Im Licht der Sonne / Insel Trilogie Bd.2
Roman
Ripley wünscht sich ein ruhiges Leben auf der Insel "Three Sisters". Von den angeblich magischen Geheimnissen der Insel will sie nichts wissen. Doch dann taucht Booke auf, ein Spezialist für unerklärliche Phänomene. Und Ripley findet ihn wider Willen faszinierend.
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Produktinformationen zu „Im Licht der Sonne / Insel Trilogie Bd.2 “
Ripley wünscht sich ein ruhiges Leben auf der Insel "Three Sisters". Von den angeblich magischen Geheimnissen der Insel will sie nichts wissen. Doch dann taucht Booke auf, ein Spezialist für unerklärliche Phänomene. Und Ripley findet ihn wider Willen faszinierend.
Klappentext zu „Im Licht der Sonne / Insel Trilogie Bd.2 “
Ein ruhiges Leben auf ihrer geliebten Insel der drei Schwestern ist alles, was die temperamentvolle Ripley Todd sich wünscht. Nachts aber holen ihre Träume sie ein. Als eines Tages der Wissenschaftler MacAllister Booke auf die Insel kommt, findet er heraus, dass Ripleys Träume der Schlüssel für die Geheimnisse der Insel sind. Doch obwohl beide wie magisch voneinander angezogen sind, muss sie ihm ja nicht gleich die Wahrheit - und ihr Herz - anvertrauen. Oder doch?
Lese-Probe zu „Im Licht der Sonne / Insel Trilogie Bd.2 “
Im Licht der Sonne von Nora RobertsProlog
Insel der Drei Schwestern September 1699
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Sie rief das Unwetter herbei.
Den Sturmwind, die grellen Blitze, das Toben des Meeres, das sowohl Kerker als auch Schutz war. Sie rief ihre inneren Kräfte an und jene anderen, die außerhalb ihres Ichs existierten. Die Mächte des Guten und die Mächte der Finsternis.
Schlank und hoch gewachsen, ihr Umhang wie Vogelschwingen hinter ihr flatternd, stand sie allein an dem sturmumtosten Strand. Allein mit ihrem Zorn und ihrem Schmerz. Und ihrer Macht. Es war diese Macht, die sie jetzt erfüllte, die in wilden, heftigen Stößen in sie eindrang wie ein wahnsinnig gewordener Liebhaber.
Und vielleicht war es ja Wahnsinn.
Sie hatte Ehemann und Kinder verlassen, um an diesen Ort zu kommen, hatte sie für eine Weile in einen Zauberschlaf versetzt, der sie behüten und in gnädiger Ahnungslosigkeit lassen würde. Und wenn sie erst einmal getan hatte, was zu tun sie hergekommen war, würde sie nie wieder zu ihnen zurückkehren können. Sie würde nie wieder ihre innig geliebten Gesichter in den Händen halten dürfen.
Ihr Ehemann würde um sie trauern, ihre Kinder würden sie schmerzlich vermissen. Aber sie konnte nicht mehr zu ihnen zurückkehren. Und sie konnte und würde nicht von dem Weg abweichen, den sie gewählt hatte.
Die Schuld musste gesühnt werden. Und am Ende würde der Gerechtigkeit, wie hart und schonungslos sie auch sein mochte, Genüge getan sein.
Sie stand hoch aufgerichtet da, die Arme dem brausenden Sturm entgegengestreckt, den sie heraufbeschworen hatte. Ihr Haar flatterte wild und ungebändigt um ihren Kopf, lange dunkle Bänder, die wie Peitschenschnüre nach der Nacht schlugen.
»Das darfst du nicht!«
Eine Frau erschien neben ihr, eine Gestalt, die so hell in dem Unwetter zu leuchten schien wie das Feuer, nach dem sie benannt worden war. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen von einem Ausdruck verdunkelt, den man als Furcht hätte deuten können.
»Es hat bereits angefangen.«
»Mach der Sache ein Ende, sofort. Mach ihr ein Ende, Schwester, bevor es zu spät ist. Du hast kein Recht, so etwas zu tun. «
»Kein Recht?« Sie, die Erde hieß, wirbelte herum, ihre Augen blitzten. »Wer hat ein größeres Recht dazu als ich? Als sie die Unschuldigen in Salem ermordeten, verfolgten und jagten und henkten, haben wir nichts getan, um der Sache ein Ende zu machen.«
»Wenn man der einen Flut Einhalt gebietet, löst man unweigerlich eine andere aus. Das weißt du. Wir haben diesen Ort schließlich erschaffen.« Feuer breitete die Arme aus, als wollte sie die Insel umfangen, die unter dem Ansturm der entfesselten Naturgewalten erzitterte. » Für unsere Sicherheit und unser Überleben, für unsere Zunft.«
»Sicherheit? Wie kannst du jetzt von Sicherheit, von Überleben sprechen? Unsere Schwester ist tot. «
»Und ich trauere genauso tief um sie wie du.« Feuer kreuzte in einer bittenden Geste die Hände zwischen ihren Brüsten. »Mein Herz vergießt Tränen, so wie auch dein Herz Tränen vergießt. Ihre Kinder sind jetzt in unserer Obhut. Willst du sie ebenso im Stich lassen wie deine eigenen?«
Sie war von Wahnsinn erfasst; er riss an ihrem Herzen, so wie der Sturm an ihrem Haar riss. Und dennoch - obwohl sie die Macht, die sie trieb, als Wahnsinn erkannte, konnte sie sie nicht bezwingen. »Er darf nicht ungestraft davonkommen. Er darf nicht leben, wenn sie nicht mehr lebt.«
»Wenn du Schaden anrichtest, wirst du deine Gelübde gebrochen haben. Du wirst deine Macht korrumpiert und missbraucht haben, und was du in die Nacht hinausschickst, wird wieder zu dir zurückkommen, dreifach.«
»Gerechtigkeit hat ihren Preis.«
»Nicht diesen Preis. Niemals diesen Preis. Dein Ehemann wird seine Frau verlieren, deine Kinder ihre Mutter. Und ich werde noch eine geliebte Schwester verlieren. Und mehr noch - du brichst dein Wort und versündigst dich an dem, was wir sind. Unsere Schwester würde das hier nicht gewollt haben. Dies wäre nicht ihre Antwort gewesen.«
»Sie ist lieber gestorben, statt sich zu schützen. Gestorben für das, was sie ist - für das, was wir sind. Unsere Schwester hat der Macht entsagt, hat ihr abgeschworen für etwas, was sie Liebe nannte. Und es hat sie getötet.«
»Es war ihre Wahl.« Eine, die noch lange, nachdem man sie heruntergeschluckt hatte, einen bitteren Geschmack auf der Zunge hinterließ. »Und trotzdem hat sie niemandem Schaden zugefügt. Wenn du das hier tust, wenn du deine besondere Gabe auf diese böse Art missbrauchst, verdammst du dich selbst. Du verdammst uns alle.«
»Ich kann hier nicht leben, so versteckt.« Jetzt standen Tränen in ihren Augen, und in dem Wetterleuchten des Sturms brannten sie so rot wie Blut. »Ich kann mich nicht von dieser Sache abwenden. Meine Wahl. Mein Schicksal. Ich nehme sein Leben für ihres und verdamme ihn für alle Zeit.«
Und getrieben von ihrem verzweifelten Verlangen nach Vergeltung, schoss sie, die als Erde bekannt war, ihre Rache wie einen tödlichen Pfeil ab und opferte ihre Seele.
