Im Brunnen der Manuskripte / Thursday Next Bd.3
Roman. Ausgezeichnet mit dem Bollinger Everyman Wodehouse Prize 2004
Ein Riesenspass für alle, die Literatur lieben: Der dritte Thursday-Next-Roman in brandneuem Outfit!
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Produktinformationen zu „Im Brunnen der Manuskripte / Thursday Next Bd.3 “
Ein Riesenspass für alle, die Literatur lieben: Der dritte Thursday-Next-Roman in brandneuem Outfit!
Klappentext zu „Im Brunnen der Manuskripte / Thursday Next Bd.3 “
Ein Riesenspass für alle, die Literatur lieben!Die Welt der Literatur gegen alle möglichen Missetäter zu verteidigen, ist eine ehrenvolle, aber auch nervenaufreibende Aufgabe. Wen wundert es also, dass Thursday Next sich zu ihrem Mutterschaftsurlaub in die tiefsten Tiefen des Brunnens der Manuskripte zurückzieht. Genauer gesagt auf ein gemütliches Flug-Hausboot in einem drittklassigen, unlesbaren Krimi, der wahrscheinlich nie veröffentlicht wird. Aber das Leben hier ist nicht ungefährlich: Gleich am ersten Tag steht Thursday Next einer wilden Meute von Grammasiten gegenüber, Big Martin scheint sie vernaschen zu wollen und eine gruppentherapeutische Sitzung zur Verminderung der Wut in Wuthering Heights wird ihr fast zum Verhängnis. - Erneut gelingt es Jasper Fforde, in einer kühnen Mischung von Spott und heisser Verehrung die Welt der Literatur auf gänzlich ungewohnte Weise in Szene zu setzen.
Lese-Probe zu „Im Brunnen der Manuskripte / Thursday Next Bd.3 “
Im Brunnen der Manuskripte von Jasper Fforde Deutsch von Joachim Stern
1. Die Abwesenheit des Frühstücks
Um den Brunnen der Manuskripte richtig einschätzen zu können, muss man eine gewisse Vorstellung von der Großen Bibliothek haben. Die Bibliothek ist der Ort, wo alle literarischen Werke aufbewahrt werden, die je veröffentlicht worden sind. Sie hat 26 Stockwerke, eins für jeden Buchstaben des Alphabets. Der Grundriss ist kreuzförmig, so dass von der zentralen Halle jeweils vier Korridore abgehen. An den Wänden stehen endlose, hohe Bücherregale. Hunderte, Tausende, Millionen von Büchern. Hardcover, Taschenbücher, in Leder gebundene Bücher und Paperbacks, alles. Aber unter der Großen Bibliothek sind noch einmal sechsundzwanzig Stockwerke, eine Unterwelt von chaotischen, nicht immer ganz sauberen Gängen, Lagerhallen und Arbeitsräumen, die als Brunnen der Manuskripte bekannt ist. Hier werden die Texte geschmiedet, zusammengebaut, geputzt und poliert, die später als Bücher einen Platz in der Bibliothek einnehmen sollen. Die Bücher in der Bibliothek sind allerdings etwas anders als die Nachdrucke, die wir zu Hause in unseren Wohnzimmern haben. Sie sind nämlich lebendig.
Thursday Next
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- Die Jurisfiktion-Aufzeichnungen In einem unveröffentlichten Roman zu wohnen hatte durchaus seine Vorteile. Die ganzen Alltagsgeschäfte, die uns im sogenannten wirklichen Leben auf Trab halten, wären für eine Erzählung in der Regel zu langweilig und werden deshalb meist ausgeblendet. Der Wagen brauchte nie aufgetankt zu werden, ich wählte nie die falsche Nummer, es gab immer ausreichend heißes Wasser, und die Beutel für den Staubsauger passten auch immer. Das Beste war, dass man die Bösewichter immer schon kannte und dass es - wenn man Chaucer mal außer Acht ließ - kaum Furzerei gab. Ein paar Nachteile gab es allerdings auch. Die relativ häufige Abwesenheit eines Frühstücks war eine ziemlich störende Änderung meines Tageslaufs. Mittag-und Abendessen gab es viel häufiger, vermutlich, weil sich dabei die Handlung besser vorantreiben lässt. Es gab auch einen auffälligen Mangel an Kinobesuchen, Tapeten, Toiletten, Farben, Büchern, Tieren, Unterwäsche, Gerüchen, Friseurbesuchen und kleineren Krankheiten. Wenn jemand in einem Buch krank wurde, dann war es immer gleich tödlich oder zumindest lebensbedrohlich.
Dass ich überhaupt in einem Buch wohnen konnte, verdankte ich dem Figuren-Austausch-Programm. Um zu verhindern, dass immer mehr gelangweilte Romanfiguren aus ihren Büchern ausbrachen und zu sogenannten Seitenläufern wurden, hatten die zuständigen Stellen ein Programm eingerichtet, das Buchmenschen einen gelegentlichen Tapetenwechsel erlaubte. Jedes Jahr gibt es etwa zehntausend Figuren, die nicht in ihrem ursprünglichen Werk wohnen - was die Handlung und die Dialoge meist gar nicht beeinträchtigt - die Leser merken in der Regel nicht das Geringste. Obwohl ich aus der wirklichen Welt stammte und eigentlich gar keine Romanfigur war, hatten der Protokollführer und Miss Havisham mir aufgrund meiner Tätigkeit bei Jurisfiktion gestattet, für die Dauer meiner Schwangerschaft in der Buch- Welt zu leben, wo ich vor meinen Widersachern geschützt war.
Das Buch für mein selbstgewähltes Exil hatte ich mit Bedacht ausgesucht. Als mich Miss Havisham fragte, in welchem Roman ich mich aufhalten wolle, hatte ich lange nachgedacht. Robinson Crusoe wäre rein klimatisch ideal gewesen, aber dort gab es kein weibliches Wesen, mit dem ich mich hätte austauschen können. Ich hätte auch in Stolz und Vorurteil wohnen können, aber ich war nicht gerade scharf auf bebänderte Hauben, geschnürte Korsetts und delikate Manieren. Nein, um die Wahrscheinlichkeit zu vermindern, dass ich womöglich umziehen musste, schien es mir unumgänglich, ein Werk von so zweifelhafter Qualität zu finden, dass eine Veröffentlichung höchst unwahrscheinlich erschien. Ich fand dieses Werk tief unten im Brunnen der Manuskripte unter an deren gescheiterten Projekten und halbfertigen Texten von so erschütternder Unbeholfenheit, dass sie gewiss nie ans Licht der Öffentlichkeit kommen würden. Es handelte sich um einen drögen, in Reading angesiedelten Krimi mit dem Titel Caversham Heights. Eigentlich wollte ich dort nur ein Jahr bleiben, aber es kam alles ganz anders. Meine Pläne sind immer ein bisschen wie die Romane von Millon de Floss - man weiß nie genau, wie sie ausgehen.
Ich las mich in aller Ruhe in Caversham Heights ein. Ich befand mich am Ufer eines kleinen Sees in der Nähe von London. Es war Sommer, und nach den winterlichen Wetterbedingungen zu Hause roch die Luft süß und warm. Ich stand auf einem breiten, hölzernen Landesteg vor einem großen, altertümlichen Flugboot, wie sie bei uns noch gelegentlich auf den Küstenstrecken eingesetzt werden. Erst vor einigen Monaten war ich selbst noch in so einer Kiste geflogen, als ich jemanden aufsuchen sollte, der behauptete, einige unveröffentlichte Burns-Gedichte gefunden zu haben. Aber das war in einem anderen Leben, als ich noch für SpecOps in Swindon arbeitete, in einer Welt, die ich fürs Erste hinter mir gelassen hatte.
Ich setzte eine dunkle Sonnenbrille auf und betrachtete das Flugboot, das leicht im Wellengang schaukelte und an den Halt- leinen zog. Ich fragte mich gerade, wie lange es der alte Kahn wohl noch machen würde, als eine junge Frau mit einem Reisekoffer aus der Kabinentür trat. Ich hatte Caversham Heights bereits einmal kurz überflogen, daher kannte ich Mary schon.
»Guten Tag!« sagte sie, kam die Gangway herauf und schüttelte mir die Hand. »Ich bin Mary. Sie sind wahrscheinlich Thursday, nicht wahr? Ach, du meine Güte, was ist denn das?«
»Ein Dodo. Ihr Name ist Pickwick.«
Pickwick plockte und starrte Mary misstrauisch an.
