nichts haben wir gesehen!«, wies Robin den Einwand scharf zurück. »Er ist nur fortgeschleudert worden und wartet darauf, dass wir ihn finden. Oder er ist in französischer Gefangenschaft.« »Wir werden ihn suchen«, sagte ich begütigend, »und finden, so oder so.« Natürlich musste ich, dass Ambrose recht hatte. Jane, dachte ich, Jane, verzeih mir. Margerys Brief über ihren Tod war erst am Vortag eingetroffen. Ich hatte es den Jungen noch nicht gesagt, weil ich es selbst nicht wahrhaben wollte. Und nun hatte ich mein letztes Versprechen an sie nicht einhalten können. Wir waren beileibe nicht die Einzigen, die auf dem Schlachtfeld nach Leichen suchten; einige Männer hatten gesehen, was mit Henry passiert war, und so ernteten wir verwunderte Blicke, doch keinen Hohn. Dann fand Ambrose eine Hand, nichts als eine Hand, mit einem Ring, den wir alle erkannten. Wie alle Dudley-Söhne hatte Henry jung geheiratet, in den Zeiten, als John Dudley der erste Mann im Königreich gewesen war, und seine Gattin, Lady Audley, hatte ihm diesen Ring geschenkt, der eigentlich der Siegelring ihres Vaters gewesen war; die Brüder hatten Henry deswegen immer geneckt. Ambrose fiel auf die Knie und begann, sich die Seele aus dem Leib zu würgen; ich muss gestehen, dass auch meine Knie weich wurden. Robin dagegen stand ganz einfach neben mir und sagte: »Das beweist noch gar nichts. Es ist nur die Hand. Man kann den Verlust einer Hand überleben.« Janes Tod, Henrys Tod und das ganze Elend schlugen über mir zusammen, und mir riss der Geduldsfaden. Ohne darüber nachzudenken, hob ich meine Hand und schlug Robin ins Gesicht, nicht mit der Faust, sondern mit der geöffneten Handfläche, wie man es bei einem Kind tut. »Wach auf«, schrie ich. »Dein Bruder ist tot.« Ich bin nicht stolz darauf; es war das Einzige, was ich tun konnte. Plötzlich beneidete ich Ambrose, der seiner Übelkeit wenigstens Ausdruck verleihen konnte. Robin starrte mich an. »Nein«, sagte er dann unbeirrt, »nein, ich werde ihn finden. Du wirst sehen.« Er wandte sich von mir ab und begann, weiter das Schlachtfeld abzusuchen. Ich schickte Ambrose in das Zelt zurück, das wir alle teilten, und folgte Robin. Wir fanden kaum genügend Überbleibsel für ein christliches Begräbnis. Henrys Kopf gehörte nicht dazu. Bei manchen Gliedmaßen war ich mir nicht sicher, ob sie ihm gehört hatten, und ich vermutete, dass Robin es auch nicht war. Aber nachdem er sich eingestehen musste, dass es keine Hoffnung mehr für Henry gab, bestand er darauf, dass es sich bei dem, was wir fanden, um den Oberarm, um die Füße, um das Bein seines Bruders handelte. »Meine Mutter«, begann er, und sein starrer Gesichtsausdruck machte mir mehr Sorgen, als es Ambrose' offener Zusammenbruch getan hatte, »meine Mutter hätte gewollt, dass Henry ein ordentliches Begräbnis bekommt.« Es lag mir auf der Zunge, ihm die Wahrheit über Jane zu sagen, da fi el mir auf, dass er in der Vergangenheitsform von ihr gesprochen hatte, und ich begriff, dass er bereits wusste, was geschehen war. »Woher ...« »Du bist nicht der Einzige, der Briefe aus England bekommt, Vetter«, sagte Robin, und die steinerne Haltung, in die er sich seit Beginn der Schlacht geflüchtet hatte, begann endlich etwas aufzubrechen, als er einen blutbefleckten Hut, der tatsächlich Henrys gewesen sein konnte, vom Boden auflas. Er hielt ihn in den Händen, und ich konnte sehen, dass er wiederholt schluckte, als versuche er mit Gewalt, Tränen zu unterdrücken. Ich dachte daran, wie ich vor meinem Vater nie hatte Schwäche zeigen wollen. Aber wenn es je einen Zeitpunkt gab, an dem mein zwölf Jahre jüngerer Vetter einen Anspruch darauf hatte, vor Gott und den Menschen einmal keine Stärke zeigen zu müssen, dann jetzt. Ich wusste nur nicht, wie ich das zum Ausdruck bringen konnte, ohne die falschen Worte zu gebrauchen und ihn womöglich zu kränken. »Ich glaube«, sagte ich stattdessen mit einem Blick auf den Hut, »wir haben nun genug gefunden, Vetter.