1
Insel der Drei Schwestern Januar 2002
Gefrorener, mit Raureif überzogener Sand knirschte unter ihren Füßen, als sie den geschwungenen Strand entlanglief. Die heranrollenden Wellen hinterließen Gischt und Blasen auf dem Sand, die in einem an zerfetzte Spitze erinnernden Muster auf der verkrusteten Oberfläche liegen blieben. Über ihr am Himmel kreischten unablässig die Möwen.
Ihre Muskeln hatten sich inzwischen erwärmt und bewegten sich bei der zweiten Meile ihres Morgenlaufs so reibungslos wie ein gut geöltes Getriebe. Sie joggte in einem schnellen und disziplinierten Tempo, und ihr Atem - rhythmische Schnaufer - bildete kleine weiße Wölkchen in der frostklaren Luft. Und brannte beim Einatmen so scharf und kalt wie Eisscherben in ihrer Lunge.
Sie fühlte sich fantastisch.
Auf dem winterlichen Strand waren keine Fußspuren außer ihren eigenen zu sehen, und ihre waren tief eingeprägt, die neuen über den alten, als sie über den in einer sanften Kurve verlaufenden Strandabschnitt hin und zurück joggte.
Wenn sie es vorgezogen hätte, ihre drei Meilen in einer geraden Linie zu laufen, hätte sie Three Sisters an ihrer breitesten Stelle von einer Seite zur anderen überqueren können.
Diese Vorstellung machte ihr immer Freude.
Die kleine Insel vor der Küste von Massachusetts gehörte ihr, komplett mit jedem Hügel, jeder Straße, jeder Klippe und jeder schmalen Bucht. Deputy Ripley Todd empfand mehr als nur Zuneigung zu Three Sisters, der Inselgemeinde und ihren Bewohnern. Sie fühlte sich für ihr Wohlergehen verantwortlich.
Sie konnte die Strahlen der aufgehenden Sonne auf den Fensterscheiben der Ladenfronten in der High Street glitzern sehen. In ein paar Stunden würden die Läden öffnen, und Menschen würden die Straßen bevölkern und ihre täglichen Besorgungen erledigen.
Im Januar gab es keine sonderlich guten Geschäfte mit Touristen zu machen, aber ein paar würden mit der Fähre vom Festland herüberkommen, um in den Läden zu stöbern, zu den Klippen hinaufzufahren und frisch angelandeten Fisch direkt von der Pier zu kaufen. Meistens jedoch waren die Inselbewohner im Winter ganz unter sich.
Der Winter war die Jahreszeit, die Ripley am liebsten mochte.
Am Ende des Strandes, wo die Sandfläche an den Hafendamm direkt unterhalb des Dorfes stieß, kehrte sie um und lief wieder über den Sand zurück. Fischkutter pflügten durch die See, die in einem blassen Eisblau schimmerte. Die Farbe des Meeres würde sich verändern, wenn das Licht intensiver wurde und der Himmel eine andere Färbung annahm. Es faszinierte Ripley immer wieder aufs Neue, wie viele Farben Wasser haben konnte.
Sie sah Carl Maceys Boot, und eine Gestalt im Heck, so winzig wie eine Spielzeugfigur, hob grüßend die Hand. Ripley winkte zurück und joggte weiter. Bei weniger als dreitausend Insulanern, die das ganze Jahr über auf Three Sisters wohnten, kannte praktisch jeder jeden.
Sie verlangsamte ihr Tempo ein bisschen, nicht nur, um sich abzukühlen, sondern auch, um die Einsamkeit noch etwas zu verlängern. Sie nahm oft Lucy, den Hund ihres Bruders, mit, wenn sie morgens joggte, aber an diesem Morgen war Ripley allein aus dem Haus geschlüpft.
Alleinsein war noch etwas, was sie ganz besonders mochte. Und sie hatte einen klaren Kopf bekommen wollen. Es gab eine ganze Menge, worüber sie nachdenken musste. Über einiges davon wollte sie im Moment lieber nicht nachgrübeln, deshalb schob sie jene Ärgernisse und Probleme erst einmal beiseite. Es gab jedoch eine Sache, mit der sie sich unbedingt befassen musste, obwohl sie nicht direkt ein Problem war. Man konnte etwas, was einen eigentlich glücklich machte, wohl kaum als Problem bezeichnen.
Ihr Bruder war gerade aus den Flitterwochen zurückgekehrt, und nichts hätte Ripley froher stimmen können, als zu sehen, wie glücklich er und Nell miteinander waren. Nach allem, was sie durchgemacht hatten und was es sie beinahe gekostet hätte, war es die reinste Befriedigung, mitzuerleben, wie wohl sich die beiden in dem Haus fühlten, in dem Ripley und Zack aufgewachsen waren.