»Wirklich?« sagte Mary. »Ich bin natürlich keine Expertin, aber . . . ich dachte, Dodos wären ausgestorben?«
»Da, wo ich herkomme, sind sie als Haustiere ziemlich beliebt. Fast schon ein bisschen lästig.«
»Ach. Von einem Buch mit lebendigen Dodos drin hab' ich noch nie gehört, glaub' ich.«
»Ich bin auch keine Romanfigur«, sagte ich, »sondern wirklich. «
»Ach!« sagte Mary mit weit aufgerissenen Augen. »Eine Außenländerin. « Sie berührte mich neugierig mit ihrem schlanken Zeigefinger. »Ich habe noch nie mit jemandem von der anderen Seite zu tun gehabt«, sagte sie und schien erleichtert, als ich bei der Berührung nicht in tausend Stücke zersprang. »Sagen Sie, stimmt das eigentlich, dass Sie sich regelmäßig die Haare schneiden müssen? Ich meine, wachsen Ihre Haare tatsächlich?«
»Ja«, lächelte ich. »Und meine Fingernägel auch.«
»Wirklich?« murmelte Mary. »Ich habe Gerüchte darüber gehört, aber ich dachte, es wäre bloß eine dieser außenländischen Legenden. Ich vermute, dann müssen Sie auch essen, damit Sie am Leben bleiben, nicht wahr? Nicht bloß, wenn es die Geschichte verlangt, oder?«
»Es ist eine der größten Freuden im Leben«, erklärte ich ihr. Ich hatte nicht die Absicht, ihr von den Nachteilen des wirklichen Lebens wie Karies, Inkontinenz oder Altersdemenz zu erzählen. Mary lebte in einem Zeitfenster von etwa drei Jahren, sie würde nie heiraten oder Kinder kriegen, sie alterte nicht, sie musste nicht sterben, sie wurde nie krank, sie veränderte sich überhaupt nicht. Dass sie resolut und stark erschien, lag nur daran, dass sie so geschrieben war. Trotz all ihrer Qualitäten war Mary bloß eine Kontrastfigur zu Jack Spratt, dem Privatdetektiv in Caversham Heights, die loyale Zuhörerin, der Jack alles erklärte, was der Leser wissen musste. Sie war das, was der Schriftsteller eine Expositionshilfe nennt, aber ich wäre nie so unhöflich gewesen, ihr das zu sagen.
»Ist das mein neues Zuhause?« Ich zeigte auf das zerschrammte Flugboot.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Mary voll Stolz. »Ist es nicht wunderbar? Eine Short Sunderland, 1943 gebaut und zuletzt im Jahr 1968 geflogen. Ich bin gerade dabei, sie zum Hausboot umzubauen, und Sie können gern dabei helfen. Vor allem müssen die Bilgen ständig gelenzt werden, und wenn Sie einmal im Monat den Motor Nummer drei laufen ließen, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Die Checkliste für den Start liegt auf dem Flugdeck.«
»Äh - ja, natürlich!« stammelte ich.
»Gut. Ich habe eine kurze Inhaltsangabe der Geschichte an den Kühlschrank geklebt, aber machen Sie sich keine Sorgen, da wir bisher nicht gedruckt sind, können Sie so ziemlich tun, was Sie wollen. Wenn es im Rahmen bleibt, meine ich.«
»Ja, natürlich.«
Ich dachte einen Augenblick nach.
»Ich bin ziemlich neu bei diesem Austauschprogramm«, sagte ich. »Wann wird man mich denn zur Teilnahme an der Handlung auffordern?«
»Der Austauschbeauftragte in diesem Buch ist Wyatt, der sagt Ihnen Bescheid. Jack Spratt wirkt am Anfang immer ein bisschen mürrisch, aber machen Sie sich deshalb keine Sorgen, er hat ein goldenes Herz. Wenn Sie seinen Austin Allegro fahren, müssen Sie die Kupplung fest durchtreten, ehe Sie schalten. Seinen Kaffee trinkt er schwarz, und die Liebesgeschichte zwischen mir und Detective Constable Baker ist absolut überflüssig, ist das klar?«
»Völlig klar«, erwiderte ich. Liebesszenen wollte ich sowieso keine spielen.
»Hat man Ihnen die nötigen Ausweise und die sonstigen Papiere gegeben?«
Ich klopfte auf meine Jackentasche, und sie gab mir einen Schlüsselbund und einen Zettel.
»Gut. Das hier ist meine Fußnotofon-Nummer, nur für Notfälle. Das hier sind die Schlüssel für das Flugboot und den BMW. Wenn so eine Flasche namens Arnold vorbeikommt, dann sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren. Noch Fragen?«
»Ich glaube, nein.«
Sie lächelte. Ein gelbes Taxi mit der Aufschrift Gattungstransfer erschien aus dem Nichts. Der Fahrer erschien ziemlich gelangweilt, als Mary die hintere Tür öffnete.
»Dann ist ja alles in Ordnung. Es wird Ihnen hier gefallen. Ich seh' Sie dann in einem Jahr. Bis dahin!«
Sie wandte sich dem Fahrer zu und murmelte: »Bringen Sie mich aus diesem Buch raus!« Das Taxi und sie verblassten, und ich blieb allein auf der staubigen Schotterstraße zurück.
Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war, dann setzte ich mich auf eine Bank neben einen Pflanztrog mit vertrockneten Blumen und ließ meinen Dodo aus seiner Reisetasche heraus. Pickwick schüttelte beleidigt ihre zerzausten Federn und blinzelte in die Sonne. Ich sah auf den See und ein paar weit entfernte Segelboote hinaus, die kaum mehr als farbige Dreiecke waren. Dann beobachtete ich ein Schwanenpaar, das sich mit heftigen Flügelschlägen und energischem Paddeln vom Wasser löste und wegflog, dann aber gleich wieder landete und eine lange Bremsspur auf dem stillen See hinterließ. Es erschien mir ein ziemlicher Aufwand, um sich ein paar hundert Meter weit zu bewegen.
Ich wandte mich dem Flugboot zu. Der Anstrich, der den Rumpf bedeckte, war zum Teil abgeblättert und enthüllte die Kennfarben längst vergessener Fluglinien. Die Plexiglasfenster waren vom Alter getrübt, und aus den drei leeren Motorgehäusen hoch oben auf den Flügeln, in denen irgendwelche Vögel ihre Nester gebaut hatten, hingen nutzlose Kabel. Goliath, Aornis und SpecOps waren weit weg - aber leider auch Landen. Landen. Die Gedanken an meinen Ehemann waren stets bei mir. Ich dachte an all die schönen Stunden, die wir miteinander verbracht hatten und die es nie gegeben hatte. An all die Orte, die wir nicht besucht, all die Dinge, die wir nicht getan hatten. Sie hatten ihn mit zwei Jahren genichtet, aber ich hatte all die Erinnerungen an ihn. Allerdings gab es niemanden, mit dem ich sie hätte teilen können.
Plötzlich hörte ich lautes Knattern, und ein Motorrad kam auf mich zu. Der Fahrer schien sein Gerät nicht sehr gut zu beherrschen, und ich war froh, dass er nicht auf den Landesteg fuhr, sonst wäre er womöglich noch im Wasser gelandet.
»Hallo!« sagte er fröhlich und nahm seinen Helm ab. Es erschien ein junges Gesicht von mediterranem Schnitt. »Mein Name ist Arnold. Hab' ich Sie hier schon mal gesehen?«
Ich stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Mein Name ist Next. Thursday Next. Ich gehöre zum Figurenaustausch-Programm. «
»Oh, verdammt!« sagte er. »Heißt das, ich hab' ich sie verpasst? «
Ich nickte, und er schüttelte traurig den Kopf.
»Hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen?«
»J-ja«, sagte ich unsicher. »Sie sagte, sie würde, äh, sie würde mit Ihnen reden, wenn sie wieder zurück ist.«
»Wirklich?« Arnolds Miene hellte sich auf. »Das ist ein gutes Zeichen. Normalerweise sagt sie, ich wäre ein Schlappschwanz und soll mich zum Teufel scheren.«
»Sie wird allerdings nicht so bald wieder zurückkommen«, fügte ich hastig hinzu, um zu vertuschen, dass ich Marys Nachricht so offensichtlich geschönt hatte. »Vielleicht bleibt sie ein ganzes Jahr weg, vielleicht auch länger.«
»Verstehe«, sagte er, seufzte und starrte aufs Wasser hinaus. Dabei entdeckte er Pickwick, die sich bemühte, einen fremdartigen Wasservogel zu hypnotisieren.
»Was ist das für ein Vogel?« fragte er.
»Ich glaube, das ist eine Ente, aber ich bin mir nicht ganz sicher - da, wo ich herkomme, gibt es die nicht.«
»Nein, ich meine den anderen.«
»Das ist ein Dodo.«1
»Wie bitte?« fragte mich Arnold.
Ich erhielt gerade eine Fußnotifikation, das gebräuchlichste
1 ». . . Sie hören BdM-12, den besten Fußnotofon-Sender im Brunnen der
Manuskripte, der Sie jede Stunde über die neuesten Entwicklungen in der
Fiktions-Fabrik informiert . . .«
Verständigungsmittel für Buchmenschen. Aber das Gebrabbel störte mich doch erheblich.
»Es ist wohl eine FNF«, sagte ich. »Aber keine persönliche Mitteilung, sondern mehr so ein Sammelruf wie zu Hause das Radio. Ich weiß auch nicht recht, was das soll.«2
Arnold starrte mich verblüfft an. »Sie sind wohl nicht hier aus der Gegend?« »Nö. Ich bin von der anderen Seite. Was ihr das Außenland nennt.«3 Er riss die Augen auf, und sein Unterkiefer klappte herunter.