« Er nickte stumm. Robin und ich legten das, was von Henry übrig war, in einen Sarg und hörten wenig später einen spanischen Pfaffen um Gottes Segen für ihn bitten. Danach nahm ich, was ich an Geld hatte, und ging mit Robin in den nächstgelegenen Ort. Dort liebte man zwar weder Engländer noch Spanier, aber sehr wohl klingende Münze; ich besorgte uns Branntwein und zwei Mädchen. Gewiss, Katholiken wie Protestanten sind sich einig, dass unser Herr den Ehebruch verdammt, aber meine eigene Auslegung war immer, dass dies nicht für Männer gilt, die ihre Gattin monatelang nicht zu Gesicht bekommen, und gewiss nicht für Soldaten. Sich im warmen, willigen Körper einer Frau zu verlieren, schafft Vergessen wie kaum etwas anderes, und für mich stand an jenem unseligen Tag fest, dass Janes Sohn und ich dringend Vergessen brauchten. Und sei es nur eine Stunde lang. In besseren, glücklicheren Zeiten war es einmal an mir gewesen, Robin und seinen Brüdern Ratschläge über Frauen zu erteilen. Als Henry das Mädchen, durch dessen Ring wir heute seine Hand wiedererkannt hatten, schwängerte und im Schnell verfahren heiraten musste, war John Dudley mit dem Coup gegen Edward Seymour beschäftigt gewesen und hatte mich gebeten, dafür zu sorgen, dass seine Söhne ihm keine solchen Streiche mehr spielten. Ich hatte John den Jüngeren, Ambrose, Robin und Guildford zur Seite genommen und ihnen erklärt, dass ein Mann, der seinen Verstand beisammen hatte, niemals ein Verhältnis mit einem unverheirateten Mädchen anfing. »Der Apostel Paulus meinte, es ist besser zu heiraten, als zu brennen«, hatte ich gesagt, »aber er war nicht verheiratet, und ein Heiliger ist ohnehin nicht von dieser Welt. Wenn ihr meine Meinung dazu hören wollt: Wenn man das Feuer nicht kontrollieren kann, so rät es sich doch, den Brand in ein sicheres Gefilde zu lenken.« Die Jungen, allesamt noch Jahre davon entfernt, als Männer zu gelten, aber durchaus alt genug, um Dummheiten zu begehen, hatten mich großäugig angestarrt und gefragt, wer denn als »sicher« bezeichnet werden könne. »Erzählt Eurer Mutter nie, was ich jetzt sage«, hatte ich erwidert, »aber die sicherste Frau ist immer eine verheiratete Frau. Wenn ihr vorsichtig vorgeht und nicht mit der Affäre herumprahlt, dann müsst ihr nicht fürchten, sie in Schande zu stürzen, weil kein Mensch etwas von der Sache erfährt. Wenn sie schwanger wird, dann freut sich der Gatte über einen neuen Erben, und ihr müsst nicht für das Kind aufkommen. Außerdem hat eine solche Frau keine Krankheiten, während man bei einer Hure nie sicher sein kann.« Es wäre anständiger gewesen zu sagen, dass sie gefälligst ihren Hosenlatz geschlossen halten sollten, bis ihr Vater sie verheiratet hätte, aber dergleichen wäre ihnen zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder herausgegangen. So zumindest hatte ich es empfunden, als mein Vater mir diese Predigt hielt. Damals schien der erboste Vater einer unverheirateten Tochter die größte Gefahr zu sein, die einem von Janes Söhnen drohen konnte. Nun hatte Guildford der Henker geholt, Henry war tot, Ambrose zusammengebrochen, und Robin und ich konnten noch von Glück sagen, wenn ein paar Französinnen uns halfen, die Nacht zu überstehen, ohne verrückt zu werden. An den Namen des Mädchens, wenn sie ihn mir denn verriet, kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich weiß noch, dass sie fl achsfarbenes Haar und einen Leberfleck über dem Bauchnabel hatte, und dass ich den Gestank der Leichen und des