Und im Laufe der vergangenen Monate, seit dem Sommer, als Nells Flucht vor der Angst schließlich auf der Insel geendet hatte, waren sie und Ripley richtige Freundinnen geworden. Es war wirklich eine Freude zu sehen, wie Nell seitdem aufgeblüht war und sich nicht mehr so leicht unterkriegen ließ.
Aber abgesehen von all diesem gefühlsduseligen Kram, dachte Ripley, gibt es leider ein kleines Haar in der Suppe. Und dieses störende Haar hieß Ripley Karen Todd.
Jungverheiratete sollten ihr Liebesnest nicht mit der Schwester des Ehemannes teilen müssen.
Vor der Hochzeit hatte Ripley überhaupt keinen Gedanken an die Wohnsituation verschwendet, und selbst als die beiden für eine Woche auf die Bermudas geflogen waren und sie ihnen zum Abschied zugewinkt hatte, hatte sie das Problem noch nicht gesehen.
Aber als Nell und Zack zurückgekommen waren, ganz strahlendes Flitterwöchnerglück, hatte Ripley schlagartig begriffen.
Frischverheiratete brauchten ihre Ungestörtheit. Sie konnten wohl kaum heißen, spontanen Sex auf dem Wohnzimmerfußboden haben, wenn sie, Ripley, zu jeder Tagesoder Nachtzeit unvermutet ins Haus spazieren könnte. Nicht, dass einer von ihnen auch nur ein Wort darüber hätte verlauten lassen. Das würden sie auch niemals tun. Die beiden könnten sich die Brust mit »Wir sind unheimlich nette Leute«-Verdienstorden bepflastern. Und das, dachte Ripley, ist etwas, was ich mir wohl nie an mein Hemd stecken kann. Sie blieb stehen und benutzte die Felsnase am anderen Ende des Strandes als Stütze, als sie Dehnübungen machte und Waden, Achillessehnen und Quadrizeps streckte.
Ihr Körper war so schmal und voller Spannkraft wie der eines jungen Tigers. Sie war stolz darauf, stolz auf die Kontrolle, die sie über ihren Körper hatte. Als sie sich tief hinunterbeugte, fiel die Skimütze, die sie aufgesetzt hatte, in den Sand, und ihr Haar von der Farbe dunklen Eichenholzes löste sich.
Sie trug es lang, weil sie es auf diese Weise nicht regelmäßig stylen und nachschneiden lassen musste. Auch eine Form von Kontrolle, wenn auch anderer Art.
Ihre Augen waren von einem klaren Flaschengrün. Wenn sie Lust dazu hatte, fuhrwerkte sie gelegentlich mit Mascara und Eyeliner herum. Nach eingehender Selbstprüfung war sie zu dem Schluss gekommen, dass diese Augen der attraktivste Teil eines Gesichts waren, das aus schlecht zusammenpassenden Zügen und kantigen Linien bestand.
Sie hatte einen leichten Überbiss, weil sie sich immer dagegen gesträubt hatte, ihre Zahnklammer zu tragen, und die breite Stirn und die fast waagerechten dunklen Augenbrauen der Ripley'schen Seite der Familie.
Keiner hätte ihr nachsagen können, dass sie hübsch war. »Hübsch« war ein zu mildes, schlaffes Wort - und es hätte sie auf jeden Fall beleidigt. Es war ihr lieber zu wissen, dass ihr Gesicht markant und sexy war. Die Art von Gesicht, die Männer anziehen konnte. Wenn sie in Stimmung für einen Mann war.
Was ich jetzt schon seit ein paar Monaten nicht mehr gewesen bin, dachte sie versonnen.
Schuld daran waren zum Teil die Hochzeitspläne, die Urlaubspläne und die Zeit gewesen, die sie damit verbracht hatte, Zack und Nell zu helfen, das juristische Durcheinander zu entwirren, damit sie heiraten konnten. Und zum Teil, das musste sie notgedrungen zugeben, waren es auch ihr Verdruss und ihr Unbehagen, die noch von Halloween zurückgeblieben waren, als sie Taschen in ihrem Inneren aufgerissen hatte, die sie Jahre zuvor bewusst zugenäht hatte.
Was soll's, es ging nun mal nicht anders, dachte sie jetzt. Sie hatte getan, was getan werden musste. Und sie hatte nicht die Absicht, das gleiche Theater noch einmal zu erleben. Ganz gleich, wie viele coole, süffisante Blicke Mia Devlin in ihre Richtung warf.
Der Gedanke an Mia brachte Ripley wieder zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zurück.
Mia hatte ein leer stehendes Cottage. Nell hatte es damals gemietet und war dann wieder ausgezogen, als sie Zack geheiratet hatte. Ripley hasste zwar die Vorstellung, irgendetwas mit Mia zu tun zu haben, selbst wenn es um ganz reelle Geschäfte ging, aber das gelbe Cottage war die perfekte Lösung für ihr Problem. Es war klein, einsam gelegen, einfach.
Es ist eine Lösung, die wirklich Hand und Fuß hat, entschied Ripley und stieg die ausgetretenen Holzstufen hoch, die steil vom Strand zum Haus hinaufführten. Es war zwar ärgerlich, aber praktisch. Trotzdem könnte es vielleicht nicht schaden, wenn sie erst noch ein paar Tage abwartete und die Leute wissen ließ, dass sie auf der Suche nach einem kleinen Haus war, das sie mieten konnte. Wer weiß, vielleicht fiel ihr ja etwas anderes - etwas, das nicht Mia gehörte in den Schoß.
Durch diese Möglichkeit aufgeheitert, sprang Ripley die Stufen hinauf und joggte zur hinteren Veranda.
Nell würde schon beim Backen sein, das wusste sie, genauso wie sie wusste, dass es in der Küche himmlisch duften würde. Der größte Vorteil war, dass sie nicht erst etwas zum Frühstück auftreiben musste. Es würde ganz einfach da sein. Lecker, wunderbar und auf Wunsch serviert.
Als sie nach dem Türknauf griff, sah sie Zack und Nell durch die Glasscheibe. Sie hielten sich eng umschlungen - wie Efeuranken, die sich um eine Fahnenstange gewickelt haben, dachte Ripley -, und sie waren vollkommen ineinander versunken.