»Soll das heißen, dass Sie wirklich sind?« »Ich fürchte, ja«, sagte ich leicht amüsiert. »Du meine Güte! Ist es wahr, dass ihr Außenländer nicht roter-
Buick-blauer-Buick ganz schnell hintereinander sagen könnt?« »Das stimmt. Wir nennen das einen Zungenbrecher.« »Das 's ja irre! Bei uns gibt es so etwas nicht. Ich kann the sixth sheik's sixth sheep's sick sagen, so oft ich will!« Und das tat er dann auch. Dreimal hintereinander. »So, und jetzt versuchen Sie es mal!« Ich holte tief Luft. »The sixth spleeps sics sleeks . . . sick.« Arnold lachte wie eine Dachtraufe. Ich glaube, er hatte noch
nie so etwas Lustiges erlebt. Ich lächelte freundlich. »Versuchen Sie's noch mal!«
2 ». . . Nach der Übersicht hören Sie unser wöchentliches Feature Gutsprech, in dem wir uns heute mit der versteckten Exposition beschäftigen wollen. Danach folgt ein Studiogespräch mit WortMeister Xavier Libris von TextGrandCentral über das neue UltraWordTM . . .«
3 ». . . Und hier die Schlagzeilen: Die Kurse für Semikolons, Handlungselemente, Vorworte und aufregende Ereignisse sind gestern weiter kontinuierlich gefallen, so dass der Tom Jones Index am Ende 28 Punkte abgeben musste. Der GattungsRat hat die Nominierungen für den 923. jährlichen BuchWeltPreis bekannt gegeben. Wie schon in den vergangenen 76 Jahren ist Heathcliff der absolute Favorit in der Kategorie Schwierige Romantische Liebhaber, während man damit rechnet, dass Ophelia erneut die bei weitem Beliebteste Selbstmörderin wird. Jude Fawley werden auch in diesem Jahr nur Außenseiterchancen eingeräumt . . .«
»Nein, danke.4 Sagen Sie, wie kann ich dieses Geplapper in meinem Schädel abstellen?«
»Denken Sie einfach ganz entschieden: AUS.«
Ich folgte seiner Empfehlung, und das Fußnotofon verstummte sofort.
»Ist es jetzt besser?«
Ich nickte.
Er dachte einen Augenblick nach, dann sah er sich auffällig unschuldig um und sagte: »Wollen Sie ein paar Verben kaufen? Erstklassiger Stoff, direkt aus der TextSee. Ich hab' einen Freund auf einem KritzelKutter.«
Ich lächelte. »Nein danke. Und Sie sollten mich lieber nicht fragen, Arnold. Ich gehöre zur Jurisfiktion.«
»Oh«, sagte er und erbleichte. Er warf mir einen so kläglichen Blick zu, dass ich beinahe gelacht hätte.
»Keine Sorge, ich werd' Sie nicht anzeigen«, sagte ich.
Er seufzte erleichtert, bedankte sich murmelnd und stieg wieder auf sein Motorrad. Schwankend fuhr er davon und hätte beinahe noch die Briefkästen auf der Uferböschung umgefahren.
Das Innere des Flugboots war heller und luftiger, als ich gedacht hatte, aber es roch etwas muffig. Der Umbau war noch nicht sehr weit fortgeschritten. Die Wände hatten ein halbhohes Kiefernpaneel, aus dem hier und da noch die Isolierwolle und elektrische Kabel herausquollen. Der hohe Rumpf hatte Platz für zwei Stockwerke. Als erstes betrat ich ein großes offenes Wohnzimmer mit ein paar alten Sofas und einem Fernseher. Ich versuchte, ihn einzuschalten, aber es kam nichts. In der BuchWelt gab es kein Fernsehen, wenn es nicht von der Handlung ausdrücklich verlangt
4 ». . . Seit über 87 Jahren soll heute zum ersten Mal wieder ein episches Gedicht gebaut werden. Titel und Gegenstand sind noch nicht bekannt, aber Beobachter sind jetzt schon der Ansicht, dass es sich um einen aussichtslosen Versuch handelt: Die nötigen Fertigkeiten sind praktisch ausgestorben. In der nächsten Woche wird unter dem Namen Prêt-à-Écrire eine neue Handelskette mit Fertiggefühlen und bewährten Erzähltechniken von der Stange eröffnet . . .« wurde. Das meiste, was ich sah, waren bloße Kulissen, die für die Szene gebraucht wurden, in der Jack Spratt auf die Sunderland kommt, um den Fall zu besprechen. Auf dem falschen Kaminsims standen Bilder, die Mary in der Polizeischule zeigten. Auch ihre Beförderung zur Kriminalassistentin war fotografisch dokumentiert worden.
Ich öffnete die Tür zu einer kleinen Küche. Am Kühlschrank hing eine Zusammenfassung der Handlung von Caversham Heights. Ich studierte sie noch einmal kurz, fand aber nichts Neues. Die Ereignisse entsprachen in etwa dem, was ich noch von meiner ersten Lektüre im Kopf hatte, obwohl Mary ihre eigene Rolle noch etwas weiter ausgebaut hatte, als der Autor tatsächlich geplant hatte. Ich füllte eine Wasserschale für Pickwick, holte ihr Ei aus der Tasche und legte es ihr behutsam aufs Sofa, wo sie sich gleich mit mütterlicher Zärtlichkeit darüber hermachte. Ich ging weiter und entdeckte dort, wo früher die Bugkanone gewesen war, ein gemütliches Schlafzimmer. Eine schmale Aluminiumleiter führte aufs Flugdeck hinauf. Von hier aus bot sich die schönste Aussicht des Hauses. Große Plexiglasfenster zeigten ein herrliches Panorama des Sees. Die beiden massiven Steuerknüppel und zwei bequeme Pilotensitze ergänzten die Einrichtung. Die Instrumententafel war größtenteils verblasst, und die Kontrollhebel waren zum Teil abgebrochen. Zu meiner Rechten sah ich den letzten verbliebenen Motor, der ziemlich einsam aussah. Die Propellerblätter waren vollgekleckert mit Möwenscheiße.
Hinter den Pilotensitzen, wo der Navigator gesessen hätte, stand ein Schreibtisch mit Leselampe, Schreibmaschine und Fußnotofon. Auf dem Bücherregal standen kriminalistische Fachzeitschriften und forensische Lehrbücher. Ich trat durch eine niedrige Tür und fand ein weiteres kleines Schlafzimmer. Es war nicht sehr hoch, aber gemütlich. Die Wände hatten Kieferpaneele, und über dem Doppelbett war eine Lichtkuppel. Dahinter befand sich ein kleiner Lagerraum mit Holzscheiten, einem Boiler und einer Wendeltreppe. Ich wollte gerade wieder hinuntergehen, als ich Stimmen aus dem Wohnzimmer hörte.
»Was meinst du, was das ist?«
Die Stimme klang irgendwie leer und hatte keinerlei Farbe. Ich vermochte nicht einmal zu sagen, ob sie männlich war oder weiblich.
Ich blieb abrupt stehen und zog instinktiv meine Pistole aus ihrem Halfter. Nach dem Manuskript lebte Mary allein. Während ich mich leise die Treppe hinunterbewegte, hörte ich eine zweite, praktisch identische Stimme: »Ich glaube, irgendein Vogel.«
Die zweite Stimme war genauso farblos wie die erste, und wenn sie nicht geantwortet hätte, hätte ich wahrscheinlich gedacht, dass sie derselben Person gehörte.
Als ich weit genug unten war, sah ich zwei Gestalten in der Mitte des Raumes, die Pickwick anstarrten, die hinter dem Sofa hockte und tapfer zurückstarrte, um ihr Ei zu beschützen.
»He!« sagte ich und hob meine Pistole. »Keine Bewegung!«
Die beiden Gestalten hoben die Köpfe und sahen mich ausdruckslos an. Ihre Gesichter waren genauso wenig unterscheidbar wie ihre Stimmen. Ihre Arme hingen ohne Körpersprache an ihnen herunter. Ob sie neugierig, ärgerlich oder besorgt waren, hätte ich nicht zu sagen gewusst.
»Wer seid ihr?« fragte ich.
»Wir sind niemand«, sagte der Linke.
»Jeder ist irgendwer«, sagte ich.
»Das ist nicht ganz richtig«, sagte der Rechte. »Wir haben eine Codenummer, aber sonst nichts weiter. Ich bin TSI-1404912-A, und das ist TSI-1404912-C.«
»Aha. Und was ist mit Nummer B passiert?«
»Die wurde am Dienstag von Grammasiten gefressen.«
Ich senkte meine Pistole. Was ich da vor mir hatte, waren Figuren- Rohlinge. Miss Havisham hatte mir davon erzählt. Die Rohlinge wurden hier im Brunnen der Manuskripte erzeugt, um die Bücher zu bevölkern, die gerade entstanden. Im Augenblick ihrer Entstehung waren sie lediglich menschliche Leinwände - ungeprägte Münzen gewissermaßen, die ihren Wert und ihre Individualität erst später erhielten. Sie hatten keine Geschichte, keine Schwächen und keine Konflikte oder Probleme. Es gab nichts, was sie irgendwie interessant machte. Um sie zu nützlichen Mitgliedern der BuchWelt zu machen, bedurfte es verschiedener Institutionen. Sie waren allerdings von vornherein klassifiziert. Von A bis D, und von eins bis zehn. Rohlinge der Klasse D wurden normalerweise nur für Menschenmengen und stumme Passanten gebraucht. Die Klasse C erhielt schon mal kleinere Sprechrollen, während die Nebenrollen aus der Klasse B besetzt wurden. Hauptrollen gingen grundsätzlich nur an die A-Klasse. Diese Rohlinge waren handverlesen und hinsichtlich ihrer Vielschichtigkeit und ihrer Tragfähigkeit für besondere Charaktereigenschaften geprüft. Huckleberry Finn, Tess d'Urberville, Anna Karenina und Oskar Matzerath gehörten alle zur Klasse A, aber natürlich auch Franz Moor, Mr Hyde und Hannibal Lecter. Ich betrachtete die Rohlinge erneut. Waren sie Helden oder Mörder? Es war noch völlig offen, was aus ihnen werden würde, und im jetzigen Stadium ihrer Entwicklung waren sie harmlos. Ich steckte meine Knarre weg.