getrockneten Blutes in ihren Armen nicht mehr roch, sondern den gesunden, milchigen Schweiß einer Frau; den Duft des Lebens, nicht des Todes. Robin war mit seinem Mädchen bereits fertig oder hatte noch nicht angefangen, als ich wieder in den Schankraum kam; auf jeden Fall saß sie neben ihm, während er aus seinem Becher trank. Sein Gesicht war leicht gerötet, er trug sein Wams nicht mehr, und man konnte sehen, dass etwas von dem Blut dieses Tages einen Weg auf das Hemd darunter gefunden hatte. »Guildford ist in St. Peter ad Vincula beerdigt«, sagte er abrupt, als ich mich zu ihm setzte. »Der Kapelle im Tower. Als sie ihn holten, sagte er zu uns anderen, er hoffte, er müsse noch lange auf uns warten. Glaubst du, Henry ist jetzt bei ihm?« »Das weiß Gott allein«, sagte ich müde. »Meine Mutter ist es bestimmt. Obwohl sie die Einzige in der Familie sein dürfte, die ein Anrecht hat, geradewegs ins Paradies zu kommen. Aber ich - ich kann mir nicht vorstellen ...« Er ließ den Kopf sinken, seine Stimme wurde brüchiger, obwohl er sie immer noch zum Gehorsam zwang. »Ich kann mir nicht denken, dass sie ohne ihre Kinder zur Rechten Gottes sitzen wollte.« »Deine Mutter würde lieber das Fegefeuer in Kauf nehmen, als ohne ihre Kinder zu sein«, bestätigte ich und dachte an Jane, meine Base Jane, die in allem, was zählte, auch meine Mutter gewesen war. Robin hatte ihre Augen geerbt, was ihn, zusammen mit dem dunklen Haar seines Vaters, immer wie einen Südländer aussehen ließ, mehr als so manchen Spanier, den ich kannte. Ich versuchte, mir nicht vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, auch noch ihn und Ambrose unter die Erde zu bringen; in jener Nacht schien es, als gäbe es nur Unglück für uns alle. Dann schaute Robin erneut auf, und ich konnte sehen, dass etwas von der Jungenhaftigkeit, die er bis zu diesem Zeitpunkt noch gehabt hatte, verschwunden war. Zum ersten Mal konnte man ihm jedes Jahr seiner über zwei Jahrzehnte anmerken. »Vetter Blount«, sagte er und schob die Hand des Mädchens zurück, die ihm unter das Hemd fahren wollte, »so etwas wird nie wieder geschehen.« Es war eine jener Feststellungen, die man macht, wenn man zu viel getrunken hat, und die nüchtern betrachtet keinen großen Sinn ergeben. Jeder Mensch schuldet Gott einen Tod, und ob sein Bruder, seine beiden Schwestern, meine Gemahlin und mein gerade geborener Sohn nun alle hundert Jahre alt wurden oder morgen von uns gingen, sterben würden sie, ganz wie er und ich auch. Aber ich war selbst erschöpft, gebrochen und durchwärmt von Branntwein und dem Mädchen, das in meinen Armen gelegen hatte, und in diesem Zustand verstand ich, was er meinte. Es waren nicht nur die Todesfälle; es war der Umstand, dass die Familie so tief gestürzt war. Jane hätte niemals in die Bedrängnis kommen dürfen, um das Leben ihrer Söhne betteln zu müssen und als Frau eines hingerichteten Verräters auf ihre Verwandten angewiesen zu sein, was ein Dach über dem Kopf und Krankenpflege betraf, weil sie sich keinen Arzt mehr leisten konnte. »Nun, dein Vater ist tot«, gab ich zurück, gerade noch nüchtern genug, um nicht fortzufahren, dass John Dudley uns durch seinen Ehrgeiz erst zu Verrätern an der Krone gemacht und damit die Folgen heraufbeschworen hatte; es war auch so klar, worauf meine Bemerkung zielte, und seine Söhne hatten schon oft genug gehört, wie andere Menschen ihren Vater in die Hölle wünschten. An jedem anderen Tag hätte ich darum auch die Bitterkeit unterdrückt und mir eingestanden, dass ich John bereitwillig genug gefolgt war, solange er Erfolg hatte. Ja, er hatte sein Versprechen, uns alle auf den Gipfel der Macht zu führen, nicht erfüllt - so wie ich nicht in der Lage gewesen war, mein Versprechen Jane gegenüber zu halten und ihre Söhne zu beschützen, alle ihre Söhne. Gegen wen sollte ich also den größeren Groll hegen? »Mein Vater«, sagte Robin, und die Bitterkeit, die in mir brannte, fand sich auch in seiner Stimme, »hat die schlimmste Art von Verrat begangen - Verrat ohne Erfolg. Sonst würde man ihn nämlich als Retter des Landes preisen. Aber die Dudleys werden wieder aufsteigen, sie werden sicherer und mächtiger werden, als sie es zu Lebzeiten meines Herrn Vaters je waren, das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist.« Mir lag auf der Zunge, ihn darauf hinzuweisen, dass all das Ansehen und die Macht seinen Vater nicht gerettet, sondern nur auf den Pfad geführt hatte, der seinen Tod, den Tod von Guildford, Henry und John dem Jüngeren und die ganze jetzige Misere erst ermöglichte, aber ich konnte es nicht aussprechen. Und ich wollte es auch nicht. Der Mensch braucht Hoffnung, ich so gut wie er. Ich dachte an meine eigene Familie daheim und fragte mich, ob sie mich wohl dereinst verfluchen würde, weil ich unsere Geschicke so fest an die Familie eines geköpften Verräters geknüpft hatte. Dann erinnerte ich mich daran, dass wir sehr gut alle tot hätten sein können, ich so gut wie Robin, hingerichtet genau wie Janes Gatte und ihr jüngster Sohn oder in Stücke gerissen wie der arme Henry. Aber wir waren nicht tot, sondern am Leben. Dafür musste man Gott dankbar sein und etwas daraus machen. »Du hast uns immer treu zur Seite gestanden«, sagte Robin, als stünden mir meine Gedanken auf der Stirn geschrieben, »doch wenn es dich zurück nach Worcestershire zieht, würde ich das verstehen. Jetzt, wo du für ihren Gatten gefochten hast, wird die Königin dir gewiss etwas Land zurückgeben, und du und die deinen könnten dort in Frieden leben.« Es wäre an seinem Bruder Ambrose gewesen, als dem Ältesten und daher neuen Oberhaupt der Familie, mich entweder zu bitten zu bleiben oder mir mitzuteilen, ich könne gehen. Robin war nie mehr als der mittlere Sohn gewesen, weder der zukünftige Erbe seines Vaters noch das verwöhnte Nesthäkchen. Als John Dudley einen seiner Söhne mit dem Mädchen verheiratete, das er zur Königin von England machen wollte, da war es Guildford gewesen, nicht Robin. Was Jane betraf, so bestand sie darauf, keine Lieblinge zu haben und alle ihre Kinder gleich zu lieben, aber insgeheim war ich davon überzeugt, dass Henry ihr Favorit war. Ein mittlerer Sohn in einer großen Familie muss immer ein wenig aufgeweckter, schneller, besser als die anderen sein, um überhaupt aufzufallen. Es hätte mich also nicht wundern sollen, dass Robin derjenige der Dudleys sein würde, der sich in der Stunde der Niederlage und des tiefsten Verlustes aufraffte und begann, Pläne für die Zukunft zu machen. Die Frage war nun, ob ich ihm dabei folgen wollte. Er hatte recht. Nach meinem Kriegsdienst hier hatte ich gute Chancen, mein Land wieder zu bekommen und nicht mehr von Margerys Mitgift leben zu müssen. Ich konnte nach Hause gehen und den Rest meiner Tage in Kidderminster verbringen, mit ihr und unserem Kind, und ganz gleich, ob es Robin nun gelingen würde, die Dudleys wieder zu Glanz und Macht zu bringen, oder ob er sich nur ein Todesurteil einhandelte, es würde weder mein Verdienst noch meine Schuld sein. In diesem Moment, an dem knarrenden Holztisch in einem wenig ehrenhaften Gasthof in Frankreich, bot sich mir die einmalige Chance, die Geschicke der Blounts endgültig von denen der Dudleys zu trennen. Janes Stimme klang mir im Ohr, wie sie die Namen ihrer Söhne rezitierte und mich ihren Ältesten nannte. Kidderminster fiel mir ein, und wie in den zehn Jahren vor Johns Tod jede Heimkehr einem Triumphzug geglichen hatte, während dieser Tage jeder sehr vorsichtig