» Oh, Mann!«
Sie fluchte unterdrückt, schlich leise den Weg zurück, den sie gekommen war, und betrat dann erneut die Veranda, diesmal laut stampfend und pfeifend. Es würde den beiden Zeit verschaffen, sich voneinander zu lösen, oder zumindest hoffte sie das.
Aber damit war ihr anderes Problem noch immer nicht gelöst. Ihr würde wohl am Ende doch nichts anderes übrig bleiben, als mit Mia zu verhandeln.
Sie würde die Sache lässig angehen, das Thema ganz beiläufig zur Sprache bringen. Ripley war davon überzeugt, wenn Mia wüsste, dass sie das gelbe Cottage wirklich haben wollte, würde sie sich glatt weigern, es ihr zu vermieten.
Die Frau war so grässlich halsstarrig.
Die beste Methode, um das Geschäft unter Dach und Fach zu bringen, wäre natürlich, wenn sie Nell bitten würde, sich für sie einzusetzen. Mia hatte eine Schwäche für Nell. Aber die Vorstellung, irgendjemanden zu benutzen, um ihre eigenen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, war doch zu ärgerlich. Nein, sie würde ganz einfach in Mias Buchhandlung herein schauen, so wie sie es fast jeden Tag getan hatte, seit Nell das Kochen und Backen für den Café-Trakt im Obergeschoss übernommen hatte.
Auf diese Weise könnte sie zu einem ordentlichen Lunch und zugleich zu einer neuen Bleibe kommen und damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Sie ging mit schnellen Schritten die High Street entlang, eher aus dem Grund, weil sie die Sache möglichst bald hinter sich bringen wollte, als deshalb, weil der Wind so kalt und stürmisch war. Er zerrte spielerisch an dem langen glatten Pferdeschwanz, den sie gewohnheitsmäßig durch die Öffnung auf der Rückseite ihrer Kappe gezogen hatte.
Als sie Café Book erreichte, blieb sie stehen und schürzte nachdenklich die Lippen.
Mia hatte das Schaufenster neu dekoriert - ein kleiner, mit Quasten geschmückter Hocker, eine leichte Decke aus weicher, dunkelroter Wolle und zwei hohe Kerzenleuchter mit dicken roten Kerzen waren in scheinbar willkürlicher Anordnung mit ein paar Bücherstapeln arrangiert. Sie wusste, dass Mia nie etwas auf willkürliche Art tat, und Ripley musste zugeben, dass das Ganze eine Atmosphäre einladender Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Und zugleich einen subtilen, sehr subtilen Hauch von Erotik.
Es ist kalt draußen, verkündete das Schaufenster. Kommen Sie doch herein, kaufen Sie sich ein paar Bücher und machen Sie es sich zu Hause damit gemütlich.
Was immer Ripley sonst noch über Mia sagen konnte - und sie konnte eine ganze Menge sagen -, die Frau verstand ihr Geschäft.
Sie betrat den Laden und wickelte dabei automatisch den Schal ab, den sie um den Hals geschlungen hatte. Die dunkelblauen Regale waren mit Büchern voll gestellt, geschäftlich-ordentlich aneinander gereiht. Glasvitrinen enthielten hübsche Kinkerlitzchen und interessante Staubfänger. Im Kamin flackerte eine niedrige goldene Flamme, und eine andere Wolldecke, diesmal eine blaue, war kunstvoll über einen der tiefen Sessel Marke »Versinke in mir« drapiert.
Ja, dachte Ripley, Mia hat schon was drauf, das muss man ihr lassen.
Und es gab noch mehr. Andere Regale enthielten Kerzen verschiedener Formen und Größen. Tiefe Glasschalen waren mit allen möglichen Steinen und Kristallen gefüllt, und hier und dort lagen farbenprächtige Schachteln mit Tarotkarten. Wieder alles sehr subtil, bemerkte Ripley stirnrunzelnd. Mia posaunte nicht direkt heraus, dass der Laden einer Hexe gehörte, aber sie verheimlichte diese Tatsache auch nicht. Ripley konnte sich vorstellen, dass der Neugierfaktor - sowohl bei Touristen als auch bei Einheimischen - einen nicht unbeträchtlichen Teil des jährlichen Profits der Buchhandlung ausmachte.
Wie auch immer, das ging sie nichts an.
Hinter dem langen geschnitzten Tresen beendete Lulu, Mias Assistentin, gerade ihr Telefongespräch mit einem Kunden, dann schob sie ihre silbern eingefasste Brille ein Stückchen die Nase hinunter, um Ripley über den Rand hinweg anzusehen.
»Na? Suchst du heute was für deinen Geist und für deinen Magen?«
»Nein. Ich habe reichlich genug, um meinen Geist zu beschäftigen.«
»Lies mehr und du weißt mehr.«
Ripley grinste. »Ich weiß schon alles.«
»Oder zumindest hast du dir das immer eingebildet. Wir haben ein brandneues Buch mit der heutigen Lieferung reinbekommen, das genau das Richtige für dich ist. ioi Aufreißsprüche ... für sie und ihn. «
»Lu.« Ripley wackelte mit den Augenbrauen, als sie auf die Treppe zuschlenderte, die zu der oberen Verkaufsetage hinaufführte. »Ich habe das Buch selbst geschrieben.«
Lulu lachte meckernd. »So? Hab dich in letzter Zeit aber gar nicht in männlicher Gesellschaft gesehen«, rief sie Ripley nach.
»Mir ist in letzter Zeit einfach nicht nach männlicher Gesellschaft zu Mute gewesen.«
Im Obergeschoss des Ladens gab es noch mehr Bücher, mit noch mehr Schmökerecken zwischen den Regalen. Aber hier war das Café die große Attraktion. Ripley konnte bereits den köstlichen Duft der Tagessuppe riechen - irgendetwas Gehaltvolles und stark Gewürztes.
Die Morgenkundschaft, die Nells Muffins oder gefüllte Brötchen verdrückt haben würde oder welche Köstlichkeit auch immer sie sich für diesen Tag ausgedacht haben mochte, hatte inzwischen der Mittagskundschaft Platz gemacht. Ripley konnte sich vorstellen, dass die Leute an einem Tag wie diesem gerne etwas Heißes und Herzhaftes essen würden - bevor sie sich eines von Nells sündhaft leckeren Desserts gönnten.