»Ihr seid Rohlinge, stimmt's?«
»Genau«, sagten sie unisono.
»Was macht ihr denn hier?«
»Erinnern Sie sich noch an den Minimalismus?«
»Ja?« sagte ich und trat etwas näher heran, um ihre leeren Gesichter genauer studieren zu können. Es gab noch eine Menge, was ich über den Brunnen der Manuskripte nicht wusste. Sie waren zwar harmlos, aber doch ziemlich unheimlich. Pickwick versteckte sich immer noch hinter dem Sofa.
»Der wurde durch die große Lieferkrise der frühen Sechziger ausgelöst, als diese voluminösen Romane erschienen«, sagte der Linke. »Jetzt heißt es, ein gewisser Vikram Seth plant einen neuen, umfangreichen Roman, und ich glaube, der GattungsRat möchte nicht, dass die Figuren plötzlich wieder so knapp werden wie damals. Deshalb werden wir jetzt auf Vorrat produziert und dann in unveröffentlichte Romane geschickt, bis wir in Dienst gestellt werden.«
»Eine Art Zwischenlager, gewissermaßen?«
»Also ich persönlich bevorzuge das Wort Einquartierung«, sagte der Linke, und der leicht empörte Unterton in seiner Stimme deutete darauf hin, dass er nicht auf Dauer ohne Persönlichkeit bleiben würde.
»Wie lange seid ihr denn schon hier?« fragte ich.
»Seit zwei Monaten«, sagte der Rechte. »Wir warten auf einen Studienplatz am St. Tabularasa's Generic College. Dort erfolgt das Charaktergrundstudium. Ich wohne im Gästezimmer im Heck.«
»Ich auch«, sagte der Linke.
Das verblüffte mich denn doch für eine Sekunde. »O-kay«, sagte ich schließlich. »Da wir offenbar alle im selben Boot leben müssen, gebe ich euch vielleicht besser Namen. Du«, sagte ich und zeigte auf den Rechten, »heißt künftig ibb. Und du« - dabei zeigte ich auf den anderen - »heißt ab sofort obb.«
Für den Fall, dass sie mich nicht verstanden hatten, zeigte ich noch einmal auf sie und sagte: »Du bist ibb, und du bist obb.«
Ich zögerte. Irgendwie klangen ihre Namen nicht richtig, aber ich wusste nicht gleich, was es war. »ibb«, sagte ich, und dann: »ibb-obb. Klingt das irgendwie komisch?«
»Keine großen Anfangsbuchstaben«, sagte obb. »Die kriegen wir erst, wenn wir mit dem Studium anfangen. Wir hatten auch gar nicht so früh mit Namen gerechnet. Dürfen wir die behalten?«
»Die sind ein Geschenk von mir«, sagte ich.
»Ich bin ibb«, sagte ibb, als ob er das besonders hervorheben müsse.
»Ich bin obb«, sagte obb.
»Ich bin Thursday«, sagte ich und streckte ihnen die Hand hin. Sie schüttelten sie nacheinander, langsam und ausdruckslos. Mir wurde klar, dass ich mit den beiden nicht allzu viel Spaß haben würde.
»Und das ist Pickwick.«
Sie musterten Pickwick, die leise plockte, hinter dem Sofa hervorkam, sich auf ihr Ei setzte und so tat, als würde sie schlafen.
»So«, sagte ich und klatschte in die Hände. »Kann von euch einer kochen? Ich kann's nämlich nicht, und wenn ihr nicht ein Jahr lang Bohnen auf Toast essen wollt, dann solltet ihr's schleunigst lernen. Ich bin der Ersatz für Mary, und wenn ihr mich nicht stört, dann stör ich euch auch nicht. Ich geh spät ins Bett und wache früh auf. Ich habe einen Ehemann, der nicht existiert, und im Laufe der nächsten Monate werd' ich ein Kind kriegen. Wundert euch also nicht, wenn ich übellaunig werde und zunehme. Noch Fragen?«
»Ja«, sagte der auf der Linken. »Welcher von uns ist noch mal obb?«
Ich packte meine Sachen aus und verstaute sie in dem kleinen Schlafzimmer hinter dem Flugdeck. Ich hatte eine kleine Skizze von Landen gemacht und stellte sie mir auf den Nachttisch. Ich vermisste ihn schrecklich und fragte mich zum hundertsten Mal, ob es nicht ein Fehler war, dass ich mich hier versteckte. Hätte ich nicht da draußen in meiner eigenen Welt sein und versuchen müssen, ihn wiederzukriegen?
Das Problem war, dass ich das ja schon einmal versucht hatte und völlig gescheitert war. Wenn mich Miss Havisham nicht gerettet hätte, säße ich jetzt noch in einem Verlies der Goliath Corporation. Vielleicht hätte ich anders gehandelt, wäre ich nicht schwanger gewesen, aber so erschien es mir besser, mich an einen ruhigen Ort zu begeben. Wenn das Baby erst mal auf der Welt war, konnte ich meine Rückkehr planen und Landens Rettung organisieren.
Ich ging in die Küche hinunter und erklärte obb die Prinzipien des Kochens, die ihm genauso fremd waren wie die Tatsache, dass er jetzt einen Namen besaß. Glücklicherweise fand ich ein zerlesenes Exemplar von Mrs. Beeton's Complete Housekeeper, das ich ihm halb im Spaß in die Hand drückte. Drei Stunden später servierte er uns einen Lammbraten mit Kräuterkartoffeln und Minzsoße, und ich hatte etwas Wichtiges gelernt: Rohlinge waren zwar schrecklich langweilig, aber sie lernten verdammt schnell.
2. Im Inneren von Caversham Heights
Projekt/YGIO/1204961/: Arbeitstitel: Caversham Heights. Ursprungsland: UK. Letzte Fassung: 1976. Umfang: 90 000 Wörter. Gattung: Kriminalroman. Betriebssystem: Book V7.2. Grammasitenbefall: 1 Brutpaar der geschützten Art parenthium. Beurteilung: Standard-Krimi mit Kommissar Jack Spratt. Schauplatz der Handlung ist Reading (England). Die Handlung (soweit erkennbar) kreist um einen Drogenbaron, der die Kontrolle über die Unterwelt der Stadt übernimmt. Schematischer Aufbau, blasse Figuren, wenig überzeugende Polizeiarbeit und ein Erzähltempo, das zu lahm ist, um Schnecken zu fangen. Empfehlung: Nicht zur Veröffentlichung geeignet. Gegenwärtiger Status: Die untere Naturschutzbehörde hat gegen die geplante Verschrottung Einspruch erhoben. Der endgültige Bericht der vom GattungsRat eingesetzten Prüfungskommission wird erwartet.
Wochenblatt des unliterarischen Untergrunds, 1982, Bd. CLXI, Sp. 564
Am nächsten Morgen hatte ich Gelegenheit, mit ibb und obb den Zerfall des Frühstücks zu diskutieren. Ich erklärte ihnen, dass die Getreideflocken üblicherweise vor dem Speck und den Eiern verzehrt werden, während der Toast und der Kaffee keinen festen Platz in der Abfolge haben. Dass Zitronen-und Orangenmarmelade fast ausschließlich zum Frühstück serviert werden, wollte ihnen gar nicht einleuchten. Ich war gerade dabei, ihnen die technischen Möglichkeiten eines in Milchkaffee getunkten Croissants zu erläutern, als der Briefschlitz klapperte und ein Exemplar der Toad auf den Fußboden plumpste.
Der einzige Bericht befasste sich mit irgendwelchen Schießereien zwischen Drogenbanden in Reading. Das gehörte zur Handlung von Caversham Heights und erinnerte mich schmerzlich daran, dass ich früher oder später - wahrscheinlich früher - in die Rolle von Mary würde schlüpfen müssen, wenn ich meinen Verpflichtungen aus dem FigurenAustauschProgramm gerecht werden wollte.
Ich las mir die von Mary gelieferte Zusammenfassung noch einmal durch, die mir zwar einen umfassenden Eindruck vom Inhalt der einzelnen Kapitel verschaffte, aber keine Angaben darüber enthielt, was ich denn genau sagen oder tun musste. Ich hatte auch nicht sehr lange Zeit, darüber nachzudenken, denn plötzlich klopfte es, und ein Mann mit einem Hut namens Wyatt erschien.
»Entschuldigung«, sagte er verlegen. »Natürlich heißt nicht der Hut Wyatt.«
»Das hab' ich mir fast gedacht, Mr Wyatt.«
Ausgeleiert und hölzern hielt er sein Klemmbrett.