war, wenn er mit uns sprach. Hoffnung, dachte ich, jeder von uns braucht Hoffnung und das Gefühl, nicht allein zu sein. Ich schaute auf Janes Sohn, dem ich nach dem Tod seines Bruders nicht mehr als Branntwein und ein Schankmädchen gegeben hatte. Mit dem Geschmack von Niederlage und französischem Branntwein im Mund sagte ich, und gebrauchte zum ersten Mal ihm gegenüber die respektvolle Anrede, die einem höhergestellten Mann gebührt, obwohl er durch den Tod seines Vaters allen Rang verloren hatte und wir gleichgestellt waren: »Ihr seid einer der Meinen ... my lord. Wie kann ich in Frieden leben, solange Ihr das nicht tut?« Ich musste einmal schlucken und fügte schnell hinzu: »Außerdem, wenn ich in Worcestershire sitze, während Ihr bei Hofe ein großer Mann seid, werde ich keinen Frieden haben, sondern nichts als Ärger in mir spüren, weil ich das verpasse.« »Danke für dein Vertrauen, Vetter«, sagte Robin. Dann legte er seinen Kopf auf den schmutzigen Holztisch einer miserablen französischen Schenke und weinte um seine toten Brüder, um seinen Vater, seine Mutter, und ich weinte mit ihm. Robin und ich sprachen später nie mehr über das, was an jenem Abend passiert war. Aber von diesem Zeitpunkt an ging es tatsächlich bergauf, in kleinen Schritten, zugegeben, aber immer bergauf. Weder er noch Ambrose noch ich selbst wurden in Frankreich verwundet, was auch daran lag, dass Robin und ich unser Talent dafür entdeckten, einander den Rücken zu decken. Als wir das nächste Mal in ein Hurenhaus gingen, war es nicht, um Vergessen vor Trauer und Entsetzen zu suchen, sondern, um zu feiern, dass Königin Mary uns wegen des Dienstes in Frankreich von begnadigten Verrätern wieder zu freien Männern von Rang erhoben hatte. Die französische Dirne, die wir dort trafen, ist mir nicht nur in Erinnerung geblieben, weil sie wirklich hinreißend aussah, sondern auch, weil sie von Robin zu mir schaute und dreist erklärte, wir sollten doch gleich zu zweit zu ihr kommen, denn englische Männer hätten nun einmal einzeln nicht die Ausdauer für eine Frau wie sie. Zuerst war ich gekränkt und drauf und dran, auf dem Absatz kehrtzumachen, aber Robin brach in Gelächter aus. »Sie hat recht, Thomas, sie hat recht«, stieß er zwischen zwei Salven hervor, und erst als ich mich anstecken ließ, wurde mir bewusst, wie lange es her war, dass einer von uns beiden über sich selbst hatte lachen können.
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Autoren-Porträt von Tanja Kinkel
Tanja Kinkel, geboren 1969 in Bamberg, gewann bereits mit 18 Jahren ihre ersten Literaturpreise. Sie studierte in München Germanistik, Theater- und Kommunikationswissenschaft und promovierte über Aspekte von Feuchtwangers Auseinandersetzung mit dem Thema Macht. 1992 gründete sie die Kinderhilfsorganisation "Brot und Bücher e.V", um sich so aktiv für eine humanere Welt einzusetzen (mehr Informationen: www.brotundbuecher.de). Tanja Kinkels Romane wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt; sie spannen den Bogen von der Gründung Roms bis zum Amerika des 21. Jahrhunderts. Zu ihren bekanntesten Werken gehören "Die Löwin von Aquitanien" (1991), "Die Puppenspieler" (1993), "Mondlaub" (1995), "Die Schatten von La Rochelle" (1996), "Die Söhne der Wölfin" (2000), "Götterdämmerung" (2003), "Venuswurf" (2006), "Säulen der Ewigkeit" (2008) und "Im Schatten der Königin" (2010), "Das Spiel der Nachtigall" (2011), "Verführung" (2013) und "Manduchai - Die letzte Kriegerkönigin" (2014).
Bibliographische Angaben
- Autor: Tanja Kinkel
- 3. Aufl., 428 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342663631X
- ISBN-13: 9783426636312
- Erscheinungsdatum: 08.09.2011
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