Sie ließ ihren Blick über die Auslage schweifen und seufzte. Windbeutel. Keiner, der auch nur halbwegs bei Verstand war, ließ delikat gefüllte Windbeutel stehen, selbst wenn die übrige Auswahl aus nicht minder verlockenden Eclairs, Obsttörtchen, Keksen und einer Torte bestand, die aus vielen Schichten purer, klebrig-süßer Sünde zusammengesetzt zu sein schien.
Übersetzung: Elke Bartels
© bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Sie rief das Unwetter herbei.
Den Sturmwind, die grellen Blitze, das Toben des Meeres, das sowohl Kerker als auch Schutz war. Sie rief ihre inneren Kräfte an und jene anderen, die außerhalb ihres Ichs existierten. Die Mächte des Guten und die Mächte der Finsternis.
Schlank und hoch gewachsen, ihr Umhang wie Vogelschwingen hinter ihr flatternd, stand sie allein an dem sturmumtosten Strand. Allein mit ihrem Zorn und ihrem Schmerz. Und ihrer Macht. Es war diese Macht, die sie jetzt erfüllte, die in wilden, heftigen Stößen in sie eindrang wie ein wahnsinnig gewordener Liebhaber.
Und vielleicht war es ja Wahnsinn.
Sie hatte Ehemann und Kinder verlassen, um an diesen Ort zu kommen, hatte sie für eine Weile in einen Zauberschlaf versetzt, der sie behüten und in gnädiger Ahnungslosigkeit lassen würde. Und wenn sie erst einmal getan hatte, was zu tun sie hergekommen war, würde sie nie wieder zu ihnen zurückkehren können. Sie würde nie wieder ihre innig geliebten Gesichter in den Händen halten dürfen.
Ihr Ehemann würde um sie trauern, ihre Kinder würden sie schmerzlich vermissen. Aber sie konnte nicht mehr zu ihnen zurückkehren. Und sie konnte und würde nicht von dem Weg abweichen, den sie gewählt hatte.
Die Schuld musste gesühnt werden. Und am Ende würde der Gerechtigkeit, wie hart und schonungslos sie auch sein mochte, Genüge getan sein.
Sie stand hoch aufgerichtet da, die Arme dem brausenden Sturm entgegengestreckt, den sie heraufbeschworen hatte. Ihr Haar flatterte wild und ungebändigt um ihren Kopf, lange dunkle Bänder, die wie Peitschenschnüre nach der Nacht schlugen.
»Das darfst du nicht!«
Eine Frau erschien neben ihr, eine Gestalt, die so hell in dem Unwetter zu leuchten schien wie das Feuer, nach dem sie benannt worden war. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen von einem Ausdruck verdunkelt, den man als Furcht hätte deuten können.
»Es hat bereits angefangen.«
»Mach der Sache ein Ende, sofort. Mach ihr ein Ende, Schwester, bevor es zu spät ist. Du hast kein Recht, so etwas zu tun. «
»Kein Recht?« Sie, die Erde hieß, wirbelte herum, ihre Augen blitzten. »Wer hat ein größeres Recht dazu als ich? Als sie die Unschuldigen in Salem ermordeten, verfolgten und jagten und henkten, haben wir nichts getan, um der Sache ein Ende zu machen.«
»Wenn man der einen Flut Einhalt gebietet, löst man unweigerlich eine andere aus. Das weißt du. Wir haben diesen Ort schließlich erschaffen.« Feuer breitete die Arme aus, als wollte sie die Insel umfangen, die unter dem Ansturm der entfesselten Naturgewalten erzitterte. » Für unsere Sicherheit und unser Überleben, für unsere Zunft.«
»Sicherheit? Wie kannst du jetzt von Sicherheit, von Überleben sprechen? Unsere Schwester ist tot. «
»Und ich trauere genauso tief um sie wie du.« Feuer kreuzte in einer bittenden Geste die Hände zwischen ihren Brüsten. »Mein Herz vergießt Tränen, so wie auch dein Herz Tränen vergießt. Ihre Kinder sind jetzt in unserer Obhut. Willst du sie ebenso im Stich lassen wie deine eigenen?«
Sie war von Wahnsinn erfasst; er riss an ihrem Herzen, so wie der Sturm an ihrem Haar riss. Und dennoch - obwohl sie die Macht, die sie trieb, als Wahnsinn erkannte, konnte sie sie nicht bezwingen. »Er darf nicht ungestraft davonkommen. Er darf nicht leben, wenn sie nicht mehr lebt.«
»Wenn du Schaden anrichtest, wirst du deine Gelübde gebrochen haben. Du wirst deine Macht korrumpiert und missbraucht haben, und was du in die Nacht hinausschickst, wird wieder zu dir zurückkommen, dreifach.«
»Gerechtigkeit hat ihren Preis.«
»Nicht diesen Preis. Niemals diesen Preis. Dein Ehemann wird seine Frau verlieren, deine Kinder ihre Mutter. Und ich werde noch eine geliebte Schwester verlieren. Und mehr noch - du brichst dein Wort und versündigst dich an dem, was wir sind. Unsere Schwester würde das hier nicht gewollt haben. Dies wäre nicht ihre Antwort gewesen.«
»Sie ist lieber gestorben, statt sich zu schützen. Gestorben für das, was sie ist - für das, was wir sind. Unsere Schwester hat der Macht entsagt, hat ihr abgeschworen für etwas, was sie Liebe nannte. Und es hat sie getötet.«
»Es war ihre Wahl.« Eine, die noch lange, nachdem man sie heruntergeschluckt hatte, einen bitteren Geschmack auf der Zunge hinterließ. »Und trotzdem hat sie niemandem Schaden zugefügt. Wenn du das hier tust, wenn du deine besondere Gabe auf diese böse Art missbrauchst, verdammst du dich selbst. Du verdammst uns alle.«
»Ich kann hier nicht leben, so versteckt.« Jetzt standen Tränen in ihren Augen, und in dem Wetterleuchten des Sturms brannten sie so rot wie Blut. »Ich kann mich nicht von dieser Sache abwenden. Meine Wahl. Mein Schicksal. Ich nehme sein Leben für ihres und verdamme ihn für alle Zeit.«
Und getrieben von ihrem verzweifelten Verlangen nach Vergeltung, schoss sie, die als Erde bekannt war, ihre Rache wie einen tödlichen Pfeil ab und opferte ihre Seele.