»Oh, verflixt!« sagte er wie jemand, der gerade George Sand in einem Saal voller Französischlehrerinnen mit dem Personalpronomen »er« zu bezeichnen versucht hat. »Jetzt ist es schon wieder passiert.«
»Stört mich überhaupt nicht«, sagte ich. »Was kann ich für Sie tun, Mr Wyatt?«
»Sehr liebenswürdig. Als Angehörige des FigurenAustausch- Programms möchte ich Sie bitten, sich nach Reading zu begeben, äh -« Seine Schultern sanken herab. »Nein, ich bin ja gar keine Angehörige des FigurenAustauschProgramms, das sind Sie. Und deshalb möchte ich Sie bitten, nach Reading zu fahren.«
»Gewiss doch. Haben Sie eine genaue Adresse für mich?«
Schmutzig und eselsohrig reichte er mir den Lieferschein von seinem Klemmbrett. Und noch ehe er sich erneut entschuldigen konnte, sagte ich: »Alles klar, ich habe verstanden.«
Sein Zustand war offenbar chronisch, aber als er merkte, dass ich ihm sein Leiden nicht übel nahm, hellte seine Stimmung sich auf.
Copyright © Neuausgabe 2011 2. Auflage 2013 Erstmals veröffentlicht 2005 im Deutschen Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
- Die Jurisfiktion-Aufzeichnungen In einem unveröffentlichten Roman zu wohnen hatte durchaus seine Vorteile. Die ganzen Alltagsgeschäfte, die uns im sogenannten wirklichen Leben auf Trab halten, wären für eine Erzählung in der Regel zu langweilig und werden deshalb meist ausgeblendet. Der Wagen brauchte nie aufgetankt zu werden, ich wählte nie die falsche Nummer, es gab immer ausreichend heißes Wasser, und die Beutel für den Staubsauger passten auch immer. Das Beste war, dass man die Bösewichter immer schon kannte und dass es - wenn man Chaucer mal außer Acht ließ - kaum Furzerei gab. Ein paar Nachteile gab es allerdings auch. Die relativ häufige Abwesenheit eines Frühstücks war eine ziemlich störende Änderung meines Tageslaufs. Mittag-und Abendessen gab es viel häufiger, vermutlich, weil sich dabei die Handlung besser vorantreiben lässt. Es gab auch einen auffälligen Mangel an Kinobesuchen, Tapeten, Toiletten, Farben, Büchern, Tieren, Unterwäsche, Gerüchen, Friseurbesuchen und kleineren Krankheiten. Wenn jemand in einem Buch krank wurde, dann war es immer gleich tödlich oder zumindest lebensbedrohlich.
Dass ich überhaupt in einem Buch wohnen konnte, verdankte ich dem Figuren-Austausch-Programm. Um zu verhindern, dass immer mehr gelangweilte Romanfiguren aus ihren Büchern ausbrachen und zu sogenannten Seitenläufern wurden, hatten die zuständigen Stellen ein Programm eingerichtet, das Buchmenschen einen gelegentlichen Tapetenwechsel erlaubte. Jedes Jahr gibt es etwa zehntausend Figuren, die nicht in ihrem ursprünglichen Werk wohnen - was die Handlung und die Dialoge meist gar nicht beeinträchtigt - die Leser merken in der Regel nicht das Geringste. Obwohl ich aus der wirklichen Welt stammte und eigentlich gar keine Romanfigur war, hatten der Protokollführer und Miss Havisham mir aufgrund meiner Tätigkeit bei Jurisfiktion gestattet, für die Dauer meiner Schwangerschaft in der Buch- Welt zu leben, wo ich vor meinen Widersachern geschützt war.
Das Buch für mein selbstgewähltes Exil hatte ich mit Bedacht ausgesucht. Als mich Miss Havisham fragte, in welchem Roman ich mich aufhalten wolle, hatte ich lange nachgedacht. Robinson Crusoe wäre rein klimatisch ideal gewesen, aber dort gab es kein weibliches Wesen, mit dem ich mich hätte austauschen können. Ich hätte auch in Stolz und Vorurteil wohnen können, aber ich war nicht gerade scharf auf bebänderte Hauben, geschnürte Korsetts und delikate Manieren. Nein, um die Wahrscheinlichkeit zu vermindern, dass ich womöglich umziehen musste, schien es mir unumgänglich, ein Werk von so zweifelhafter Qualität zu finden, dass eine Veröffentlichung höchst unwahrscheinlich erschien. Ich fand dieses Werk tief unten im Brunnen der Manuskripte unter an deren gescheiterten Projekten und halbfertigen Texten von so erschütternder Unbeholfenheit, dass sie gewiss nie ans Licht der Öffentlichkeit kommen würden. Es handelte sich um einen drögen, in Reading angesiedelten Krimi mit dem Titel Caversham Heights. Eigentlich wollte ich dort nur ein Jahr bleiben, aber es kam alles ganz anders. Meine Pläne sind immer ein bisschen wie die Romane von Millon de Floss - man weiß nie genau, wie sie ausgehen.
Ich las mich in aller Ruhe in Caversham Heights ein. Ich befand mich am Ufer eines kleinen Sees in der Nähe von London. Es war Sommer, und nach den winterlichen Wetterbedingungen zu Hause roch die Luft süß und warm. Ich stand auf einem breiten, hölzernen Landesteg vor einem großen, altertümlichen Flugboot, wie sie bei uns noch gelegentlich auf den Küstenstrecken eingesetzt werden. Erst vor einigen Monaten war ich selbst noch in so einer Kiste geflogen, als ich jemanden aufsuchen sollte, der behauptete, einige unveröffentlichte Burns-Gedichte gefunden zu haben. Aber das war in einem anderen Leben, als ich noch für SpecOps in Swindon arbeitete, in einer Welt, die ich fürs Erste hinter mir gelassen hatte.
Ich setzte eine dunkle Sonnenbrille auf und betrachtete das Flugboot, das leicht im Wellengang schaukelte und an den Halt- leinen zog. Ich fragte mich gerade, wie lange es der alte Kahn wohl noch machen würde, als eine junge Frau mit einem Reisekoffer aus der Kabinentür trat. Ich hatte Caversham Heights bereits einmal kurz überflogen, daher kannte ich Mary schon.
»Guten Tag!« sagte sie, kam die Gangway herauf und schüttelte mir die Hand. »Ich bin Mary. Sie sind wahrscheinlich Thursday, nicht wahr? Ach, du meine Güte, was ist denn das?«
»Ein Dodo. Ihr Name ist Pickwick.«
Pickwick plockte und starrte Mary misstrauisch an.
»Wirklich?« sagte Mary. »Ich bin natürlich keine Expertin, aber . . . ich dachte, Dodos wären ausgestorben?«
»Da, wo ich herkomme, sind sie als Haustiere ziemlich beliebt. Fast schon ein bisschen lästig.«
»Ach. Von einem Buch mit lebendigen Dodos drin hab' ich noch nie gehört, glaub' ich.«
»Ich bin auch keine Romanfigur«, sagte ich, »sondern wirklich. «
»Ach!« sagte Mary mit weit aufgerissenen Augen. »Eine Außenländerin. « Sie berührte mich neugierig mit ihrem schlanken Zeigefinger. »Ich habe noch nie mit jemandem von der anderen Seite zu tun gehabt«, sagte sie und schien erleichtert, als ich bei der Berührung nicht in tausend Stücke zersprang. »Sagen Sie, stimmt das eigentlich, dass Sie sich regelmäßig die Haare schneiden müssen? Ich meine, wachsen Ihre Haare tatsächlich?«
»Ja«, lächelte ich. »Und meine Fingernägel auch.«
»Wirklich?« murmelte Mary. »Ich habe Gerüchte darüber gehört, aber ich dachte, es wäre bloß eine dieser außenländischen Legenden. Ich vermute, dann müssen Sie auch essen, damit Sie am Leben bleiben, nicht wahr? Nicht bloß, wenn es die Geschichte verlangt, oder?«
»Es ist eine der größten Freuden im Leben«, erklärte ich ihr. Ich hatte nicht die Absicht, ihr von den Nachteilen des wirklichen Lebens wie Karies, Inkontinenz oder Altersdemenz zu erzählen. Mary lebte in einem Zeitfenster von etwa drei Jahren, sie würde nie heiraten oder Kinder kriegen, sie alterte nicht, sie musste nicht sterben, sie wurde nie krank, sie veränderte sich überhaupt nicht. Dass sie resolut und stark erschien, lag nur daran, dass sie so geschrieben war. Trotz all ihrer Qualitäten war Mary bloß eine Kontrastfigur zu Jack Spratt, dem Privatdetektiv in Caversham Heights, die loyale Zuhörerin, der Jack alles erklärte, was der Leser wissen musste. Sie war das, was der Schriftsteller eine Expositionshilfe nennt, aber ich wäre nie so unhöflich gewesen, ihr das zu sagen.
»Ist das mein neues Zuhause?« Ich zeigte auf das zerschrammte Flugboot.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Mary voll Stolz. »Ist es nicht wunderbar? Eine Short Sunderland, 1943 gebaut und zuletzt im Jahr 1968 geflogen. Ich bin gerade dabei, sie zum Hausboot umzubauen, und Sie können gern dabei helfen. Vor allem müssen die Bilgen ständig gelenzt werden, und wenn Sie einmal im Monat den Motor Nummer drei laufen ließen, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Die Checkliste für den Start liegt auf dem Flugdeck.«
»Äh - ja, natürlich!« stammelte ich.