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Insel der Drei Schwestern Januar 2002
Gefrorener, mit Raureif überzogener Sand knirschte unter ihren Füßen, als sie den geschwungenen Strand entlanglief. Die heranrollenden Wellen hinterließen Gischt und Blasen auf dem Sand, die in einem an zerfetzte Spitze erinnernden Muster auf der verkrusteten Oberfläche liegen blieben. Über ihr am Himmel kreischten unablässig die Möwen.
Ihre Muskeln hatten sich inzwischen erwärmt und bewegten sich bei der zweiten Meile ihres Morgenlaufs so reibungslos wie ein gut geöltes Getriebe. Sie joggte in einem schnellen und disziplinierten Tempo, und ihr Atem - rhythmische Schnaufer - bildete kleine weiße Wölkchen in der frostklaren Luft. Und brannte beim Einatmen so scharf und kalt wie Eisscherben in ihrer Lunge.
Sie fühlte sich fantastisch.
Auf dem winterlichen Strand waren keine Fußspuren außer ihren eigenen zu sehen, und ihre waren tief eingeprägt, die neuen über den alten, als sie über den in einer sanften Kurve verlaufenden Strandabschnitt hin und zurück joggte.
Wenn sie es vorgezogen hätte, ihre drei Meilen in einer geraden Linie zu laufen, hätte sie Three Sisters an ihrer breitesten Stelle von einer Seite zur anderen überqueren können.
Diese Vorstellung machte ihr immer Freude.
Die kleine Insel vor der Küste von Massachusetts gehörte ihr, komplett mit jedem Hügel, jeder Straße, jeder Klippe und jeder schmalen Bucht. Deputy Ripley Todd empfand mehr als nur Zuneigung zu Three Sisters, der Inselgemeinde und ihren Bewohnern. Sie fühlte sich für ihr Wohlergehen verantwortlich.
Sie konnte die Strahlen der aufgehenden Sonne auf den Fensterscheiben der Ladenfronten in der High Street glitzern sehen. In ein paar Stunden würden die Läden öffnen, und Menschen würden die Straßen bevölkern und ihre täglichen Besorgungen erledigen.
Im Januar gab es keine sonderlich guten Geschäfte mit Touristen zu machen, aber ein paar würden mit der Fähre vom Festland herüberkommen, um in den Läden zu stöbern, zu den Klippen hinaufzufahren und frisch angelandeten Fisch direkt von der Pier zu kaufen. Meistens jedoch waren die Inselbewohner im Winter ganz unter sich.
Der Winter war die Jahreszeit, die Ripley am liebsten mochte.
Am Ende des Strandes, wo die Sandfläche an den Hafendamm direkt unterhalb des Dorfes stieß, kehrte sie um und lief wieder über den Sand zurück. Fischkutter pflügten durch die See, die in einem blassen Eisblau schimmerte. Die Farbe des Meeres würde sich verändern, wenn das Licht intensiver wurde und der Himmel eine andere Färbung annahm. Es faszinierte Ripley immer wieder aufs Neue, wie viele Farben Wasser haben konnte.
Sie sah Carl Maceys Boot, und eine Gestalt im Heck, so winzig wie eine Spielzeugfigur, hob grüßend die Hand. Ripley winkte zurück und joggte weiter. Bei weniger als dreitausend Insulanern, die das ganze Jahr über auf Three Sisters wohnten, kannte praktisch jeder jeden.
Sie verlangsamte ihr Tempo ein bisschen, nicht nur, um sich abzukühlen, sondern auch, um die Einsamkeit noch etwas zu verlängern. Sie nahm oft Lucy, den Hund ihres Bruders, mit, wenn sie morgens joggte, aber an diesem Morgen war Ripley allein aus dem Haus geschlüpft.
Alleinsein war noch etwas, was sie ganz besonders mochte. Und sie hatte einen klaren Kopf bekommen wollen. Es gab eine ganze Menge, worüber sie nachdenken musste. Über einiges davon wollte sie im Moment lieber nicht nachgrübeln, deshalb schob sie jene Ärgernisse und Probleme erst einmal beiseite. Es gab jedoch eine Sache, mit der sie sich unbedingt befassen musste, obwohl sie nicht direkt ein Problem war. Man konnte etwas, was einen eigentlich glücklich machte, wohl kaum als Problem bezeichnen.
Ihr Bruder war gerade aus den Flitterwochen zurückgekehrt, und nichts hätte Ripley froher stimmen können, als zu sehen, wie glücklich er und Nell miteinander waren. Nach allem, was sie durchgemacht hatten und was es sie beinahe gekostet hätte, war es die reinste Befriedigung, mitzuerleben, wie wohl sich die beiden in dem Haus fühlten, in dem Ripley und Zack aufgewachsen waren.
Und im Laufe der vergangenen Monate, seit dem Sommer, als Nells Flucht vor der Angst schließlich auf der Insel geendet hatte, waren sie und Ripley richtige Freundinnen geworden. Es war wirklich eine Freude zu sehen, wie Nell seitdem aufgeblüht war und sich nicht mehr so leicht unterkriegen ließ.
Aber abgesehen von all diesem gefühlsduseligen Kram, dachte Ripley, gibt es leider ein kleines Haar in der Suppe. Und dieses störende Haar hieß Ripley Karen Todd.
Jungverheiratete sollten ihr Liebesnest nicht mit der Schwester des Ehemannes teilen müssen.
Vor der Hochzeit hatte Ripley überhaupt keinen Gedanken an die Wohnsituation verschwendet, und selbst als die beiden für eine Woche auf die Bermudas geflogen waren und sie ihnen zum Abschied zugewinkt hatte, hatte sie das Problem noch nicht gesehen.
Aber als Nell und Zack zurückgekommen waren, ganz strahlendes Flitterwöchnerglück, hatte Ripley schlagartig begriffen.
Frischverheiratete brauchten ihre Ungestörtheit. Sie konnten wohl kaum heißen, spontanen Sex auf dem Wohnzimmerfußboden haben, wenn sie, Ripley, zu jeder Tagesoder Nachtzeit unvermutet ins Haus spazieren könnte. Nicht, dass einer von ihnen auch nur ein Wort darüber hätte verlauten lassen. Das würden sie auch niemals tun. Die beiden könnten sich die Brust mit »Wir sind unheimlich nette Leute«-Verdienstorden bepflastern. Und das, dachte Ripley, ist etwas, was ich mir wohl nie an mein Hemd stecken kann. Sie blieb stehen und benutzte die Felsnase am anderen Ende des Strandes als Stütze, als sie Dehnübungen machte und Waden, Achillessehnen und Quadrizeps streckte.
Ihr Körper war so schmal und voller Spannkraft wie der eines jungen Tigers. Sie war stolz darauf, stolz auf die Kontrolle, die sie über ihren Körper hatte. Als sie sich tief hinunterbeugte, fiel die Skimütze, die sie aufgesetzt hatte, in den Sand, und ihr Haar von der Farbe dunklen Eichenholzes löste sich.
Sie trug es lang, weil sie es auf diese Weise nicht regelmäßig stylen und nachschneiden lassen musste. Auch eine Form von Kontrolle, wenn auch anderer Art.
Ihre Augen waren von einem klaren Flaschengrün. Wenn sie Lust dazu hatte, fuhrwerkte sie gelegentlich mit Mascara und Eyeliner herum. Nach eingehender Selbstprüfung war sie zu dem Schluss gekommen, dass diese Augen der attraktivste Teil eines Gesichts waren, das aus schlecht zusammenpassenden Zügen und kantigen Linien bestand.
Sie hatte einen leichten Überbiss, weil sie sich immer dagegen gesträubt hatte, ihre Zahnklammer zu tragen, und die breite Stirn und die fast waagerechten dunklen Augenbrauen der Ripley'schen Seite der Familie.
Keiner hätte ihr nachsagen können, dass sie hübsch war. »Hübsch« war ein zu mildes, schlaffes Wort - und es hätte sie auf jeden Fall beleidigt. Es war ihr lieber zu wissen, dass ihr Gesicht markant und sexy war. Die Art von Gesicht, die Männer anziehen konnte. Wenn sie in Stimmung für einen Mann war.
Was ich jetzt schon seit ein paar Monaten nicht mehr gewesen bin, dachte sie versonnen.
Schuld daran waren zum Teil die Hochzeitspläne, die Urlaubspläne und die Zeit gewesen, die sie damit verbracht hatte, Zack und Nell zu helfen, das juristische Durcheinander zu entwirren, damit sie heiraten konnten. Und zum Teil, das musste sie notgedrungen zugeben, waren es auch ihr Verdruss und ihr Unbehagen, die noch von Halloween zurückgeblieben waren, als sie Taschen in ihrem Inneren aufgerissen hatte, die sie Jahre zuvor bewusst zugenäht hatte.
Was soll's, es ging nun mal nicht anders, dachte sie jetzt. Sie hatte getan, was getan werden musste. Und sie hatte nicht die Absicht, das gleiche Theater noch einmal zu erleben. Ganz gleich, wie viele coole, süffisante Blicke Mia Devlin in ihre Richtung warf.
Der Gedanke an Mia brachte Ripley wieder zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zurück.
Mia hatte ein leer stehendes Cottage. Nell hatte es damals gemietet und war dann wieder ausgezogen, als sie Zack geheiratet hatte. Ripley hasste zwar die Vorstellung, irgendetwas mit Mia zu tun zu haben, selbst wenn es um ganz reelle Geschäfte ging, aber das gelbe Cottage war die perfekte Lösung für ihr Problem. Es war klein, einsam gelegen, einfach.
Es ist eine Lösung, die wirklich Hand und Fuß hat, entschied Ripley und stieg die ausgetretenen Holzstufen hoch, die steil vom Strand zum Haus hinaufführten. Es war zwar ärgerlich, aber praktisch. Trotzdem könnte es vielleicht nicht schaden, wenn sie erst noch ein paar Tage abwartete und die Leute wissen ließ, dass sie auf der Suche nach einem kleinen Haus war, das sie mieten konnte. Wer weiß, vielleicht fiel ihr ja etwas anderes - etwas, das nicht Mia gehörte in den Schoß.
Durch diese Möglichkeit aufgeheitert, sprang Ripley die Stufen hinauf und joggte zur hinteren Veranda.
Nell würde schon beim Backen sein, das wusste sie, genauso wie sie wusste, dass es in der Küche himmlisch duften würde. Der größte Vorteil war, dass sie nicht erst etwas zum Frühstück auftreiben musste. Es würde ganz einfach da sein. Lecker, wunderbar und auf Wunsch serviert.
Als sie nach dem Türknauf griff, sah sie Zack und Nell durch die Glasscheibe. Sie hielten sich eng umschlungen - wie Efeuranken, die sich um eine Fahnenstange gewickelt haben, dachte Ripley -, und sie waren vollkommen ineinander versunken.
» Oh, Mann!«
Sie fluchte unterdrückt, schlich leise den Weg zurück, den sie gekommen war, und betrat dann erneut die Veranda, diesmal laut stampfend und pfeifend. Es würde den beiden Zeit verschaffen, sich voneinander zu lösen, oder zumindest hoffte sie das.
Aber damit war ihr anderes Problem noch immer nicht gelöst. Ihr würde wohl am Ende doch nichts anderes übrig bleiben, als mit Mia zu verhandeln.
Sie würde die Sache lässig angehen, das Thema ganz beiläufig zur Sprache bringen. Ripley war davon überzeugt, wenn Mia wüsste, dass sie das gelbe Cottage wirklich haben wollte, würde sie sich glatt weigern, es ihr zu vermieten.
Die Frau war so grässlich halsstarrig.