»Gut. Ich habe eine kurze Inhaltsangabe der Geschichte an den Kühlschrank geklebt, aber machen Sie sich keine Sorgen, da wir bisher nicht gedruckt sind, können Sie so ziemlich tun, was Sie wollen. Wenn es im Rahmen bleibt, meine ich.«
»Ja, natürlich.«
Ich dachte einen Augenblick nach.
»Ich bin ziemlich neu bei diesem Austauschprogramm«, sagte ich. »Wann wird man mich denn zur Teilnahme an der Handlung auffordern?«
»Der Austauschbeauftragte in diesem Buch ist Wyatt, der sagt Ihnen Bescheid. Jack Spratt wirkt am Anfang immer ein bisschen mürrisch, aber machen Sie sich deshalb keine Sorgen, er hat ein goldenes Herz. Wenn Sie seinen Austin Allegro fahren, müssen Sie die Kupplung fest durchtreten, ehe Sie schalten. Seinen Kaffee trinkt er schwarz, und die Liebesgeschichte zwischen mir und Detective Constable Baker ist absolut überflüssig, ist das klar?«
»Völlig klar«, erwiderte ich. Liebesszenen wollte ich sowieso keine spielen.
»Hat man Ihnen die nötigen Ausweise und die sonstigen Papiere gegeben?«
Ich klopfte auf meine Jackentasche, und sie gab mir einen Schlüsselbund und einen Zettel.
»Gut. Das hier ist meine Fußnotofon-Nummer, nur für Notfälle. Das hier sind die Schlüssel für das Flugboot und den BMW. Wenn so eine Flasche namens Arnold vorbeikommt, dann sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren. Noch Fragen?«
»Ich glaube, nein.«
Sie lächelte. Ein gelbes Taxi mit der Aufschrift Gattungstransfer erschien aus dem Nichts. Der Fahrer erschien ziemlich gelangweilt, als Mary die hintere Tür öffnete.
»Dann ist ja alles in Ordnung. Es wird Ihnen hier gefallen. Ich seh' Sie dann in einem Jahr. Bis dahin!«
Sie wandte sich dem Fahrer zu und murmelte: »Bringen Sie mich aus diesem Buch raus!« Das Taxi und sie verblassten, und ich blieb allein auf der staubigen Schotterstraße zurück.
Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war, dann setzte ich mich auf eine Bank neben einen Pflanztrog mit vertrockneten Blumen und ließ meinen Dodo aus seiner Reisetasche heraus. Pickwick schüttelte beleidigt ihre zerzausten Federn und blinzelte in die Sonne. Ich sah auf den See und ein paar weit entfernte Segelboote hinaus, die kaum mehr als farbige Dreiecke waren. Dann beobachtete ich ein Schwanenpaar, das sich mit heftigen Flügelschlägen und energischem Paddeln vom Wasser löste und wegflog, dann aber gleich wieder landete und eine lange Bremsspur auf dem stillen See hinterließ. Es erschien mir ein ziemlicher Aufwand, um sich ein paar hundert Meter weit zu bewegen.
Ich wandte mich dem Flugboot zu. Der Anstrich, der den Rumpf bedeckte, war zum Teil abgeblättert und enthüllte die Kennfarben längst vergessener Fluglinien. Die Plexiglasfenster waren vom Alter getrübt, und aus den drei leeren Motorgehäusen hoch oben auf den Flügeln, in denen irgendwelche Vögel ihre Nester gebaut hatten, hingen nutzlose Kabel. Goliath, Aornis und SpecOps waren weit weg - aber leider auch Landen. Landen. Die Gedanken an meinen Ehemann waren stets bei mir. Ich dachte an all die schönen Stunden, die wir miteinander verbracht hatten und die es nie gegeben hatte. An all die Orte, die wir nicht besucht, all die Dinge, die wir nicht getan hatten. Sie hatten ihn mit zwei Jahren genichtet, aber ich hatte all die Erinnerungen an ihn. Allerdings gab es niemanden, mit dem ich sie hätte teilen können.
Plötzlich hörte ich lautes Knattern, und ein Motorrad kam auf mich zu. Der Fahrer schien sein Gerät nicht sehr gut zu beherrschen, und ich war froh, dass er nicht auf den Landesteg fuhr, sonst wäre er womöglich noch im Wasser gelandet.
»Hallo!« sagte er fröhlich und nahm seinen Helm ab. Es erschien ein junges Gesicht von mediterranem Schnitt. »Mein Name ist Arnold. Hab' ich Sie hier schon mal gesehen?«
Ich stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Mein Name ist Next. Thursday Next. Ich gehöre zum Figurenaustausch-Programm. «
»Oh, verdammt!« sagte er. »Heißt das, ich hab' ich sie verpasst? «
Ich nickte, und er schüttelte traurig den Kopf.
»Hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen?«
»J-ja«, sagte ich unsicher. »Sie sagte, sie würde, äh, sie würde mit Ihnen reden, wenn sie wieder zurück ist.«
»Wirklich?« Arnolds Miene hellte sich auf. »Das ist ein gutes Zeichen. Normalerweise sagt sie, ich wäre ein Schlappschwanz und soll mich zum Teufel scheren.«
»Sie wird allerdings nicht so bald wieder zurückkommen«, fügte ich hastig hinzu, um zu vertuschen, dass ich Marys Nachricht so offensichtlich geschönt hatte. »Vielleicht bleibt sie ein ganzes Jahr weg, vielleicht auch länger.«
»Verstehe«, sagte er, seufzte und starrte aufs Wasser hinaus. Dabei entdeckte er Pickwick, die sich bemühte, einen fremdartigen Wasservogel zu hypnotisieren.
»Was ist das für ein Vogel?« fragte er.
»Ich glaube, das ist eine Ente, aber ich bin mir nicht ganz sicher - da, wo ich herkomme, gibt es die nicht.«
»Nein, ich meine den anderen.«
»Das ist ein Dodo.«1
»Wie bitte?« fragte mich Arnold.
Ich erhielt gerade eine Fußnotifikation, das gebräuchlichste
1 ». . . Sie hören BdM-12, den besten Fußnotofon-Sender im Brunnen der
Manuskripte, der Sie jede Stunde über die neuesten Entwicklungen in der
Fiktions-Fabrik informiert . . .«
Verständigungsmittel für Buchmenschen. Aber das Gebrabbel störte mich doch erheblich.
»Es ist wohl eine FNF«, sagte ich. »Aber keine persönliche Mitteilung, sondern mehr so ein Sammelruf wie zu Hause das Radio. Ich weiß auch nicht recht, was das soll.«2
Arnold starrte mich verblüfft an. »Sie sind wohl nicht hier aus der Gegend?« »Nö. Ich bin von der anderen Seite. Was ihr das Außenland nennt.«3 Er riss die Augen auf, und sein Unterkiefer klappte herunter.
»Soll das heißen, dass Sie wirklich sind?« »Ich fürchte, ja«, sagte ich leicht amüsiert. »Du meine Güte! Ist es wahr, dass ihr Außenländer nicht roter-
Buick-blauer-Buick ganz schnell hintereinander sagen könnt?« »Das stimmt. Wir nennen das einen Zungenbrecher.« »Das 's ja irre! Bei uns gibt es so etwas nicht. Ich kann the sixth sheik's sixth sheep's sick sagen, so oft ich will!« Und das tat er dann auch. Dreimal hintereinander. »So, und jetzt versuchen Sie es mal!« Ich holte tief Luft. »The sixth spleeps sics sleeks . . . sick.« Arnold lachte wie eine Dachtraufe. Ich glaube, er hatte noch
nie so etwas Lustiges erlebt. Ich lächelte freundlich. »Versuchen Sie's noch mal!«
2 ». . . Nach der Übersicht hören Sie unser wöchentliches Feature Gutsprech, in dem wir uns heute mit der versteckten Exposition beschäftigen wollen. Danach folgt ein Studiogespräch mit WortMeister Xavier Libris von TextGrandCentral über das neue UltraWordTM . . .«
3 ». . . Und hier die Schlagzeilen: Die Kurse für Semikolons, Handlungselemente, Vorworte und aufregende Ereignisse sind gestern weiter kontinuierlich gefallen, so dass der Tom Jones Index am Ende 28 Punkte abgeben musste. Der GattungsRat hat die Nominierungen für den 923. jährlichen BuchWeltPreis bekannt gegeben. Wie schon in den vergangenen 76 Jahren ist Heathcliff der absolute Favorit in der Kategorie Schwierige Romantische Liebhaber, während man damit rechnet, dass Ophelia erneut die bei weitem Beliebteste Selbstmörderin wird. Jude Fawley werden auch in diesem Jahr nur Außenseiterchancen eingeräumt . . .«
»Nein, danke.4 Sagen Sie, wie kann ich dieses Geplapper in meinem Schädel abstellen?«
»Denken Sie einfach ganz entschieden: AUS.«
Ich folgte seiner Empfehlung, und das Fußnotofon verstummte sofort.
»Ist es jetzt besser?«
Ich nickte.
Er dachte einen Augenblick nach, dann sah er sich auffällig unschuldig um und sagte: »Wollen Sie ein paar Verben kaufen? Erstklassiger Stoff, direkt aus der TextSee. Ich hab' einen Freund auf einem KritzelKutter.«
Ich lächelte. »Nein danke. Und Sie sollten mich lieber nicht fragen, Arnold. Ich gehöre zur Jurisfiktion.«
»Oh«, sagte er und erbleichte. Er warf mir einen so kläglichen Blick zu, dass ich beinahe gelacht hätte.
»Keine Sorge, ich werd' Sie nicht anzeigen«, sagte ich.
Er seufzte erleichtert, bedankte sich murmelnd und stieg wieder auf sein Motorrad. Schwankend fuhr er davon und hätte beinahe noch die Briefkästen auf der Uferböschung umgefahren.
Das Innere des Flugboots war heller und luftiger, als ich gedacht hatte, aber es roch etwas muffig. Der Umbau war noch nicht sehr weit fortgeschritten. Die Wände hatten ein halbhohes Kiefernpaneel, aus dem hier und da noch die Isolierwolle und elektrische Kabel herausquollen. Der hohe Rumpf hatte Platz für zwei Stockwerke. Als erstes betrat ich ein großes offenes Wohnzimmer mit ein paar alten Sofas und einem Fernseher. Ich versuchte, ihn einzuschalten, aber es kam nichts. In der BuchWelt gab es kein Fernsehen, wenn es nicht von der Handlung ausdrücklich verlangt
4 ». . . Seit über 87 Jahren soll heute zum ersten Mal wieder ein episches Gedicht gebaut werden. Titel und Gegenstand sind noch nicht bekannt, aber Beobachter sind jetzt schon der Ansicht, dass es sich um einen aussichtslosen Versuch handelt: Die nötigen Fertigkeiten sind praktisch ausgestorben. In der nächsten Woche wird unter dem Namen Prêt-à-Écrire eine neue Handelskette mit Fertiggefühlen und bewährten Erzähltechniken von der Stange eröffnet . . .« wurde. Das meiste, was ich sah, waren bloße Kulissen, die für die Szene gebraucht wurden, in der Jack Spratt auf die Sunderland kommt, um den Fall zu besprechen. Auf dem falschen Kaminsims standen Bilder, die Mary in der Polizeischule zeigten. Auch ihre Beförderung zur Kriminalassistentin war fotografisch dokumentiert worden.
Ich öffnete die Tür zu einer kleinen Küche. Am Kühlschrank hing eine Zusammenfassung der Handlung von Caversham Heights. Ich studierte sie noch einmal kurz, fand aber nichts Neues. Die Ereignisse entsprachen in etwa dem, was ich noch von meiner ersten Lektüre im Kopf hatte, obwohl Mary ihre eigene Rolle noch etwas weiter ausgebaut hatte, als der Autor tatsächlich geplant hatte. Ich füllte eine Wasserschale für Pickwick, holte ihr Ei aus der Tasche und legte es ihr behutsam aufs Sofa, wo sie sich gleich mit mütterlicher Zärtlichkeit darüber hermachte. Ich ging weiter und entdeckte dort, wo früher die Bugkanone gewesen war, ein gemütliches Schlafzimmer. Eine schmale Aluminiumleiter führte aufs Flugdeck hinauf. Von hier aus bot sich die schönste Aussicht des Hauses. Große Plexiglasfenster zeigten ein herrliches Panorama des Sees. Die beiden massiven Steuerknüppel und zwei bequeme Pilotensitze ergänzten die Einrichtung. Die Instrumententafel war größtenteils verblasst, und die Kontrollhebel waren zum Teil abgebrochen. Zu meiner Rechten sah ich den letzten verbliebenen Motor, der ziemlich einsam aussah. Die Propellerblätter waren vollgekleckert mit Möwenscheiße.
Hinter den Pilotensitzen, wo der Navigator gesessen hätte, stand ein Schreibtisch mit Leselampe, Schreibmaschine und Fußnotofon. Auf dem Bücherregal standen kriminalistische Fachzeitschriften und forensische Lehrbücher. Ich trat durch eine niedrige Tür und fand ein weiteres kleines Schlafzimmer. Es war nicht sehr hoch, aber gemütlich. Die Wände hatten Kieferpaneele, und über dem Doppelbett war eine Lichtkuppel. Dahinter befand sich ein kleiner Lagerraum mit Holzscheiten, einem Boiler und einer Wendeltreppe. Ich wollte gerade wieder hinuntergehen, als ich Stimmen aus dem Wohnzimmer hörte.
»Was meinst du, was das ist?«
Die Stimme klang irgendwie leer und hatte keinerlei Farbe. Ich vermochte nicht einmal zu sagen, ob sie männlich war oder weiblich.
Ich blieb abrupt stehen und zog instinktiv meine Pistole aus ihrem Halfter. Nach dem Manuskript lebte Mary allein. Während ich mich leise die Treppe hinunterbewegte, hörte ich eine zweite, praktisch identische Stimme: »Ich glaube, irgendein Vogel.«
Die zweite Stimme war genauso farblos wie die erste, und wenn sie nicht geantwortet hätte, hätte ich wahrscheinlich gedacht, dass sie derselben Person gehörte.
Als ich weit genug unten war, sah ich zwei Gestalten in der Mitte des Raumes, die Pickwick anstarrten, die hinter dem Sofa hockte und tapfer zurückstarrte, um ihr Ei zu beschützen.
»He!« sagte ich und hob meine Pistole. »Keine Bewegung!«
Die beiden Gestalten hoben die Köpfe und sahen mich ausdruckslos an. Ihre Gesichter waren genauso wenig unterscheidbar wie ihre Stimmen. Ihre Arme hingen ohne Körpersprache an ihnen herunter. Ob sie neugierig, ärgerlich oder besorgt waren, hätte ich nicht zu sagen gewusst.
»Wer seid ihr?« fragte ich.
»Wir sind niemand«, sagte der Linke.
»Jeder ist irgendwer«, sagte ich.
»Das ist nicht ganz richtig«, sagte der Rechte. »Wir haben eine Codenummer, aber sonst nichts weiter. Ich bin TSI-1404912-A, und das ist TSI-1404912-C.«
»Aha. Und was ist mit Nummer B passiert?«
»Die wurde am Dienstag von Grammasiten gefressen.«
Ich senkte meine Pistole. Was ich da vor mir hatte, waren Figuren- Rohlinge. Miss Havisham hatte mir davon erzählt. Die Rohlinge wurden hier im Brunnen der Manuskripte erzeugt, um die Bücher zu bevölkern, die gerade entstanden. Im Augenblick ihrer Entstehung waren sie lediglich menschliche Leinwände - ungeprägte Münzen gewissermaßen, die ihren Wert und ihre Individualität erst später erhielten. Sie hatten keine Geschichte, keine Schwächen und keine Konflikte oder Probleme. Es gab nichts, was sie irgendwie interessant machte. Um sie zu nützlichen Mitgliedern der BuchWelt zu machen, bedurfte es verschiedener Institutionen. Sie waren allerdings von vornherein klassifiziert. Von A bis D, und von eins bis zehn. Rohlinge der Klasse D wurden normalerweise nur für Menschenmengen und stumme Passanten gebraucht. Die Klasse C erhielt schon mal kleinere Sprechrollen, während die Nebenrollen aus der Klasse B besetzt wurden. Hauptrollen gingen grundsätzlich nur an die A-Klasse. Diese Rohlinge waren handverlesen und hinsichtlich ihrer Vielschichtigkeit und ihrer Tragfähigkeit für besondere Charaktereigenschaften geprüft. Huckleberry Finn, Tess d'Urberville, Anna Karenina und Oskar Matzerath gehörten alle zur Klasse A, aber natürlich auch Franz Moor, Mr Hyde und Hannibal Lecter. Ich betrachtete die Rohlinge erneut. Waren sie Helden oder Mörder? Es war noch völlig offen, was aus ihnen werden würde, und im jetzigen Stadium ihrer Entwicklung waren sie harmlos. Ich steckte meine Knarre weg.
»Ihr seid Rohlinge, stimmt's?«
»Genau«, sagten sie unisono.
»Was macht ihr denn hier?«
»Erinnern Sie sich noch an den Minimalismus?«
»Ja?« sagte ich und trat etwas näher heran, um ihre leeren Gesichter genauer studieren zu können. Es gab noch eine Menge, was ich über den Brunnen der Manuskripte nicht wusste. Sie waren zwar harmlos, aber doch ziemlich unheimlich. Pickwick versteckte sich immer noch hinter dem Sofa.
»Der wurde durch die große Lieferkrise der frühen Sechziger ausgelöst, als diese voluminösen Romane erschienen«, sagte der Linke. »Jetzt heißt es, ein gewisser Vikram Seth plant einen neuen, umfangreichen Roman, und ich glaube, der GattungsRat möchte nicht, dass die Figuren plötzlich wieder so knapp werden wie damals. Deshalb werden wir jetzt auf Vorrat produziert und dann in unveröffentlichte Romane geschickt, bis wir in Dienst gestellt werden.«
»Eine Art Zwischenlager, gewissermaßen?«
»Also ich persönlich bevorzuge das Wort Einquartierung«, sagte der Linke, und der leicht empörte Unterton in seiner Stimme deutete darauf hin, dass er nicht auf Dauer ohne Persönlichkeit bleiben würde.