Die beste Methode, um das Geschäft unter Dach und Fach zu bringen, wäre natürlich, wenn sie Nell bitten würde, sich für sie einzusetzen. Mia hatte eine Schwäche für Nell. Aber die Vorstellung, irgendjemanden zu benutzen, um ihre eigenen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, war doch zu ärgerlich. Nein, sie würde ganz einfach in Mias Buchhandlung herein schauen, so wie sie es fast jeden Tag getan hatte, seit Nell das Kochen und Backen für den Café-Trakt im Obergeschoss übernommen hatte.
Auf diese Weise könnte sie zu einem ordentlichen Lunch und zugleich zu einer neuen Bleibe kommen und damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Sie ging mit schnellen Schritten die High Street entlang, eher aus dem Grund, weil sie die Sache möglichst bald hinter sich bringen wollte, als deshalb, weil der Wind so kalt und stürmisch war. Er zerrte spielerisch an dem langen glatten Pferdeschwanz, den sie gewohnheitsmäßig durch die Öffnung auf der Rückseite ihrer Kappe gezogen hatte.
Als sie Café Book erreichte, blieb sie stehen und schürzte nachdenklich die Lippen.
Mia hatte das Schaufenster neu dekoriert - ein kleiner, mit Quasten geschmückter Hocker, eine leichte Decke aus weicher, dunkelroter Wolle und zwei hohe Kerzenleuchter mit dicken roten Kerzen waren in scheinbar willkürlicher Anordnung mit ein paar Bücherstapeln arrangiert. Sie wusste, dass Mia nie etwas auf willkürliche Art tat, und Ripley musste zugeben, dass das Ganze eine Atmosphäre einladender Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Und zugleich einen subtilen, sehr subtilen Hauch von Erotik.
Es ist kalt draußen, verkündete das Schaufenster. Kommen Sie doch herein, kaufen Sie sich ein paar Bücher und machen Sie es sich zu Hause damit gemütlich.
Was immer Ripley sonst noch über Mia sagen konnte - und sie konnte eine ganze Menge sagen -, die Frau verstand ihr Geschäft.
Sie betrat den Laden und wickelte dabei automatisch den Schal ab, den sie um den Hals geschlungen hatte. Die dunkelblauen Regale waren mit Büchern voll gestellt, geschäftlich-ordentlich aneinander gereiht. Glasvitrinen enthielten hübsche Kinkerlitzchen und interessante Staubfänger. Im Kamin flackerte eine niedrige goldene Flamme, und eine andere Wolldecke, diesmal eine blaue, war kunstvoll über einen der tiefen Sessel Marke »Versinke in mir« drapiert.
Ja, dachte Ripley, Mia hat schon was drauf, das muss man ihr lassen.
Und es gab noch mehr. Andere Regale enthielten Kerzen verschiedener Formen und Größen. Tiefe Glasschalen waren mit allen möglichen Steinen und Kristallen gefüllt, und hier und dort lagen farbenprächtige Schachteln mit Tarotkarten. Wieder alles sehr subtil, bemerkte Ripley stirnrunzelnd. Mia posaunte nicht direkt heraus, dass der Laden einer Hexe gehörte, aber sie verheimlichte diese Tatsache auch nicht. Ripley konnte sich vorstellen, dass der Neugierfaktor - sowohl bei Touristen als auch bei Einheimischen - einen nicht unbeträchtlichen Teil des jährlichen Profits der Buchhandlung ausmachte.
Wie auch immer, das ging sie nichts an.
Hinter dem langen geschnitzten Tresen beendete Lulu, Mias Assistentin, gerade ihr Telefongespräch mit einem Kunden, dann schob sie ihre silbern eingefasste Brille ein Stückchen die Nase hinunter, um Ripley über den Rand hinweg anzusehen.
»Na? Suchst du heute was für deinen Geist und für deinen Magen?«
»Nein. Ich habe reichlich genug, um meinen Geist zu beschäftigen.«
»Lies mehr und du weißt mehr.«
Ripley grinste. »Ich weiß schon alles.«
»Oder zumindest hast du dir das immer eingebildet. Wir haben ein brandneues Buch mit der heutigen Lieferung reinbekommen, das genau das Richtige für dich ist. ioi Aufreißsprüche ... für sie und ihn. «
»Lu.« Ripley wackelte mit den Augenbrauen, als sie auf die Treppe zuschlenderte, die zu der oberen Verkaufsetage hinaufführte. »Ich habe das Buch selbst geschrieben.«
Lulu lachte meckernd. »So? Hab dich in letzter Zeit aber gar nicht in männlicher Gesellschaft gesehen«, rief sie Ripley nach.
»Mir ist in letzter Zeit einfach nicht nach männlicher Gesellschaft zu Mute gewesen.«
Im Obergeschoss des Ladens gab es noch mehr Bücher, mit noch mehr Schmökerecken zwischen den Regalen. Aber hier war das Café die große Attraktion. Ripley konnte bereits den köstlichen Duft der Tagessuppe riechen - irgendetwas Gehaltvolles und stark Gewürztes.
Die Morgenkundschaft, die Nells Muffins oder gefüllte Brötchen verdrückt haben würde oder welche Köstlichkeit auch immer sie sich für diesen Tag ausgedacht haben mochte, hatte inzwischen der Mittagskundschaft Platz gemacht. Ripley konnte sich vorstellen, dass die Leute an einem Tag wie diesem gerne etwas Heißes und Herzhaftes essen würden - bevor sie sich eines von Nells sündhaft leckeren Desserts gönnten.
Sie ließ ihren Blick über die Auslage schweifen und seufzte. Windbeutel. Keiner, der auch nur halbwegs bei Verstand war, ließ delikat gefüllte Windbeutel stehen, selbst wenn die übrige Auswahl aus nicht minder verlockenden Eclairs, Obsttörtchen, Keksen und einer Torte bestand, die aus vielen Schichten purer, klebrig-süßer Sünde zusammengesetzt zu sein schien.
Übersetzung: Elke Bartels
© bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Nora Roberts
Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt: Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von über 500 Millionen Exemplaren. Auch in Deutschland erobern ihre Bücher und Hörbücher regelmässig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht Nora Roberts seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Roberts
- 2011, Neuveröffentlichung, 445 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Elke Pane-Bartels
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442377307
- ISBN-13: 9783442377305
- Erscheinungsdatum: 16.06.2011
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