»Wie lange seid ihr denn schon hier?« fragte ich.
»Seit zwei Monaten«, sagte der Rechte. »Wir warten auf einen Studienplatz am St. Tabularasa's Generic College. Dort erfolgt das Charaktergrundstudium. Ich wohne im Gästezimmer im Heck.«
»Ich auch«, sagte der Linke.
Das verblüffte mich denn doch für eine Sekunde. »O-kay«, sagte ich schließlich. »Da wir offenbar alle im selben Boot leben müssen, gebe ich euch vielleicht besser Namen. Du«, sagte ich und zeigte auf den Rechten, »heißt künftig ibb. Und du« - dabei zeigte ich auf den anderen - »heißt ab sofort obb.«
Für den Fall, dass sie mich nicht verstanden hatten, zeigte ich noch einmal auf sie und sagte: »Du bist ibb, und du bist obb.«
Ich zögerte. Irgendwie klangen ihre Namen nicht richtig, aber ich wusste nicht gleich, was es war. »ibb«, sagte ich, und dann: »ibb-obb. Klingt das irgendwie komisch?«
»Keine großen Anfangsbuchstaben«, sagte obb. »Die kriegen wir erst, wenn wir mit dem Studium anfangen. Wir hatten auch gar nicht so früh mit Namen gerechnet. Dürfen wir die behalten?«
»Die sind ein Geschenk von mir«, sagte ich.
»Ich bin ibb«, sagte ibb, als ob er das besonders hervorheben müsse.
»Ich bin obb«, sagte obb.
»Ich bin Thursday«, sagte ich und streckte ihnen die Hand hin. Sie schüttelten sie nacheinander, langsam und ausdruckslos. Mir wurde klar, dass ich mit den beiden nicht allzu viel Spaß haben würde.
»Und das ist Pickwick.«
Sie musterten Pickwick, die leise plockte, hinter dem Sofa hervorkam, sich auf ihr Ei setzte und so tat, als würde sie schlafen.
»So«, sagte ich und klatschte in die Hände. »Kann von euch einer kochen? Ich kann's nämlich nicht, und wenn ihr nicht ein Jahr lang Bohnen auf Toast essen wollt, dann solltet ihr's schleunigst lernen. Ich bin der Ersatz für Mary, und wenn ihr mich nicht stört, dann stör ich euch auch nicht. Ich geh spät ins Bett und wache früh auf. Ich habe einen Ehemann, der nicht existiert, und im Laufe der nächsten Monate werd' ich ein Kind kriegen. Wundert euch also nicht, wenn ich übellaunig werde und zunehme. Noch Fragen?«
»Ja«, sagte der auf der Linken. »Welcher von uns ist noch mal obb?«
Ich packte meine Sachen aus und verstaute sie in dem kleinen Schlafzimmer hinter dem Flugdeck. Ich hatte eine kleine Skizze von Landen gemacht und stellte sie mir auf den Nachttisch. Ich vermisste ihn schrecklich und fragte mich zum hundertsten Mal, ob es nicht ein Fehler war, dass ich mich hier versteckte. Hätte ich nicht da draußen in meiner eigenen Welt sein und versuchen müssen, ihn wiederzukriegen?
Das Problem war, dass ich das ja schon einmal versucht hatte und völlig gescheitert war. Wenn mich Miss Havisham nicht gerettet hätte, säße ich jetzt noch in einem Verlies der Goliath Corporation. Vielleicht hätte ich anders gehandelt, wäre ich nicht schwanger gewesen, aber so erschien es mir besser, mich an einen ruhigen Ort zu begeben. Wenn das Baby erst mal auf der Welt war, konnte ich meine Rückkehr planen und Landens Rettung organisieren.
Ich ging in die Küche hinunter und erklärte obb die Prinzipien des Kochens, die ihm genauso fremd waren wie die Tatsache, dass er jetzt einen Namen besaß. Glücklicherweise fand ich ein zerlesenes Exemplar von Mrs. Beeton's Complete Housekeeper, das ich ihm halb im Spaß in die Hand drückte. Drei Stunden später servierte er uns einen Lammbraten mit Kräuterkartoffeln und Minzsoße, und ich hatte etwas Wichtiges gelernt: Rohlinge waren zwar schrecklich langweilig, aber sie lernten verdammt schnell.
2. Im Inneren von Caversham Heights
Projekt/YGIO/1204961/: Arbeitstitel: Caversham Heights. Ursprungsland: UK. Letzte Fassung: 1976. Umfang: 90 000 Wörter. Gattung: Kriminalroman. Betriebssystem: Book V7.2. Grammasitenbefall: 1 Brutpaar der geschützten Art parenthium. Beurteilung: Standard-Krimi mit Kommissar Jack Spratt. Schauplatz der Handlung ist Reading (England). Die Handlung (soweit erkennbar) kreist um einen Drogenbaron, der die Kontrolle über die Unterwelt der Stadt übernimmt. Schematischer Aufbau, blasse Figuren, wenig überzeugende Polizeiarbeit und ein Erzähltempo, das zu lahm ist, um Schnecken zu fangen. Empfehlung: Nicht zur Veröffentlichung geeignet. Gegenwärtiger Status: Die untere Naturschutzbehörde hat gegen die geplante Verschrottung Einspruch erhoben. Der endgültige Bericht der vom GattungsRat eingesetzten Prüfungskommission wird erwartet.
Wochenblatt des unliterarischen Untergrunds, 1982, Bd. CLXI, Sp. 564
Am nächsten Morgen hatte ich Gelegenheit, mit ibb und obb den Zerfall des Frühstücks zu diskutieren. Ich erklärte ihnen, dass die Getreideflocken üblicherweise vor dem Speck und den Eiern verzehrt werden, während der Toast und der Kaffee keinen festen Platz in der Abfolge haben. Dass Zitronen-und Orangenmarmelade fast ausschließlich zum Frühstück serviert werden, wollte ihnen gar nicht einleuchten. Ich war gerade dabei, ihnen die technischen Möglichkeiten eines in Milchkaffee getunkten Croissants zu erläutern, als der Briefschlitz klapperte und ein Exemplar der Toad auf den Fußboden plumpste.
Der einzige Bericht befasste sich mit irgendwelchen Schießereien zwischen Drogenbanden in Reading. Das gehörte zur Handlung von Caversham Heights und erinnerte mich schmerzlich daran, dass ich früher oder später - wahrscheinlich früher - in die Rolle von Mary würde schlüpfen müssen, wenn ich meinen Verpflichtungen aus dem FigurenAustauschProgramm gerecht werden wollte.
Ich las mir die von Mary gelieferte Zusammenfassung noch einmal durch, die mir zwar einen umfassenden Eindruck vom Inhalt der einzelnen Kapitel verschaffte, aber keine Angaben darüber enthielt, was ich denn genau sagen oder tun musste. Ich hatte auch nicht sehr lange Zeit, darüber nachzudenken, denn plötzlich klopfte es, und ein Mann mit einem Hut namens Wyatt erschien.
»Entschuldigung«, sagte er verlegen. »Natürlich heißt nicht der Hut Wyatt.«
»Das hab' ich mir fast gedacht, Mr Wyatt.«
Ausgeleiert und hölzern hielt er sein Klemmbrett.
»Oh, verflixt!« sagte er wie jemand, der gerade George Sand in einem Saal voller Französischlehrerinnen mit dem Personalpronomen »er« zu bezeichnen versucht hat. »Jetzt ist es schon wieder passiert.«
»Stört mich überhaupt nicht«, sagte ich. »Was kann ich für Sie tun, Mr Wyatt?«
»Sehr liebenswürdig. Als Angehörige des FigurenAustausch- Programms möchte ich Sie bitten, sich nach Reading zu begeben, äh -« Seine Schultern sanken herab. »Nein, ich bin ja gar keine Angehörige des FigurenAustauschProgramms, das sind Sie. Und deshalb möchte ich Sie bitten, nach Reading zu fahren.«
»Gewiss doch. Haben Sie eine genaue Adresse für mich?«
Schmutzig und eselsohrig reichte er mir den Lieferschein von seinem Klemmbrett. Und noch ehe er sich erneut entschuldigen konnte, sagte ich: »Alles klar, ich habe verstanden.«
Sein Zustand war offenbar chronisch, aber als er merkte, dass ich ihm sein Leiden nicht übel nahm, hellte seine Stimmung sich auf.
Copyright © Neuausgabe 2011 2. Auflage 2013 Erstmals veröffentlicht 2005 im Deutschen Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Jasper Fforde
Jasper Fforde, 1961 in London geboren, arbeitete 20 Jahre als Kameramann, bevor ihm mit Literaturagentin Thursday Next der Durchbruch gelang. Die grandiose Urban-Fantasy-Reihe hat sich weltweit millionenfach verkauft.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jasper Fforde
- 2011, 4. Aufl., 416 Seiten, Masse: 11,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Stern, Joachim
- Übersetzer: Joachim Stern
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423212950
- ISBN-13: 9783423212953
- Erscheinungsdatum: 21.06.2011
Rezension zu „Im Brunnen der Manuskripte / Thursday Next Bd.3 “
»Ein skurriler, aber amüsanter Krimi des Kultautors Jasper Fforde.« Business Travel November 2007
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